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Ein Kindermädchen, das nachts in Gestalt eines Seehunds ihr Unwesen treibt – das ist für die drei ??? fast schon Alltag. Wäre da nicht die Tatsache, dass dieses Kindermädchen seit Jahren auf einem Friedhof an der Küste begraben liegt! Als Justus, Peter und Bob mit den Ermittlungen beginnen, müssen sie feststellen, dass sie mitten in ein gefährliches Netz aus Intrigen, Verrat und Machtspielen geraten sind. Wem können die Detektive überhaupt noch trauen? Die Wahrheit scheint auf dem Grund des Meeres zu liegen. Verborgen in den Tiefen eines Unterwasserwaldes.
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Seitenzahl: 151
Tauchgang ins Ungewisse
erzählt von Kari Erlhoff
Kosmos
Umschlagillustration von Silvia Christoph, Berlin
Umschlaggestaltung von der Peter Schmidt Group, Hamburg,
auf der Grundlage der Gestaltung von Aiga Rasch (9. Juli 1941 – 24. Dezember 2009)
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© 2022, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG,
Pfizerstraße 5–7, 70184 Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
Mit freundlicher Genehmigung der Universität Michigan
Based on characters by Robert Arthur
ISBN 978-3-440-50525-0
eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
Das Mädchen stand vor einem Sarg. Sie verzog keine Miene, sondern schaute einfach nur auf die dunkle Holzkiste hinab. Justus Jonas hatte sie nicht kommen sehen. Das war erstaunlich. Immerhin arbeitete er seit über einer Stunde hier draußen auf dem Schrottplatz und hatte dabei die Einfahrt stets im Blick gehabt. Onkel Titus und Tante Mathilda besuchten eine Bekannte im Krankenhaus und Justus sollte sich solange um die Kunden kümmern, die Post entgegennehmen und nebenbei noch die letzten Weihnachtsgirlanden abhängen.
»Hallo!«, rief Justus. Er wischte sich die Hände an seiner Hose ab und ging auf das Mädchen zu. Wie immer brauchte er nur ein paar Sekunden, um sein Gegenüber von Kopf bis Fuß zu mustern und Schlüsse zu ziehen. Das Mädchen war deutlich kleiner als er. Sie war dünn, aber nicht dürr. Er schätzte sie auf acht, höchstens zehn Jahre. Ihre dunklen Haare waren kurz geschnitten und rahmten ein schmales, ungewöhnlich blasses Gesicht ein. Sie trug eine Kette aus kleinen Bernsteinen und einen Mantel mit Hornknöpfen. Überhaupt bestand ihre Kleidung überwiegend aus Naturmaterialien. Schlicht, ordentlich, aber vermutlich teuer.
Justus schätzte, dass sie eine Sammlerin war. Auf dem Schrottplatz gab es die seltsamsten Dinge und für jeden Geschmack war etwas dabei – von altem Spielzeug bis zur Mineraliensammlung und vom Teeservice bis zum Leierkasten. Es gab bunte Gemälde, Gartenmöbel und Pferdesättel, leere Aquarien und Hamsterställe, Modeschmuck und Puppenhäuser, Autositze und Gardinenstangen, Schuppentüren und Standuhren. Das war auch der Grund, warum Justus’ Onkel stets beteuerte, dass er kein Schrotthändler sei, sondern Kunst und Kuriositäten aller Art verkaufe. Den Schrott gab es allerdings – in beachtlichen Haufen aufgetürmt – auch. Der Ort war eine wahre Fundgrube.
»Der ist nicht echt«, erklärte Justus, als das Mädchen langsam den Kopf hob. Dessen Augen waren beinahe schwarz.
»Ich würde sagen, der Sarg ist durchaus real«, gab das Mädchen zurück.
Justus hob die Augenbrauen. Normalerweise war er es, der die Kunden mit seiner gehobenen Sprechweise überraschte. »Das Material ist selbstverständlich echt – also real«, korrigierte er sich. »Allerdings wurde dieses Stück nicht gefertigt, um jemanden darin zu begraben. Es ist eine Filmrequisite.«
»Welches Genre?«
»Horror. Soweit mir bekannt ist«, gab Justus zurück. »Kann ich dir helfen?«
»Ja«, sagte sie.
