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Totenkopfbecher, Übernachten im Sarg, eine geheimnisvolle Höhle: Die drei ??? freuen sich auf eine aufregende Woche in der "Geisterburg" – dem einsam gelegenen Erlebnishotel für wohliges Gruseln. Als sich jedoch seltsame Zwischenfälle häufen, wird schnell klar: Was als spannender, aber harmloser Aufenthalt geplant war, gerät zu einem gefährlichen Abenteuer für Justus, Peter und Bob.
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Seitenzahl: 155
erzählt von Ben Nevis
Kosmos
Umschlagillustration von Silvia Christoph, Berlin
Umschlaggestaltung von eStudio Calamar, Girona, auf der Grundlage
der Gestaltung von Aiga Rasch (9. Juli 1941 – 24. Dezember 2009)
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© 2003, 2005, 2011, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
Mit freundlicher Genehmigung der Universität Michigan
Based on characters by Robert Arthur.
ISBN 978-3-440-12879-4
Satz: DOPPELPUNKT, Stuttgart
eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
»Wie soll Peter das bloß überstehen?« Justus lehnte sich an den Schreibtisch in der Detektivzentrale und blätterte in dem schwarzen Hotelprospekt, der zusammen mit den anderen Reiseunterlagen gekommen war. »Eine ganze Woche in der Geisterburg! Wo man doch seine Zähne schon klappern hört, wenn nachts eine Maus über den Schrottplatz läuft.«
Der Erste Detektiv deutete auf das Foto des Speisesaals. Unter der Saaldecke spannte sich ein riesiges neonfarbenes Spinnennetz, an dessen Rand eine silberne Spinne lauerte. »Wow! Pizza essen unter der Monsterspinne!«
»Jetzt hör auf, Just! Wir sind ziemlich gemein mit unseren Lästereien, und außerdem kommt Peter gerade!« Bob stand auf und warf einen Blick durch das Rollo. Soeben war ein blitzblank geputzter roter MG auf das Gelände von Titus Jonas’ Gebrauchtwarenlager eingebogen. Peter bremste scharf, und der Wagen blieb knirschend vor dem Campingwagen stehen, der den drei Detektiven als Einsatzzentrale diente. Ein paar Sekunden später betrat der Zweite Detektiv die Zentrale, und sofort fiel ihm das Schmunzeln auf, das immer noch in den Gesichtern seiner Freunde zu sehen war. Er ahnte, um wen es gegangen war: »Habt ihr über mich gesprochen?«
»Wie kommst du darauf?«
»Dieses verräterische Grinsen auf euren Lippen …«
»Wir fragten uns nur gerade, ob du dich wirklich traust, in das Gruselhotel mitzufahren.«
Peter verzog entrüstet den Mund. »Das habe ich mir doch gedacht, Justus! Ihr habt mal wieder die alte Platte aufgelegt: Peter, der Angsthase! Nein, ich fürchte mich nicht vor der Geisterburg! Ihr wisst so gut wie ich, dass alles nur ein großes Spiel ist und zur Unterhaltung der Gäste dienen soll. Das Ganze ist ein Erlebnishotel! Wovor sollte ich da bitte schön Angst haben?«
Bob trat von hinten an ihn heran und grabbelte ihm mit den Fingern den Rücken herunter. »Vielleicht sind sie ja doch echt, die Gespenster«, raunte er mit der dunkelsten Stimme, die er hinbekam.
»Lass das!« Peter fuhr herum. Bob ging ihm wirklich auf die Nerven. Nur mit Mühe hatte er die einwöchige Reise bei seinen Eltern durchsetzen können, die ihn lieber in einem Sport-Trainingscamp gesehen hätten. Die Diskussion darüber steckte ihm noch in den Knochen. Aber letztendlich hatte er sich mit dem Argument durchgesetzt, dass sich die drei ??? den Kurztrip in die Geisterburg in einem harten Detektivwettbewerb, den ein bekannter Filmregisseur veranstaltet hatte, redlich verdient hatten. Er konnte Justus und Bob unmöglich im Stich lassen. Immerhin hatten sie im Raum Los Angeles den ersten Preis erkämpft.
