Die dritte Freundin - Araminta Hall - E-Book
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Die dritte Freundin E-Book

Araminta Hall

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Beschreibung

Serienverfilmung mit Elisabeth Moss in Planung

Wer die Wahrheit sagt, muss lügen


Eleanor, Nancy und Mary sind beste Freundinnen seit der Uni. Eine Karriere, zwei Ehen und mehrere Affären und Kinder später ist von ihren großen Plänen nicht mehr viel übrig. Nur ihre Freundschaft gibt ihnen Halt. Doch dann kehrt Nancy eines Abends nicht mehr nach Hause zurück und wird bald darauf tot aufgefunden. Eleanor ist verzweifelt, denn sie wusste, dass Nancy eine Affäre hatte, die sie beenden wollte – gegen den Willen ihres Geliebten. Doch ist die Lösung wirklich so einfach? Jede der drei Frauen hat ihre eigene Version von dem, was wirklich geschah, und jede hütet ihre eigenen Geheimnisse.

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Seitenzahl: 528

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Das Buch

Drei Freundinnen, drei Leben und ein Verbrechen, das alles verändert

Eleanor hat eine erfolgreiche Karriere und liebt ihr Singleleben – abgesehen von der kleinen Schwäche für den Ehemann ihrer besten Freundin. Mary ist klug und wissbegierig, aber in ihrem Leben mit drei Kindern und einem dominanten Mann bleibt keine Zeit für ihre eigenen Träume. Nancy schien alles richtig gemacht zu haben: Sie war schön, führte eine glückliche Ehe und hatte eine wunderbare Tochter. Doch jetzt ist sie tot. Als Nancys Leiche gefunden wird, entpuppt sich ihr perfektes Leben nach und nach als Lüge. Dabei müssen sich Eleanor und Mary bald eingestehen, dass nicht nur Nancy etwas zu verbergen hatte. Wenn sie herausfinden wollen, was wirklich mit ihrer Freundin geschah, müssen sie sich selbst der Wahrheit stellen.

Die Autorin

Araminta Hall arbeitet als Journalistin, Lehrerin und Autorin. Derzeit unterrichtet sie Kreatives Schreiben in Brighton, wo sie auch mit ihrem Mann und ihren drei Kindern lebt.

Lieferbare Titel

The Couple

ARAMINTA HALL

Aus dem Englischen von Carola Fischer

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe Imperfect Women erschien erstmals 2020 bei Orion, London.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstausgabe 12/2021

Copyright © 2020 by Araminta Hall

Copyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Anita Hirtreiter

Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München

unter Verwendung von Trevillion Images / © Jane Morley

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-26762-9V002

www.heyne.de

Für meine eigenen wunderbar unvollkommenen Frauen:

Polly, Emily M., Dolly, Shami & Emily S.

»Der perfekte Mensch ist alle Menschen zusammengenommen, das ist eine Gemeinschaft, denn wir alle zusammen machen die Perfektion aus.«

Sokrates

ELEANOR

»Eleanor.«

Sie setzte sich auf, denn ihr war nicht bewusst gewesen, dass sie ans Telefon gegangen war. Die Nacht war noch dunkel, und nichts ergab einen Sinn. Ihr Kopf drehte sich, und als sie ihn nach vorn sinken ließ, damit das aufhörte, drangen ihr andere Dinge ins Bewusstsein.

»Robert?«

»Tut mir leid, dass ich dich aufgeweckt habe.«

»Wie spät ist es?«

»Kurz nach vier.«

»Mein Gott, ist etwas passiert?«

»Nein. Also, ich weiß es nicht genau. Nancy ist nicht da. Ich muss beim Lesen eingeschlafen sein, denn als ich gerade aufwachte, war sie immer noch nicht zurück. Und bei ihrem Handy geht sofort die Mailbox an.«

Die Straßenbeleuchtung fiel durch die Vorhangritzen, und Eleanor versuchte sich auf den künstlichen Lichtstreifen zu konzentrieren, als hätte er eine besondere Bedeutung.

»Du weißt nicht zufällig, wo sie ist, oder? Ich meine, vielleicht ist sie ja nach dem Essen noch mit zu dir gekommen?« Er klang angespannt.

»Nein, nein, ist sie nicht.« Sie schwang ihre Beine aus dem Bett, und die ganze Verärgerung über Nancy, die sie am Vorabend, im Grunde schon seit langer Zeit, empfunden hatte, stieg wieder in ihr hoch. »Wenn du willst, kann ich in einer Viertelstunde bei dir sein.«

»Aber nein, du musst doch nicht …«

»Das ist in Ordnung, Robert. Ich zieh mir nur schnell was über und fahre dann gleich los.«

Seine Stimme stockte. »O Gott, glaubst du denn … ich meine, soll ich die Polizei rufen?«

»Nein, warte, bis ich da bin.« Während sie sprach, zog Eleanor ihre Jeans an, und ihre Verärgerung verwandelte sich in Wut. Am liebsten würde sie irgendeinen Gegenstand greifen, ihn gegen die Wand schleudern und Nancy anschreien. Sie wollte ihr ins Gesicht sagen, was ihr nicht passte. Das hier würde sie ihr nicht durchgehen lassen. Sie würde alles erzählen, bis ins letzte Detail, jede schmerzvolle Sekunde, sie würde ihr nichts ersparen.

Während sie im Auto die wenigen Kilometer zwischen ihrer kleinen Wohnung und Nancys großem Haus zurücklegte, suchte Eleanor nach den Worten, die sie zu ihrer Freundin sagen würde, wenn sie sie das nächste Mal sah. Sie würde verlangen, dass Nancy aufhörte, diese dummen Spielchen mit ihnen zu spielen, dass sie zugab, was sie getan hatte, damit sie sich alle wieder mit ihren eigenen Problemen beschäftigen konnten. Im Laufe der Jahre hatte Eleanor miterlebt, wie Nancy ständig kleine persönliche Dramen heraufbeschwor, die jetzt in dem einen großen gipfelten, und sie fragte sich, ob ihre Freundin einfach nur versuchte, sich interessant zu machen, weil ihr Leben nicht halb so erfüllt war, wie es hätte sein können. Manchmal überlegte sie, wie es wohl wäre, Nancys scharfen Verstand zu haben, ohne ihn je für einen konkreten Zweck zu nutzen. Nancy hätte wirklich jede Position erreichen und jede Tätigkeit erlernen können, und doch hatte sie es so oft versäumt, sich einer Sache vollkommen zu widmen. Gelegentlich bekam man das Gefühl, als ob Nancy sich aus ihrer eigenen Lebensgeschichte herausgeschrieben hätte, und das war zweifellos ein Sabotageakt.

An einer roten Ampel hielt Eleanor an, und drei Teenager tänzelten – die Arme untergehakt, lachende Gesichter – über die Straße. Dann wurde sie traurig. Die drei erinnerten sie an ihre eigene Jugend, ein Riss im Saum der Zeit, denn sie hätten auch Nancy, Mary und sie selbst vor dreißig Jahren sein können.

Eines der Mädchen drehte sich um, als sie am Auto vorüberging, und ihr Blick begegnete dem von Eleanor. Einen Moment lang erstarb das Lächeln auf ihren Lippen, danach verwickelte ihre Freundin sie wieder in ein Gespräch. Sie sahen aus wie die Studentinnen, die Nancy, Mary und sie selbst gewesen waren, als sie sich am ersten Tag der Erstsemester-Einführungswoche an der Uni kennengelernt hatten, alle drei tief erstaunt über ihr Glück, einander so schnell zu finden. Eleanor fragte sich, ob die Mädchen, wie damals sie selbst, in ein unordentliches Haus zurückkehrten, wo sie über den gemeinsam verbrachten Abend lachten, bevor sie sich darüber unterhielten, was aus ihnen werden würde, in wen sie sich verknallen und wen sie lieben würden, was für ein Leben auf jede von ihnen wartete.

Als sie wieder anfuhr, versuchte sie sich daran zu erinnern, welche Ziele sie sich damals gesetzt hatten, in der festen Überzeugung, sie eines Tages zu erreichen. Sie nahm an, dass sie nicht allzu weit von ihrem Weg abgekommen war, obwohl sie davon geträumt hatte, Oxfam zu leiten und verschiedenen Komitees anzugehören, anstatt der kleinen Hilfsorganisation, die sie gegründet hatte. Mary hatte weiterhin in der Welt der griechischen Götter verweilen wollen und eine akademische Laufbahn ins Auge gefasst. Tatsächlich, dachte Eleanor, ähnelte ihr Leben eher der Strafe eines griechischen Gottes, mit ihrer schrecklichen Ehe, die ihr sämtliche Energie raubte, obwohl sie ihre Kinder – das war unbestreitbar – bedingungslos liebte. Inzwischen waren Marcus, Mimi und Maisie schon groß – wo zum Teufel war bloß die Zeit geblieben? Es war schwer, sich auch nur daran zu erinnern, was Nancy hatte werden wollen. Eleanor dachte, dass sie sich für Journalismus interessiert hatte. Herausgeberin einer Tageszeitung war einmal Nancys höchstes Ziel gewesen, auch wenn das Eleanor jetzt unwahrscheinlich vorkam, denn der Gedanke war abwegig, dass Nancy mit irgendetwas in ihrem Leben zufrieden sein könnte.

