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Das Geld wird knapp, das Wirtschaftsklima rau. Überall wird getrickst und getäuscht, gelogen und betrogen. Handwerker verlangen horrende Honorare, Ärzte rechnen Leistungen ab, die sie gar nicht erbracht haben, die Telekom schickt „versehentlich“ überhöhte Rechnungen, an der Supermarktkasse ist die Ware teurer als am Regal angezeigt. Vorstände kassieren Millionenbeträge und hintergehen Aktionäre, Bilanzen werden geschönt, Auftraggeber geschmiert. Eine schonungslose Dokumentation von Korruption und Machtmissbrauch in Wirtschaft und Politik. Wer wissen will, wie die Betrüger-Wirtschaft funktioniert und wie man ihr entkommen kann, muss dieses Buch lesen.
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Seitenzahl: 372
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Copyright © 2003 by C. Bertelsmann Verlag, München in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.
ISBN 978-3-89480-791-7V002
www.bertelsmann-verlag.de
1 Die Betrüger-Ökonomie2 Der Gott der kleinen Diebe3 Die Bananenrepublik4 Die Bilanz-Fälscher5 Die Egomanen6 Verführungskräfte7 Der betrogene KönigLiteraturverzeichnisÜber das BuchÜber den AutorCopyright
Wenn der Kanzler und seine Partei vor den Wahlen Steuererhöhungen für tabu erklären und sich wenige Tage danach nicht mehr an ihr Versprechen erinnern, dann ist das natürlich keine »Steuerlüge«, sondern ausgleichende Gerechtigkeit in schwierigen Zeiten.
Wenn die Deutsche Telekom tausenden Kunden immer wieder überhöhte Rechnungen ins Haus schickt, dann handelt es sich dabei selbstverständlich um »ein Versehen«.
Wenn Gastronomen und Hoteliers, Einzelhändler und Handwerker die Einführung des Euro zu unverschämten Preiserhöhungen nutzen, dann können das logischerweise stets nur einzelne »schwarze Schafe« sein, die das Ansehen ihrer Zunft schädigen.
Wenn kopfstarke Strukturvertriebe im Verein mit gewissenlosen Bankern hunderttausenden Bundesbürgern Schrott-Immobilien zu völlig überzogenen Preisen andrehen, dann handeln sie selbstverständlich nur »marktgerecht«.
Wenn Chirurgen gebrauchte Herzklappen implantieren und dafür den Neupreis berechnen und Hunderte ihrer Kollegen bei den Krankenkassen Leistungen abrechnen, die sie nie erbracht haben, dann beklagen wir allenfalls das »mangelnde Kostenbewusstein im Gesundheitswesen«.
Wenn der Frankfurter Oberstaatsanwalt Wolfgang Schaupensteiner Dutzende Beamte und Angestellte in den Baubehörden von »Mainhattan« der Korruption überführt, dann ist das auch nur wieder ein ganz normaler »Reinigungsprozess« innerhalb eines ansonsten hervorragend funktionierenden öffentlichen Dienstes.
Wenn die Vorstände von Konzernen wie DaimlerChrysler, Deutsche Bank oder Deutsche Telekom ihre ohnehin üppigen Millionengehälter zweistellig aufbessern, während sie das Vermögen der Aktionäre ruinieren und tausende Mitarbeiter auf die Straße setzen, dann sprechen wir vornehm von der Notwendigkeit einer »wettbewerbsfähigen Vergütungsstruktur«.
Der schnelle Deal, das krumme Geschäft…
Wir haben uns daran gewöhnt, die täglichen Meldungen aus Politik und Wirtschaft mit den Augen eines Kindes zu betrachten, das Lesen lernte, als die Welt noch in Ordnung war. Unser Wahrnehmungsapparat stammt aus einer Zeit, als man noch zwischen Gut und Böse unterschied; einer Zeit, die zwar auch Ungerechtigkeiten, Neid und Zwietracht kannte, in der aber jeder sein gerechtes Auskommen fand.
Diese Zeit, wir ahnen es, ist passé. Ob aus Gewohnheit oder aus Sentimentalität aber halten wir an der Fiktion fest, dass es, allen Krisen zum Trotz, im Erwerbsleben eben doch gerecht zugehe. Dass jeder den seinen Talenten und Fähigkeiten entsprechenden Platz finde, wenn er sich nur hinreichend qualifizierte und anstrengte.
Weil wir davon ausgehen, dass die Wirtschaft alles in allem ganz in Ordnung sei, filtern wir den Jahr für Jahr anschwellenden Strom schlechter Nachrichten so lange, bis er sich in einer Vielzahl handlicher »Einzelfälle« auflöst. Beharrlich weigern wir uns, zur Kenntnis zu nehmen, dass schon die schiere Menge der Bestechungs- und Betrugs-Skandale ausreicht, den Gesamtzustand des Wirtschaftsgeschehens infrage zu stellen. Vernünftigerweise müsste man nämlich unterstellen, dass die bekannt gewordenen Fälle ohnehin nur die Spitze eines Eisbergs bilden, denn aufgedeckt wurden sie in der Regel ja mehr oder weniger zufällig.
Aber weil die Verursacher all dieser Pleiten-, Pech- und Pannen-Fälle so viele gute Gründe für ihr Versagen anführen, haben wir es längst aufgegeben, sie zur Rechenschaft zu ziehen. Wer will heute noch an die geheimen Spender des Altkanzlers Helmut Kohl erinnert werden, wen interessieren die Leuna-Akten, wen die Schuldigen der BSE- und Nitrofen-Skandale, wen die Urheber all der anderen Affären, mit denen uns die Medien täglich überfüttern? Ja, wir interessieren uns im Grunde nicht mal mehr für die Ursachen des jämmerlichen Zustands unseres Gemeinwesens, solange er uns nicht persönlich trifft. Wir haben uns einlullen lassen von der gut geölten Propagandamaschinerie der Parteien und Ministerien, der Unternehmen und Verbände und übersehen den tief greifenden Wandel, den das Wirtschaftsleben in den letzten Jahren durchgemacht hat.
Das Gift im Öko-Weizen, die Steuerflucht der Konzerne, der Betrug an der Börse, die gefälschten Bilanzen, der Spendensumpf in der Kölner SPD, die flächendeckende Korruption, die endlose Pleitewelle – all das nehmen wir nur am Rande wahr, als zwar bedauerliche, aber unvermeidliche Betriebsunfälle einer im Kern gesunden Wettbewerbsgesellschaft. Ein Irrtum, wie sich noch zeigen wird.
In Wahrheit nämlich ist die Kriminalisierung unseres Wirtschafts- und Polit-Systems schon so weit fortgeschritten, dass korrektes Verhalten bereits als Ausnahme gelten darf. Unaufhaltsam hat sich die soziale Marktwirtschaft Ludwig Erhards weiterentwickelt zur höchst unsozialen Machtwirtschaft. Jeder nimmt, was er kriegen kann, und behält, was er geben sollte. Hier herrscht kein fairer und offener Wettbewerb, sondern das Diktat der Dunkelmänner und das Recht des Stärkeren. Nicht mehr der Austausch reeller Waren und Dienstleistungen ist das Ziel des ökonomischen Prozesses, sondern die leistungslose Bereicherung. Der schnelle Deal, das krumme Geschäft, der große Reibach – das ist es, wovon mittlerweile allzu viele Unternehmer und Manager träumen.
Galt früher die Gründung eines eigenen Unternehmens, der Aufbau einer Kanzlei oder Praxis oder wenigstens die Karriere in einem renommierten Konzern als höchstes aller Berufsziele, so haben jetzt der millionenschwere Börsencoup, das schnelle Provisionsgeschäft, der elegante Steuerbetrug den größeren Reiz.
