Die eigensinnige Ärztin - Deeanne Gist - E-Book

Die eigensinnige Ärztin E-Book

Deeanne Gist

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Beschreibung

Chicago, 1893: Billy Jack Tate hat nicht nur einen Männernamen, sondern auch einen Männerberuf ergriffen: Sie ist Ärztin aus Leidenschaft. Gerade als sie sich am Ziel ihrer Träume wähnt, lernt sie Hunter Scott kennen, einen Texas Ranger, der wenig übrig hat für die Großstadt und für Frauen, die davon überzeugt sind, dass es mehr gibt als Heiraten und Kinderkriegen. Ist Billy bereit, ihren Traum von einer eigenen Praxis in der Stadt aufzugeben und Hausfrau und Mutter zu werden? Oder wird Hunter bereit sein, die weiten Ebenen des Südens gegen die graue Großstadt und eine unabhängige Ehefrau einzutauschen?

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Seitenzahl: 522

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Über die Autorin

Immer wieder schafft es Deeanne Gist, mit ihren Büchern die Bestsellerlisten zu erklimmen. Ihr Erfolgsrezept: gründlich recherchierte historische Romane in Verbindung mit viel Humor und Liebe. Bislang wurde sie für vier RITA-Awards nominiert – eine renommierte Auszeichnung für Liebesromane – und gewann zwei Christy-Awards.

Sie hat vier mittlerweile erwachsene Kinder und lebt mit ihrem Mann in Houston, Texas.

Bei Gerth Medien sind bereits zahlreiche ihrer Romane auf Deutsch erschienen, zuletzt „Sprache des Herzens“ und „Liebe in der Warteschleife“.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Epilog

Anmerkungen der Autorin

In Erinnerung anJohn M. Wood, Hauptmann der Texas RangersEs war mir eine große Ehre, ihn bei den Recherchen für dieses Buch kennenzulernen.Er war mit seinen 99 Jahren der älteste noch lebende Texas Ranger und hat mirviele Geschichten aus seiner Kindheit und aus seiner Zeit als Ranger erzählt.Du wirst uns fehlen, John.Mein besonderer Dank gilt meiner PIT-Crew (Personal Intercessory Team)Dan & Janie AlexanderSandy HickeyMarcia MaceyDebra Larsen SmithIhr habt mich in den Wochen, in denen ich den ersten Entwurf für dieses Buch verfasst habe,sehr unterstützt. Eure ermutigenden Worte und euer täglicher Zuspruch haben mich durch viele lange Tage und Abende getragen.Aus tiefstem Herzen: Vielen, vielen Dank, liebe Freunde!

1

Öffnen Sie die Türen!“ Eine Frau in einem modernen Hosenrock-Kostüm drohte dem Wachmann der Chicagoer Weltausstellung mit ihrem Schirm. Durch diese Bewegung rutschte der Aufsehen erregend kurze Saum ihres Rockes weiter nach oben und über den blauen Gamaschen kamen ihre Strümpfe zum Vorschein.

Der Wachmann, der den Eingang zum Internationalen Kongress für Frauenrechte blockierte, baute sich breitbeinig vor der Menge auf. Eine Welle der Empörung breitete sich über die erregten Frauen aus, die bis zur Straße standen.

Nicht nur Eva hat einen Kain großgezogen, dachte Billy, während sie sich mühsam einen Weg durch das Meer aus Sommerhüten bahnte.

Sie musste so schnell wie möglich in dieses Gebäude gelangen. Der Wachmann verweigerte zwar vielleicht der Trägerin eines skandalös modernen Hosenrocks den Zutritt, aber sie würde er bestimmt durchlassen. Schließlich war sie Doktor Billy Jack Tate. Sie stand als Rednerin auf dem Programm und hatte unzählige Stunden damit verbracht, die Rede, die sie auf diesem Frauenkongress vortragen würde, zu schreiben, umzuschreiben und einzuüben.

„Entschuldigen Sie, Sir!“ Sie wedelte mit einem Taschentuch. „Ich bin Doktor Billy Jack Tate. Ich bin eine der Red­nerinnen auf der Veranstaltung im Kolumbus-Saal. Sie müssen mich sofort durchlassen!“

Doch der Mann warf nur einen kurzen Blick in ihre Richtung und konzentrierte seine Aufmerksamkeit dann wieder auf die empörte Menge.

Sie kniff die Augen zusammen. Er konnte sie doch unmöglich übersehen haben. Nicht in diesem Kleid! Denn obwohl der strahlende Frühlingstag Wärme und einen herrlichen Sommer ankündigte, war die vorherrschende Kleiderfarbe auf dem Kongress ein langweiliges Braun. Mit Ausnahme ihres Kleides! Sie hatte sich von der Schneiderin zu einem hinreißenden Grün mit leuchtend rosa Punkten überreden lassen, auch wenn sie diese Entscheidung seither tausendmal infrage gestellt hatte.

Sie zwängte sich zwischen den gedrängt stehenden Frauen hindurch nach vorne durch. „Sir, ich habe gesagt, ich muss –“

In diesem Moment wurde über dem Wachmann ein Fenster schwungvoll aufgerissen und ein Kopf lugte heraus. Auf dem Kopf saßen zerzauste, schwarz-graue Haare, der Gesichtsausdruck war genervt und der restliche Körper vor den Blicken der Frauen verborgen.

„Der Saal platzt aus allen Nähten“, rief ein Mann. Nach einem schnellen Blick hinter sich in den Saal wandte er sich noch einmal an die wartenden Frauen. „Niemand wird mehr ins Gebäude gelassen! Ich rate Ihnen, nach Hause zu gehen.“

Protestrufe übertönten Billys Versuche, die Aufmerksamkeit des Mannes zu erregen.

„Sir!“, rief sie wieder. „Ich bin Doktor Billy Jack –“

Der Mann zog wie eine verängstigte Schildkröte den Kopf zurück und knallte das Fenster zu. Der Wachmann baute sich noch breiter vor der Menge auf.

Lautstarke Proteste ertönten aus den Reihen der wartenden Frauen. Einige erhoben nur ihre Stimmen, andere hoben auch die Fäuste.

Völlig erbost wollte die Kleiderrevolutionärin in ihrem Hosenrock über das Absperrseil klettern. „Machen Sie Platz!“

Der Wachmann zog einen kurzen Säbel aus der Scheide an seiner Seite und hielt ihn drohend vor seine Brust.

Die Frau blieb mit dem rechten Fuß auf der einen und dem linken auf der anderen Stufe stehen. Billy hielt die Luft an. Die Stimmen um sie herum wurden leiser.

Der Säbel sollte hauptsächlich als Dekoration dienen, aber er war auf Hochglanz poliert und höchstwahrscheinlich frisch geschliffen.

„Gleich hinter den Bäumen steht ein Gefangenenwagen, der alle ins Gefängnis bringt, die gegen die Anweisungen der Kolumbus-Garde verstoßen.“ Seine Stimme war tief, selbstsicher und unerbittlich. „Ein Signal von mir genügt und ein Trupp Wachleute rückt an. Mit diesen kampferprobten, kräftigen Männern wollen Sie sich bestimmt nicht anlegen. Ich rate Ihnen deshalb dringend, sofort zurückzutreten.“

Ein Spatz ließ sich, von der sich aufschaukelnden Spannung völlig unbeeindruckt, flatternd auf dem Fensterbrett nieder und zwitscherte vergnügt.

Billy schob sich weiter nach vorne. Es würde sicher nicht zu einem Blutvergießen kommen, aber sie wollte vorsichtshalber bereit sein.

„Komm, Martha“, sagte eine Frau in ihrer Nähe beschwichtigend zu ihrer Nachbarin. „Versuchen wir es bei einem anderen Eingang.“

Der Wachmann wandte die Augen keine Sekunde von den Frauen ab. Billy vermutete, dass ihm keine Bewegung entging. Eine Gänsehaut lief ihr über den Rücken. Sie duckte sich und schlüpfte unter dem Seil hindurch.