Das Haus von Nancy und Robert war hell erleuchtet. Bereits von der Straße aus erkannte Eleanor, dass Robert in jedem Zimmer das Licht angeschaltet haben musste, und nun strahlte das Haus in der Dunkelheit, als würde dort gleich eine Party beginnen. Roberts Gesicht erschien am Bogenfenster im Wohnzimmer, und er öffnete die Haustür, als Eleanor die Stufen hinaufstieg. Zur Begrüßung zog er sie an sich und umarmte sie, wie er es immer tat.

»Soll ich uns einen Tee kochen?«, fragte er, als sie nach unten in die Souterrainküche gingen.

»Ich mache das. Setz dich hin«, sagte Eleanor.

Er tat wie ihm geheißen, sein gekrümmter Körper sank auf einen Stuhl, und er rieb sich die Augen, wodurch sein zerknittertes Gesicht noch mehr Falten bekam. Sein blondes Haar war zerzaust, vom Schlaf verwuschelt, dachte sie, und der Anblick stachelte die ihr wohlvertrauten zärtlichen Gefühle für ihn an.

Sie saßen am Tisch und nippten an ihrem Tee, und keiner von beiden sagte etwas, weil keiner es aussprechen wollte, weil keiner es wissen oder sagen wollte. Eleanor fuhr der Gedanke durch den Kopf, dass sie ein Paar in ihrem gemütlichen Eigenheim sein könnten, das früh zur Arbeit musste.

»Weißt du, wo sie ist?«, fragte Robert endlich.

»Nicht genau.« Eleanor umschloss ihren Teebecher mit den Händen und suchte nach einer Möglichkeit, Robert zu erzählen, was sie wusste.

»Aber es gibt einen anderen Mann, nicht wahr?« Er blickte ihr direkt in die Augen.

»O Gott, Robert, ich könnte Nancy umbringen.« Sie konnte es ihm nicht sagen, aber andererseits konnte sie ihm auch nicht ins Gesicht lügen.

»Wie lange geht das schon?«

»Das musst du sie selbst fragen.«

»Kann ich aber nicht, sie ist nicht hier.«

Eleanor dachte, dass Nancy sie bereits oft in unmögliche Situationen gebracht hatte, doch diese hier war wahrscheinlich die schlimmste. Vielleicht würde sie ihr dieses Mal nicht vergeben. »Ach, Robert, es tut mir so leid.«

»Ist sie gestern Abend zu ihm gegangen?«

»Nachdem wir zusammen essen waren, sagte sie, dass sie ihn noch treffen würde. Ich wusste nichts davon, wirklich nicht.«

»Es ist nicht deine Schuld, Eleanor.« Aber sein Tonfall war barscher, als sie es von ihm kannte. »Glaubst du, dass sie mich jetzt verlassen hat? Sind die beiden zusammen durchgebrannt?«

»Das glaube ich nicht. Sie hat versucht, mit ihm Schluss zu machen, aber er hat sich damit nicht abgefunden.« Zum ersten Mal verspürte Eleanor tief im Inneren einen Anflug von Angst, denn Nancy hatte die Affäre schon eine ganze Zeit lang beenden wollen, und sie konnte sich nicht vorstellen, was dieser andere Mann wohl gesagt haben mochte, sodass sie ihre Meinung derart grundlegend geändert hatte. Nancy war nicht gemein, auf keinen Fall war sie die Frau, die nicht zu dem Mann zurückkehrte, mit dem sie seit über zwanzig Jahren verheiratet war. Eleanor sprach wieder, um ihre Befürchtungen zu zerstreuen. »Sie hat mir kaum etwas über ihn erzählt, außer dass es ihn gibt. Gestern Abend war sie durcheinander. Sie hat wirklich versucht, der Sache ein Ende zu setzen.«

»Wer ist er?«

Eleanor fühlte, wie mit der Wärme des Tees Übelkeit in ihr aufstieg. »Bitte glaub mir, ich weiß es nicht. Sie hat mir nur gesagt, dass er David heißt und sie ihn über die Arbeit kennengelernt hat.«

Bei der Information zuckte er zusammen, als ob sie ihm eine Brandwunde zugefügt hätte. »Aber ist es ihr mit diesem Mann so ernst, dass sie mich seinetwegen verlässt?«

Eleanor vergegenwärtigte sich Nancys blasses Gesicht am Abend, dem Abend, der in dieser Nacht gemündet hatte. Was für ein absurder Gedanke. Es stimmte, dass sie die Affäre beenden wollte, doch sie war auch merklich niedergeschlagen gewesen, und bei Nancy wusste man nie genau, welche Gefühle echt waren und welche übertrieben. Eleanor tröstete sich, indem sie sich in Erinnerung rief, dass Nancy impulsiv und wagemutig war. Sie war sicher nicht weggelaufen, aber es war möglich, dass sie eine Dummheit begangen hatte. Eleanor blickte wieder zu Robert und seinen durchdringenden blauen Augen, seinem verlässlichen Wesen und konnte nicht verstehen, warum er Nancy nicht genügt hatte. Als sie ins Bett gegangen war, hatte sie ein schlechtes Gewissen gehabt, dass sie nicht netter zu ihrer Freundin gewesen war, doch jetzt dachte sie, dass sie hätte strenger mit ihr sein sollen.

»Ich weiß es nicht. Das ging so etwa seit einem Jahr.« Ihre Worte ließen ihn zurückschrecken. »Aber sie wollte ihn wirklich nicht mehr sehen, zumindest hat sie es versucht. Sie wollte mit dir zusammen glücklich sein.« Herrgott noch mal, ihre Worte wurden Nancy nicht gerecht.

»Dann könnte das also ein allerletzter …« Seine Worte verloren sich, ihre Schäbigkeit beschmutzte die perfekte neue Küche, die Nancy gerade hatte einbauen lassen.

»Ach, Robert, das Ganze ist total scheußlich. Du hast das nicht verdient. Es tut mir so leid.« Eleanor dachte an die vielen Male, die sie an diesem Tisch gesessen und Roberts Essen gegessen und seinen Wein getrunken hatte, an die Wochenenden, die sie im Haus ihrer Freunde in Sussex verbracht hatte, an die bequemen Betten, die heißen Bäder, die Gespräche am Kamin und die langen Spaziergänge. Sie kam sich schändlich vor, dass sie seine Freundschaft verraten hatte.

»Jeder an deiner Stelle hätte das Gleiche getan. Ich meine, Nancy ist deine Freundin.«

»Aber du bist auch mein Freund.« Während sie sprach, streckte sie den Arm vor und legte ihre Hand auf seine. Seine Haut war überraschend weich.

Er schenkte ihr ein bitteres Lächeln.

»Ich weiß nicht, ob es das besser macht, aber ich habe ihr von Anfang an deutlich gemacht, dass ich dagegen bin. Ich habe sie nie dazu ermutigt.«

Er sah zur Uhr über der Tür auf, und Eleanor folgte seinem Blick. »Ich denke, ich sollte mich für die Arbeit fertig machen.«

»Es ist doch erst halb sechs.«

»Wir arbeiten gerade an einem großen Fall.«

»Aber auch heute? Ich meine, willst du allen Ernstes heute in die Kanzlei gehen?«

»Ich kann nicht hier herumsitzen und Trübsal blasen. Und ich würde lieber keine Entscheidungen treffen, bevor ich nicht mit Nancy gesprochen habe. Es ist besser, wenn ich beschäftigt bin.«

»Dann wirst du ihr also verzeihen?« Eleanor empfand ihre Stimme als schrill. »Ohne zu wissen, was wirklich passiert ist?« Einen Moment lang konnte sie es nicht ertragen, dass ihre Freundin auch diesmal davonkommen würde. Doch sie schob diesen Gedanken beiseite, denn sie musste verhindern, dass das letzte Jahr ihr die Freundschaft zu Nancy verleidete. Nancy war auch die Frau, die Eleanor schätzte, die sie zum Lachen brachte, die sie immer anrufen konnte, die sich häufig um sie kümmerte.

»Das habe ich nicht gesagt.« Eleanor hörte die unverhohlene Wut in seiner Stimme. Seine Hand umklammerte die Tischkante, und unter der Haut traten die Adern hervor. »Aber wir sind schon sehr lange zusammen. Und wir haben Zara. Ich meine, man schmeißt zwanzig Jahre nicht mal eben so weg.«

Der Augenblick fühlte sich unwirklich an, vielleicht weil es so früh am Tag, draußen aber noch nachtdunkel war. Eleanor schluckte ihre Tränen und ihre Beschämung hinunter – natürlich wusste sie nicht, was es hieß, solche Umstände in Betracht zu ziehen, andere Menschen, Langzeitbeziehungen. Doch dann stand Robert auf und Eleanor ebenso, denn es war unmissverständlich, dass sie gehen sollte.

»Danke, dass du gekommen bist«, sagte Robert, als sie zusammen die Treppe hinaufstiegen.