Beschleunigt wurde der Verfall der Sitten vom Siegeszug des amerikanischen Turbokapitalismus. Wall Street war zu Beginn der 90er-Jahre angetreten, die Wirtschaft zu reformieren. Gebieterisch forderten Banken und Pensionsfonds, Sparer und Investoren höhere Renditen für ihr Kapital, und um ihre Interessen durchzusetzen, schlossen sie einen verhängnisvollen Pakt mit den angestellten Managern der Publikumsgesellschaften: Wenn sie den Aktienkurs in die Höhe trieben, so versprachen sie den Firmenlenkern, dürften diese teilhaben am großen Geldsegen.
Das war nicht nur der Beginn einer beispiellosen Börsenhausse, sondern auch der Anfang dessen, was wir als »Globalisierung« oder »Turbokapitalismus« fürchten. Der »Spiegel« verstieg sich in einer Titelgeschichte gar zu dem romantischverklärenden Begriff »Raubtier-Kapitalismus«. Inzwischen wissen wir, dass es sich eher um eine Betrüger-Ökonomie handelt. Der Turboantrieb der amerikanischen Volkswirtschaft bestand zu einem großen Teil aus falschen Zahlen, und die Raubtiere entpuppten sich als gewöhnliche Kriminelle.
Bevor der Schwindel aufflog, verbreitete die vorgebliche »Shareholder Revolt« jedoch Angst und Schrecken. Überall auf dem Globus kopierten die Wirtschaftsbosse das amerikanische Erfolgsmodell. Die Firmen organisierten sich neu, sortierten ihr Portefeuille, entließen massenhaft Personal und versuchten mit aller Gewalt die Renditen zu steigern. »Ich kenne nur ein Ziel: Profit, Profit, Profit«, verkündete im fernen Deutschland Daimler-Benz-Vorsteher Jürgen Schrempp, und sein Managerkollege Jürgen Dormann fand nichts dabei, um dieses Ziels willen den hundertjährigen Chemiekonzern Hoechst zu zerschlagen.
An der Börse freilich stiegen die Kurse noch schneller als die Gewinne der Unternehmen, und so baute sich allmählich eine gewaltige Spekulationsblase auf. Die Geldgier der Börsianer wie der Manager pervertierte die ursprünglich vernünftige Absicht, das Produktivkapital so effizient wie möglich einzusetzen. Statt langfristiger Unternehmensziele verfolgten die mit lukrativen Aktienoptionen geköderten Firmenchefs letztlich nur noch das eine Ziel: möglichst schnell selbst reich zu werden. Und was den Figuren an der Spitze recht war, das konnte der Masse der Besserverdienenden nur billig sein. Das leicht verdiente Geld machte aus risikoscheuen Sparern in den USA wie in Europa ein Heer gieriger Spekulanten. Wenn man mit ein paar Aktien oder Fondsanteilen binnen weniger Monate mehr verdienen konnte als mit seinem Job in einem ganzen Jahr, dann verlor jede ernsthafte Tätigkeit ihren Reiz.
Noch wurden die Spätfolgen des Aktienwahns nicht hinreichend untersucht, doch kann kaum bezweifelt werden, dass sie gravierend sind. Millionen Arbeitnehmer, in den USA wie mittlerweile auch in Deutschland, machten immer größere Teile ihrer Altersversorgung abhängig vom Börsenglück. Was ist die berühmt-berüchtigte »Riester-Rente« anderes als der missglückte Versuch, die staatliche Rentenversicherung durch erhoffte Kursgewinne zu entlasten?
Das Geld ist weg, geblieben ist die Gier
Verhängnisvoller noch dürften sich die psychischen Schäden der Superhausse auswirken. Die Yuppie-Generation, mit ein wenig antrainiertem Wissen um die Bedienung digitaler Geräte ausgestattet, beanspruchte qua Geburt das Recht auf ewig währenden Wohlstand, und einige Zeit sah es tatsächlich so aus, als ob die so genannte »New Economy« die ehernen Gesetze von Soll und Haben außer Kraft gesetzt hätte. Dotcom-Firmen mit nicht viel mehr als einer geklauten Geschäftsidee im Gepäck waren, kaum gegründet, an der Börse plötzlich Milliarden wert, und alle, Manager, Mitarbeiter und Aktionäre, fanden dies ganz selbstverständlich. Die Mühsal konventionellen Geldverdienens, etwa durch so etwas Altmodisches wie echte Arbeit, kannten viele der schnellreichen Glücksritter allenfalls durch die Erzählungen ihrer Eltern.
Der künstlich aufgeblähte Reichtum des Aktionärsvolks indes verflüchtigte sich durch den Zusammenbruch der Kurse genauso schnell wieder, wie er entstanden war. Allein in den USA verloren die Aktionäre über 5000 Milliarden Dollar, an den deutschen Börsen lösten sich etwa 1200 Milliarden DM oder 600 Milliarden Euro in nichts auf.
Das Geld ist weg, geblieben aber sind die Gier und die unerträgliche Leichtigkeit des Scheins. Getrieben von den Verlusten an der Börse wie von den Forderungen der Investoren, lässt die Geschäftswelt jetzt alle Hemmungen fahren. Niemand will sich mehr mit den vier bis fünf Prozent Kapitalrendite zufrieden geben, die in früheren Jahren das Normalmaß bildeten. Gefordert werden heute zwölf, fünfzehn oder gar zwanzig Prozent, netto natürlich, je nach Branche und Betriebsgröße. Doch die Industrie hat ihre Rationalisierungsreserven ausgeschöpft, der Handel hat sich zu immer größeren Einheiten zusammengeschlossen, das Dienstleistungsgewerbe die Kosten gekappt. Auf legalem Weg sind weitere Steigerungen, zumindest in den hoch entwickelten Industrieländern, kaum noch zu erzielen.
Heiße Luft und gefälschte Zahlen
Da die erhofften Gewinne sich nicht real einstellen wollen, wird kräftig nachgeholfen. Die Rezepte gleichen sich diesseits wie jenseits des Atlantiks: Konkurrenten werden aufgekauft, plattgemacht oder mit Prozessen überzogen, und wo das nicht hilft, spricht man Mondpreise ab. Auftraggeber werden geschmiert, Kunden mit Rabatten geködert. Die Qualität der Produkte lässt nach, statt echten Nutzen verkauft man Image und Verpackung. Gleichzeitig gaukelt man den Aktionären Gewinne vor, die in Wahrheit Verluste sind, zeigt Vermögenswerte her, die eigentlich Schulden genannt werden müssen, und bedient sich nach Kräften aus der Firmenkasse.
Kaum einer Bilanz ist mehr zu trauen, kein Geschäftsbericht mehr ernst zu nehmen. Nicht nur in den USA, auch bei uns wird getäuscht und gelogen, dass sich die Balken biegen. Seit dem Zusammenbruch des Enron-Konzerns in Texas, der mit Öl, Gas und Strom handelte, sind die Anleger überall auf dem Globus in Alarmstimmung. Denn statt riesiger Vermögenswerte und ständig steigender Gewinne enthielt die Bilanz des sechstgrößten US-Unternehmens in Wahrheit nicht viel mehr als heiße Luft und gefälschte Zahlen. Doch Enron war nur der Anfang. Bei Worldcom, der zweitgrößten amerikanischen Telefongesellschaft, wurden nach dem Rausschmiss des Firmengründers Bernie Ebbers Fehlbuchungen von fast vier Milliarden Dollar entdeckt, bevor der Konzern unter der Last eines gigantischen Schuldenberges zusammenbrach.
Nach und nach kam heraus, dass sich auch weltbekannte Konzerne wie General Electric, IBM, Microsoft, Tyco, Global Crossing und Xerox der Künste allzu kreativer Buchhalter bedienten, um Gewinne vorzuzeigen, die sie gar nicht erzielt hatten. Abgrundtiefer Pessimismus machte sich breit, nachdem der britische Wirtschaftswissenschaftler Andrew Smithers nachweisen konnte, dass nahezu alle großen US-Unternehmen schon im Jahr 2000 um rund 20 Prozent zu hohe Gewinne ausgewiesen hatten.