Justus wartete ab, doch das Mädchen redete nicht weiter.
»Suchst du etwas?«
»Ja.« Sie umrundete den Sarg und ließ den Blick über ein paar steinerne Katzen streifen, die auf einem Tisch standen.
»Porzellanpferde? Alte Comics? Kerzenständer? Ersatzteile?«, ratterte Justus das Sortiment des Schrottplatzes herunter. »Besteck, Lampen, Musikinstrumente?«
»Dich.« Sie blieb direkt vor ihm stehen und sah zu ihm auf.
»Wie bitte?«, fragte Justus irritiert.
»Das ist die Antwort auf deine Frage.«
Justus atmete tief durch. »Da ich nicht zum verkäuflichen Inventar unseres Gebrauchtwarencenters gehöre, gehe ich davon aus, dass du mich suchst, weil du einen Auftrag oder eine Botschaft für mich hast.«
Sie nickte. »Ja.«
»Für mich und meine Kollegen?«, hakte Justus nach.
»So ist es«, bestätigte das Mädchen. »Denn Peter Shaw und Bob Andrews gehören doch mehr oder weniger zu deinem Detektivbüro dazu, wenn ich richtig informiert bin.«
»Definitiv mehr als weniger«, sagte Justus entschieden. »Wir sind ein Team. Aber kommen wir zu dir. Gehe ich recht in der Annahme, dass du einen Fall für uns hast?«
»Ja.«
Justus war sich sicher, dass das Mädchen ihn testete. Es mochte vielleicht noch sehr jung sein, aber es strahlte eine Überlegenheit aus, die es um Jahre älter scheinen ließ.
Gerade, als er überlegte, welche Gesprächstaktik er ihm gegenüber anwenden sollte, rollte Bobs VW Käfer auf den Hof. Der Wagen parkte, dann sprangen Bob und Peter heraus. »Wunderbar«, sagte Justus. »Ich würde vorschlagen, du teilst uns dein konkretes Anliegen mit, sobald sich meine Kollegen zu uns gesellt haben.«
»Hallo«, sagte Bob gut gelaunt, als er zu ihnen trat. Er musterte das Mädchen kurz und schenkte ihm ein freundliches Lächeln.
Peter kam grinsend hinterher. »Ratet mal, was ich …«
»Wir haben eine potenzielle Auftraggeberin hier«, unterbrach Justus seinen Freund.
»Oh«, machte Bob. »Da bin ich aber gespannt.« Er beugte sich leicht vor. »Ich bin übrigens Bob.«
»Und ich bin Peter!«
»Jorunn«, sagte das Mädchen knapp. Dann wandte es sich wieder an Justus. »Ich habe gehört, dass ihr euch auf geheimnisvolle, mysteriöse und rätselhafte Fälle spezialisiert habt.«
Peter und Bob sahen ihren Freund irritiert an.
Justus aber zückte die Visitenkarte der drei ???. »Darf ich dir unsere Karte geben?«
»Nein«, sagte das Mädchen. »Ich kenne den Text der Karte bereits. Sonst wäre ich wohl nicht hier, oder?«
Bevor Justus etwas antworten konnte, sagte Peter: »Dann weißt du bestimmt auch, dass wir schon ziemlich viele solcher Fälle gelöst haben. Mit seltsamen Rätselgedichten, merkwürdigen Schätzen oder angeblichen Spukhäusern.«
Das Mädchen sah ihn an. »Mit Lyrik kann ich nichts anfangen, für Gold und Edelsteine habe ich keine Verwendung und übernatürliche Phänomene habe ich innerhalb meines Hauses noch nicht beobachten können.«
»Schon okay!« Peter hob abwehrend die Hände. »Bist du zufällig mit Justus verwandt oder liest du in deiner Freizeit Wörterbücher?«
Jorunn überging die Frage. »Ich möchte, dass ihr meine Nanny findet.«
»Dein Kindermädchen?«, fragte Bob. Er zückte den kleinen Notizblock, den er immer bei sich trug.