An der Haustür blieben sie stehen. »Woher wusstest du, dass sie eine Affäre hat?«

Robert zuckte die Achseln und schaffte es nicht, ihr in die Augen blicken. »Es war schon eine ganze Weile offensichtlich, dass etwas im Gange war. Ich denke, eine Affäre ist eine der Möglichkeiten, die einem dabei einfallen.«

Eleanor schob ihre Hand unter Roberts Ärmel und streichelte seinen Arm. »Ich glaube, ihr werdet eine Lösung finden. Ich hoffe es für euch.«

Er öffnete die Haustür, und die Morgenkälte drang herein. »Wenn du heute etwas von ihr hörst, lass es mich bitte wissen. Es könnte sein, dass sie mich nicht anruft.«

»Natürlich, ich melde mich. Und du dich bei mir.« Sie zitterte vor Kälte, doch Robert schien das nicht aufgefallen zu sein. »Wie auch immer.« Sie wandte sich zum Gehen und bemerkte dann ein weißes Auto, das vor dem Haus hielt. Sie blickte wieder zu Robert, und sein Gesicht verriet ihr, dass sie nicht falschlag. In der lautlosen, drückenden Stille des Tagesanbruchs beobachteten beide, wie zwei Polizisten aus dem Wagen stiegen und auf das Haus zukamen.

»O Gott«, sagte Robert hinter ihr.

Als sie die Stufen hinaufstiegen, verschmolzen ihre Uniformen mit der Dunkelheit.

»Mr. Hennessy?«, fragte einer von ihnen.

»Ja«, antwortete Robert.

»Dürften wir bitte hereinkommen, Sir?«

Robert trat einen Schritt zurück und ließ die Beamten ins Haus.

Sie sammelten sich in der Diele. Eleanor hätte sie am liebsten alle geschüttelt und die Polizisten gefragt, warum es ihnen nicht seltsam erschien, dass sie noch vor Anbruch der Morgendämmerung vor der Haustür standen.

»Können wir uns irgendwo hinsetzen?«, fragte einer der Beamten, also öffnete Robert die Tür zu dem in Hellgelb gestrichenen Wohnzimmer, einer Farbe, die Nancy immer ganz besonders gemocht hatte. In jedem Haus sollte es ein sonniges Zimmer geben,hörte Eleanor sie sagen, als sie alle auf dem Sofa Platz nahmen, als wären sie eine Gruppe Freunde, die sich zufällig traf, bevor die meisten Menschen aufstanden.

»Entschuldigung, und wer sind Sie?«, wandte sich der Polizist an Eleanor.

»Oh, Verzeihung, das ist Eleanor Meakins. Sie ist eine gute Freundin meiner Frau.« Die Äußerung hing bedrohlich in der Luft, wo doch eine Erklärung nötig gewesen wäre.

»Bitte, Mr. Hennessy, setzen Sie sich«, sagte der Polizist.

»Nein«, erwiderte Robert. »Ich bleibe lieber stehen.«

Der Polizist nahm seine Mütze ab, und sein Kollege tat es ihm gleich. »Es tut mir sehr leid. Vor etwas über einer Stunde haben wir eine Frau Ende vierzig gefunden, und wir haben Grund zu der Annahme, dass es sich um Ihre Ehefrau Nancy Hennessy handelt.«

Bei diesen Worten setzte sich Robert doch hin, direkt neben Eleanor. Sie spürte, wie das Sofa zusammengedrückt wurde und sein Körper gegen ihren sank. Sie konzentrierte sich so lange wie möglich auf dieses Gefühl, während sich der Rest der Welt um sie drehte.

»Warum denken Sie, dass es sich bei der Frau um Nancy handelt?«, fragte Robert schließlich.

»Man hat ihre Handtasche bei ihr gefunden, ihr Führerschein war im Portemonnaie.« Der zweite Polizist hatte immer noch nichts gesagt, und Eleanor fragte sich, ob dieser Besuch für ihn eine Art Übungseinheit war.

»O mein Gott. Was ist ihr zugestoßen?« Eleanor wurde von dem Gedanken beherrscht, dass Nancy die Nacht draußen in eisiger Kälte verbracht hatte.

»Das wissen wir im Moment noch nicht genau. Aber wie es aussieht, hat sie ein Schädel-Hirn-Trauma erlitten.«

Eleanor versuchte den Worten einen Sinn zu entnehmen. Der Polizist sprach von einem Schädel-Hirn-Trauma. Es hatte sie doch niemand verletzt, oder? Das war doch sicher ein Irrtum? Bei dem Gedanken stieg blinde Wut in ihr auf, und sie hatte das verzweifelte Verlangen, sofort zu ihrer Freundin zu eilen, um deren Schmerzen zu lindern.

»Wo ist sie?«, fragte Eleanor. »Ich meine, ist sie tot?«

Die beiden Polizisten und auch Robert blickten sie an, als ob sie dumm wäre. »Ja«, sagte schließlich der Polizist, der auch vorher geredet hatte. »Es tut mir leid, ich dachte, Sie hätten verstanden …« Er wurde tiefrot im Gesicht. »Sie ist jetzt im Leichenschauhaus.«

»Wo hat man sie gefunden?«, fragte Robert.

»Am Flussufer, in der Nähe von Hammersmith. Entschuldigen Sie die Frage, aber hätten Sie ein aktuelleres Foto Ihrer Frau für uns?«

Robert schien keine Anstalten zu machen, sich zu rühren, daher stand Eleanor auf und holte ein Foto vom Kaminsims. Sie wählte eine kürzlich gemachte Aufnahme von Nancy, die ihren Arm um Zara gelegt hatte. Es gab keine schlechten Bilder von Nancy, doch auf diesem hier verlieh ihr die Sonne im Hintergrund einen strahlenden Glanz und betonte ihre Vollkommenheit, als zeichnete sie ihre Konturen. Sie reichte es dem Polizisten, und der nickte, als er einen Blick darauf warf.

»Wir müssen Sie bitten, die Leiche zu identifizieren, Mr. Hennessy. Oder gibt es jemanden, der das für Sie tun kann?«

Robert stöhnte und klang dabei wie ein Bär.

»Ich kann das übernehmen«, sagte Eleanor.

»Nein«, sagte Robert. »Das sollte ich machen.«

Ihre Blicke begegneten sich, und panische Angst erfasste Eleanor, als sie begriff, dass Nancys Tod schlimmer war als jeder andere Todesfall irgendwo auf der Welt. Sie würden alle leiden, und nichts würde jemals mehr so sein, wie es einmal war.

Während sie auf den kalten Plastikstühlen vor dem Aufbahrungsraum auf Robert wartete, konnte sie sich nicht mehr erinnern, wie sie beide zum Leichenschauhaus gekommen waren. Sie versuchte sich den Ablauf der Fahrt zu vergegenwärtigen, einen Zusammenhang herzustellen, aber ihr fiel nichts ein. Robert war schnell wieder zurück, doch sein Blick war unstet, und er zitterte.

»Hast du etwas dagegen, wenn ich hineingehe?« Eleanor war selbst überrascht von ihrer Frage, Robert machte allerdings eine winkende Handbewegung zu dem Raum hin, sodass sie sich verpflichtet fühlte.

Der Raum war künstlich dunkel gehalten, zumindest war das Licht gedämpft, mit Plastikblumen in verstaubten Vasen und einem dunkelblauen Samtstuhl in einer Ecke. Auf einem Bett waren unter einem Laken die Umrisse eines Körpers zu erkennen, von dem Eleanor annahm, dass es Nancys war. Daneben stand eine Frau und nickte ihr zu, also erwiderte Eleanor das Nicken. Die Frau beugte sich vor und zog das weiße Laken zurück, und Eleanor begriff erst, was sie tat, als es schon zu spät war und ihr keine Zeit mehr blieb, sich auf den Anblick, der sie erwartete, vorzubereiten. Sie konnte nichts anderes tun, als vorzutreten, um ihre Freundin zu betrachten. Umgehend verspürte sie ungeheure Erleichterung, denn hier war zweifellos ein Fehler unterlaufen, das war nicht Nancy. Das war nur eine Reproduktion von Nancy, eine Wachsfigur oder eine aus Pappe. Eleanor wollte die Hand ausstrecken und Nancys Haut berühren, die bereits jegliche Strahlkraft verloren zu haben schien. Ihre Schönheit, im Leben so präsent, war längst verschwunden, als hätte sie gewusst, was kommen würde, als ob sie es nicht ertragen könnte, zu verwelken und von Würmern zerfressen zu werden. Eleanor musste nach Atem ringen angesichts ihrer eigenen Gedanken, doch die Frau mit dem Laken in der Hand mied ihren Blick, und außerdem musste sie in diesem schrecklichen Raum schon alles gesehen haben. Was für ein Job. Es schien ihr unmöglich, dass irgendjemand diese Tätigkeit machen wollte.

Eleanor trat näher, weil etwas nicht stimmte oder vielleicht auch fehlte, aber sie wusste nicht, was es war. Nancys linker Wangenknochen war geschwollen, und eine gelbliche Prellung zog sich bis unter die seltsame, turban-ähnliche Kopfbedeckung, die sie trug. Auch ihr Kiefer sah merkwürdig aus, so als wäre sie beim Zahnarzt gewesen und hätte noch die Watteballen von der Behandlung im Mund. Eleanor wollte sich abwenden, denn es sah danach aus, als wäre ihrer Freundin etwas sehr Hässliches zugestoßen, und sie konnte den Gedanken an die Gewalt, die diese Prellungen bewirkt hatten, nicht ertragen. Ihre letzten Momente waren schmerzvoll gewesen, das war offensichtlich.