Die Anleger mussten lernen, dass Wirtschaftsprüfer mit den Firmen, von denen sie mit der Prüfung ihrer Bilanzen beauftragt werden, unter einer Decke stecken und dass ihre Testate im Ernstfall nicht viel wert sind. Eine der größten Prüfungsgesellschaften der Welt, Arthur Andersen, wurde sogar dabei erwischt als sie mithalf, kompromittierende Unterlagen des Enron-Konzerns verschwinden zu lassen.
Auch deutsche Konzerne verstehen wohl etwas von diesem Geschäft. In Verdacht gerieten, neben zahlreichen am Neuen Markt gelisteten Aktiengesellschaften, sogar Dax-Werte wie der Heidelberger Finanzdienstleister MLP, der Frankfurter Anlagenbauer MG Technologies und das Hamburger Immobilien-Beteiligungs-Unternehmen WCM. Schön, dass die überaus elastischen Bilanzierungsregeln der Amerikaner mittlerweile in der Heimat Eugen Schmalenbachs, des Altmeisters der Betriebswirtschaft, so viele Anhänger gefunden haben. Am Neuen Markt waren die US-Regeln (im Fachjargon GAAP: Generally Accepted Accounting Principles) sogar Pflicht, und nicht wenige der an Frankfurter Zockerbörse notierten Firmen nutzten ihren Freiraum nach Kräften.
Als bisheriger Rekordhalter in Sachen Bilanzfälschung gilt Bodo Schnabel. Der – zu sieben Jahren Gefängis verurteilte – Gründer des bayerischen Telematik-Anbieters Comroad AG brachte das Kunststück fertig, eine wirklich virtuelle Firma zu kreieren. Siebenundneunzig Prozent seiner behaupteten Umsätze standen nur auf dem Papier.
Der Saarbrücker Betriebswirtschafts-Professor Karlheinz Küting hält die Bilanzen der meisten Aktiengesellschaften für unsolide. Echt sind nur die Summen, die die Gründer und Großaktionäre, Vorstände und Geschäftsführer abzugreifen pflegen. Während sie ihren Belegschaften Sparappelle verkünden und mit den Gewerkschaften verbissen um Zehntelprozente feilschen, bedienen sich Deutschlands Topmanager mit beiden Händen so kräftig aus der Firmenkasse, dass sogar das gewiss nicht missgünstige »Manager Magazin« angewidert einen »Sittenverfall« diagnostizierte. Wie anders soll man etwa das Verhalten der Telekom-Vorstände bewerten, die sich fürs Geschäftsjahr 2001, in dem sie 3,5 Milliarden Euro Verlust einfuhren und nebenbei das Aktionärsvermögen ruinierten, flotte 50 Prozent Zuschlag genehmigten? Oder jenes des Vorstandssprechers der Deutschen Bank, der elf Millionen Euro für ein Geschäftsjahr einsteckte, in dem Gewinn und Aktienkurs um 20 Prozent eingebrochen waren? Mit leistungsgerechter Bezahlung hat das gewiss wenig zu tun, eher mit einer unverfrorenen Selbstbedienung.
Wer immer die Möglichkeit bekommt, anderer Leute Geld zu verwalten, über Investitionen zu entscheiden, Finanzströme zu lenken, der denkt heutzutage offenbar kaum noch an das Wohl der ihm anvertrauten Gelder, sondern vor allem an das eigene. So empfahlen die Investmentbanker und Analysten von Merrill Lynch, einem der größten Vermögensverwalter der Welt, ihren Kunden auch solche Aktien wärmstens zum Kauf, die sie selbst für »Schrottpapiere« oder gar »Scheiße« hielten und deshalb dringend loswerden wollten. Nicht viel anders hielt es die Deutsche Bank, die an jenem Tag, an dem sie (gegen eine horrende Provision) im Auftrag eines asiatischen Großkunden über 40 Millionen Telekom-Aktien auf den Markt warf und damit den Kurs verwässerte, Millionen von Kleinanlegern dringend zum Kauf des rapide an Wert verlierenden Papiers riet.
Das System lahmt wie ein alter Gaul
Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht ein neuer Betrugs- oder Korruptionsfall auffliegt. Dies freilich als Beleg für ein gut funktionierendes Rechtssystem zu werten, hieße die Zustände in der real existierenden Wirtschaft zu verkennen. Ans Licht kommt nur, was entweder die Geschädigten der Justiz offenbaren oder was irgendwelchen Nutznießern in den Kram passt. Erst wenn ein »begründeter Anfangsverdacht« vorliegt, das heißt wenn handfeste Beweise in Form von Dokumenten oder eidesstattlichen Versicherungen von Zeugen auftauchen, können die Staatsanwälte aktiv werden und Büros durchsuchen, Akten beschlagnahmen und Zeugen vernehmen. So war es bei der Berliner Bankgesellschaft und beim badischen Phantombohrer Flowtex, bei der Kölner Müllverbrennungsanlage wie bei dem westfälischen Springreiter und Pferdehändler Hugo Simon.
Selbst scheinbar über jeden Zweifel erhabene Institutionen und Firmen geraten ins Zwielicht. In Nürnberg fälschte die Bundesanstalt für Arbeit jahrelang systematisch die Vermittlungsstatistiken, in München frisierten die öffentlichen Alten- und Pflegeheime ihre Leistungsnachweise, in Stuttgart schummelte der Motorpresse-Verlag bei den Auflagenzahlen seiner diversen Zeitschriften. Da fallen die Einzeltäter kaum mehr ins Gewicht, auch wenn sie, wie der Devisenhändler John Rusnak bei der Allied Irish Bank, flotte 750 Millionen Dollar Schaden anrichteten.
Die Kriminalstatistik bestätigt den Trend: Von allen bekannten Verbrechensarten nehmen die Wirtschaftsdelikte am rapidesten zu – allein im Jahr 2001 um 23,1 Prozent. Der Schaden ist immens, denn fast immer geht es hier um größere Summen, die der Volkswirtschaft entzogen werden. Schon wenn es gelänge, die flächendeckende Korruption zu unterbinden, würde die deutsche Volkswirtschaft um rund vier Prozent im Jahr stärker wachen, hat der Bamberger Generalstaatsanwalt Roland Helgerth ausgerechnet.
Unverbesserlichen Optimismus vorausgesetzt, könnte man die zunehmende Kriminalisierung der Wirtschaft sogar als Beweis für ihre Vitalität ins Feld führen – wenn sie denn wirklich dynamisch daherkäme. Tatsächlich aber lahmt das System wie ein alter Gaul. Selbst innerhalb der mediokren EU-Volkswirtschaften trägt Deutschland mittlerweile die rote Laterne des Klassenletzten. Nicht ihre Stärke treibt also die deutschen Unternehmer und Manager, Politiker und Beamte immer tiefer in die Grauzone der Betrüger-Ökonomie hinein, sondern ihre Schwäche. Weil sie kaum noch mithalten können mit dem Leistungen ihrer Konkurrenten rings um den Globus, greifen sie, wie mancher Spitzensportler zur Dopingpille, immer häufiger zum süßen Gift der Korruption, zu Lug und Trug und Täuschungsmanövern.
Die raue Gangart der Bosse brachte, wen wundert’s, auch die Gewerkschaften auf Trab. Je mehr sich die Reihen der organisierten Arbeitnehmer lichten, desto maßloser werden ihre Lohnforderungen. Klar: Die hauptberuflichen Funktionäre kämpfen um ihre Zukunft. Mit vorgestrigen Klassenkampfparolen und moderner Streiktaktik forcieren sie den Verteilungskampf so sehr, dass es immer weniger Beschäftigte und immer mehr Arbeitslose gibt.