»Ich bin mal auf die Gewinner aus San Francisco gespannt«, sagte er, um das Thema zu wechseln. »Sie heißen ›Callidae‹.« Und mit einem Lächeln auf den Lippen fügte er hinzu: »Das heißt so viel wie ›Die Schlauen‹. Vielleicht sind sie sogar klüger als du, Justus!«
Justus zog die Stirn in Falten. »Das hättest du wohl gerne! Mehr als deine Stichelei haben mich jedoch deine Lateinkenntnisse überrascht, auch wenn sie mir noch nicht ganz ausgereift erscheinen.«
»Callidae?« Peter lachte. »Ich war neugierig und habe es nachgeschlagen. Gib zu: Du hast Angst vor den Detektiven! Du magst keine Konkurrenz!«
»Wer außer uns kommt, ist mir egal«, behauptete Justus störrisch. »Schließlich ist der Detektivwettbewerb bereits gelaufen. Überhaupt haben wir uns nach über hundert Fällen endlich mal Urlaub verdient! Ich möchte in der Geisterburg den Grusel genießen und mich ganz klassisch durch das ein oder andere unterhaltsam gestellte Rätsel entspannen und verwöhnen lassen. Ich hoffe auf möglichst viel Mystery! Stell dir mal vor: nur wir drei Jungs, ohne Freundinnen, ohne Autos, es ist fast ein bisschen wie …«
»Du redest schon wie unser Mathelehrer!«, warf Peter ein. »Der klagt auch in einer Tour: ›Früher war alles besser!‹«
»Ach Quatsch!« Justus zog eine Reisetasche unter dem Schreibtisch hervor und hielt inne. Mit einem Blick auf die Uhr fügte er hinzu: »Das Packen geht übrigens schnell. Tante Mathilda hat mir meine Kleidung schon zurechtgelegt.«
»Du und dein Tante-Mathilda-Sorglos-Paket!« Bob prustete los.
»Was hast du gegen den Service von Tante Mathilda?«, fragte Justus verwundert. »Sie kennt sich am besten aus in meinem Kleiderschrank!«
»Ihr würde sonst auch was fehlen«, kommentierte Peter süffisant. »Ich hoffe, sie hat die Schokoriegel nicht vergessen. Sonst verhungert ihr Neffe noch!«
»Dafür sorge ich schon selbst!« Justus nahm eine Großpackung aus dem Regal und stopfte sie in eine Seitentasche. Ein paar Tüten Gummibärchen packte er gleich dazu. »Außerdem überlege ich, was wir von unserer Detektivausrüstung mitnehmen sollen. Taschenlampen, Dietrichset, Fingerabdruckpulver, Handy …«
»Ich glaube, das kannst du dir sparen«, warf Bob ein. »Du hast es doch eben selbst gesagt: Wir werden geruhsame sieben Tage erleben! Da ist für alles gesorgt! Es macht keinen Sinn, Gespenster zu jagen, die für die Touristen auftreten.« Er zögerte. »Peter? Du schaust auf einmal so skeptisch?«
»Wo wir auftauchen, läuft immer etwas aus dem Ruder«, erklärte Peter düster. »Das haben wir doch schon oft genug erlebt. Kannst du mir auch nur einen Urlaub nennen, der normal verlaufen wäre? Selbst wenn wir verlassen und verloren in der Wüste hocken, landen wir in einem Abenteuer. Ich wage mich gar nicht daran zu erinnern. Jedenfalls scheinen wir das Dunkle geradezu magisch anzuziehen.« Er lachte auf. »Man sollte jeden netten Menschen dringend vor uns warnen: Wenn du die drei ??? einlädst, hast du postwendend das Chaos im Haus!«
Justus grinste. »Statistisch ist das nicht ganz von der Hand zu weisen, obwohl du Ursache und Wirkung verwechselst, Peter. Ich würde es so formulieren: Es geschieht etwas, was sich keiner erklären kann. Irgendetwas Böses, Rätselhaftes wird geplant. Und zum Glück erscheinen die drei ??? auf der Bildfläche und renken die Angelegenheit gerade noch rechtzeitig wieder ein. Das Rätselhafte zieht uns an und nicht umgekehrt. Stell dir mal vor, wie viele Fälle nie als Fälle erkannt werden, bloß weil wir nicht dabei sind. Es müssen tausende sein. – Was ist los, Bob? Du wirkst plötzlich so nachdenklich?«