Doch das Seltsamste war, dass Nancy keine Haare hatte, zumindest waren ihre Locken vollkommen von dieser Art Turban verdeckt. Nancys Gesicht war immer eingerahmt von ihren goldblonden Haaren, lang und glatt in Universitätstagen, jetzt trug sie einen welligen Bob bis knapp zu den Schultern. Kürzer würde sie sich ihre Haare nie schneiden lassen, durchfuhr es Eleanor jäh, Nancy würde nie eine andere Frisur haben. Aber unter all diese Gedanken mischte sich das Wissen, dass Nancy auf dem Weg zu ihrem Liebhaber gewesen war. Was, wenn dieser Mensch ihr das hier angetan hatte? Was, wenn Eleanor das Richtige hätte sagen können, um sie davon abzuhalten, zu ihm zu gehen, und es nicht getan hatte? Sie hatte es nicht einmal versucht, begriff sie nun. Übelkeit stieg in ihr auf, und ihre Wut auf diese Frau, mit der sie so viel im Leben geteilt hatte, löste sich in Luft auf. Ihr blieb nur ein Gefühl: Sie schämte sich für sich selbst. Eleanor hatte Nancy wahnsinnig gerngehabt, aber sie hatte zugelassen, dass ihr dies zugestoßen war.

»Warum hat sie das um den Kopf gewickelt?« Eleanor zeigte auf den Turban, als ob das wichtig wäre.

»Sie hat eine klaffende Wunde am Hinterkopf, der Verband gibt dem Ganzen Halt«, antwortete die Frau.

»Wird es eine Obduktion geben?«

»Ich denke, ja.«

»Dann wird man sie also aufschneiden? Sie wird nie wieder so wie jetzt aussehen?« Eleanor verstand selbst nicht, warum irgendetwas davon wichtig sein sollte, doch es befeuerte eine wachsende Verzweiflung in ihrem Inneren. Sie hatte den starken Wunsch, sich hinunterzubeugen und Nancys bleiche Wange zu küssen, aber das wagte sie nicht, nicht nur, weil sie beobachtet wurde, sondern auch, weil sie sich vor den Gefühlen fürchtete, die die Berührung in ihr auslösen würde.

»Die machen ihren Job sehr gut. Und in Fällen wie diesem ist es wirklich wichtig, um sämtliche Beweise aufzuspüren.«

Eleanor nickte, denn etwas anderes blieb ihr kaum übrig. Sie hörte, wie die Frau das Laken wieder über die Leiche legte, als sie hinausging.

Ein Polizist fuhr sie heim, zumindest bis zu Nancys Haus, das sich bereits leer anfühlte ohne sie oder das Wissen, dass sie zurückkehren würde. Dort waren noch mehr Polizisten, drinnen wie draußen, in den Räumen war es voll und laut. Und draußen lungerten ein paar Leute herum, einige mit Kameras um den Hals. Einer kam auf sie zugerannt und fragte Robert, ob er einen Kommentar abgeben wolle, bevor er zur Seite gedrängt wurde. Als sie im Haus waren, sprach eine Polizistin Robert darauf an, wer von ihnen Zara informieren solle. Sie sagte, dass man eine Psychologin zur Universität schicken könne, die sich um sie kümmern würde. Doch Robert lehnte ab, er meinte, er müsse das selbst tun, auch wenn er nicht so aussah, als wäre er dazu fähig. Er überlegte, ob er hinfahren und es ihr persönlich sagen sollte, aber Eleanor brachte ihn davon ab, und sie einigten sich darauf, dass die Psychologin bei Zara sein sollte, sobald Robert mit ihr telefoniert hatte. Eleanor ließ ihn allein und ging mit einem anderen Polizisten in die Küche, wo sie anfing, Tee zuzubereiten. Sie war sich bewusst, dass sie nichts Sinnvolles tun konnte und alle Aufgaben von nun an zwecklos erscheinen würden.

Es war nichts anders als sonst, was absurd war: Man musste immer noch einen Teebeutel aus der Schachtel nehmen, ihn in den Becher hängen, Wasser in den Kessel füllen, anschalten, dem Pfeifen des Kessels lauschen, Wasser eingießen, den Beutel herausfischen, Milch hinzufügen. Sie sah sich selbst dabei zu, wie sie einen Schritt nach dem anderen ausführte, aber sie hatten so wenig mit ihr zu tun wie der gebrauchte braune Teebeutel, den sie in den Abfalleimer warf.

Sie setzten sich hin und tranken in der Küche ihren Tee, und Eleanor dachte, dass es nicht mehr als ein weiterer schrecklicher Moment in ihrem Leben war. Und sie hatte viele schreckliche Momente erlebt. Vielleicht keinen, der so schrecklich oder unwirklich war wie dieser gerade, dennoch war auch dies einfach nur ein Moment, den man aushalten musste wie all die anderen auch. Es war wichtig, nicht aus den Augen zu verlieren, dass es hier um Nancy, Robert und Zara ging. Sie durfte nicht an ihr Essen mit Nancy am Vorabend denken, oder daran, was gesagt oder nicht gesagt wurde. Sie durfte nicht zusammenbrechen, jetzt noch nicht.

»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich Ihnen ein paar Fragen stelle?«, unterbrach der Polizist ihre Gedanken. Draußen hatte sich der Himmel zu einem matten Grau aufgehellt, und als sie durch das Fenster schaute, konnte sie die kahlen Bäume auf der Straße und kleine Regenspritzer auf der Fensterscheibe sehen. »Mein Name ist DS Daniels. Wir haben festgestellt, dass wir bessere Erfolge erzielen, wenn wir solche Fälle so schnell wie möglich bearbeiten.«

»Wie meinen Sie das? Welche Fälle?« Für einen Augenblick wusste Eleanor nicht, was er meinte.

»Verdächtige Todesfälle.« Der Polizist sah angespannt aus, und Eleanor begriff, dass die Ereignisse inzwischen zu einem offiziellen Fall geworden waren.

»Glauben Sie denn, dass sie ermordet wurde? Könnte es nicht sein, dass sie hingefallen ist oder so?« Sie hatte Nancy gesehen, und ihr Gesicht widersprach dieser Überlegung, doch sie hielt stur daran fest, denn von allen furchtbaren Varianten war es immer noch die erträglichste.

»Zu diesem Zeitpunkt ist alles möglich«, sagte DS Daniels ruhig. »Aber es gibt Anzeichen dafür, dass dies kein Unfalltod war.«

»O mein Gott.« Es war, als würden ihr die Dinge entgleiten, als würden sie alle in eine neue Sphäre vordringen.

»Wir wissen, dass Sie gestern Abend mit Mrs. Hennessy gegessen haben.«

»Ja.«

»Dann ist das, was Sie uns zu sagen haben, von höchster Bedeutung.«

»Vermutlich schon.« Sie konnte sich selbst sprechen hören, doch es kam ihr alles so unwirklich vor.

»Welchen Eindruck hatten Sie von Mrs. Hennessy? Wissen Sie, wo sie nach dem Essen hingegangen ist? Wann haben Sie das Restaurant verlassen?«

Eleanor holte tief Atem, weil sie wusste, dass nun der Moment gekommen war, in dem ihre Worte alles verändern würden. »Wir sind gegen zehn Uhr gegangen, und Nancy wollte sich noch mit ihrem Liebhaber treffen.«

DS Daniels beugte sich vor, unfähig, seine Aufregung unter Kontrolle zu behalten. »Ihr Liebhaber? Wer ist das?«

»Das weiß ich nicht.« Plötzlich fühlte sich Eleanor so müde, dass sie Angst bekam, sie könnte einschlafen. Es gab so viel zu sagen, und es blieb nur wenig Zeit.

»Weiß Mr. Hennessy von dem Liebhaber?«

»Ja. Zumindest weiß er jetzt von ihm. Er rief mich um vier Uhr morgens an, weil Nancy nicht nach Hause gekommen war, und ich kam hierher und erzählte es ihm. Aber er hatte es bereits vermutet.«

»Was hat ihn dazu veranlasst, das zu vermuten?«

Sie blickte zu dem Mann, der eifrig in sein Notizbuch schrieb, und ihr kam in den Sinn, dass das hier für ihn bloß ein Job war und er höchstens befördert wurde, wenn es gut lief. »Ich bin nicht sicher. Er hat gesagt, dass sie Probleme hatten, und in solchen Momenten überlegt man, ob der andere eine Affäre hat.«

»Aber die Identität dieses Liebhabers ist Ihnen nicht bekannt?«

»Nein. Nancy schämte sich sehr dafür, dass sie ihren Mann betrog. Sie hat sich mir nur anvertraut, weil sie so ein furchtbar schlechtes Gewissen hatte, aber sie hat mir nie Näheres erzählt.« Eleanor erinnerte sich daran, wie es zu Beginn der Affäre gewesen war, als sie Nancy praktisch jedes Wort aus der Nase ziehen musste. Doch sie wollte Nancy auch beschützen vor dem, was alle über sie denken würden, denn das Bild, das die anderen von ihrer Freundin hatten, entsprach nicht der Wahrheit. »Sie hat mir bloß erzählt, dass er David heißt und sie ihn über die Arbeit kennengelernt hat.«

»Mehr nicht? Keinen Nachnamen?«

»Selbstverständlich würde ich es Ihnen sagen, wenn ich den Nachnamen wüsste.«

»Aber Sie sind sicher, dass er David heißt?«

»Ja, das war die einzige konkrete Information zu ihm. Und sie hat es mir nur verraten, weil ich unzählige Male gefragt habe. Sie hat gesagt, dass ich ihn nicht kennen würde, daher sei es sinnlos, mehr über ihn zu erzählen.« Doch dann fiel Eleanor etwas vom Vorabend ein, der schon eine Ewigkeit her zu sein schien. »Oh, ich wollte gestern von Nancy wissen, ob er verheiratet sei und Kinder habe, und sie meinte Ja.«

»Das war alles? Sie hat Ihnen nicht den Namen der Ehefrau genannt oder gesagt, wie viele Kinder er hat?«

»Nein.« Eleanor richtete den Blick auf den Ausschlag seitlich am Kinn des Polizisten, der wahrscheinlich vom Rasieren herstammte.