Während die Konzerne die Forderungen der Gewerkschaften eher verkraften können, steht vielen Mittelständlern das Wasser bis zum Hals. Auf der einen Seite entziehen ihnen die Banken die zur Finanzierung der laufenden Geschäfte erforderlichen Betriebsmittelkredite (Stichwort: Basel II), auf der anderen müssen sie mit ständig steigenden Kosten fertig werden. Kein Wunder, dass viele von ihnen zu immer rabiateren Geschäftsmethoden greifen. Wer dies nicht kann oder will, dem droht die Pleite.
Dem Bürger will jeder an den Geldbeutel
In dieser gar nicht mehr schönen neuen Wirtschaftswelt hat der ehrliche Mitspieler schlechte Karten. Ob als Angestellter oder als Verbraucher, als Patient, Häuslebauer oder Geldanleger – stets läuft man Gefahr, ausgenutzt, übervorteilt, betrogen zu werden. Vom Staat als Gesetzgeber und der Justiz als seinem Vollzugsorgan ist nur selten Hilfe zu erwarten, und wenn sie erfolgt, dann fast immer zu spät.
Das mag daran liegen, dass der Staat selbst Teil der Betrüger-Ökonomie geworden ist. Die Parteien als Träger der politischen Willensbildung sind tief verstrickt in immer neue Spenden- und Korruptionsskandale. Die Regierungen, egal welcher Couleur, handeln stets nach dem Prinzip der Opportunität und nicht nach dem der Wahrhaftigkeit. Die Abgeordneten in den Parlamenten gehen allerlei bezahlten Nebentätigkeiten nach und weigern sich bis heute, diese offen zu legen. Nur der Bundestagspräsident soll Bescheid wissen. Die Gesetze werden immer unverständlicher, und der Justizapparat ist, besonders bei Wirtschaftsdelikten, heillos überfordert.
Weil nur wenige Staatsanwälte in der Lage sind, Bilanzen zu lesen und komplexe Betrugsmanöver zu durchschauen, haben Wirtschaftsganoven bessere Chancen, ungeschoren davonzukommen als jede andere Verbrecherkategorie. Während ein ertappter Ladendieb gnadenlos zur Rechenschaft gezogen wird, gehen die Dunkelmänner im Chefbüro allzu häufig straffrei aus. Achtzig Prozent aller Verfahren enden, wenn es denn überhaupt zu einer Anklage reicht, mit einem Deal: Der Täter bekennt sich schuldig, akzeptiert eine vergleichsweise milde Strafe und kann schon morgen ein neues Geschäft ausbaldowern. Die Strafverfolger sind froh, den Fall abhaken zu können, und die Richter ersparen sich einen Verhandlungsmarathon.
Ernst machen die Organe des Staates nur da, wo ihre eigenen finanziellen Interessen auf dem Spiel stehen. Großzügig bewilligt der um seine Einnahmen fürchtende Finanzminister mehr Planstellen für Steuerfahnder, Zollbeamte und Betriebsprüfer, doch für eine betriebswirtschaftliche Ausbildung der Staatsanwälte ist kein Geld vorhanden. Welch geringen Stellenwert der Schutz privaten Eigentums für unsere Politiker hat, beweisen aufs Schönste die Zustände an den Finanzmärkten. Als nach den massenhaften Betrügereien am Neuen Markt und den zahlreichen Insiderskandalen im »amtlich überwachten« Aktienhandel die Schutzvereinigungen der Kleinaktionäre nach einer strengeren Börsenaufsicht verlangten, da brachte die »grüne« Staatssekretärin Margareta Wolf im Bundeswirtschaftsministerium ein neues Gesetz auf den Weg. Es sollte die Rechtsstellung der Kleinaktionäre verbessern und die Kontrolle über das Geschehen an den Aktienmärkten verschärfen.
Was dann am Ende, nach der Behandlung »im parlamentarischen Raum«, herauskam, heißt »4. Finanzmarktförderungsgesetz« und dient in erster Linie den Interessen der Banken, Makler und Fondsverwalter, aber nicht dem der privaten Anleger. Statt einer effizienten Börsenpolizei wie der amerikanischen SEC wacht über die deutschen Aktienmärkte nun eine »Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht«, die ihr Geld eben von jenen Institutionen bekommt, die sie eigentlich kontrollieren soll: den Banken und der Deutschen Börse AG. Somit ist gesichert, dass alles bleibt wie bisher.
Nie zuvor in der Nachkriegszeit musste der private Geldverdiener, Konsument und Sparer zugleich, so sehr um seine materielle Existenz fürchten wie in den Zeiten der Bilanzfälscher und Preistrickser. Jeder will ihm an den Geldbeutel – der Arzt und der Abfallentsorger, die Bank und der Bauträger, der Elektriker und der Energielieferant, das Finanzamt und die Friedhofsverwaltung, der Klempner und die Kommune, der Vermieter und der Versicherer. Anders als die professionellen Akteure der Betrüger-Ökonomie, die sich Steuerberater und Rechtsanwälte leisten, ist der einzelne Bürger ganz auf sich allein gestellt in der Abwehrschlacht um sein Einkommen und Vermögen. Und dafür ist er im Normalfall denkbar schlecht gerüstet.
In der Schule erfährt er viel über die römische Geschichte, aber wenig über die deutsche Gegenwart. Niemand bringt ihm bei, wie man beim Autohändler einen Rabatt heraushandelt, bei der Bank die Gebühren drückt, den günstigsten Telefontarif herausfindet, den Vermieter in die Schranken weist; keiner klärt ihn über seine Rechte gegenüber einem betrügerischen Reiseveranstalter auf, sagt ihm, was er mit der überhöhten Rechnung des Klempners anstellen oder wie er sich gegen die unberechtigte Forderung eines Versandhändlers zur Wehr setzen soll. Dem Mobbing am Arbeitsplatz – gemeint ist das systematische Schikanieren eines Mitarbeiters oder Kollegen mit dem Ziel, ihn ohne Abfindung los zu werden – ist er ebenso schutzlos ausgeliefert wie den Pressionen des geschiedenen Ehepartners. Offenbar haben unsere Kultusminister kein gesteigertes Interesse an allzu lebenstüchtigen Bürgern – die wahre Bildungskatastrophe ist noch gar nicht entdeckt.
Im Gedränge der Ellbogengesellschaft überlebt nur, wer genügend Selbstbehauptungswillen besitzt; die erforderlichen Kenntnisse muss sich jeder, von Fall zu Fall, selbst aneignen. Dieses Buch will der Titelflut auf dem Markt der Ratgeber-Literatur keinen neuen hinzufügen. Stattdessen sollen die Strukturen der Betrüger-Ökonomie aufgedeckt, soll die Wehrhaftigkeit der Leser gestärkt werden. Da auf den Staat als Ordnungsmacht kein Verlass mehr ist, gilt es, den einzelnen Bürger fit zu machen für den Überlebenskampf in einem außer Kontrolle geratenen Wirtschaftssystem. Nur wer die Maschen und Methoden der Akteure kennt, hat eine Chance, ihnen zu entgehen.
Moralisch gefestigte Naturen, die die Realität einer brutalen, auf Täuschung und Ausnutzung psychologischer Schwächen abzielenden Geschäftswelt blauäugig negieren, mögen dies für den falschen Weg halten. Möglicherweise würden sie es vorziehen, im Stil Ulrich Wickerts (»Der Ehrliche ist der Dumme«) oder des Jesuitenpaters und Managertrainers Rupert Lay (»Ethik für Manager«) an das Gute im Menschen zu appellieren, um dem Verfall der Sitten und Werte Einhalt zu gebieten. Die Hoffnung freilich, dem zügellosen Treiben der Turbokapitalisten mit einer Predigt an das Gewissen oder auch nur an die Vernunft beizukommen, dürfte ähnlich enden wie der Versuch, das Loch im Boden der »Titanic« mit einem Heftpflaster abzudichten.