»Mir ist nur gerade etwas eingefallen«, sagte Bob und fing an, in seiner Jacke herumzusuchen. »Letzte Woche stand eine kurze Notiz in der Los Angeles Post. Im Geisterhotel hätte es beinahe einen folgenreichen Unfall gegeben. Die Hotelbetreiber sind nämlich auf eine geheimnisvolle Höhle gestoßen! Unter dem Namen ›Höhle des Grauens‹ sollte sie für die Touristen zugänglich gemacht werden, doch als man die letzten Renovierungsarbeiten abschließen wollte, ist plötzlich Wasser in die Höhle eingedrungen … Zum Glück konnten sich alle retten.«
»›Die Höhle des Grauens‹«, wiederholte Peter tonlos. »Da haben wir’s. Wasser drang ein. Meine Urlaubsstimmung ist schon wieder dahin!« Er wandte sich an Justus. »Und auf das Handy wirst du verzichten müssen! Hast du denn die Reisebestimmungen schon wieder vergessen?« Peter schnappte sich einen Zettel, der zwischen tausend anderen Sachen auf dem Schreibtisch lag, und faltete ihn auseinander. »Hört zu, was diese Mrs Jones, die das Hotel leitet, schreibt:
›Sehr geehrte Gäste! Wir freuen uns, dass Sie sich für Adventure Reisen entschieden haben. Sie freuen sich zu Recht auf eine Woche des Abenteuers und des Grusels. Sie haben viel Geld bezahlt und sollen einen bleibenden Eindruck von den Tagen behalten. Der Effekt wird für Sie intensiver, wenn Sie sich an einige Ratschläge halten. Die Geisterburg liegt einsam und abseits in den Rocky Mountains. Bitte lassen Sie Ihr Handy zu Hause und geben Sie sich für eine Woche vollkommen ungestört dem Urlaub hin. Glauben Sie uns: Ohne Verbindung in Ihre gewohnte Welt werden Sie für unsere Einfälle viel empfänglicher sein! Ohnehin ist in dieser Region kein Handyverkehr möglich. Für Notfälle stehen im Haus selbstverständlich ein Telefon und auch eine Funkanlage bereit. Am besten, Sie melden sich bei Ihren Verwandten, Freunden und Kollegen für eine Woche vollkommen ab. Erklären Sie ihnen, dass Sie nur in dringenden Fällen über das Reisebüro erreichbar sind. Auch auf Radiogeräte bitten wir Sie zu verzichten. Ihre Zimmer haben keine Fernseher. Es gibt im Haus nur einen einzigen Computer, nämlich den, der unsere Installation steuert. Verzichten Sie also auf Internet und E-Mails. Gönnen Sie sich die Freiheit – und den Luxus der Unerreichbarkeit!‹«
Peter blickte auf. »Was habe ich euch gesagt?«
»Schweineteuer, und noch nicht mal eine Glotze auf dem Zimmer!«, moserte Bob. »Zum Glück haben wir die Reise gewonnen.«
Peter blätterte in den Unterlagen. »Ich bin mal gespannt, wer sonst noch zu den Gästen zählt. Im Prospekt steht was von 25 Betten.«
»Wenn du auf nette Mädels spekulierst, wirst du wohl enttäuscht werden, Zweiter! Ich tippe eher auf reiche Rentner«, grinste Justus und legte das Handy wieder zur Seite. »Gelangweilte Singles und dazwischen zwei Detektivteams. Aber wie ich uns kenne, werden wir den Laden schon aufmischen!«
Inzwischen hatte Peter den Brief weiter überflogen. »Die Geisterburg ist nur mit dem Zug erreichbar«, fasste er zusammen. »Man wird dann an der Station ›Haunted Corner‹ vom Hoteljeep abgeholt. So, und wo bitte schön steht da was von dieser schrecklichen Höhle?«
»Ich fürchte, der Prospekt ist in dem Chaos auf dem Schreibtisch untergegangen«, mutmaßte Bob. Nach ein paar Sekunden fischte er ein tiefschwarz bedrucktes Blatt hervor. »Hier steht’s, Freunde:
›Ganz besonders freuen wir uns, Sie zum allerersten Mal in die ›Höhle des Grauens‹ zu führen. Es ist wahrlich eine Sensation: Eine Höhle, auf die wir während der Bauarbeiten zum Hotel der Geister gestoßen sind und die wir in monatelanger Arbeit von Dreck und Schlamm befreien mussten! Lassen Sie sich überraschen von der indianischen Mystik des Raums, von dem Geheimnis des alten Skeletts – und erschrecken Sie nicht vor dem schwarzen Henker, der die Höhle bewacht.‹«
Mit einer würdevollen Bewegung faltete Bob den Zettel zusammen und steckte ihn sich in die Jackentasche.