»Nach Personen, die länger als 48 Stunden vermisst werden, sucht die Polizei«, erklärte Justus. »Eventuell können wir dennoch bei der Suche behilflich sein. Wann hast du deine Nanny denn das letzte Mal gesehen?«
Jorunn musste nicht lange überlegen. »Am 22.November. Gegen 12 Uhr.«
»Das ist ja schon über einen Monat her!«, sagte Peter.
»Schon über 49 Monate«, korrigierte das Mädchen. »Meine Nanny starb am 22.November vor vier Jahren.«
»Sie starb?«, fragte Peter mit belegter Stimme. »Das heißt, sie ist tot?«
»Und wir sollen sie trotzdem suchen?«, fragte Bob mit hörbarem Unbehagen.
»Möglicherweise. Und ja.« Jorunn blickte auf den Film-Sarg. »Silja ist in unsere Bucht zurückgekehrt. Ich vermute, dass sie sich tagsüber am Meeresboden aufhält. Ob sie nun tot, untot oder auf eine seltsame Weise lebendig ist, kann ich nicht beurteilen. Ihr Zustand ist aber definitiv … ungewöhnlich.« Sie zögerte. Dann fuhr sie fort: »Die Polizei wäre mit so einem Fall überfordert. Darum möchte ich, dass ihr sie findet.«
Peter verschränkte die Arme. Wie oft hatten Justus und Bob ihn schon dazu überredet, seltsamen Geheimnissen nachzugehen. Aber das ging eindeutig zu weit! Er würde die Ferien nicht damit verbringen, ein totes oder untotes Kindermädchen zu suchen. Definitiv nicht! Nach Bobs Mine zu urteilen schien der das dieses Mal ähnlich zu sehen. Sogar Justus war skeptisch.
»Ich fürchte, das fällt nicht ganz in unseren Kompetenzbereich«, erklärte der Erste Detektiv dem Mädchen.
»Es fällt definitiv in euren Kompetenzbereich«, gab Jorunn zurück. »Offiziell ist meine Nanny gestorben. Inoffiziell scheint sie noch am Leben zu sein. Allerdings nicht als Mensch. Kannst du etwas mit dem Begriff ›Selkie‹ anfangen?«
»Selbstverständlich«, erwiderte Justus. »Bei Selkies handelt es sich um Fabelwesen, die ihre Gestalt wandeln können. Sie leben als Robben im Meer, können jedoch ihren Pelz ausziehen und als Menschen an Land gehen. Soweit ich weiß, entstammen sie der schottischen Mythologie.«
»Du glaubst, dass dein Kindermädchen ein Seehund ist?«, fragte Bob verblüfft.
»Ich habe zumindest bis jetzt noch keinen Gegenbeweis für diese Theorie gefunden«, sagte Jorunn. Sie wirkte noch immer sehr ruhig und selbstsicher. Nur Justus bemerkte die winzigen Gesten, die zeigten, dass sie angespannt war. Das Thema ließ sie nicht kalt, auch wenn sie sich nach außen gelassen gab. »Was ich also brauche, sind unvoreingenommene Detektive, die tauchen können und sich nicht von Geistern und Dämonen abschrecken lassen.«
Peter stieß ein kurzes, trockenes Lachen aus.
Jorunn sah ihn streng an. »Ich weiß, dass du abergläubisch bist, also mache dich bitte nicht über mich lustig.«
»Glaubst du denn ernsthaft an Geister und Dämonen?«, wollte Justus wissen.
»Nicht an alberne Spukgeschichten«, sagte Jorunn kühl. »Ich bin kein naives Kind.«
Peter konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Die Augen des Mädchens wurden schmal und seine Stimme klang schneidend. »Ich kann dir Einsteins Relativitätstheorie in vier Sprachen erklären, die neusten Publikationen über geopolitische Machtgefüge aufzählen und ich schieße auf zwanzig Meter einen Apfel vom Baum, während ich dir die Formel der Schwerkraft aufsage.«
Der Zweite Detektiv machte unwillkürlich einen Schritt zurück.