Der Wettbewerb wird ausgeschaltet
Wie Benzin aus einem lecken Tank versickerte in den vergangenen Jahren der wichtigste Treibstoff jeder Volkswirtschaft auf dem Boden der New Economy: Vertrauen. Kapital gibt es in Hülle und Fülle, auch genügend Arbeitskräfte, und genug Wissen ist vorhanden, um die Welt im 21. Jahrhundert ein bisschen schöner, komfortabler und gerechter zu gestalten als in sämtlichen früheren Epochen zusammen. Doch ohne ein Mindestmaß an Vertrauen nutzen alle übrigen Ressourcen nichts. Wenn der Investor dem Produzenten nicht mehr vertraut, wird er nicht investieren; wenn der Produzent dem Händler nicht mehr traut, wird er nicht produzieren; wenn der Händler dem Kunden nicht traut, wird er nicht ordern; wenn der Kunde dem Händler nicht traut, wird er nicht kaufen. Das System müsste kollabieren.
Noch ist es nicht soweit. Noch ist bei den meisten Geschäftsleuten die Gier nach Gewinn größer als die Sorge um den Verlust, und jeder Bürger muss für sich entscheiden, welche Rolle er im großen Monopoly des Lebens spielen möchte: die des Täters oder jene des Opfers. Naturgemäß werden die meisten Menschen immer Opfer bleiben – als Arbeitnehmer wie als Konsumenten – und nie die Chance erhalten, als Täter selbst gewinnbringend ins Geschehen einzugreifen. Allerdings haben die Opfer heute, dank des hohen Standes der Informationstechnik, bessere Chancen als je zuvor in der Geschichte, das Spiel dennoch zu ihren Gunsten zu entscheiden.
»Der Kunde ist der Gewinner«, behauptet zum Beispiel der amerikanische Internet-Prophet Nicholas Negroponte, und auch die meisten Einzelhändler sind mittlerweile der Überzeugung, dass die Beschleunigung und Vervielfachung des Informationsangebots zu ihren Lasten geht. Kunden können heutzutage überall auf der Welt die jeweils günstigste Offerte beinahe jeder Ware oder Dienstleistung ermitteln und sich so gegenüber den Anbietern Vorteile verschaffen. Auch auf dem Arbeitsmarkt dürfen sich Leute mit gefragten Kenntnissen und Fähigkeiten zu den Siegern zählen, da sie nicht mehr nur auf einen Arbeitgeber angewiesen sind, sondern sich den geeignetsten aussuchen können. Doch ganz so einfach ist die Sache nicht: Information allein reicht meistens nicht aus, die Oberhand zu bekommen, man muss auch in der Lage sein, sie zu nutzen.
Die Geschäftswelt nämlich hat auf den drohenden Machtverlust durch das Internet und die Globalisierung längst reagiert. Anders als die Regierungen der meisten Nationalstaaten, die sich mit Steuerdumping und Subventionen gegenseitig Konkurrenz machen und deshalb von multinationalen Gesellschaften beinahe nach Belieben erpresst werden können, versuchen die Global Players, wo immer es geht, den Wettbewerb auszuschalten. So wie die berühmten »Sieben Schwestern« zusammen mit dem Opec-Kartell seit Jahrzehnten den weltweiten Mineralölmarkt beherrschen, streben auch die Auto- und Computerbauer, Banken und Versicherer, Chemie- und Elektrokonzerne, Pharmafirmen und Nahrungsmittelhersteller für ihre Produkte nach Oligopolen (während sie ihre eigenen Einkäufe übers Internet so kostengünstig wie möglich abwickeln). Der Wettbewerb beschränkt sich hier auf die Werbung und das »Image,« die Preise hingegen gleichen sich wie die Kessler-Zwillinge. Ähnlich sieht es im Handel und in der Dienstleistungsbranche aus: Jede Schnäppchenjagd endet vor den Kassen krakenhafter Riesenkonzerne wie der Metro, der TUI oder der Lufthansa.
Jeder täuscht, so gut er kann
Außerdem haben die Anbieter begriffen, dass die beste Waffe gegen die Information des Kunden die Desinformation ist. Wer mal versucht hat, die Angebote der Versicherungskonzerne miteinander zu vergleichen, weiß, wovon die Rede ist. Nicht viel besser sieht es auf den Finanzmärkten aus. Indem sie die Anleger mit Infomüll zuschütten, verhindern Banken und Finanzdienstleister, dass man ihnen auf die Schliche kommt. Bis heute verstehen es zum Beispiel die Anbieter von Investmentfonds, die wahre Höhe der Gebühren und Kosten so lange zu verheimlichen, bis der Kunde ihre Papiere gekauft hat. Und was die Quartalsberichte und Ad-hoc-Mitteilungen, die Bilanzen und Geschäftsberichte der an der Börse notierten Unternehmen wert sind, ist schon angedeutet worden. Nicht die Beschaffung der Informationen ist deshalb das Problem, sondern deren richtiger Gebrauch.
In den Zeiten der Betrüger-Ökonomie müssen Arbeitnehmer wie Selbstständige lernen, Lug und Trug zu erkennen, Tricks und Täuschungsmanöver zu durchschauen, zwischen schönem Schein und rauer Wirklichkeit zu unterscheiden. Ähnlich wie Journalisten und Staatsanwälte sollten sie versuchen, hinter die Dinge zu blicken, Aussagen und Hinweise gegenzuchecken, ehe sie die Kreditkarte zücken, den Arbeitsvertrag unterzeichnen oder auch nur einen Auftrag erteilen. Sie sollten sich freilich hüten, illegale Praktiken zu kopieren – Anfänger und Amateure werden auch da erwischt, wo Profis ihren Hals aus der Schlinge ziehen. Allenfalls die Energie und der Einsatz der Sieger im Verteilungskampf mögen als Ansporn wirken, es ihnen gleichzutun.
»Es herrscht Krieg da draußen, und wir wollen in diesem Krieg zu den Siegern gehören«, versprach der ehemalige VW-Chef Ferdinand Piech seinen Aktionären – und er hielt Wort. Der martialische Auftritt der Wirtschaftsführer sollte den Bürgern zu denken geben. Auch wenn es noch nicht jeder gemerkt hat: »Da draußen« wird tatsächlich mit allen Mitteln um jeden Euro gekämpft. Um nicht betrogen und ausgeplündert zu werden, muss der Steuerzahler die Schleichpfade durch den Paragraphendschungel studieren, der Kunde die Marketingtechniken der Anbieter erkennen, der Arbeitnehmer auf alles gefasst, der Sparer und Anleger mit allen Wassern gewaschen sein. Jeder Schritt durch eine Ladentür gleicht einem Vorstoß auf feindliches Gelände, jeder Anruf bei einem Handwerker kann in eine finanzielle Katastrophe münden. Einen Vertrag unterzeichnet der wehrhafte Bürger grundsätzlich nur im Beisein seines Advokaten, und selbst vor den Traualtar tritt er besser mit dem Gesetzbuch unterm Arm.
Natürlich trägt es nicht unbedingt zum sozialen Frieden bei, wenn die Bürger mental und juristisch aufrüsten. Das Klima in den Betrieben wie in den Geschäften wird kälter, die Konflikte nehmen zu. Doch solange der Staat die entfesselte Wirtschaft gewähren lässt, bleibt dem Einzelnen gar nichts anderes übrig, als selbst seinen Vorteil zu suchen. Es ist Zeit, aufzuwachen und die schöne neue Wirtschaftswelt so zu sehen, wie sie wirklich ist.