Der Mann beugte sich vor, nahm den Säbel in seine ­andere Hand und hob abwehrend die Arme. Sein Blick glitt zwischen ihr und der Frau im Hosenrock hin und her.

„Mein Name ist Doktor Billy Jack Tate.“ Ihre Stimme war in der plötzlichen Stille laut und deutlich zu hören. Sie bemühte sich um einen ruhigen, sachlichen Tonfall. „Ich bin Chirurgin und Rednerin hier auf dem Kongress. Wir wollen doch keine Scherereien.“ Sie richtete den Blick auf die Frau. „Ich denke, es ist wahrscheinlich am besten, wenn wir tun, was er sagt. Er hat sich verpflichtet, Befehle zu befolgen, und seine Befehle lauten, dass niemand mehr das Gebäude betreten darf. Wir sind schließlich keine barbarischen Männer, sondern zivilisierte Frauen. Und Frauen sind viel zu vernünftig und erfinderisch, um zu brutaler Gewalt zu greifen.“

Ein langer, spannungsreicher Moment verging. Schließlich hob die Frau angriffslustig das Kinn, drehte sich auf dem Absatz um und stieg erneut über das Seil.

Die drohende Pose des Wachmanns blieb unverändert. Er steckte den Säbel nicht wieder ein und schaute sie weiterhin drohend an. „Treten Sie zurück!“

Billy bedachte ihn mit einem ruhigen Lächeln. „Ich stelle keine Bedrohung dar. Ich bin wirklich Rednerin auf dem Kongress und muss in den Saal. Meine Rede beginnt in …“ Sie warf einen Blick auf ihre Ansteckuhr. „… achtunddreißig Minuten.“

„Sie sind genauso wenig ein Doktor, wie ich eine Hausfrau bin! Und jetzt treten Sie zurück!“

Allmählich verlor sie die Geduld. „Ich bin Ärztin! Ich habe an der Universität von Michigan Medizin studiert und in den vergangenen sieben Jahren in verschiedenen Krankenhäusern praktiziert. Mein Spezialgebiet ist die Chirurgie, und meine Rede befasst sich damit, wie es ist, als Frau einen Männerberuf auszuüben. Also, wenn Sie jetzt bitte ­zurücktreten würden! Sonst muss ich den Veranstaltern ­dieses Kongresses melden, wer mich daran gehindert hat, zu den Tausenden von Menschen zu sprechen, die darauf warten, meine Rede zu hören.“

Mit jeder Qualifikation, die sie aufzählte, wuchs seine Belustigung. Bei ihrer letzten Drohung stieß er sogar ein kurzes Schnauben aus. Wenigstens hatte er wieder eine normale Körperhaltung angenommen und seinen Säbel gesenkt, obwohl er ihn noch nicht weggesteckt hatte. „Eines muss man Ihnen lassen, Miss: Sie können wirklich gut reden. Aber wie Sie schon sagten: Frauen können sehr einfallsreich sein, wenn sie etwas erreichen wollen. Aber bei mir sind Sie damit an der falschen Adresse! Ich lasse mich von einem hübschen Gesicht nicht übers Ohr hauen.“

„Aber das habe ich doch gar nicht gemeint!“

Er steckte seinen Säbel wieder ein. „Ist mir egal. Und jetzt verschwinden Sie! Ich lasse niemanden mehr hinein. Auch Sie nicht.“

Ihr Blick glitt wieder zur Tür. „Ich bin aber doch Rednerin auf diesem Kongress!“

Er versuchte, sie wegzuscheuchen. „Haben Sie Tomaten auf den Ohren? Entweder Sie gehen jetzt wieder auf die andere Seite des Absperrseils oder ich lasse Sie von meinem Kollegen dort drüben in den Gefangenenwagen sperren. Der Wagen bringt Sie dann auf direktem Weg ins Gefängnis. Glauben Sie mir: Im Chicagoer Gefängnis ist es nicht sehr schön. Dort werden weibliche Gefangene nämlich nicht von den Männern getrennt. Wollen Sie das wirklich riskieren?“

Mit leichtem Unbehagen warf sie einen Blick in die Richtung, in die er mit dem Kopf deutete. Inmitten eines Meeres an Damenhüten jeder Größe und Form stand nur wenige Schritte hinter ihr ein ziemlich kräftiger Mann. Er berührte grüßend seinen Hut.

Die junge Frau kniff die Lippen zusammen und stieg ­resigniert die Stufen wieder hinab. Sie würde ihr Glück bei einem anderen Eingang versuchen müssen. Aber das Gebäude war riesig. Bis sie sich durch die vielen Menschen geschoben und mit jedem Wachmann diskutiert hätte, wäre zu viel Zeit vergangen und ihre Chance vertan.

Sie hätte mehr Zeit für den Weg einplanen sollen. Aber sie hatte nicht mit so vielen Frauen gerechnet, und sie hatte bestimmt nicht erwartet, dass ein so großes Gebäude wegen Überfüllung geschlossen würde.

Bevor sie unter dem Seil hindurchschlüpfte, drehte sie sich noch einmal um. „Ich brauche Ihren Namen, damit ich den Verantwortlichen des Kongresses erklären kann, wer mir den Zutritt verweigert hat.“

Er verbeugte sich. „Peter Stracke. Aber alle nennen mich nur Pete.“ Er zwinkerte ihr zu.

Sie bückte sich unter dem Seil hindurch. Die Frauen bahnten ihr sofort einen Weg. Stracke glaubte ihr vielleicht nicht, aber die Frauen zweifelten nicht an ihren Worten, und sie hatten die größte Hochachtung vor ihr.

Billy war keine zehn Meter weit gekommen, als eine alte Frau ihre Hand ergriff. Man konnte ihr ansehen, dass sie vom Land kam. „Frau Doktor?“

Billy nickte.

„Ich kann Sie hineinschleusen.“ Sie schaute schnell nach links und rechts und beugte sich dann näher zu ihr vor. „Aber nicht durch die Tür.“

Billy war nicht sicher, was schlimmer war: der stinkende Atem der Frau oder der Geruch ihres ungewaschenen Körpers. Aber das war nicht die Schuld der Frau. Die Bedeutung von Hygiene war unter Billys Kollegen immer noch sehr umstritten. Und obwohl sie sich mit ihrer Auffassung, dass Sauberkeit gesundheitsfördernd war, im Recht sah, gehörte sie mit dieser Ansicht einer Minderheit an.

Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. Nur noch vierundzwanzig Minuten. „Ist es weit? Sind dort auch Wachleute?“

Als die Frau sie anlächelte, kamen mehr Zahnlücken als Zähne zum Vorschein. „Folgen Sie mir einfach.“

Die Frau ging um einen riesigen Bronzelöwen herum, der den Eingang bewachte, und führte sie auf den Rasen und dann weiter zur Nordseite des Gebäudes. Je weiter sie kamen, umso weniger Menschen drängten sich um sie, bis sie schließlich allein waren.

„Schnell, hier rüber!“ Die Frau hockte sich neben einen kümmerlichen Strauch und begann, an einem Kellerfenster zu rütteln.

Billy warf einen Blick hinter sich. Weit und breit waren keine Wachleute zu sehen, aber mehrere Frauen beobachteten sie mit unverhohlener Neugier. Mit einem immer breiter werdenden Grinsen rief eine dieser Frauen die anderen zusammen und wies sie an, sich mit dem Rücken zu Billy und ihrer Begleiterin aufzustellen und einen menschlichen Sichtschutz zu bilden.

Diese Geste freute sie. Frauen waren etwas Wunderbares. Was für eine Schande, dass nicht sie das Land regierten!

„Hier ist ein Nagel locker“, stieß die alte Frau hervor, die unter Einsatz ihres ganzen Körpers an dem Fenster rüttelte.

Billy sank neben ihr auf die Knie und versuchte, nicht an die feuchte Erde zu denken. Lieber erreichte sie den Saal mit einem schmutzigen Rock, als überhaupt keinen Zutritt zu bekommen. Sie legte die Hände an die andere Seite des Rahmens und drückte dagegen, so kräftig sie konnte.