Peters Abenteuerlust war nun gänzlich verflogen. »Ich glaube, ihr könnt doch alleine fahren!«, nörgelte er. »Das klingt nach einem Albtraum!«
Der Zug war nicht gerade leer, und die drei ??? mussten sich erst einmal durch die Waggons kämpfen, bevor sie den letzten Wagen erreicht hatten, in dem ihre Plätze reserviert waren. Zwei ihrer Sitze waren jedoch belegt, und auf dem dritten lag ein bunter Rucksack. Nur ein Platz war frei. Die beiden Mädchen, die auf den Plätzen der Detektive hockten, sahen sich fragend an und ignorierten die drei ???.
Justus zog die Reservierung hervor und wedelte mit den Zetteln in der Luft herum. »Diese Plätze sind auf uns gebucht, verehrte Damen.«
Das Mädchen, das am Fenster saß, kaum älter als Justus, warf ihre Haare zur Seite und fixierte Justus streng durch ihre Brille: »Ihr seid zu spät, Jungs. Wer so spät kommt, verliert seinen Anspruch auf den Platz.«
»Ich würde sagen, wir bewegen uns noch gut in der Zeit. Ich schlage vor, ihr packt eure Sachen!«
Bob und Peter wechselten einen Blick. Gegen eine charmante Reisebegleitung hatten sie eigentlich nichts einzuwenden. Dass Justus aber auch immer so rechthaberisch sein musste.
Das andere Mädchen stieß ihre Freundin in die Seite. »Komm, Julia! Sollen sich die ungehobelten Jungs doch hier hinhocken. Wir finden bestimmt einen netteren Ort.« Sie machte Anstalten, aufzustehen.
Kurzentschlossen zeigte Peter auf den Rucksack der Mädchen. »Darf ich euer Gepäck auf die Ablage heben?«, fragte er und setzte ein gewinnendes Lächeln auf. »Dann sind die beiden Sitze hier schon mal frei.«
»Gerne. Wenn euer … Freund einverstanden ist?«
Justus wurde nicht weiter gefragt. Zwei Minuten später saßen sich Bob und – so hatte sie sich gleich vorgestellt – Jennifer gegenüber. Peter hatte vor Julia Platz genommen. Auf der anderen Seite des Ganges hockte Justus und starrte durch das gegenüberliegende Fenster. Die langweiligen Vororte von L.A. schienen ihn mächtig zu interessieren.
Angesichts der unerwarteten weiblichen Begleitung kam Peter so richtig in Schwung. Es dauerte keine Minute, da hatte er schon das Urlaubsziel verraten und nicht ohne Stolz erwähnt, dass sie die Reise als Preis gewonnen hatten. Wie sie nach hartem Kampf diesen Sieg errungen hatten, das war Gegenstand einer weiteren ausgeschmückten Erläuterung. Bob wurde es langsam peinlich, wie Peter versuchte, neue Fans zu rekrutieren. Jetzt zog Peter auf dem Höhepunkt seiner Ausführungen auch noch die Visitenkarte der drei ??? hervor und überreichte sie Julia. »Das sind wir. Die drei ???.« Er legte eine Kunstpause ein.