»Wissen Sie, wie lange das schon mit den beiden lief?«

»Etwas über ein Jahr, soweit ich weiß.«

»Es könnte also auch länger gewesen sein?«

»Möglich, ja.« Aber da Nancy nichts mit sich allein ausmachen konnte, hielt Eleanor das für unwahrscheinlich.

»Und hat Nancy noch mit jemand anderem darüber gesprochen?«

»Das weiß ich nicht. Ich denke, nein. Vielleicht mit unserer Freundin Mary, aber wenn sie das getan hätte, wüsste ich es.« Sie dachte an Mary, die jetzt einfach so weitermachte wie bisher, und es erschien ihr unmöglich, dass nicht auch ihre Hoffnungen bereits zerbrochen waren.

»Nancy hatte große Angst, dass Robert hinter die Affäre kommen würde, deshalb glaube ich nicht, dass sie noch jemandem davon erzählt hat.«

DS Daniels schrieb auf seinen Notizblock. »Und sie hat gesagt, dass sie ihn über die Arbeit kennengelernt hat?«

»Ja, ich glaube, sie erwähnte eine Party.«

»Wo hat Mrs. Hennessy gearbeitet?«

»Nun, eigentlich meistens zu Hause. Sie spricht fließend Französisch und ist als freie Übersetzerin für Buchverlage tätig.«

Eleanor dachte, dass der Polizist deprimiert aussah, denn diese Antwort brachte eine Vielzahl von Richtungen mit sich, in die ermittelt werden konnte.

»Und als Sie gestern Abend das Restaurant verlassen haben, hat Ihnen Nancy da gesagt, wo sie diesen David treffen wollte? Haben Sie vielleicht gesehen, in welche Richtung sie fortgegangen ist?«

Eleanor spürte, wie ihr bei der Erinnerung an ihren Abschied die Röte ins Gesicht stieg. »Offen gestanden ist Nancy vor mir gegangen. Ich blieb noch, um zu bezahlen, daher habe ich nicht gesehen, wohin sie gegangen ist.« Eleanor fragte sich, ob der Polizist verstand, was für eine schlechte Freundin sie war.

»Haben Sie bezahlt, weil Nancy kein Geld bei sich hatte?«

»Nein, also, ich habe sie nicht gefragt, ich habe nur angeboten, die Rechnung zu übernehmen.« Dass sie bezahlt hatte, gab ihr zumindest ein klein wenig ein besseres Gefühl. »Aber Nancy ging nie ohne Geld aus dem Haus.«

»Glauben Sie, dass sie Bargeld bei sich hatte?«

»Ich weiß es nicht. Warum fragen Sie das?«

Er sah aus, als wollte er ihr den Grund nicht verraten, doch dann sagte er: »Als man sie fand, lag ihr Geldbeutel offen neben ihr, und es waren keine Bankkarten und kein Bargeld darin.«

»Sie hatte bestimmt zumindest eine Bankkarte bei sich.«

»Und hatte sie ein Handy?«

»Ja, natürlich. Ist das auch verschwunden?«

»Wir haben keines gefunden. Haben Sie gesehen, dass sie ihr Handy gestern Abend benutzt hat?«

Eleanor durchforstete ihr Gedächtnis, doch sie sah nur Nancys flehentliches Gesicht. »Nein, tut mir leid. Aber ich bin vollkommen sicher, dass sie es dabeihatte.«

»Ja, die meisten Menschen haben ein Handy dabei.«

»Aber der Mann, den sie getroffen hat, hat sie doch bestimmt nicht ausgeraubt, oder?« Es war auf jeden Fall besser, wenn Nancy nicht von ihrem Liebhaber umgebracht worden war, als ob Eleanor dann weniger Verantwortung für ihren Tod trüge.

Der Polizist nickte zustimmend, sprach jedoch gleich darauf die schockierenden Worte: »Raub ist nicht der einzige Grund, warum jemand diese Dinge an sich nimmt.«

»Ach du lieber Gott, weil auf dem Telefon Nachrichten von ihm sein könnten? Können Sie das Handy nicht orten oder auch ohne das Gerät die Nachrichten lesen?«

»Wir haben ein Team von Leuten, die daran arbeiten, aber das ist nicht so leicht, wie es im Fernsehen aussieht.« Er lehnte sich entspannt zurück und hielt dann jäh in der Bewegung inne. »Wie dem auch sei, Miss Meakins, Sie haben uns sehr geholfen.«

Eleanor blieb bei Robert, bis Zara nach Hause kam, dann überließ sie die beiden ihrer Trauer – denn Vater und Tochter heulen zu sehen gab ihr das Gefühl, ein Eindringling zu sein. Außerdem war Nancys Mutter Pearl auf dem Weg, und Eleanor fühlte sich nicht imstande, sie in diesem Moment zu sehen. Sie versprach, am nächsten Vormittag wiederzukommen, unsicher, ob man sie brauchte oder ihre Anwesenheit erwünscht war, doch Robert blickte sie voller Dankbarkeit an. Es war schon wieder dunkel, als Eleanor ging, und dieses Mal hielt sie nichts auf. Es hätte eine Wiederholung des frühen Morgens sein können, Nancy wäre nicht tot gewesen, und die Zeit hätte zurückgedreht werden können, aber von welcher Seite aus man es auch betrachtete, es würde nie wieder so werden wie früher.

Sie saß im Wagen, die Hände auf dem Lenkrad, und ihr Körper fühlte sich vollkommen zerschmettert an, als ob ein Auto sie überfahren hätte und dann auch noch zurückgesetzt. Ihr Mund war trocken, und ihr Herz schlug gegen ihre Rippen, Schweiß bedeckte ihre Achselhöhlen, und ihr eigener Körpergeruch stieg ihr in die Nase. Mary wusste es immer noch nicht. Sie hatte nicht die Kraft gehabt, ihr am Telefon von Nancys Tod zu erzählen, aber der Polizist hatte sie gewarnt, dass die Abendnachrichten darüber berichten würden. Bald war es sechs Uhr, und auch wenn sie bezweifelte, dass Mary so früh Nachrichten schaute, konnte sie nicht sicher sein. Sie ließ den Motor an und fuhr in Richtung Kilburn, kämpfte sich durch den Feierabendverkehr, rechts und links Männer und Frauen, jeder in seinem eigenen Leben eingeschlossen, nichts Außergewöhnliches.

Marys Gartentor hing immer noch schief in den Angeln, wie schon seit Jahren. Ihr Garten war voller Unkraut, wie seit Jahren, und die zerbrochene Scheibe in der Glastür wurde wie eh und je notdürftig von Klebeband zusammengehalten. Sie klingelte, und Maisie öffnete die Tür, also durfte Eleanor sich nichts anmerken lassen.

»Hallo, Ellie.« Maisie lächelte, ihre neu gesprossenen Pubertätspickel waren herzerweichend. »Ich wusste gar nicht, dass du zu Besuch kommst.«

»Tu ich nicht. Also, ich bin hier, aber ich habe vorher nicht Bescheid gesagt.«

»Mum«, rief Maisie, »Ellie ist hier!«

Mary kam aus der Küche und wischte sich die Hände am Rock ab. Ihre Haare hingen strähnig herunter, und Eleanor ertappte sich bei dem Gedanken, dass Mary dringend zum Friseur musste, als ob das irgendetwas besser machen würde.

»Ellie, was für eine nette Überraschung.« Sie trat auf sie zu. »Ist alles in Ordnung? Du siehst nicht gut aus.«

Eleanor spürte einen Kloß im Hals, und obwohl sie den Mund öffnete, fing sie nur an zu weinen. »Mimi«, rief Mary nach oben, »komm bitte herunter!«

Dumpfes Poltern, und dann war Mimi da, starrte Ellie zusammen mit ihrer kleinen Schwester an, und Eleanor wusste, dass sie alles falsch machte.

»Nimm Maisie, und dann seht ihr beide am besten fern«, sagte Mary. »Kommt nicht in die Küche.« Danach fasste sie Eleanor am Ellbogen und führte sie in den heißen, dampfigen Raum, wo es nach gebratenem Hackfleisch roch. »Setz dich«, bot sie ihr an, und Eleanor tat wie ihr geheißen, denn sonst würde sie in Ohnmacht fallen. »Möchtest du etwas trinken?«

»Wein. Whiskey, oder was du dahast.«

Mary öffnete den Kühlschrank. »Hier ist ein Bier von Howard. Wie wär’s damit?«

»Das ist okay.«

Mary reichte ihr die kalte schwarze Dose und setzte sich neben sie. »Was zum Teufel ist passiert, Ellie?«

Eleanor suchte nach den passenden Worten, aber es gab keine. »Nancy ist tot. Die Polizei nimmt an, dass sie ermordet wurde.« Das Bier schmeckte nach Hefe und erinnerte sie daran, warum sie es nicht mochte, doch zumindest hatte sie aufgehört zu weinen.

»Was in aller Welt soll das heißen?« Die Augen weit hinter ihren Brillengläsern aufgerissen, sah Mary aus wie eine Comicfigur.