In dieser Welt ist nichts so wie es scheint; jeder täuscht, so gut er kann. Das fängt ganz oben bei der Regierung an und hört ganz unten bei den Sozialhilfeempfängern noch nicht auf. Ist der Kanzler beispielsweise vor einer Bundestagswahl ungehalten über die schlechte Konjunkturlage, dann werden ihm die auf öffentliche Zuschüsse angewiesenen Forschungsinstitute flugs einen baldigen Aufschwung herbeiprognostizieren, auch wenn die Wirtschaft in Wahrheit lahmt. Weil der Euro schon immer Chefsache war, kann er keineswegs als Ursache einer brutalen Teuerungswelle identifiziert werden – die Statistiker werden es schon richten. Das Prinzip der Täuschung ist auch dem Sozialschnorrer nicht fremd, der fleißig seine »Stütze« kassiert, obwohl er mit Schwarzarbeit netto mehr verdient als mancher Vollzeitbeschäftigte.
Knapp 60 Jahre nach Kriegsende bietet Deutschland, oberflächlich betrachtet, ein Bild unerhörten Wohlstands. Die Straßen sind voll mit teurem Blech, die Häuser schmuck, die Gärten gepflegt, auf den Bankkonten liegen Billionen. Der schöne Schein verdeckt die triste Wirklichkeit: Rund sechs Millionen Deutsche leben von staatlicher Unterstützung, zwei Millionen Haushalte sind hoffnungslos überschuldet, jeder dritte Neuwagen wird auf Pump gekauft, 800000 Bürger leisteten im Jahr 2002 den Offenbarungseid.
In der längsten Friedensperiode der jüngeren deutschen Geschichte ist die Kluft zwischen Arm und Reich, zwischen den Habenichtsen und den Besitzenden nicht kleiner, sondern größer geworden. Trotz ständig wachsender Nominaleinkommen lebt die Masse der Deutschen nach wie vor von der Hand in den Mund, ohne finanzielles Polster, ohne die Freiheit, auch mal Nein sagen zu können, während sich auf der anderen Seite das Produktivvermögen in der Hand immer weniger Familien konzentriert. Und je größer die Konzerne werden, je mehr Marktmacht sie bündeln, desto abhängiger werden die Verbraucher, desto mächtiger die Eigentümer des Kapitals.
Der Handwerkskasten der Manager
Jeder Euro an zusätzlicher Kaufkraft wird systematisch abgeschöpft – vom Staat, den Gemeinden, den Vermietern, Herstellern, Händlern, Handwerkern, Dienstleistern. Auf den wichtigsten Märkten kalkulieren nämlich die Anbieter ihre Preise längst nicht mehr nach den Herstellungskosten, sondern nach der Kaufkraft der Konsumenten. Und solange die sich von der Werbung und den Medien zur Jagd auf Labels und Logos treiben lassen, solange nicht wirtschaftliche Vernunft ihr Handeln bestimmt, sondern Geltungssucht und Prestigedenken, solange werden sie Opfer bleiben, ohne Chance, jemals wirtschaftliche Unabhängigkeit zu erlangen.
Doch was wäre los in Deutschland, wenn die Bürger den Spieß umdrehten? Wenn plötzlich 80 Millionen willfähriger Konsumenten so unverfroren wie Unternehmer handelten? Wenn sie rigoroses Self-Management betrieben, sich allein vom Kosten-Nutzen-Denken leiten ließen, unverführbar, ausschließlich auf den eigenen Vorteil bedacht? Wenn sie tricksten und täuschten, lögen und betrögen wie mancher Manager vom Neuen Markt? Oder wenn sie sich zu Einkaufsgenossenschaften zusammenschlössen und so gnadenlos die Preise drückten wie die Unterhändler des Metro-Konzerns? Wenn sie unredliche Geschäfte, Handwerker, Ärzte mit Boykotten in den Bankrott trieben? Nicht auszudenken, wie alt mancher Anbieter aussehen würde, wie lächerlich die Bemühungen der Werbebranche wirkten!
Vielleicht ist die Zeit wirklich reif für die Ego-AG. Vielleicht muss man sich in der Betrüger-Ökonomie tatsächlich verhalten wie ein auf Gewinnmaximierung eingestelltes Ein-Mann(Frau)-Unternehmen: permanentes Change-Management betreiben, sich auf seine Kernkompetenzen konzentrieren, Randaktivitäten abstoßen, desinvestieren, gelegentlich auch mal ein Reengineering einleiten, sich neue Ziele setzen, Allianzen schmieden! Natürlich muss auch das Branding gepflegt werden: Es geht darum, das ICH als Marke zu verkaufen, ums Ego-Marketing also. Da muss alles stimmen: die Corporate Identity, das Beziehungsmanagement, das Networking, die Karrierestrategie. Fortgeschrittene werden die Hohe Schule des Financial Engineering vorführen und ihre Bank mit geschönten Bilanzen zu weiteren Krediten verleiten, Visionen verkünden, aber eingehende Rechnungen nicht bezahlen – und wenn das alles nicht mehr hilft, schlicht Konkurs anmelden. Ach, der Handwerkskasten des modernen Managers enthält so viele nützliche Instrumente, die dem einfachen Bürger auch in schwierigen Zeiten das Überleben erleichtern.
Neulich im Supermarkt. Wir haben Lebensmittel fürs Wochenende eingekauft, Fleisch, Wurst, Gemüse. Und zwei Flaschen Rotwein. Schock an der Kasse: Statt der üblichen 50 Euro zeigte das Display mehr als den doppelten Betrag an: 128,30 Euro! Erster Verdacht: der Wein. Zurück zum Regal. Wir hatten uns für einen Rioja entschieden, die Flasche zu 12,80 Euro, jedenfalls stand es so auf dem Etikett am Regal. Die Flaschen waren nur mit dem Barcode ausgezeichnet. Zusammen machten sie also 25,60 Euro. Dann hätten die übrigen Sachen 102,70 Euro gekostet, doppelt so viel wie sonst. Unmöglich. Wieder zur Kasse, die Weinflaschen zuerst. Großes Erstaunen, auf dem Display erscheint ein ganz anderer Betrag: 24,80 Euro pro Flasche. Wir protestieren.
Die Kassiererin, offensichtlich überfordert, steht auf und holt den Geschäftsführer. Murren in der Schlange hinter uns. Der Geschäftsführer kommt, wir erklären, gehen zusammen zum Regal. Er mustert das Etikett: »Da haben Sie etwas verwechselt – dieser Preis gilt für den Wein darunter.« Aber da ist kein Wein. »Der ist schon ausverkauft – wegen des günstigen Preises.« Aha, und wie sollen wir wissen, welches Etikett für welche Ware gilt? Gibt es keine Preisauszeichnungsvorschrift? Der Geschäftsführer: »Wo kämen wir hin, wenn wir jeden Artikel zweimal auszeichnen würden – der Barcode muss genügen.« Uns genügte es auch. Wir ließen den voll gepackten Einkaufswagen stehen und verschwanden.
Natürlich könnte man den kleinen Vorfall schnell vergessen und zur Tagesordnung übergehen. Vielleicht war es wirklich nur ein Versehen. Doch dann hätte man wohl erwarten können, dass sich der Geschäftsführer entschuldigt und das Missgeschick mit einer kleinen Zugabe aus der Welt schafft; so wie wir das mehrfach in Italien erlebt hatten. Seine Reaktion aber ließ darauf schließen, dass er sich ertappt fühlte, denn in seinem Supermarkt waren viele Artikel, wie es sich gehörte, zweifach gekennzeichnet, mit dem für Maschinen lesbaren Barcode und Ziffern für den Verbraucher. Beim gewinnträchtigen Wein aber hatte man dies irgendwie »übersehen«.