Die Frau schnaufte schwer. „Ich putze nachts in diesem Gebäude. Ich sage den Männern schon seit Monaten, dass das Schloss dieses Fensters kaputt ist, aber es interessiert niemanden.“

Ohne Vorwarnung bewegte sich der Fensterrahmen plötzlich schwungvoll nach innen und knallte gegen die Wand. Durch den Schwung stieß der breite Rand von Billys Hut gegen die Steinmauer über der Öffnung und sie fiel nach vorn. Schmerzhaft zogen die Nadeln an ihren Haaren. Sie atmete schneidend ein und schob sich von der Wand. Wenigstens hatte der Hut ihr Gesicht geschützt. Wenn er den Aufprall nicht abgefangen hätte, hätte sie sich wahrscheinlich die Nase gebrochen.

„Los, gehen Sie!“ Die Frau deutete auf das jetzt offene Fenster.

Billy versuchte, die Schmerzen auf ihrer Kopfhaut zu verdrängen, und betrachtete die Öffnung. Ihr blieb nichts anderes übrig, als sich mit dem Bauch auf den Boden zu legen und sich hineinzuschieben. Mit einem Seufzen legte sie sich hin und streckte die Arme durch die Öffnung. Die obere Hälfte ihres Körpers war schon im Raum, als ihr bewusst wurde, dass sich das Fenster knapp unter der Kellerdecke befand.

Sie schob sich rückwärts wieder hinaus. „Ich muss mit den Füßen voraus hineinklettern. Es geht gut zweieinhalb Meter nach unten.“

Mit den Füßen voraus hineinzukriechen war bei Weitem nicht so leicht wie mit dem Kopf voraus. Die alte Frau packte Billys Knöchel und schob ihre Füße durch die Öffnung. Billy stützte sich auf die Arme und schob sich, so weit sie konnte, zum Fenster, dann legte sie sich auf den Bauch und hob die Hüften. Wie ein Wurm ließ sie sich rückwärts langsam nach unten gleiten. Ihr Körper kam gut voran, aber ihr Rock und ihre Unterröcke steckten eigensinnig im Fensterrahmen fest.

Ohne allzu große Mühe glitten ihre Beine, über denen sie ihre lange Unterhose trug, in den Raum und baumelten an der eiskalten Steinmauer des Kellers. Aber ihre ­Röcke ­hatten sich nun ganz nach oben geschoben, hüllten ihren Oberkörper ein und verhinderten jedes Weiterkommen.

„Ich stecke fest“, rief sie.

Im nächsten Augenblick tauchten mehrere Frauen auf und schoben sie das letzte Stück hinein.

„Halt!“, kreischte sie. „Langsamer! Sonst zerreißt mein Kleid. Und ich … ich falle!“

Die Frauen umklammerten ihre Arme. Ihre Finger bohrten sich schmerzhaft in Billys zarte Haut.

Billy hob den Kopf, aber ihr Hutrand stieß an den Fensterrahmen. „Vorsicht!“

Der raue Holzrahmen schrammte über ihren Bauch und zerriss den dünnen Baumwollstoff ihres Korsetthemds. Ihre Unterhose glitt an ihren Beinen nach oben und blieb an den Oberschenkeln hängen.

Um herauszufinden, wie weit sie noch vom Boden entfernt war, wackelte sie mit den Füßen, fand aber keinen Halt.

Die Frauen ließen sie ein Stück weiter nach unten gleiten. Sie hing jetzt in einem so ungünstigen Winkel im Fensterrahmen, dass heftige Schmerzen in ihre Arme schossen.

„Moment!“, keuchte sie. „Lasst meinen rechten Arm los.“

Als die Frauen sie losließen, schienen sich die Schmerzen in ihrem linken Arm zu verzehnfachen.

Sie zwängte ihren freien Arm durch das Fenster und stützte sich an der Wand ab. „Wenn ich bis drei zähle, lasst ihr mich los, ja? Seid ihr bereit? Eins … zwei … drei.“

Die Frauen ließen nun auch ihren linken Arm los und schon im nächsten Moment kam Billy auf dem Boden auf. Ihre Knie gaben unter ihr nach. Da ihre Röcke unordentlich an ihr herabhingen und der Boden hart und schmutzig war, brauchte sie einen Moment, um sich zu orientieren.

„Frau Doktor?“ Es war die Stimme der alten Frau. „Ist alles in Ordnung?“

Sie untersuchte ihre Körperteile nach Verletzungen. Bis auf das Zittern in ihren Knien und das Pochen in ihren Armen schien alles in Ordnung zu sein. „Ja. Ja! Alles in Ordnung! Vielen Dank!“

Die erwarteten Erleichterungsbekundungen blieben jedoch aus. Stattdessen folgte ein entsetztes Schweigen. Eine unheimliche Stille hatte sich vor dem Fenster ausgebreitet.

Ein Tropfen fiel von der feuchten Decke und landete geräuschvoll auf dem Boden. Billy schob sich die Haare aus dem Gesicht, richtete ihren Hut und schaute zu ihren Kameradinnen hinauf. Vier Gesichter spähten durch das Fenster. Doch deren Aufmerksamkeit galt nicht Billy, sondern der anderen Seite des Raums.

Die Haare in Billys Nacken stellten sich auf. Bitte keine Ratte! Sie hasste Ratten.

„Was ist?“, zischte sie.

Die Frauen schauten nur wortlos mit großen Augen hinter sie.

Billy achtete darauf, keine plötzlichen Bewegungen zu machen, zog die Beine an und richtete sich Zentimeter für Zentimeter langsam auf.

Schließlich drehte sie sich vorsichtig um. Ihr Atem stockte.

Die Umrisse eines Mannes! Nicht irgendeines Mannes, sondern eines Wachmanns! Ein Mitglied der Kolumbus-Garde mit breiten Schultern, schmalen Hüften, einem Säbel und zwei sehr muskulösen Beinen lehnte mit der Schulter am Türrahmen und hatte seine Cowboystiefel an den Knöcheln übereinandergeschlagen.

Er neigte den Kopf leicht zur Seite. „Wollen Sie irgendwohin?“

2

Das Summen von elektrischen Glühbirnen auf dem Gang erklärte, woher der schwache Lichtschein kam. Da das Licht sich hinter dem Rücken des Mannes befand, konnte sie nur seine Umrisse erkennen. Aber sie war sicher, dass er dank ihres breiten Hutrandes ihr Gesicht nicht sehen konnte. Alles andere jedoch schon.

Bilder schossen ihr durch den Kopf. Ihre Stiefel, die durch das Fenster geragt hatten. Ihr Körper, der sich langsam und mühsam durch das Fenster gewunden hatte. Ihre Röcke, die ihrem Körper nicht so gefolgt waren, wie sie sollten. Ihre Unterhose, die sich an ihren Waden nach oben geschoben und um ihre Oberschenkel gewickelt hatte. Ihr Hinterteil, das dadurch deutlich zu erkennen gewesen war. Wie sie in der Luft gehangen und mit den Zehen vergeblich nach dem Boden getastet hatte.

Billy errötete am ganzen Körper. Am liebsten hätte sie sich in ein Loch verkrochen. Oder hätte ihn wütend beschimpft oder ihm etwas an den Kopf geworfen. Oder wäre mit den Fäusten auf ihn losgegangen. Doch dann wurde das alles von dem überwältigenden Wunsch überlagert, die Flucht zu ergreifen.

Es gelang ihr, diese Gefühle zu unterdrücken. Sie hatte in den vergangenen Jahren gelernt, sich unter Männern zu behaupten, selbst wenn die Situation noch so delikat war.

An der Fensteröffnung wurde geflüstert, dann folgte ein dumpfer Schlag, als das Fenster eilig zugezogen wurde.

Er rührte sich nicht. Sie konnte nicht einmal sehen, ob er atmete.