»Mein Gott, Mary, sie ist tot.«

Mary sank auf dem Stuhl in sich zusammen und fing heftig an zu schluchzen, so heftig, wie Eleanor sich zu weinen wünschte, auf eine reine, unverfälschte Art, laut, tränenreich und schniefend. Sie schob ihren Stuhl näher und legte den Arm um ihre Freundin, die sie schon ewig kannte. So saßen sie zusammen, während Mary schluchzte und stöhnte.

Schließlich verstummte Marys Weinen, und als sie sich aus der Umarmung löste, waren ihre Augen geschwollen und ihre Wangen rot gefleckt. »Aber wie? Ich meine, warum? Wann?«

»Sie wurde heute am frühen Morgen gefunden, auf einem Fußweg am Fluss in Hammersmith, direkt neben der Brücke. Sie hatte eine große Wunde am Hinterkopf, an dieser Verletzung ist sie gestorben.«

Mary hielt sich die Hände vor den Mund, als ob ihr übel wäre. »Ach du lieber Gott. Aber wer hat das getan? Und weiß man, warum?«

»Nein.« Eleanor fühlte die Last aller Gespräche, die sie an diesem Tag geführt hatte.

»Wurde sie vergewaltigt?«

Die Frage war ein Schock. »Meine Güte, ich weiß es nicht. Ich glaube nicht. Ich meine, das hätte die Polizei doch sicher erwähnt.« Vielleicht hatten sie allerdings Robert etwas gesagt. Bei dem Gedanken drehte sich ihr der Magen um.

»Aber was war es dann? Ein fehlgeschlagener Überfall?«

»Könnte sein. Ihre Tasche lag neben ihr, doch ihr Geld und ihr Handy sind verschwunden.«

»Aber man kann sie doch nicht wegen eines iPhones umgebracht haben.«

Eleanor nahm die Hand ihrer Freundin. »Wusstest du, dass sie eine Affäre hatte?«

»Nein, gütiger Himmel, hatte sie es dir erzählt?«

Eleanor durchfuhr der Gedanke, dass es in jeder Freundschaft selbst nach so langer Zeit die Möglichkeit gab, dass einer eifersüchtig wurde. »Ja, aber ich glaube, nur, weil sie verzweifelt war.«

»Also glaubt die Polizei, dass ihr Liebhaber es getan hat?«

»Ja, möglicherweise. Ich war gestern Abend mit Nancy essen, und sie wollte ihn anschließend noch treffen. Sie hatte bereits seit einigen Monaten vor, die Beziehung zu beenden, aber er hat ihr das sehr schwer gemacht.«

»Wer ist er?«

»Ich weiß es nicht. Das hat sie mir nie gesagt.«

»Wie lange weißt du das schon?«

»Ungefähr ein Jahr.«

»Dann geht das also bereits ein Jahr lang mit den beiden?«

»Ich weiß es nicht. Aber ich denke schon, so ungefähr.«

Mary war nicht die Erste, die sie an diesem Tag fassungslos ansah. Sie wusste seit einem Jahr, dass eine ihrer besten Freundinnen eine Affäre hatte, und hatte nicht nachgebohrt, wer das war? Was war sie für eine Freundin? Was war sie für ein Mensch? Sie hatte das Gefühl, dass sie bald fortschweben würde.

»Sie muss dir doch etwas gesagt haben.«

»Sie hat nicht viel über ihn erzählt. Ich weiß, dass er David heißt und sie ihn über die Arbeit kennengelernt hat, aber das bringt uns nicht viel weiter.«

»Armer Robert«, sagte Mary schließlich. »Wie geht es ihm? Und Zara?«

»Furchtbar, wie du dir vorstellen kannst.«

Mary fing wieder an zu weinen. »Oh, ich kann den Gedanken an die beiden gar nicht ertragen.«

Eleanor nahm noch einen Schluck aus der Dose und zwang sich, das dickflüssige Bier hinunterzuschlucken.

»Ich kann es einfach nicht fassen«, sagte Mary.

»Mary Mary Mary.« Es gab keine Pause zwischen den Wörtern. Sie rollten einfach die Treppe herunter und durch die Küchentür.

»Was macht Howard zu Hause?« Eleanor gab sich keine Mühe, den schroffen Tonfall ihrer Stimme zu unterdrücken.

»Er war schon den ganzen Tag hier. Irgendein Bazillus.«

Marys Name donnerte weiterhin gegen die Tür, und Eleanor beobachtete, wie ihre Freundin automatisch aufstand. »Um Himmels willen, sag ihm, dass er damit aufhören soll«, sagte sie in einem für sie so ungewohnten Ton, dass Mary auf dem Weg zur Tür stehen blieb. Schließlich setzte sie sich wieder hin. »Das hättest du bereits vor Jahren tun sollen.«

»Was?«

»Nicht auf ihn eingehen.«

»Aber er ist krank.«

»Nun ja, heute ist er krank. Ich meine, im Allgemeinen.«

Mary beugte sich über den Tisch, ihr fettiges Haar fiel ihr über die Arme. »Mein Gott, Ellie, bitte nicht jetzt. Zuerst müssen wir das hier durchstehen.«

Letztlich war Eleanor recht früh zu Hause, kurz nach halb acht, obwohl sie jegliche Bodenhaftung verloren hatte und ihr die Zeit vollkommen unwirklich erschien. Sie hatte gemerkt, dass sie nicht bei Mary bleiben konnte, denn sie fand es grotesk, wie ihre Freundin sich, selbst im tiefsten Elend, immer noch antrieb und sich um andere Dinge kümmern musste. In dem vollen Haus war es unmöglich, nicht wahrzunehmen, dass das Leben weiterging und vieles beim Alten bleiben würde. Und Howard brauchte fortlaufend die verschiedensten Dinge, die Mary Eleanors Meinung nach ihm viel zu schnell besorgte, auch wenn ihre Freundin recht hatte, dass dies nicht der richtige Zeitpunkt war, um jetzt etwas daran zu ändern. Außerdem war ihre Abneigung gegen Howard verglichen mit ihrem Schmerz über Nancys Verlust völlig unbedeutend.

Also hatte Eleanor sich entschuldigt und war mit dem Versprechen, sich am nächsten Morgen zu melden, gegangen. Doch als sie die Haustür aufschloss und von der Straße in den dunklen Flur trat, den sie sich mit Irena, ihrer Nachbarin, im Erdgeschoss teilte, verspürte sie panische Angst bei dem Gedanken, sich allein in ihrer leeren Wohnung aufzuhalten. Sie hatte bei Irena Licht brennen sehen, und nun stand sie mit erhobener Hand vor ihrer Tür, unsicher, ob sie klopfen sollte.

Eleanors Wohnung war im oberen Stockwerk eines Hauses, das früher einmal Irena allein gehört hatte, ein Haus, in dem sie mehr als fünfzig Jahre gelebt hatte, seit sie vor langer Zeit mit ihrem frisch angetrauten Ehemann aus Polen nach England gekommen war, wo sie ihre Kinder großgezogen und sich ein Leben aufgebaut hatte. Ein Leben, das seinen eigenen Anteil an schmerzhaften Verlusten und harten Schlägen hatte – ihre Eltern wurden während des Krieges ermordet, und sie pflegte ihren schwer kranken Ehemann bis zu seinem Tod, als ihre beiden Kinder noch klein waren. Eleanor zögerte, Irena ihre eigene Traurigkeit aufzudrängen, doch gleichzeitig sehnte sie sich nach dem Verständnis und Feingefühl dieser Frau.

Während sie noch vor Irenas Tür stand, dachte sie an den Tag vor fünfzehn Jahren zurück, als sie ein Gebot für ihre jetzige Wohnung abgegeben hatte und der Immobilienmakler ihr mit verlegener Miene gesagt hatte, dass sie erst die Besitzerin kennenlernen müsse, bevor dieses akzeptiert werden könne. Andere Interessenten seien dadurch bereits abgeschreckt worden, sagte er, aber Eleanor gefiel die Idee, und sie stimmte augenblicklich zu. Am nächsten Tag besuchte sie Irena und saß mit ihr in ihrer warmen, nach Zimt duftenden Küche. Sie redeten und lachten, sodass sie anschließend wie ein aufgeregtes Schulmädchen, das sich sehnsüchtig fragte, ob seine Gefühle erwidert wurden, auf den Anruf wartete.

Irena und sie waren immer mehr als nur Nachbarinnen gewesen, mehr als nur zwei Menschen, die ein paar höfliche Worte wechselten, wenn sie sich zufällig begegneten. Sie halfen sich bei Problemen, sie brachten einander Milch und Medikamente und luden sich gegenseitig zu Geburtstagsfesten und Familienfeiern ein. Vor einigen Jahren hatte Sarah, Irenas Tochter, Eleanor angerufen und erzählt, dass sie sich um ihre allein lebende Mutter sorge, da sie selbst und ihr Bruder je mehr als eine Stunde Autofahrt entfernt wohnten, dass Irena sich aber weigere umzuziehen. Eleanor hatte Irenas Widerwillen gegen einen Ortswechsel verstanden, denn auch sie entsetzte die Vorstellung, dass sie nicht mehr im Haus wohnen würde. Also hatte sie Sarah gesagt, sie könne sie jederzeit anrufen, um sich nach ihrer Mutter zu erkundigen, und sie hatte ihr versprochen, dass sie mindestens einmal in der Woche nach Irena schauen würde. Seitdem aß sie jeden Donnerstag mit Irena zusammen zu Abend, außer sie war verreist oder beruflich zu sehr eingespannt. Diese Abendessen waren eine kleine Oase in ihrer hektischen Woche, und manchmal hatte sie den Eindruck, dass sie sie dringender brauchte als Irena.