Eine Arena voller Faul- und Falschspieler
In einem fairen Wirtschaftssystem käme wohl niemand auf den Gedanken, dem Geschäftsführer nach einer solchen Panne wissentlichen Betrug zu unterstellen. Im Deutschland des Jahres 2003 aber ist Misstrauen angebracht. Denn beinahe täglich macht man als Kunde Erfahrungen, die einem zu denken geben. So als wir unsere Wohnung renovieren ließen. Schon bei der Vergabe der Malerarbeiten mussten wir feststellen, dass die eigentliche Kunst der Handwerker darin besteht, Angebote zu verfassen. Trotz ihrer hohen Endpreise schafften es die deutschen Meister des Pinsels nämlich, kostenträchtige Positionen wie die Entfernung der alten Farbe schlicht zu vergessen, was dann hinterher mit Sicherheit zu erheblichen Überschreitungen der Angebote geführt hätte. Wir entschieden uns schließlich für ein rumänisches Unternehmen, das als einziges einen Festpreis garantierte und schließlich auch gute Arbeit leistete.
Problematischer gestaltete sich die Renovierung des Badezimmers. Nachdem wir zuerst die »Berater« zweier renommierter Fachgeschäfte aus der Innenstadt konsultiert hatten, sahen wir uns gezwungen, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Denn auch diese Herrschaften weigerten sich trotz astronomischer Preisvorstellungen, sich auf irgendeine Summe festlegen zu lassen. Also machten wir uns auf den Weg zu Bau- und Sanitärgroßmärkten, um Badewannen, Duschkabinen und Armaturen zu besichtigen. Die Auswahl war beachtlich, und die Preise waren es auch. Nachdem wir uns für das passende Equipment entschieden hatten und in die Preisverhandlungen eintreten wollten, erfuhren wir zu unserem Erstaunen, dass wir keines der Ausstellungsstücke kaufen konnten. Wir durften sie lediglich aussuchen, bestellen aber können bei den bedeutendsten Fachgroßhändlern der Stadt München nur »autorisierte« Installateure. So war es auch nicht möglich, über Rabatte zu verhandeln, denn den Rabatt kassiert bei diesem System ausschließlich der Handwerker.
An jedem Stück für unser Bad wollten also eine Menge Leute mitverdienen: der Hersteller, der Großhändler, der Installateur. So hatten wir nicht gewettet. Wir riefen den Hersteller der Duschkabine an, in der Hoffnung, Großhändler und Installateur ausschalten zu können. Der Geschäftsführer des mittelständischen Betriebes wand sich: »Sie müssen verstehen, dass wir uns die Vertriebskanäle nicht kaputt machen dürfen.« Immerhin gab er zu, dass es sich hier um ein – eigentlich verbotenes – Preiskartell handle, doch er sei bereit, uns einen zehnprozentigen Rabatt auf den Endpreis einzuräumen.
Wir verzichteten und begannen nach einem Installateur zu suchen, der erstens reelle Arbeit leisten und zweitens darauf verzichten sollte, auch noch beim Bezug der benötigten Badezimmerartikel kräftig abzusahnen. Mithilfe eines Netzwerkes aus Freunden und Bekannten wurden wir schließlich in der niederbayerischen Provinz fündig. Der Klempnermeister, dessen Adresse bei uns ins Zeugenschutzprogramm aufgenommen wurde, gab die 20 Prozent Rabatt, die ihm der Großhändler einräumte, an uns weiter und begnügte sich mit den DM 70,– Stundenlohn, die wir ihm für seine handwerklichen Tätigkeiten bezahlten. Da wir die benötigten Artikel zum Großhandelspreis bezogen und die Leistungen unseres Installateurs stundenweise bezahlten, kamen wir auf einen Endpreis, der etwa halb so hoch war wie die Summe, die uns die Fachgeschäfte aus der Innenstadt in Rechnung stellen wollten.
Die Betrüger-Ökonomie hat viele Gesichter. Sie versteckt sich harmlos hinter kleinen Beträgen beim täglichen Einkauf, erscheint als überflüssige »Anfahrtpauschale« auf der Rechnung des Handwerkers, begegnet uns beim Arztbesuch, wo sich ein harmloser Schnupfen schnell zur kostenträchtigen Behandlung einer lebensbedrohlichen Krankheit auswächst und endet noch lange nicht am Banktresen, wo uns ein eifriger »Berater« hauseigene Schrottfonds andrehen möchte.
Nicht nur die Verbraucher leiden unter dem täglichen Beschiss, sondern in immer stärkerem Maße auch die Wirtschaft selber. Weil jeder versucht, jeden irgendwie hereinzulegen, hat am Ende keiner mehr etwas davon. Quer durch alle Branchen klagen Unternehmer, Handwerker und Freiberufler über eine »rapide nachlassende Zahlungsmoral«– so der Bundesverband deutscher Inkassounternehmen. Auch die von Jahr zu Jahr anschwellende Zahl der Pleitefälle kündet von den Gebrechen eines Wirtschaftssystems, das dabei ist, sich selber zu ruinieren. Über 40000 Firmen machten allein im Jahr 2002 dicht, darunter Medienkonzerne wie die Kirch-Gruppe und die Kinowelt AG, der Flugzeugbauer Fairchild Dornier, der Bauriese Philipp Holzmann, der Papierhersteller Herlitz, die Schneider-Rundfunkwerke, der Stahlkocher Maxhütte und der Anlagenbauer Babcock Borsig. Die Folgen sind verheerend: 650000 Arbeitsplätze weniger – und Zahlungsausfälle in Milliardenhöhe, viele vernichtete Lebensentwürfe, Kettenreaktionen bei den Aktionären, Banken, Lieferanten.
Die Wirtschaft merkt offenbar nicht, dass sie auf dem Holzweg fährt. Anstatt abzurüsten, um das verloren gegangene Vertrauen ihrer Kunden und Mitarbeiter zurückzugewinnen, satteln die vielen tausend Westentaschen-Machiavellis in den Chefbüros immer noch eins drauf.
Natürlich ist nicht jeder, der in der »Wirtschaft« tätig ist, kriminell, und noch weniger ist jeder Deutsche (oder Italiener, Franzose, Brite etc.) ein Betrüger. Aber der Druck auf jeden Einzelnen nimmt unaufhörlich zu. Vorstände und Geschäftsführer müssen trotz flauer Konjunktur, gesättigter Märkte und ständig steigender Kosten wachsende Erträge abliefern, also geben sie den Druck der Investoren an ihre Mitarbeiter, Tochtergesellschaften und Zulieferer weiter. Weil aber der Wettbewerb zu immer teureren Marketing-Maßnahmen zwingt, bekommt der Kunde am Ende immer weniger für sein Geld. Also wird er auch weniger kaufen und so den Druck auf die Unternehmen weiter erhöhen. Ein Teufelskreis, der häufig nur noch mit illegalen Mitteln aufzulösen ist.
Eigenartigerweise aber gilt Skrupellosigkeit in der Wirtschaft nicht als Makel, sondern sogar als Ausweis von Tüchtigkeit. Wie in einer Fußballmannschaft, wo der Foulspieler so lange geschützt wird, bis er vom Platz muss, zählen auch im Unternehmen nur die Ergebnisse. Wie sie erzielt werden, will niemand so genau wissen. Was die Foulspieler in den Chefetagen aber übersehen, ist der Wiederholungseffekt. Nicht nur sie selbst sind so schlau oder so skrupellos – alle anderen sind es auch. Wenn der Schiedsrichter nicht aufpasst, verwandelt sich erst der Betrieb, dann die Branche und schließlich das ganze System »Wirtschaft« in eine Arena voller Foul- und Falschspieler. Der Schiedsrichter aber, in unserem Fall der Staat, ist offensichtlich nicht an einem fairen Spiel, sondern nur an hohen Einnahmen (Steuern) interessiert.
Das Wertesystem gleicht einem Otto-Katalog
Bekennende Sozialdarwinisten und ideologisch gefestigte Marktliberale werden hier einwenden, es schade nichts, wenn der wirtschaftliche Erfolg mit harten Bandagen erkämpft werden müsse. Schließlich lebten wir in einer Wettbewerbsgesellschaft, die den Tüchtigen belohnt und den Schwachen mit Konkurs bestraft. Die Frage ist nur, wie lange die Menschen sich noch wohlfühlen in einer Gesellschaft, die von Betrügern dominiert wird. Wenn »die Wirtschaft« auf Fairness und Anstand verzichtet, nur um den Shareholder Value, also den Börsenwert ihrer Unternehmen, steigern zu können, werden die Menschen vielleicht eines Tages auf die Wirtschaft verzichten. Jedenfalls auf Unternehmen und Manager, die vorgeben, »die Wirtschaft« zu repräsentieren.