Julia nahm die Karte entgegen und las sie Jennifer vor.
»Nett«, war ihr ganzer Kommentar. Ohne eine Miene zu verziehen, gab sie die Karte zurück.
Das verschlug Peter erst einmal die Sprache. Wo blieb die Bewunderung?
»Und ihr«, fragte Bob in das Schweigen hinein, »wo fahrt ihr eigentlich hin?«
»Haunted Corner«, antwortete Jennifer.
»Haunted Corner?« Bob merkte auf. »Aber das ist ja diese Station im Nirgendwo, an der wir auch aussteigen müssen.«
»Genau. Wir haben das gleiche Ziel.« Julia nickte zu ihrer Freundin hinüber. »Darf ich uns vorstellen: Callidae – Detektivbüro San Francisco.«
»Ach du meine Backe«, stöhnte Justus leise auf der anderen Seite des Ganges.
Auch Callidae waren mit Visitenkarten ausgestattet. Darauf sahen die Jungen, dass Callidae mit Decknamen arbeiteten: Julia nannte sich Corona und Jennifer Althena. »Es ist der Name eines Sterns«, erklärte sie auf Bobs fragenden Blick, während sich Peter Coronas Namen – die Krone – in Richtung Königin und Erste Detektivin zusammenreimte.
Justus verfolgte das Gespräch unauffällig mit. Ab und zu musterte er Corona, die sich merklich zurückhielt. Er spürte, dass sie einen scharfen Verstand besaß und nicht gleich alle Karten auf den Tisch legen wollte. Darin schien sie ihm ähnlich zu sein.
Aber es ging ja nicht mehr um einen detektivischen Wettbewerb. Die Zeichen standen auf Erholung. Außer hinter Bobs Höhlenbericht aus der Zeitung verbarg sich wirklich eine dunkle Geschichte … Justus sah wieder aus dem Fenster. Inzwischen hatte sich die Landschaft verändert. Es war bergiger und zugleich waldiger geworden. Keine Frage, die Gegend wurde einsamer. Nachdem er eine Weile die vorüberziehende Natur betrachtet hatte, überkam ihn die Müdigkeit, und er nickte ein.
Als Justus wieder aufwachte, war die Umgebung draußen noch verlassener geworden. Justus streckte sich und ließ seinen Blick zurück in das Innere des Zuges wandern. Ihm schräg gegenüber auf der Fensterseite saß ein Mann, der schon die ganze Zeit über in einem Buch las. Er war etwa vierzig Jahre alt. Die eckige Brille verlieh seinem scharf geschnittenen Gesicht etwas Strenges, das in Kontrast zu seiner betont lässigen, aber nicht unmodernen Kleidung stand. Justus kannte die Lektüre. Es handelte sich um einen spannenden Kriminalroman. Er konnte die groß gedruckte Kapitelüberschrift erkennen, und ihm fiel auf, dass der Mann immer noch dieselbe Seite aufgeschlagen hatte wie zu dem Zeitpunkt, als Justus eingeschlafen war. War das Lesen nur Tarnung? Immer wieder schielte der Mann hinüber zu Peter und Bob, die sich weiterhin prächtig mit den Mädchen unterhielten. Offenbar versuchte er, trotz der Fahrgeräusche des Zuges etwas von ihrem Gespräch mitzubekommen.