Jorunn wandte sich unterdessen wieder an Justus. »Wissen ist Macht. Das ist seit Generationen ein wichtiges Motto meiner Familie. Dazu gehört aber auch das Wissen, dass wir eben nicht alles wissen. Alles andere wäre dumm und eitel.«
Diese Äußerung war eindeutig auf Justus bezogen und der Erste Detektiv war tatsächlich für einen Moment sprachlos. Dafür meldete sich Bob zu Wort, um die Situation etwas zu entspannen. »Vielleicht gibt es ja wirklich ein Geheimnis um dein Kindermädchen. Aber wie kommst du ausgerechnet darauf, dass sie eine Selkie ist?«
Jorunn sah auf ihre Uhr. »Ich habe einen engen Terminplan. Die Details können wir gern besprechen, wenn ihr den Fall übernommen habt. Es gibt jedoch mehrere Hinweise, die meine Selkie-Theorie stützen. Unter anderem die Tatsache, dass ich Silja gestern Nacht gesehen habe. Im Meer!«
»Was hast du denn nachts im Meer gemacht?«, fragte Peter.
»Das gehört zu den Details, die wir in Ruhe klären sollten.« Jorunn griff in eine kleine Ledertasche, die sie umgehängt hatte. »Ich lasse euch meine Karte da. Dann könnt ihr mich anrufen, sobald ihr euch entschieden habt. Und geht mit dem Auftrag bitte diskret um. Ich möchte nicht, dass mein Onkel davon erfährt … oder andere Leute.« Sie zückte ein weißes Kärtchen und legte es auf den Deckel des Sarges. Dann warf sie Justus noch einen eindringlichen Blick zu, drehte sich um und verschwand mit zügigen Schritten hinter einem Berg aus Schrott.
»Sehr seltsam«, fand Bob, als das Mädchen aus seinem Blickfeld verschwunden war.
»Ich fand sie richtig unheimlich!«, gab Peter zu. Er schaute den Ersten Detektiv an, doch Justus blickte gedankenverloren an seinen Kollegen vorbei.
Dann setzte er sich plötzlich in Bewegung. »He, warte!«, rief er, beschleunigte und rannte nun ebenfalls um den Schrottberg herum. Doch er war nicht schnell genug.
Jorunn hatte nicht nur eine Menge offener Fragen hinterlassen, sie hatte außerdem den Schrottplatz nicht durch das Tor verlassen, sondern war in eine vollkommen andere Richtung gelaufen. Der Erste Detektiv sah sich um. Das Mädchen war nirgends zu entdecken. Es war einfach verschwunden. Nachdenklich kehrte er zu seinen Freunden zurück.
Bob hatte inzwischen die Visitenkarte aufgehoben. Er starrte auf das Papier.
»Jorunn ist weg«, sagte Justus unzufrieden. »Sie muss einen unserer geheimen Ausgänge benutzt haben. Ich frage mich, woher sie so viel über uns weiß.«
»Vielleicht ist es ein Streich«, überlegte Peter. »Jemand will uns ärgern. Zum Beispiel Skinny Norris oder jemand aus unserer Schule!«
»Ich fürchte, es ist kein Streich«, sagte Bob tonlos. Dann reichte er Justus die Karte. Darauf stand lediglich ein einzelner Name: Jorunn Grey.