Billy überlegte schnell, was sie sagen könnte. „Wie lange stehen Sie schon da?“

„Lange genug.“

Sie presste die Arme an ihre Seite und widerstand der Versuchung, nervös die Hände zu ringen. Keine Schwäche!, rief sie sich ins Gedächtnis. Zeig keine Schwäche. Er muss vergessen, dass du eine Frau bist.

Sie schluckte mühsam. Dass er das vergessen würde, war allerdings sehr unwahrscheinlich.

„Ich hatte gehört, wie das Fenster aufgebrochen wurde.“ Seine raue Stimme hatte einen schleppenden Südstaatenakzent. „Ich wollte nachsehen, was hier los ist.“

Blut schoss in ihre Wangen. Was würde ein Mann in einer solchen Situation sagen? „Und warum haben Sie mir nicht geholfen? Sie konnten doch sicher sehen, dass ich ­Hilfe brauchte.“

Er kratzte sich am Kinn. „Ich war nicht ganz sicher, wo ich anpacken sollte.“

Sie musste das Thema wechseln. Sie musste diese Bilder aus seinem Kopf vertreiben. Aber sie arbeitete lange genug unter Männern, um zu wissen, dass sich diese Bilder nicht so leicht löschen ließen.

„Ich muss gehen.“

Er nickte. „Ja, da haben Sie recht.“

„Ich muss in den Saal. Ich spreche auf der Veranstaltung in der Kolumbus-Halle.“

„Wann?“

„In Kürze. Ich muss mich beeilen.“

„Wer sind Sie?“

„Das ist nicht wichtig.“ Sie war nicht bereit, ihm ihren Namen zu nennen.

„Natürlich ist das wichtig. Sonst würden Sie auf diesem Kongress nicht sprechen.“

„Ich bin keine Berühmtheit.“

Er verschränkte die Arme. „Das ist aber schade. Es wäre sicher etwas Besonderes, wenn ich … sagen wir mal, die Hosen von Elizabeth Stanton gesehen hätte.“

„Das ist keine Hose, das sind Pantalons.“ Sie hätte sich auf die Zunge beißen können. Hatte sie sich so sehr daran gewöhnt, gegenüber männlichen Kollegen und Patienten sensible Themen anzusprechen, dass sie ganz vergessen hatte, wie man sich als Dame benahm?

„Pantalons oder Hosen.“ Er zuckte die Achseln. „Sie können dieses Ding nennen, wie Sie wollen. Jeder weiß, dass ihr Frauenrechtlerinnen sie tragt, weil ihr euch nicht nur unserer Kleidung anpassen, sondern auch unsere Macht haben wollt.“ Er warf einen kurzen Blick auf ihren Rock. „Das, was Sie da anhaben, hat nicht viel Ähnlichkeit mit dem, was wir Männer tragen, aber ich muss zugeben, dass es ganz schön mächtig ist.“

Ihr entging sein neckender Tonfall keineswegs. Sie fand seine Worte jedoch alles andere als amüsant. Ihr Kleid hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem, was eine Kleiderreformerin anziehen würde. Sie trug keinen Hosenrock, keinen gekürzten Saum, keine gedeckten Farben. Alles an ihrem Körper war feminin. Nur weil sie eine lange Unterhose trug und in einem Männerberuf arbeitete, hieß das noch lange nicht, dass sie ein Mann sein wollte. Männern ihre unangefochtene Macht streitig zu machen, das war allerdings ein ganz anderes Thema.

Trotzdem wollte sie sich nicht auf ein Streitgespräch mit dem Fremden einlassen. Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. Natürlich konnte sie im Dunkeln die Zeiger nicht sehen, aber vielleicht wusste er das nicht. „Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden.“

Billy wandte sich zur Tür.

Er schob sich vom Türrahmen weg und richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Gütiger Himmel! Sie hatte gehört, dass man eine bestimmte Körpergröße haben musste, um in die Kolumbus-Garde der Chicagoer Weltausstellung aufgenommen zu werden. Aber dieser Mann … war wirklich riesig. Er stieß mit dem Kopf fast an den Türrahmen.

„Ich fürchte, ich kann Sie nicht in den Saal lassen“, erklärte er.

„Ich fürchte aber, ich muss darauf bestehen.“ Sie konnte sehen, dass er versuchte, ihre Gesichtszüge zu erkennen. Deshalb zog sie sich den Hut schnell tiefer ins Gesicht.

Normalerweise hätte sie ihm gesagt, wer sie war. Sie war auf ihren Doktortitel in Medizin sehr stolz. Außerdem war sie ihm intellektuell bestimmt weit überlegen. Wie viel Verstand war schon nötig, um Wachmann zu werden? Wahrscheinlich nicht viel. Man musste nur Muskeln haben. Und Muskeln hatte er wirklich reichlich.

„Ich bin fest entschlossen, meine Rede zu halten.“ Sie schlug einen strengen Tonfall an, den sie in unzähligen Auseinandersetzungen mit unkooperativen Patienten perfektioniert hatte. „Wenn Sie mich hinauswerfen, drehe ich mich auf dem Absatz um und komme wieder herein. Sie können mir meinetwegen den ganzen Tag hinterherlaufen.“

Er stieß mit der Spitze seines Cowboystiefels gegen einen losen Stein. „Verlockend. Sehr verlockend.“

Billy schloss die Augen. So hatte sie das nicht gemeint. „Bitte, Mister …?“

Er tippte an seinen Hut. „Scott. Hunter Scott aus Houston in Texas. Und Sie sind?“

„Zu spät dran. Bitte machen Sie mir den Weg frei.“

„Sie wollen mir nicht verraten, wer Sie sind? Daraus schließe ich, dass Sie entweder lügen oder wirklich berühmt sind.“

„Ich lüge nicht und ich bin nicht berühmt. Ich bin bloß sehr spät dran. Und es wird immer später.“

Er tippte mit einem Finger an sein Hosenbein. „Im Kolumbus-Saal?“

„Ja.“

„Ich denke, es kann nicht schaden, wenn ich Sie hinüberbegleite. Wenn man Sie dort erwartet, ist alles gut. Und wenn nicht, muss ich Sie bitten zu gehen.“ Er zögerte. „Und vergessen Sie nicht, dass Sie versprochen haben, wieder hereinzukommen. Sie können wetten, dass ich den Keller im Auge behalte und wiederkomme, falls es hier irgendwelche … ungewöhnlichen Vorkommnisse geben sollte.“

Sie verzichtete auf eine Erwiderung, sondern schob ihn zur Seite.

Er bot ihr seinen Arm an. Sie stolzierte hoch erhobenen Hauptes an ihm vorbei und stieg eilig die Treppe hinauf.

Das fühlte sich nicht so gut an, wie sie erwartet hatte. Er folgte ihr dicht auf den Fersen, und sosehr sie sich auch bemühte, sie konnte nicht verhindern, dass ihre Hüften bei jedem Schritt auf der Treppe hin und her wiegten. Sie wusste, woran er dachte und was er vor seinem inneren Auge sah. Und er wusste, dass sie es wusste.

Als sie schließlich das Erdgeschoss erreichten und auf den breiten Flur traten, schlug ihr der ohrenbetäubende Lärm vieler Frauenstimmen entgegen. Begeisterte Stimmen und Lachen hallten auf den breiten Korridoren und von den hohen Decken wider und ergaben einen hohen Geräuschpegel. Um bei diesem Lärm Gehör zu finden, sprachen die Frauen einfach noch lauter.

Die Menschen drängten sich im Gebäude genauso sehr wie draußen. Die Körperwärme der vielen Frauen sorgte für eine hohe Luftfeuchtigkeit, die mit einem Potpourri aus Lavendel, Rose und Jasmin beladen war.

Die Verantwortlichen hatten recht: Es war wirklich kein Platz mehr, um noch mehr Menschen einzulassen.

„Der Kolumbus-Saal befindet sich dort vorne.“ Mr Scott deutete nach Westen.

Sie starrte auf den Saum seiner Jacke und war froh, dass er so groß war. Ihre Hutkrempe verbarg ihr Gesicht vor ihm.

„Kommen Sie“, sagte er.