Als Eleanor nun vor Irenas Tür stand und das Flurlicht sich mit einem Klicken selbst ausschaltete, verspürte sie eine starke Sehnsucht nach ihrer Freundin. Sie sehnte sich nach ihr, wie sie sich nach ihrer Mutter gesehnt hatte, die längere Zeit bei schwacher Gesundheit gewesen war und deren Verstand dann, vor fünf Jahren, so stark nachgelassen hatte, dass sie sie nicht mehr erkannte, selbst wenn sie noch hätte sprechen können. Eleanor klopfte und unterdrückte ihre Tränen. Doch als Irena, auf ihren Spazierstock gestützt, die Tür öffnete und Eleanor der süßliche Dunst ihrer Wohnung entgegenschlug, konnte sie sich nicht mehr zurückhalten. Die Kinnlade fiel ihr herunter, und Tränen flossen aus ihren brennenden Augen.

»Eleanor, Eleanor«, sagte Irena mit einem Akzent, der ihre polnischen Wurzeln verriet. »Kindchen, was ist denn los?«

Doch Eleanor konnte nicht aufhören zu weinen, sie brachte kein Wort heraus, also fasste Irena sie am Ellbogen, und sie ließ sich von der humpelnden kleinen Frau in die hinten gelegene Küche führen.

»Setz dich.« Irena deutete mit ihrem Stock auf einen Stuhl, und Eleanor sank dankbar darauf. »Brauchst du einen Tee? Oder Wodka?«

Eleanor lachte kurz auf. »Wodka, bitte.«

Irena öffnete den Küchenschrank und holte eine verstaubte Flasche und zwei schmierige Schnapsgläser hervor, die sie auf dem Tisch abstellte. Dann setzte sie sich. »Jetzt erzählst du mir, was passiert ist.«

Eleanor nahm das mit Fingerabdrücken und dem Schmutz der Jahre bedeckte Glas in die Hand und kippte die warme Flüssigkeit hinunter, die sogleich durch ihre Adern rauschte. »Du kennst doch meine Freundin Nancy?«

»Die ein großes Haus hat und sich immerzu beschwert.«

Eleanor schämte sich, dass Irena aufgrund ihrer Beschreibungen so von Nancy dachte. »Ja. Sie ist letzte Nacht gestorben.«

»Ach du lieber Himmel.« Irena verschränkte ihre knochigen Finger vor ihrer schmalen Brust. Eleanor musste an das Herz der älteren Freundin denken, das so viel Traurigkeit hatte erdulden müssen, und sie fragte sich, wie Irena das geschafft hatte. »Das tut mir so leid. Wie ist das geschehen?«

»Ich denke, vielleicht, ich meine, die Polizei nimmt anscheinend an, dass sie ermordet wurde.« Der Gedanke kam Eleanor immer noch unwirklich vor; ein Mord war etwas, das es nur in Krimis gab.

»Die Frau am Fluss? Ich habe davon in den Abendnachrichten gehört.«

»Ja.« Eleanors Tränen waren getrocknet, aber ihr Körper hatte tief im Inneren zu zittern begonnen. Sie goss Irena und sich selbst nochmals Wodka ein, und beide tranken die Gläschen in einem Zug leer. »Ich weiß nicht, was ich tun soll, Irena.«

»Heute Abend solltest du dieses Unglück nur beweinen. Und wenn du morgen aufstehst, fängst du an, etwas zu unternehmen.« Sie legte ihre Hand auf die von Eleanor, sie fühlte sich an wie Wachspapier.

»Du verstehst mich nicht. Ich habe sie gestern Abend getroffen, und ich war nicht nett zu ihr.« Beim Aussprechen dieser Worte gab es ihr einen Stich.

»Ihr habt gestritten?«

»Eigentlich nicht, nein. Wir hatten diese Auseinandersetzung schon seit Längerem. Ich war nicht damit einverstanden, wie sie ihr Leben führte, und ich war wütend auf sie, dass sie ihre Probleme nicht in den Griff bekam.«

»Ach so.« Eleanor zwang sich, Irena direkt anzusehen, und suchte in ihren Augen nach Missbilligung, aber im Blick der alten Dame lag nichts als Besorgnis und Freundlichkeit. »Weißt du, wir machen uns bloß die Mühe, mit Menschen zu streiten, die wir lieben.« Eleanor versuchte zu lächeln, aber ihr Gesicht schmerzte. »Wenn meine kleinen Kinder früher zu mir sagten, dass ich böse sei, weil ich sie wegen ihres frechen Benehmens angeschrien hatte oder weil sie vor dem Frühstück keine Süßigkeiten essen sollten oder all die anderen Dinge, die Mütter zornig machen, habe ich ihnen klargemacht, dass es sehr viel anstrengender ist, streng zu sein, als einfach nachzugeben, dass es für mich sehr viel leichter wäre, ihnen alles zu erlauben. Aber ich habe ihnen auch gesagt, dass ich mir die Zeit nahm, sie zu schimpfen und mit ihnen zu streiten, weil ich sie liebte. Damit sie lernten, was richtig und was falsch war. Hinter Wut steckt oft nicht Grausamkeit, Eleanor, sondern viel öfter tiefe Zuneigung.«

»Aber die letzten Dinge, die ich zu ihr gesagt habe, waren total gemein. Ich fühle mich schrecklich.«

Irena schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, ob ich dir das je erzählt habe, Eleanor. Aber als mein Ehemann starb, wurde ich monatelang von Schuldgefühlen geplagt. Ständig zerbrach ich mir den Kopf darüber, dass ich die Situation für ihn nicht erträglicher gemacht hatte: Ich hätte ihm öfter sagen sollen, dass ich ihn liebe, oder ich hätte meine Traurigkeit besser verbergen sollen. Ich quälte mich unendlich. Bis ich eines Tages erkannte, dass ich mich nur vor meiner Trauer versteckte. Denn meine Schuldgefühle erlaubten mir, immer bloß an mich zu denken und nicht daran, dass ich ihn verloren hatte.«

Eleanor versuchte, Irenas Worte aufzunehmen, doch sie fühlte sich leer, als ob die Trauer sie aushöhlen würde. Sie musste sich an etwas festhalten, etwas, das sie wieder aufrichten würde.

»Ich weiß nicht, wie ich weitermachen soll.« Sie hasste es, diese Worte Irena gegenüber auszusprechen, einer Frau, die so viele Schicksalsschläge verkraften musste, aber sie konnte sich nicht zurückhalten.

Irena streckte die Hände vor und umschloss Eleanors Gesicht, sodass sie ihr in die Augen sehen musste. »Du wirst weitermachen, weil du das musst.«

»Wie hast du das geschafft, Irena?« Eleanors Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, und es war, als gäbe es nur noch sie beide auf der Welt. Sie starrte in Irenas runzliges Gesicht, als lägen in ihren Falten kostbare Geheimnisse verborgen.

»Ich denke daran, dass ich nichts Besonderes bin. In meinem Kopf taucht dieses Bild von der Welt mit all den hellen Lichtern auf, die überall leuchten. Überall gibt es diese Güte und Freundlichkeit. Und dann weiß ich wieder, dass das, was ich als eine große Tragödie erlebe, im Rahmen des großen Ganzen lediglich ein kleines Wehwehchen ist.«

»Wie meinst du das?« Eleanor konnte den Gedanken der eigenen Unbedeutsamkeit im Moment nicht nachvollziehen.

Irenas Augen wurden wie so oft feucht. »Leiden ist ein wenig wie sich aufopfern. Wir Frauen nehmen den Kummer auf uns, damit andere das nicht tun müssen. Aber eines Tages treten wir zurück und sagen, dass wir genug geleistet haben, eine andere möge diese Last auf sich nehmen. So reichen wir den Kummer weiter an die nächste Frau, die vortritt, und es beginnt wieder von Neuem. Letztlich sind all unser Kummer und all unsere Opfer nicht der Rede wert, und das ist gut so. Das ist der Lauf der Welt.«

Am nächsten Morgen sprang Eleanors Radiowecker wie immer zu den Sieben-Uhr-Nachrichten an. Doch die Neuigkeiten ließen sie nicht kalt und machten sie auch nicht zornig oder nagten an ihrem Gewissen, so wie sonst. Sie ließen sie angsterfüllt aus dem Schlaf aufschrecken, ihr Herz pochte wild in der Brust, als der Nachrichtensprecher die Neuigkeiten über ihre Freundin berichtete, die ihr schon bekannt waren, Neuigkeiten, die durch die Tatsache, dass sie im Radio kamen, nochmals an Gewissheit gewannen. Schnell zog sie sich an und ging zum Supermarkt in der Nähe ihres Hauses, wo sie Nancys Gesicht auf den Titelbildern der meisten Zeitungen und Zeitschriften begegnete, ein strahlendes Lächeln auf den Lippen, als würde nichts auf der Welt ihr Sorgen bereiten. Die Presse schien längst alle Details zu kennen, und Eleanor fragte sich, wie es möglich war, dass nichts mehr verborgen oder privat blieb. Ihr Handy vibrierte in ihrer Manteltasche, als sie mit leeren Händen den Supermarkt verließ, weil sie kein Andenken an diesen schrecklichen Tag haben wollte – oder keines brauchte.