»Der Name Grey kommt doch bestimmt häufiger vor.« Peter wanderte in der Zentrale der drei ??? auf und ab. Nachdem Tante Mathilda und Onkel Titus zurückgekehrt waren, hatten die Jungen sofort eine Sitzung in ihrem geheimen Hauptquartier eröffnet, das sich in einem – unter einem Berg von Schrott versteckten – Campingwagen befand. »Es könnte ein Zufall sein.«
»Wenn es um William Grey geht, glaube ich nicht an Zufälle«, sagte Justus. Er saß am Schreibtisch und machte sich an einer Schublade zu schaffen. »Jorunn war genau im Bilde, was unser Detektivbüro betrifft, und es besteht durchaus eine gewisse Familienähnlichkeit zwischen ihr und Mr Grey.«
»Wenn das so ist, sollten wir den Fall ablehnen.« Bob fuhr sich angespannt durch die Haare. »Ich möchte nie wieder etwas mit diesem Unterweltboss zu tun haben.«
»Ich auch nicht«, sagte Peter mit Nachdruck.
»Da ist es!« Justus hatte den Boden der Schublade hochgebogen. Oder vielmehr das, was auf den ersten Blick wie der Boden aussah. Mit zwei Fingern zog der Erste Detektiv ein kleines Stück Papier zwischen dem echten und dem falschen Boden hervor. Darauf befand sich eine Bleistiftzeichnung. »Ich habe bei unserem letzten Zusammentreffen mit Mr Grey das Motiv seines Rings abgepaust.«
»Daran erinnere ich mich noch viel zu genau«, meinte Peter. »Dabei wollte ich den ganzen Fall eigentlich lieber vergessen. Mr Grey will ich wirklich nie wieder treffen.«
»Vielleicht müssen wir das auch gar nicht«, überlegte Justus. »Wenn ich die Zusammenhänge richtig deute, ist Jorunn vermutlich William Greys Nichte. Sie hat am Ende unseres Gesprächs kurz ihren Onkel erwähnt, der nichts von der Sache erfahren soll. Allerdings scheinen sie keinen gemeinsamen Wohnsitz zu haben. Mr Greys Landgut ist uns schließlich bekannt.« Er wies auf die Visitenkarte, die jetzt auf dem Schreibtisch lag. Auf der Rückseite hatten die Jungen Adresse und Telefonnummer des Mädchens gefunden.
»Der Mann besitzt auch ein Penthouse in Las Vegas«, warf Bob mit einem Blick auf die Karte ein. »Warum sollte er nicht zusätzlich ein Haus an der Lorca Bay haben?«
»So, wie es aussieht, wissen wir jetzt also von zwei ungelösten Rätseln in Bezug auf die Greys«, sagte Justus. »Die Bedeutung des Rings und jetzt auch noch ein Kindermädchen, das nach seinem Tod wieder auftaucht.«
»Ich wette, Mr Grey hat das Kindermädchen beseitigt!«, ereiferte sich Peter. »Und Jorunn kommt nicht darüber hinweg. Deswegen hat sie sich diese Geschichte über Seehundmenschen ausgedacht.«
Bob hob die Hand. »Ich bin dafür, dass wir den Fall nicht übernehmen!«
Peters Hand schoss ebenfalls in die Höhe. »Ich auch! Wer von euch hat Lust, ins Kino zu gehen? Ich gebe eine Runde Popcorn aus!«
»Zwei ungelöste Rätsel.« Justus nahm ein leeres Blatt Papier und einen Stift vom Tisch.
»Nicht jeder Fall muss aufgeklärt werden«, sagte Peter ungeduldig. »Komm schon, Just! Ich verspreche dir auch eine extra große Portion Popcorn. Du darfst den Film auswählen und anschließend holen wir uns Nachos oder einen Burger.«
»Ich gebe die Getränke aus!«, fügte Bob noch hinzu. Aber er wusste bereits, dass sie auf verlorenem Posten kämpften. Justus Jonas konnte so einem Auftrag nicht widerstehen.