Ohne ihr eine andere Wahl zu lassen, ergriff er sie am Arm. Nicht am Ellbogen, wie es ein Gentleman tun würde, sondern am Oberarm wie ein Polizist, wenn er einen Gefangenen abführte. Doch sie wehrte sich nicht gegen diese raue Behandlung. Sie war so spät dran, dass sie bereitwillig ihren Stolz opferte, um ihr Ziel zu erreichen.

Er wusste, wo der Kolumbus-Saal war. Sie nicht. Und er ging einen halben Schritt vor ihr und bahnte ihnen dank seiner eindrucksvollen Körpergröße einen Weg. Als sie jedoch die Tür erreicht hatten, versuchte sie, sich von ihm zu lösen. Der erste Eindruck war sehr wichtig. Und sie wollte nicht, dass die Leute von ihr in Erinnerung behielten, dass sie wie eine Verbrecherin nach vorn gezerrt wurde.

„Danke für Ihre Hilfe, Sir. Sie können mich jetzt loslassen. Ich finde mich allein –“

„Scott!“, rief in diesem Augenblick jemand.

Scott wandte den Kopf, ohne jedoch ihren Arm loszulassen. Seine Körpergröße erlaubte ihm, über die Köpfe und Hüte der vielen Frauen zu schauen.

„Hier drüben! Schnell!“ Die Stimme stammte eindeutig von einem Mann.

Scott richtete seine Aufmerksamkeit auf den Rufer. „Was ist los?“

Obwohl sie keine Antwort vernahm, hatte der andere Mann Scott augenscheinlich ein Zeichen gegeben.

Er runzelte die Stirn. „Kann das warten? Ich muss …“ Sie senkte das Kinn, um ihr Gesicht zu verbergen. „… hier etwas klären“, beendete er seinen Satz.

Sie verdrehte die Augen.

Nach einem weiteren Zeichen murmelte er etwas Unverständliches. Er drehte sie zu sich herum und hielt sie an beiden Armen fest. „Ich komme wieder. Und dann sollten Sie lieber dort oben auf der Bühne stehen!“

Billy starrte auf seine Stiefel. Sie waren aus irgendeinem Tierleder. Nicht Krokodil. Etwas, das sie noch nie gesehen hatte. „Das hatte ich auch vor.“

„Dann gehen Sie.“

„Scott!“ Die Stimme klang drängender.

Ohne abzuwarten, ob sie seiner Aufforderung nachkam, ließ er sie los und bahnte sich einen Weg durch die Menge. Sie hatte erwartet, dass er sich durch die Menge schieben würde, ohne auf die Menschen, die ihm im Weg standen, Rücksicht zu nehmen. Aber er entschuldigte sich, während er eine Frau nach der anderen vorsichtig an der Schulter berührte und sie leicht zur Seite schob, um sich durchzwängen zu können.

Billy rieb sich den Arm. Ihr gegenüber war er nicht so zuvorkommend gewesen. Sie schüttelte sich und warf einen Blick auf ihre Uhr. Gütiger Himmel! Punkt vierzehn Uhr.

Die junge Frau zog die Tür auf und erstarrte. Der Saal war riesig und zum Bersten voll. Sie würde mehrere Minuten brauchen, um zur Bühne zu gelangen. Vielleicht hatte sie es doch ein wenig zu eilig gehabt, Scott loszuwerden. Sie warf einen Blick hinter sich, aber er war bereits in der Menschenmasse verschwunden.

3

Hunter schlüpfte in den Kolumbus-Saal und sein Blick wanderte sofort zur Bühne. Sie stand tatsächlich dort oben. Am Rednerpult.

Obwohl er zu weit entfernt stand, um ihr Gesicht sehen zu können, würde er dieses Kleid überall erkennen. Der limonengrüne Rock und die leuchtend rosa Schärpe erinnerten ihn in diesem Meer von mausbraunen Feldern an einen tropischen Garten. Aber natürlich war das, was er darunter gesehen hatte, auch sehr reizvoll.

„Männer kommen zur Weltausstellung, um die Erfindungen ihrer Geschlechtsgenossen zu bewundern“, sagte sie gerade mit klarer Stimme, der das Publikum aufmerksam lauschte. „Aber seit Anbeginn der Geschichte stammen die frühesten Erfindungen von Frauen.“

Er zog irritiert die Brauen hoch.

„Um sich und ihre Kinder zu schützen, schuf die Frau in den Höhlen der Erde ein Zuhause. Die Frau hat als Erste den Boden bearbeitet, Früchte geerntet, Mehl gemahlen, Vieh gezüchtet und den Tieren das Fell abgezogen. Sie hat als Erste Medizin praktiziert und Menschen geheilt. Der Mann hat die ursprünglichen Gedanken der Frau nur ergänzt und verbessert.“

Was für ein Unsinn! Hatten diese Frauen denn noch nie von Adam gehört? Aber das Publikum kaufte ihr offenbar jedes Wort ab. Die Frauen klatschten stolz. Er ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Kein einziger Stuhl war leer. Jeder Platz war besetzt.

Links von ihm hatten unternehmungslustige Damen Gipsfiguren als Sitzplätze in Beschlag genommen. Zwei waren sogar auf eine riesige Statue von John Milton ­geklettert und saßen auf seinen Knien. Der englische Reformator schaute zweifellos gerade entzückt vom Himmel herab. Er war immer gegen den Strom geschwommen und hatte eine Schwäche für Frauen gehabt. Je jünger, umso lieber.

„Männer halten es für undamenhaft“, sprach sie weiter, „und sogar für anmaßend und ungeheuerlich, wenn Frauen beruflich auf einer Augenhöhe mit ihnen sind. Sie vertreten den Standpunkt, dass wir innerhalb der heiligen Grenzen unseres Heimes liebevoll beschützt und behütet werden sollten.“

Das war doch auch richtig so, dachte Hunter. Ritterlichkeit prägte doch schon seit Jahrhunderten das Verhältnis der Geschlechter. Sie stellte Frauen auf ein Podest. Warum in aller Welt wollten diese etwas daran ändern?

„Aber was, frage ich Sie, soll aus den unglücklichen Frauen werden, denen keine so idealen Lebensumstände vergönnt sind?“ Ihre Stimme wurde lauter und eindringlicher. „Die keinen liebevollen Mann haben, der sie beschützt? Die in Armut geboren wurden? Deren Männer unter entwürdigenden Bedingungen in Fabriken arbeiten und hoffnungslos unterbezahlt sind? Deren Männer viel weniger verdienen, als für die Ernährung ihrer Familie nötig wäre? Sollen diese Frauen etwa zu Hause sitzen und tatenlos zusehen, wie sie und ihre Kinder verhungern?“

Ein Murmeln ging durchs Publikum. Große Hüte wackelten, als die Trägerinnen dieser Hüte entschieden den Kopf schüttelten. Hunter verlagerte sein Gewicht und schaute sich in dem vollen Raum um. In dieser riesigen Halle waren nicht einmal genug Männer, um einen kleinen Männerchor zu bilden. Die einzigen sichtbaren Männer waren Würdenträger, die rechts neben Miss Pantalons auf der Tribüne saßen. Sie hatten auf großen, mittelalterlich anmutenden Thronen Platz genommen, während die weiblichen ­Würdenträgerinnen auf schlichten Stühlen links neben dem Rednerpult saßen. Die Schafe und die Böcke.

Aber im Moment war er nicht sicher, wer was war.

„Nein!“ Sie umklammerte den Rand des Rednerpults. „Wir hegen nicht den Wunsch, hilflos und abhängig zu sein. Wir wissen, was wir können, und wir setzen unsere Fähigkeiten auch gern ein. Es ist nichts falsch daran, mit unseren Männern auf Augenhöhe zu sein, sie zu ergänzen und als ebenbürtige Partnerin zu unterstützen. Ist eine Frau dadurch weniger eine Frau? Absolut nicht! Und die Männlichkeit und Stärke unserer Ehemänner wird dadurch auch nicht geschmälert!“

Tosender Applaus, der durch die Handschuhe leicht gedämpft wurde, und das Wedeln unzähliger Taschentücher folgten. Er bekam ehrlich Mitleid mit Mister Pantalons. Hunter konnte sich nicht vorstellen, mit einer berufstätigen Frau verheiratet zu sein, selbst wenn sie noch so reizvoll war.