»Es kommt überall in den Nachrichten«, sagte Mary.

»Ja, ich weiß.«

»Wie kann die Presse schon von dem Liebhaber wissen? Und wie sind sie an ein Foto von ihr gekommen?«

»Das Foto ist ihr Profilbild bei Facebook, und im Haus wimmelte es gestern nur so vor Polizisten. Die Presseleute warteten da bereits draußen, ich nehme an, dass einer der Beamten ihnen etwas gesteckt hat.« Lebensbereiche, über die sie sich noch nie Gedanken gemacht hatte, schienen jetzt Teil einer neuen Ordnung zu sein.

»Gehst du heute wieder dahin?«

»Ja, ich bin gerade auf dem Weg.«

»Mist«, sagte Mary, und das drückte genau Eleanors Empfinden aus.

Die Anzahl junger Männer in schlecht sitzenden Anzügen und Frauen in billigen Kostümen, die vor Nancys Haus standen, hatte sich seit dem Vortag mindestens verdoppelt. Einige riefen ihr Fragen zu, als sie die Stufen zur Haustür hinaufstieg, und in ihrem Rücken flammte ein Blitzlicht auf. Doch im Inneren des Hauses schien die Zeit stehen geblieben zu sein. Nichts hatte sich verändert, es war immer noch alles furchtbar, absolut schrecklich. Nancys Mutter Pearl war gekommen. Eleanor hatte ein wenig Angst vor der Begegnung mit ihr. Das letzte Mal hatte sie Pearl bei der Beerdigung von Nancys Vater gesehen, das lag ungefähr zehn Jahre zurück.

Während Eleanor die Stufen zu Nancys Arbeitszimmer hinaufstieg, wo Pearl sich aufhielt, erinnerte sie sich, wie verärgert sie über die Leichtigkeit gewesen war, mit der Nancy fast ein Jahrzehnt nach Zaras Geburt in die Berufswelt zurückgefunden hatte. Sie war empört, als Nancy ihr das gemütliche Zimmer mit den in Entenei-Blau gestrichenen Wänden und einem hellen Holzschreibtisch zeigte, und musste an ihr eigenes düsteres, graues Büro in einem städtischen Gebäude denken, wo sie andere Menschen beschäftigte, oder daran, wie sie zu Hause am Küchentisch arbeitete, weil ihre Wohnung so klein war. Aber Eleanor erinnerte sich auch daran, dass Nancy sich immer sehr bewusst war, ihr Verhalten könnte andere erzürnen. Als sie an dem Tag die Treppe hinuntergingen, sagte sie: »Ich komme mir vor wie eine Betrügerin, mit einem perfekt eingerichteten Büro, wenn ich doch nur eine Handvoll Aufträge habe.«

Eleanor wusste auch noch, was sie darauf erwidert hatte und wie ehrlich ihre warmen Worte gemeint waren. »Nun, das solltest du nicht, es ist sehr hübsch.«

»Ich bin auch so froh, dass ich den Schritt mache«, sagte Nancy in ihrem Rücken. »Ich habe viel zu lange gebraucht. Ich wollte schon seit Langem wieder arbeiten, aber als Zara noch klein war, hatte ich ein schlechtes Gewissen. Später fehlte mir das Selbstvertrauen, und ich konnte mir nicht mehr vorstellen, dass irgendjemand mir Arbeit geben würde. Also, vielleicht bekomme ich jetzt auch keine Aufträge, aber zumindest versuche ich es. Weißt du, manchmal laufe ich durchs Haus und denke, dass ich verrückt werde, weil ich nichts zu tun habe. Zumindest nichts, das irgendeine Bedeutung zu haben scheint.« Sie waren am Fuße der Treppe angekommen. Eleanor drehte sich um und sah, dass Nancy rot geworden war. »Hilfe, es ist mir peinlich, das dir gegenüber zuzugeben, du mit deiner tollen Karriere.«

»Was meinst du?« Eleanor fiel auf, dass sie Nancys Verhalten in Gedanken verdammen konnte, doch wenn Nancy diese Gedanken aussprach, wollte sie sie vor ihnen beschützen. »Sprichst du davon, Mutter zu sein und ein gemütliches Heim zu schaffen?«

»Ja.«

»Aber natürlich ist das wichtig.«

Nancy sah aus, als wäre sie den Tränen nahe. »Ich weiß, doch du hast keine Ahnung, wie schwer das durchzuhalten ist, wenn du von lauter Frauen umgeben bist, die alles haben, wie man so schön sagt. Mütter, die im schicken Kostüm ins Meeting eilen, mit dem Baby auf der Hüfte. Häuslichkeit wurde noch nie besonders geschätzt.«

Es war schwer, bei Nancys Worten nicht an Mary zu denken, die unter dem Joch ihrer Familie so gefangen war, dass Eleanor sie manchmal wochenlang nicht sah, und wenn, dann hing eines der Kinder an ihrem Hals, und sie wurde von anderen Problemen abgelenkt. »Es ist schon komisch, aber ich habe in vielen Ländern gearbeitet, die wir als Dritte Welt betrachten, und dort wird Häuslichkeit sehr hoch geschätzt. Es ist richtig, dass unverheiratete junge Frauen in der sozialen Hierarchie meist ganz unten stehen, doch Mütter werden geradezu verehrt.«

»Ja, aber hier verehren wir Wohlstand, deshalb wird man umso mehr geschätzt, je mehr Geld man verdient.«

Eleanor merkte, wie sie sich schämte, als sie erkannte, dass auch sie Mary und Nancy aus diesem Blickwinkel betrachtete, obwohl das weniger auf Mary zutraf, denn sie hatte drei kleine Kinder und kein Geld, was ihr Tun wertvoller erscheinen ließ. Es war verwirrend, denn als sie zur Universität gingen, schienen sie alle drei vollkommen ebenbürtig, aber inzwischen hatten sie gesellschaftliche Positionen inne, die nichts mit den Menschen von früher zu tun hatten. Nichts war je einfach, wenn man eine Frau war, und Eleanor versuchte, Nancy das zu vermitteln. »Weißt du, ich komme jetzt in ein Alter, wo alle wissen wollen, ob ich Kinder habe, und wenn ich verneine, werde ich tatsächlich gefragt, warum ich keine habe und ob ich keine Kinder will, und solche Fragen würde man einem Mann niemals stellen. Und in dieser Frage steckt eine Art Stigmatisierung, dass ich meine Pflichten als Frau nicht erfülle, wenn ich nicht Mutter werde. Und ich arbeite mit vielen Frauen, die Kinder haben und ständig von Schuldgefühlen geplagt werden, weil sie nicht bei ihnen sind, und die eindeutig von den gleichen Menschen abgeurteilt werden, die über mich richten, oder über dich, weil du nicht arbeitest.«

»Wie konnten wir das zulassen?«, fragte Nancy. Eleanor dachte, dass sie echte Angst in ihren Augen sah, und am liebsten hätte sie ihre Freundin in die Arme genommen und ihr versichert, dass alles gut werden würde.

Sie trat vor und legte ihre Hand auf Nancys Arm. »Nancy, du bist großartig, der ganze Rest ist Schwachsinn. Echt, du kannst alles machen, was du dir wünschst. Und du solltest die Entscheidungen, die du getroffen hast, nicht bereuen.«

Doch Nancy schüttelte abrupt den Kopf, und Eleanor erinnerte sich, dass sie von einer tiefen Zuneigung für Nancy erfasst wurde, die alles andere in den Schatten stellte. Nancys Verletzlichkeit lag so nah an der Oberfläche, es war, als würde sie durchschimmern, als führte sie eine eigene Existenz in Nancys Innerem, nicht willens, sie jemals loslassen.

Pearl saß reglos da, die Hände auf Nancys Schreibtisch gelegt, den Blick fest aus dem Fenster in den Garten gerichtet. Das ganze Zimmer roch nach Nancy, wie ein von der Sonne gewärmtes Rosenbett. Sie wandte sich um, als Eleanor eintrat. Ihr Gesicht war schlaff und fahl, ihre Augen feucht und gerötet. Sie streckte ihre Hände aus, und Eleanor nahm sie, dann setzte sie sich in den kleinen Sessel neben dem Schreibtisch.

»Es tut mir so leid«, sagte Eleanor. »Es ist einfach furchtbar.«

Pearl nickte, und ihre Ohrringe und ihre Perlenkette schwangen zustimmend auf und ab. »Ich kann es einfach nicht glauben.« Ihre Stimme war leise, doch auch in ihrer tiefen Verzweiflung wurde wie immer deutlich, von wem Nancy ihre Schönheit geerbt hatte. »Wusstest du von diesem anderen Mann?«

»Ja, aber kaum etwas. Sie hat mir nie viel von ihm erzählt.«

»Nur dass er David heißt?«

»Ja.«

»Und du hast keine Ahnung, wer er ist?«

»Wirklich, so leid es mir tut, nein.«

Pearl lehnte sich zurück und nahm ihre Hände fort. »Was hat sie bloß getan, dieses dumme Mädchen?« Eleanor suchte nach Missbilligung in Pearls Worten, doch es gab keine. Allmählich hatte sie das Gefühl, sich mit Nancys Geheimnis angesteckt zu haben, als ob sie diejenige wäre, die sie alle betrogen hatte. »Hat Mary davon gewusst?«