Tatsächlich sah der Erste Detektiv entschlossen von dem Blatt Papier auf, das nun mit mehreren Notizen beschrieben war. »Ich werde das Telefonat heute Abend führen. Das gibt uns noch etwas Zeit zur Vorbereitung.«
Peter wandte sich zur Tür. »Ich gehe ins Kino.«
»Dann viel Spaß«, antwortete Justus. Er drehte sich zu Bob und hielt ihm den Zettel hin. »In diesem Fall besteht dringender Recherchebedarf. Ich habe eine Liste mit allen Themen angefertigt, über die wir uns informieren müssen. Könntest du das bis acht Uhr erledigen? Du kannst anschließend bei uns essen. Tante Mathilda macht Nudelauflauf.«
Justus fuhr hoch. Um ihn herum war es stockdunkel. Sein Mund fühlte sich wie ausgedörrt an. Sein Nacken tat ihm weh. Der Erste Detektiv wischte sich mit beiden Händen über das Gesicht. Dann blinzelte er. Er hatte schlecht geträumt und realisierte nur langsam, wo er war. Er befand sich nicht in der Zentrale, sondern in seinem Zimmer. Peter und Bob waren nicht hier und das galt auch für den riesigen grauen Wolf, in dessen Rachen er gerade eben noch geblickt hatte. Justus seufzte erleichtert. Es war nur einer dieser verrückten Träume gewesen, die ihn so oft um den erholsamen Schlaf brachten. Gleich würde es ihm besser gehen. Doch das Gefühl, dass irgendwo eine ungeahnte Bedrohung lauerte, ließ sich nicht so schnell abschütteln.
Nach einer Weile stand Justus auf und tappte leise die Treppe hinunter. In der Küche goss er sich ein Glas Wasser ein. Ein leichter Geruch von Nudelauflauf hing noch in der Luft. Die Grünpflanzen auf dem Fensterbrett warfen lange Schatten im Licht der kleinen Außenleuchte. Die Wanduhr tickte unnatürlich laut. Die Zeiger standen auf halb drei. Tante Mathilda und Onkel Titus schliefen vermutlich tief und fest. Justus nahm einen großen Schluck Wasser, dann stieg er wieder hoch zu seinem Zimmer. Dort schaltete er die Schreibtischlampe an. Auf der Tischplatte lagen mehrere Notizzettel und kopierte Zeitungsberichte. Bob hatte ganze Arbeit geleistet und dem Ersten Detektiv am Abend eine volle Aktenmappe gebracht. Dafür war er sogar im Archiv der Los Angeles Post gewesen, der Zeitung, für die sein Vater arbeitete. Außerdem hatte er auf dem Rückweg einen Abstecher zur Universität Ruxton gemacht. Im Fachbereich für Anthropologie hatte man ihm ein paar Artikel über Wesen aus der schottischen Mythologie in die Hand gedrückt. Dort hatte der dritte Detektiv zufällig auch eine weitere interessante Sache erfahren: Jorunn Grey war am Morgen ebenfalls in Ruxton gewesen und hatte sich nach Selkies erkundigt.
Jorunn Grey – William Greys Nichte. Tochter eines inhaftierten Verbrechers und zukünftige Alleinerbin eines gigantischen Familienunternehmens. Justus klopfte nervös mit den Fingern auf die Tischplatte. Es mochte sein, dass Jorunn tatsächlich glaubte, ihr verstorbenes Kindermädchen sei eine Selkie. Genauso wahrscheinlich war es jedoch, dass die drei ??? mit offenen Augen in eine Falle tappten. Trotzdem kam es für Justus nicht infrage, den Auftrag abzulehnen.
Neben Bobs Recherchen lag das abgepauste Motiv von William Greys Ring. Es zeigte eine geometrische Form, die von einem verschnörkelten Rahmen umgeben war. Justus hatte in den vergangenen Monaten versucht, den Ring aus seiner Erinnerung und mithilfe des abgepausten Motivs nachzubilden. Dafür hatte er sogar eine Form aus Silikon hergestellt. Bislang war er jedoch mit dem Ergebnis nicht zufrieden.
Daher beschäftigte er sich jetzt lieber mit einem Zeitungsartikel, der über ein Bootsunglück berichtete: »Am frühen Abend des 22.Novembers sank ein Sportboot in der Lorca Bay. Es war vermutlich nur mit einer Person besetzt. Die Bootsführerin, Silja B. (32 Jahre), wird seit dem Unglück vermisst.