„Durch Schulbildung und eine Berufsausbildung müssen wir uns darauf vorbereiten, uns dem Schicksal zu stellen, das uns das Leben beschert, bis unter Beweis gestellt, begriffen und anerkannt wird, wozu wir in der Lage sind. Bis wir die Welt davon überzeugt haben, dass Können keine Frage des Geschlechts ist.“

Noch mehr Applaus und noch mehr Taschentücher. Dieses Mal ertönten sogar einige begeisternde Pfiffe.

„Venimus, vidimus, vicimus!“, rief sie und reckte eine trotzige Faust in die Luft. „Wir kamen, wir sahen, wir siegten!“

Die Frauen sprangen auf und klatschten und pfiffen begeistert.

Ein unangenehmes Gefühl meldete sich in seinem Bauch und dieser zog sich im nächsten Moment krampfartig zusammen. Nicht schon wieder!, dachte Hunter.

Wie schon oft in den vergangenen Tagen hielt er den Atem an, bis die Krampfanfälle abebbten. Als die Schmerzen vorüber waren, versuchte er, sich einzureden, dass es nicht wieder passieren würde. Aber mit jedem Tag wurden die Schmerzen stärker. Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Bühne.

Miss Pantalons verließ das Rednerpult.

Er öffnete die Tür, verschwand aus dem Raum und dankte dem Himmel, dass er in Texas lebte, wo die Frauen vernünftig, damenhaft und liebreizend waren. Er konnte es nicht erwarten, dass dieser sechsmonatige Einsatz auf der Weltausstellung endlich vorbei war und er wieder zu dem Leben zurückkehren konnte, das er so liebte.

Mit vor Freude geröteten Wangen ging Billy zum Rand des Podiums. Jennie Lozier, Tochter der Frau, die 1881 für das Amt als Vizepräsidentin der Vereinigten Staaten kandidiert hatte, erhob sich und trat ans Rednerpult.

Als Billy die Treppe erreichte, kam Mrs Bertha Palmer auf sie zu. Sie nahm sie am Ellbogen und zog sie in einen Bereich hinter der Bühne, wo man etwas ungestört war.

Billys Herz schlug schneller. Als Präsidentin des „Board of Lady Managers“ und Mitglied des vierköpfigen Direktoriums der Chicagoer Weltausstellung war Mrs Palmer die wahrscheinlich mächtigste Frau der Welt. Zum ersten Mal überhaupt agierten Frauen im Auftrag des Kongresses und standen gleichberechtigt mit Männern an der Spitze einer großen internationalen Veranstaltung. Mrs Palmer war darüber hinaus unvorstellbar reich. Ein Wort von ihr genügte, und einer Person – ob Mann oder Frau – öffneten sich alle Türen. Oder verschlossen sich ihr.

Billy warf einen unauffälligen Blick auf ihren eleganten Hut, das mit einem Schmuckstein versehene Samtband und die großen Puffärmel ihres Seidenkleids. Alles war in ­gedämpften Violett- und Grüntönen gehalten. War Billys Rede zu kühn gewesen? Zu vorlaut? Zu kontrovers? Vielleicht nahm Mrs Palmer aber auch Anstoß an den leuchtenden Farben von Billys Kleid?

Dieser Gedanke erinnerte sie an die unorthodoxe Art und Weise, wie sie sich Zutritt zum Gebäude verschafft hatte, und sie stolperte. Das war Mrs Palmer doch hoffentlich nicht zu Ohren gekommen? Wie konnte sich in so kurzer Zeit ein Vorfall, der sich draußen vor dem Gebäude zugetragen hatte, in den großen Saal und sogar bis zum Podium hinauf herumsprechen?

Billy schluckte schwer. Sie befand sich auf dem Internationalen Kongress für Frauenrechte. Wenn Frauen auf einem Gebiet wirklich überragend waren, dann bei der Verbreitung von aufregenden Neuigkeiten.

Schweiß trat auf ihre Stirn. Wie sollte sie dieser Frau ihr schockierendes Verhalten erklären?

„Geht es Ihnen nicht gut, meine Liebe?“ Mrs Palmer nahm Billys Hand und tätschelte diese. Lockige blonde Haare umrahmten ihr Gesicht und verrieten nicht, wie alt sie war. „Sie sind plötzlich ganz blass.“

„Wirklich?“, hauchte die junge Frau. „Das muss die Aufregung sein.“

Mrs Palmer tätschelte erneut ihre Hand. Ihre braunen Augen blickten weicher. „Sie waren großartig.“

Billy wartete auf das Aber. Doch ihr ehrfurchtgebietendes Gegenüber schwieg.

„Oh.“ Billy zog vorsichtig ihre Hand zurück und unterdrückte den Impuls, einen Knicks zu machen. „Vielen Dank.“

„Darf ich Sie um einen Gefallen bitten?“

„Selbstverständlich.“ Verbargen vornehme Damen so ihre Kritik? Indem sie sagten, sie wollten um einen Gefallen ­bitten? Würde Billy jetzt zu hören bekommen, dass sie Mrs Palmer nie wieder unter die Augen treten sollte?

„Ich weiß, dass Sie zurzeit für die medizinische Fakultät der Universität von Chicago eine Arbeit über Keime schreiben und dabei sind, sich eine Arztpraxis aufzubauen, aber ich wollte Sie trotzdem fragen, ob Sie mir helfen könn­ten.“

Gütiger Himmel! Wenn diese Frau das alles wusste, war ihr auch bekannt, dass Billy diese Arbeit nur schrieb, um sich die Zeit zu vertreiben, während sie darauf wartete, dass Patienten endlich ihr Praxisschild entdeckten. Es war auf beiden Seiten bemalt und hing neben den Schildern von anderen Ärzten vor dem Laden an der Ecke. Aber das Schild hatte in fünf Monaten nur einen einzigen Patienten zu ihr geführt.

Man hatte sie gewarnt, dass niemand eine Ärztin aufsuchen würde, wenn es genügend männliche Ärzte gab. Man hatte ihr geraten, in einer Stadt anzufangen, in der sie Beziehungen hatte. Und man hatte ihr gesagt, dass es verrückt sei, nach Chicago zu gehen, wo sie keine Menschenseele kannte.

Aber sie hatte all diese Stimmen ignoriert, weil sie überzeugt gewesen war, dass es in Chicago sehr viele unverheiratete Frauen gab, die an Krankheiten litten und vielleicht sogar daran starben, nur weil sie sich nicht dazu überwinden konnten, sich von einem Mann untersuchen zu lassen. Inzwischen hatte sie herausgefunden, dass es solche Frauen tatsächlich gab. Doch leider kamen sie nicht zu ihr.

Mit jedem Tag nahmen ihre Ersparnisse und ihr Optimismus ein wenig mehr ab. Sie war heute nur deshalb als Rednerin eingeladen worden, weil die Ärztin, die ursprünglich auf dem Programm gestanden hatte, in anderen Umständen war und vorgeschlagen hatte, dass Billy ihren Platz einnehmen könnte.

Sie war hier und unterstützte eine Bewegung, die Frauen ermutigte, ihren Weg in einer Männerwelt zu gehen, obwohl sie in den sieben Jahren seit ihrem Studienabschluss nichts anderes getan hatte, als in Krankenhäusern in St. Louis, Boston, Detroit und Ann Arbor für Männer zu arbeiten.

Offenbar hatte die schöne, kluge und einflussreiche Mrs Palmer herausgefunden, dass Billy für diese Aufgabe vollkommen unqualifiziert war. Sie war keine Kleiderreformerin. Sie war keine Prohibitionistin. Sie war keine Revolutionärin.