Fatal ist der Einfluss, den das wirtschaftliche Geschehen auf alle Lebensbereiche hat, obwohl »die Wirtschaft« in Deutschland auf den ersten Blick gar nicht so bedeutsam erscheint.
Die Deutschen steigen – im Durchschnitt – später ins Berufsleben ein als etwa die Schweizer, Italiener oder gar Amerikaner – und sie hören früher damit auf. Außerdem machen sie zwischendurch auch wesentlich mehr Urlaub. Sogar die deutschen Frauen sind seltener berufstätig als Britinnen, Skandinavierinnen oder Amerikanerinnen, und die Zahl der Selbstständigen ist hierzulande geringer als in den meisten anderen EU-Staaten. Rechnen sich in Frankreich etwa 15 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung zu den »Unternehmern«, so liegt die Selbstständigen-Quote in Deutschland bei nur neun Prozent. Es gäbe also genug Gründe zu der Annahme, dass wirtschaftliches Handeln im Land der Dichter und Denker, selbst wenn es etwas rüde betrieben wird, kein besonderes gesellschaftliches Problem darstellte.
Und doch ist diese Annahme falsch. Denn in kaum einem anderen Land der Erde, ausgenommen vielleicht die Vereinigten Staaten von Amerika, ist das Selbstwertgefühl der Menschen so sehr von ihrem wirtschaftlichen Erfolg abhängig wie im Daimler-Land. Die materielle Ausstattung kennzeichnet den gesellschaftlichen Status des Bürgers, ob er nun aktiv im Berufsleben steht oder als Student, Beamter und Pensionär bloß zu den Randfiguren des Produktionsprozesses zählt. »Geld, Einkommen und Vermögen bestimmen die soziale Stellung, jedenfalls mehr als früher, als Titel oder Ämter viel wichtiger für das Sozialprestige waren als heute«– das sagt einer, der es wissen muss: Ex-Bundesbank-Chef Karl Otto Pöhl, der nach dem Abschied von der Notenbank sein Einkommen als Gesellschafter bei der Kölner Privatbank Oppenheim selbst kräftig aufbessern konnte.
Sogar Topmanager, die über Riesenkonzerne gebieten, neiden kleineren Mittelständlern das Familienvermögen, denn sie wissen: Der Posten kann morgen weg sein, das Geld aber bleibt – wenn es nicht am Neuen Markt in den Sand gesetzt wurde. Deshalb nutzen sie verstärkt jede Gelegenheit, sich an den ihnen anvertrauten Unternehmen zu bereichern.
Man darf fast alles sein in dieser Gesellschaft: angeberisch und ausländerfeindlich, draufgängerisch und dreist, lästig und langweilig – nur arm sein ist verboten. Fast 60 Jahre nach der »Stunde Null« gleicht das gesellschaftliche Wertesystem mehr und mehr einem Otto-Katalog. Immaterielles steht nicht im Angebot, der Schein bestimmt das Sein.
Weil weder christliche noch humanistische Werte Konjunktur haben, regelt der Gott der kleinen Diebe das Zusammenleben der Deutschen, auf dass, vom Puma zum Porsche, alles seine Ordnung hat. Begünstigte das gesellschaftliche Klima schon immer jene robusten Naturen, die beim Streben nach Geld und Geltung wenig Rücksicht auf Anstandsregeln oder auch Gesetze nahmen, so ruhen jetzt sogar die Hoffnungen der schweigenden Mehrheit auf jenen skrupellosen Geschäftemachern, die den im Sumpf des Wohlfahrtsstaates versackten Wirtschaftskarren wieder flott machen sollen.
Nach 16 Kohl- und mehr als vier Schröder-Jahren sehnt sich das Volk nach mehr Dynamik, mehr Arbeitsplätzen, mehr Wohlstand und übersieht, dass dies zusammen nur zu einem Preis zu haben ist, den am Ende keiner bezahlen möchte. Verhängnisvoll an der Betrüger-Ökonomie ist ja nicht, dass sie die Regeln verletzt, sondern dass die Regelverletzung als normal empfunden wird.
Das Land der 1000 Kartelle
Nehmen wir als einen der häufigsten Regelverstöße das, was wir bei der Renovierung unseres Badezimmers erlebt hatten: Märkte, die keine mehr sind. Aus gutem Grund ist es den Anbietern von Waren und Dienstleistungen strikt untersagt, Preise und Liefermengen miteinander abzusprechen, um so den Wettbewerb auszuhebeln. Die Geschichte hat nämlich gelehrt, dass Kartelle und Oligopole schädlich für die Wirtschaftsentwicklung sind. Bei den Anbietern führen sie zu nachlassender Effizienz und Verschwendungssucht, bei den Abnehmern zu überhöhten Kosten. So weit die Theorie.
In der Praxis freilich ist die Kartellierung der Märkte schon viel weiter fortgeschritten, als es der Staat erlauben dürfte. Obwohl mit dem Bundeskartellamt und der Monopolkommission zwei staatliche und mit der Zentrale zur Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbs eine privatwirtschaftliche Institution für offene Märkte und freien Wettbewerb sorgen sollen, verringert sich die Zahl der Anbieter von Jahr zu Jahr mit dem Ergebnis, dass die Sieger des Ausleseprozesses die Geschäftsbedingungen diktieren können. Da sich das Wirtschaftsministerium in der Vergangenheit wenig Mühe gab, Kartellsündern und Monopolisten auf die Schliche zu kommen, herrschen zu Beginn des 21. Jahrhunderts in der deutschen Wirtschaft bereits wieder ähnliche Zustände wie in der Weimarer Republik, in der Deutschland gern als »das Land der 1000 Kartelle« verspottet wurde.
»Ausdruck einer Verachtung der Verbraucher«
Kartelle werden heutzutage allerdings nicht mehr offiziell angemeldet, sondern so heimlich still und leise errichtet, dass weder der Staat noch die Verbraucher davon erfahren. Man trifft sich konspirativ an verschwiegenen Orten und hinterlegt, wenn es gar nicht anders geht, die geheimen Absprachen im Tresor eines ausländischen Notars. Zum Austausch der Daten verwendet man raffinierteste Verschlüsselungs-Software, und eingeweiht werden nur wenige »Zugangsberechtigte«, die für ihre Verschwiegenheit einen Extrabonus erhalten.
Im Fall unseres Duschkabinen-Herstellers mussten wir zum Beispiel damit drohen, die skandalöse Preisgestaltung an die Öffentlichkeit zu bringen, ehe uns der Hersteller gestand, dass er sich dem Preisdiktat eines Kartells aus Großhändlern und Installateuren unterworfen habe, um die für seine Produktionsanlagen benötigten Stückzahlen absetzen zu können.
Wie bei Duschkabinen und Badezimmerarmaturen funktioniert die Preisgestaltung auf vielen Märkten: Hersteller und Händler sorgen dafür, dass der Kunde immer zu viel bezahlen muss. Weil die deutschen Automobilhersteller den KFZ-Handel voll im Würgegriff haben, sind Autos in Deutschland noch immer teurer als in allen anderen EU-Staaten, kosten Ersatzteile bei den »autorisierten« Werkstätten weit mehr als im freien Handel. Auch die Mineralölhersteller nutzen ihre Marktmacht zum Abkassieren, etwa wenn sie Benzinpreise stets im Gleichschritt erhöhen und an ihren Tankstellen das Motorenöl zu prohibitiven Preisen verkaufen.