Die Frau, die neben dem Krimileser und Justus gegenübersaß, blätterte ebenfalls in einem Buch. Sie war etwas jünger als der Mann, Justus schätzte sie auf Anfang dreißig. Ihr dunkelgelocktes Haar hatte sie hinten zusammengebunden. Sie vertrieb sich die Zeit mit einem erfolgreichen Fantasybestseller. Immerhin schien sie die Lektüre so anzuregen, dass sie sich von ihrer Umgebung nicht ablenken ließ. Doch als jemand vom Zugpersonal vorbeikam, schaute sie auf. »Wann erreichen wir Haunted Corner?«
»In gut einer Stunde sind wir da, Madam. Wir sagen es durch.«
»Danke.«
Der Zugbegleiter war kaum verschwunden, als sich ihr Nachbar an sie wandte: »Sie fahren auch nach Haunted Corner? Dann haben wir das gleiche Ziel! Die Geisterburg! So eine Überraschung! Jack ist mein Name, Jack Donelly.«
»Susan Dice. Aber ein so großer Zufall ist das gar nicht, Mr Donelly. Ich nehme an, viele der Fahrgäste in diesem Waggon steigen in Haunted Corner aus. Der Bahnsteig ist so kurz, dass gerade mal ein Wagen an ihm halten kann. Das wird bei der Platzreservierung berücksichtigt.«
»Ach! Das ist ja interessant! Haunted Corner, ein so kleiner Bahnhof … Sie wollen sich also auch etwas … gruseln lassen?«
»Ja, ich brauche mal eine Woche Abstand vom Alltag. Und Sie?«
»Ich bin … Drehbuchschreiber für eines der Filmstudios in Hollywood. Die Arbeit beim Film ist wirklich eine Tretmühle, und ich fürchte, ich bin etwas ausgebrannt. Vielleicht kommen mir in der Geisterburg ein paar neue Einfälle. Ich hoffe es zumindest.«
»Drehbuchschreiber sind Sie – wie interessant! Das klingt ja unheimlich spannend. Im Reiseprospekt habe ich gelesen, dass eine Menge aufregender Dinge auf uns warten. Vielleicht regt Sie das wirklich zu neuen Ideen an. Die ›Schlucht des Todes‹ steht auf dem Programm und auch die ›Höhle des Grauens‹!«
Justus verfolgte das Gespräch noch eine Weile, verlor dann aber das Interesse, da es zunehmend auf den Austausch von Höflichkeiten und Komplimenten hinauslief. Er stand auf, zog sein T-Shirt glatt und schlenderte durch den Waggon. Wenn es stimmte, was diese Susan Dice gesagt hatte, dann waren auch die anderen Gäste des Hotels unter den Passagieren des Großraumabteils.
Und tatsächlich: An mehreren Stellen unterhielt man sich bereits über die Geisterburg. Dort, die beiden älteren Damen zum Beispiel, bestimmt beide über siebzig, die eine etwas molliger als die andere. Ihnen gegenüber saß ein Mann mit Halbglatze und hellgrünem Pullover, der gerade sein Wissen von der Geisterburg zum Besten gab.
»Vor einem halben Jahr erst wurde das Hotel eröffnet. Wir werden den allerneusten Spuk erleben, meine Damen. Ich hoffe, Sie haben starke Nerven!«
»Die werden Sie ebenfalls brauchen, Sir! Haben Sie schon von der ›Höhle des Grauens‹ gehört? … Dort hat es beinahe einen Unfall gegeben.« Elisabeth, die etwas fülligere der beiden Damen, senkte ihre Stimme, so als verriete sie ein großes Geheimnis. »Man muss nur eins und eins zusammenzählen: Ich sage Ihnen, da steckt ein echtes Gespenst dahinter! Ein böser Fluch liegt auf der Höhle! Jeder, der sie betritt, wird sterben.«
»Wissen Sie, über kurz oder lang werden wir alle sterben«, sagte der Mann im grünen Pullover gedehnt, während sein Blick Justus streifte. »Sie glauben doch nicht an derlei Unsinn?« Er stockte und sah zu Justus auf, der neugierig stehen geblieben war. »Kann ich helfen, junger Mann?«
»Oh, nein, alles in Ordnung.« Justus hätte gerne mehr über die Höhle erfahren, doch die Gelegenheit, dem Gespräch noch länger zu lauschen, war dahin. Also setzte er sich wieder in Bewegung. Während er noch über die Bemerkung der alten Dame nachdachte, entdeckte er unter den weiteren Passagieren ein Gesicht, das ihm bekannt vorkam: Klar, es war John Fairbanks, ein Hollywoodschauspieler, der in Actionfilmen auftrat, begleitet von einer jungen Kollegin, die Justus ebenfalls aus Kinofilmen kannte. Hal Montgomery oder so ähnlich lautete ihr Name. Waren die beiden auch auf dem Weg nach Haunted Corner?