Sie war einfach eine dreißigjährige, unverheiratete Frau, die gedacht hatte, sie hätte endlich genug Erfahrung, um sich selbstständig zu machen. Um ihren eigenen Weg zu gehen. Um ihr eigener Herr zu sein. Und die endlich akzeptiert hatte, was ihre Mutter schon immer gesagt hatte: Kein Mann wäre je bereit, eine Ärztin zu heiraten!

„Eine Ärztin, die im Frauengebäude gearbeitet hat, ist an Typhus erkrankt“, erklärte Mrs Palmer.

Eine große Erleichterung erfasste Billy. Das war kein Problem. „Ich kann sie gern untersuchen.“

Mrs Palmer zog ihre Mundwinkel leicht nach oben. „Eigentlich wollte ich Sie bitten, für die junge Frau einzuspringen und ihre Stelle zu übernehmen.“

Billy starrte sie mit offenem Mund an. „Im Frauengebäude? Auf der Weltausstellung?“

„Ja. In unserem Gebäude gibt es nichts, das von Männern hergestellt worden wäre. Alles stammt von Frauen. Die Architektur, die Ausstellungen, die Fresken, die Skulpturen, die Gemälde, die Bücher in der Bibliothek. Alles. Warum sollte das auf unserer Krankenstation anders sein?“

„Dort arbeiten nur Frauen?“

„So ist es.“

Große Begeisterung regte sich in ihr. „Wie oft würden Sie mich denn benötigen?“

„Montags, mittwochs und freitags. Von elf bis neunzehn Uhr.“

Das würde bedeuten, dass sie an drei Tagen in der Woche nicht in ihrer „Praxis“ wäre, aber diese Gelegenheit wollte sie sich auf keinen Fall entgehen lassen. Besonders nicht auf der Weltausstellung, wo sie vielleicht wichtige Kontakte knüpfen konnte.

Billy hielt ihr die Hand hin. „Das wäre mir eine Ehre.“

Mrs Palmer blinzelte verwirrt und starrte dann Billys Hand wortlos an. Billy errötete. Frauen vom gesellschaftlichen Stand einer Mrs Palmer besiegelten nicht wie Männer ihre Abmachungen per Handschlag.

Um ihren Fauxpas zu überspielen, legte sie die Hand schnell auf Mrs Palmers Arm und drückte diesen kurz. „Vielen Dank.“

„Da ist noch etwas.“

„Ja?“ Billy wartete.

„Ich benötige noch Ihre Honorarvorstellungen.“

Billy unterdrückte ein Stöhnen. Sie hasste diese Frage, da sie nie wusste, wie viel sie verlangen oder was sie darauf entgegnen sollte. Wenn sie zu wenig verlangte, lief sie Gefahr, sich selbst abzuwerten und den Respekt ihrer Patienten zu verlieren. Wenn sie zu viel verlangte, vergraulte sie sie vielleicht von vornherein.

Auf der Suche nach einem Ausweg bemühte sie sich um eine gelassene Miene. „Ach, das übliche Honorar.“

Mrs Palmer lächelte. „Ausgezeichnet. Dann sind Sie mit fünf Dollar am Tag einverstanden?“

Billy stockte der Atem. Fünf Dollar am Tag? Das war ja ein Vermögen! „Ja. Das ist perfekt.“

Mrs Palmer hakte sich bei Billy unter und führte sie zum Kolumbus-Saal zurück. „Wunderbar. Wie bald können Sie anfangen?“

„Wie bald brauchen Sie mich denn?“

„Am Mittwoch. Das wäre in zwei Tagen.“

Billy nickte. „Dann fange ich in zwei Tagen an.“

4

Colonel Rice, der Kommandant der Kolumbus-Garde, lehnte sich so weit zurück, dass sein Stuhl nur noch auf zwei Beinen stand. Ein eindrucksvoller Schnurrbart machte seinen glänzenden kahlen Kopf wett. „Sie haben sich beim Frauenkongress gut geschlagen, Scott.“

„Danke, Sir.“ Hunter stand in Habachtstellung vor seinem Vorgesetzten und hatte eine Hand auf seinen Hut gelegt, der unter seinem Arm klemmte. Er bemühte sich, dem Mann nicht direkt in die Augen zu schauen, sondern starrte auf einen Garderobenständer hinter dem Colonel. Dort hingen ein grauer Wollmantel und ein schwarzer Schirm.

„Deshalb“, sprach Rice weiter, „ziehe ich Sie vom Verwaltungsgebäude ab und versetze Sie ins Frauengebäude.“

Hunter zögerte. „Ins Frauengebäude, Sir?“

„Ihre Schicht beginnt um neun Uhr. Sie haben vier Stunden Dienst, vier Stunden frei und dann noch einmal vier Stunden Dienst.“

Diese Schicht war besser als die Abendschicht, die er bis jetzt hatte, aber das Frauengebäude? „Ist dieses ­Gebäude nicht voll mit allem möglichen Unsinn, den Frauen gemacht haben, Sir?“

„Es gibt dort jedenfalls nichts, das auch nur im Entferntesten den Dingen in der Schatzkammer ähnelt, die Sie bis jetzt bewacht haben, falls Sie das meinen.“

Genau das meinte er. Er war schließlich Texas Ranger, Mitglied der angesehensten Truppe nicht nur in seinem Heimatbundesstaat Texas, sondern in den gesamten Vereinigten Staaten. Als der Colonel ihn für seinen sechsmonatigen Einsatz rekrutiert hatte, war Hunter davon ausgegangen, dass er ausländische Könige, Königinnen, Fürsten und andere Würdenträger beschützen würde, die die Weltausstellung besuchten. Zumindest hatte er erwartet, dass er wertvolle Ausstellungsstücke, wie etwa die afrikanischen Diamanten, bewachen würde.

Hunter senkte den Blick und schaute den Colonel direkt an. „Bei allem Respekt, Sir, sind Sie sicher, dass meine Fähigkeiten dort am besten eingesetzt sind?“

„Das Gebäude ist voll mit Kunstwerken, Edelsteinen und anderen Wertsachen, die Leihgaben aus privaten Sammlungen von Königinnen und Prinzessinnen sind. Ich brauche dort einen guten Mann. Außerdem tummeln sich in diesem Gebäude sehr viele Frauen. Aufmüpfige Frauen. Frauen, die einen schwächeren Mann leicht dazu reizen könnten, sie in ihre Schranken zu verweisen.“ Er lehnte sich nach vorn und stellte die vorderen Beine seines Stuhls mit einem dumpfen Schlag wieder auf den Boden. „Und das kann ich natürlich nicht dulden. Diese Frauen zeichnen sich durch einen großen Einsatz aus und der Kongress steht hinter ihnen. Ich will, dass sie mit dem größten Respekt und der nötigen Höflichkeit behandelt werden. Und Sie haben beim Frauenkongress bewiesen, dass Sie das können.“

Er hatte die Frauen, die am Kongress teilgenommen hatten, nicht anders behandelt als andere Frauen auch. Zugegebenermaßen mit Ausnahme von Miss Pantalons. Die hatte er nicht mit Respekt und Höflichkeit behandelt. Natürlich hatte er daran gedacht. Er hatte überlegt, ihr den Rücken zuzuwenden, als er begriffen hatte, was sich dort im Keller abspielte. Aber dann hatte er es unterlassen. Der Gesetzeshüter in ihm hatte ihm das nicht erlaubt. Man wandte einem Gesetzesübertreter nie den Rücken zu. Und jemand, der heimlich in einen Keller einstieg, war eindeutig ein Gesetzesübertreter. Ob Frau oder Mann. Ob in einer Hose oder in einem Rock.

Vielleicht sollte er dem Colonel davon erzählen. Aber das konnte er nicht. Solche Geschichten konnten eine Frau ruinieren. Und so wenig ihm diese neue Aufgabe auch gefiel, er war nicht bereit, deshalb den Ruf einer Frau zu zerstören.

Also hielt er den Mund. Auch wenn sich die Jungs zu Hause in seiner Kompanie bestimmt kaputtlachen würden, wenn sie herausfänden, dass er in Illinois einen Haufen Spitzen und Firlefanz beschützte, statt in Texas Banditen zu jagen.

An der Ecke von Washington Street und Wabash Street legte Billy eine Hand an ihren Hut, hob das Kinn und kniff die Augen zusammen, um das neue neunstöckige Backsteingebäude von Marshall Field’s bis ganz oben betrachten zu können. Ihre Vorfreude wuchs, während der Herzschlag der Stadt um sie herum pulsierte.

Ein edles Pferd mit eleganter Kutsche überholte einen stampfenden Arbeitsgaul, der einen schwer beladenen Lieferwagen zog. Ein Zeitungsjunge in geflickter Hose hatte sich einen Stapel Zeitungen unter den Arm geklemmt und der Geruch von frischer Druckerschwärze lag in der Luft. „Einweihung des Illinois-Gebäudes auf der Weltausstellung! Termine und Veranstaltungskalender in dieser Zeitung!“

Das tiefe Pfeifen der Dampfschiffe im Hafen konkurrierte mit dem hohen Pfeifen der Züge im Bahnhof in der Michigan Avenue. Straßenbahnen und Pferdewagen durchzogen die Straßen und hielten immer wieder an, damit die Männer und Frauen aussteigen konnten, die dann zielstrebig auf die rot gestreiften Markisen von Marshall Field’s zusteuerten.

Billy genoss alle Geräusche, jeden Anblick und jeden Geruch. Chicago strahlte in allen Farben des Regenbogens. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen. Billy hatte in der Stadt eigentlich nur einen kurzen Zwischenstopp auf ihrem Weg nach Milwaukee einlegen wollen. Doch ein Blick hatte genügt und sie hatte sich Hals über Kopf in die Stadt verliebt. Noch an ihrem ersten Tag hatte sie eine kleine Wohnung angemietet und die Vermieterin überredet, dass sie das Wohnzimmer als Wartezimmer für ihre Patienten benutzen durfte.

Sie seufzte. Eines stand fest: Falls sie je für einen Mann so empfände wie für diese Stadt, würde sie ihm einen Heiratsantrag machen.

Billy hob ihren Rock, schaute nach links und rechts und eilte dann über die breite Straße. Dabei musste sie gut aufpassen, um Pfützen, Pferdeäpfeln und rollenden Fahrzeugen auszuweichen. In den großen Schaufenstern waren Sommerkleider ausgestellt, obwohl erst Mai war. Sosehr sie auch versucht war, sich die Nase an der Glasscheibe platt zu drücken, gab sie sich damit zufrieden, die Ausstellungsstücke aus einem angemessenen Abstand zu bewundern.

Dank des exorbitanten Honorars, das sie im Frauengebäude bekam, hatte sie beschlossen, zur Feier des Tages der neuesten Mode zu frönen und einen Einkaufsbummel zu machen. Dieses Mal würde sie nicht nur einen Schaufensterbummel machen, sondern konnte es sich tatsächlich leisten, das Geschäft zu betreten und sich ein Kleid von der Stange zu kaufen. Zum ersten Mal in ihrem Leben!

Sie schlenderte zum kunstvoll gestalteten Eingang und betrat die Vorhalle, die sich über fünf Etagen erstreckte. Ein Besuch der Sixtinischen Kapelle hätte sie nicht mehr zum Staunen gebracht: Die Wände ragten hoch hinauf in den Himmel, so kam es ihr jedenfalls vor. In jedem Stockwerk gab es eine Galerie, an der Kunden standen, die sich über das Geländer beugten und das Treiben im Erdgeschoss verfolgten.

Viele Stimmen waren zu hören, manche lauter, manche leiser. Ein Laufbursche eilte über den Marmorboden und brachte von einer Kasse Wechselgeld zu einer anderen Kasse. Ein Türsteher in einem makellosen doppelreihigen Anzug trat auf sie zu. „Suchen Sie eine bestimmte Abteilung, Miss?“

„Ich … ich weiß nicht genau.“

Er lächelte, obwohl sein üppiger Schnurrbart seine Lippen verbarg. „Sind Sie zum ersten Mal bei ‚Marshall Field’s‘?“

„Zumindest zum ersten Mal im Inneren des Gebäudes.“

„Am siebten Tisch links findet ein Schleifenverkauf statt. Die Teppichkehrmaschinen sind heute ebenfalls im Sonderangebot; Sie finden sie am Ende des Mittelgangs im dritten Stockwerk.“

„Danke.“ Benommen warf sie einen Blick auf die auf Hochglanz polierten Tische, auf denen Seide, Schuhe, Hüte, Handschuhe, Schirme und Taschentücher ausgelegt waren. Alle waren kunstvoll angeordnet, einige präzise gefaltet, andere kunstvoll ausgebreitet.

„Und die Damenbekleidung?“, fragte sie.

Er deutete zum südlichen Ende des Erdgeschosses. „Gleich dort vorne. Soll ich Sie hinführen?“

„Nein, nein. Ich finde sie allein. Danke.“ Während der nächsten zwei Stunden schlenderte sie durch jede Abteilung im Erdgeschoss und bahnte sich einen Weg zwischen den Kunden und Angestellten hindurch, die die Gänge bevölkerten. Die Unmenge an Schmuck, Briefpapier, Edelsteinen, Strümpfen, Seidenschals, Haarkämmen und Accessoires überwältigte sie schier. Dabei hatte sie noch nicht einmal die Abteilung mit Damenbekleidung von der Stange erreicht, geschweige denn die oberen Etagen besucht.

Als sie schließlich an ihrem Ziel ankam, interessierte sie sich weniger für die Kleider als für die Unterwäsche. Sie konnte nur staunen. Korsetthemden und Chemisettes aus feiner Baumwolle und Seide. Unterröcke, Kombinationen und Sommerkorsetts, die mit winzigen Stichen bestickt und filigraner Spitze versehen waren.

An einem Tisch mit Pantalons blieb ihr Blick lange hängen. Sie waren fast durchsichtig. Wenn man sie trug, wären die Umrisse der Beine durch den Stoff deutlich zu sehen. Diese Hosen hatten nicht die geringste Ähnlichkeit mit den langen Unterhosen aus dem Montgomery-Ward-Katalog oder der rauen Baumwollwäsche, die sie sich selbst genäht hatte.

Weiche Spitzenrüschen fassten die Enden ein. Pastellfarbene Schleifen, die durch gehäkelte Bänder geflochten waren, verbanden die Rüschen mit den Hosenbeinen.

Während sie den Stoff zwischen Daumen und Zeigefinger rieb, fragte sie sich, was wohl der Wachmann von der Kolumbus-Garde von dieser Unterwäsche halten würde. Wenn er lange Damenunterwäsche schon skandalös fand, würde er wahrscheinlich den Schock seines Lebens bekommen, wenn er diese durchsichtigen Pantalons sähe.

Billy unterdrückte ein nervöses Kichern. Trotzdem zogen diese Pantalons sie in ihren Bann. Sie hatte sich nie die Zeit genommen oder Geld dafür ausgegeben, Schleifen und ­Rüschen an ihre Unterwäsche zu nähen. Und sie wäre ganz gewiss nie auf die Idee gekommen, durchsichtige Unterwäsche zu tragen. Sie hatte nicht einmal gewusst, dass es so etwas überhaupt gab. Warum sollte man so etwas tragen?

Doch plötzlich erschienen ihr ihre sehr schlichten, sehr gewöhnlichen Unterhosen, die ständig auf der Haut kratzten, unförmig und unschön. Wie herrlich musste es sein, wenigstens ein einziges Mal so edle, unanständige Unterwäsche zu tragen!

„Kann ich Ihnen helfen?“

Billy zuckte zusammen und zog schnell die Hand zurück.

„Sie sind hübsch, nicht wahr?“ Die Verkäuferin war höchstens neunzehn oder zwanzig Jahre alt. Rote Strähnen kräuselten sich an ihren Schläfen und ihrem Hals, während die längeren Haare durch einen Schildplattring gesteckt waren. Die junge Frau verströmte einen dezenten Blumenduft. „Wie Sie an unserer Auswahl sehen können, sind wieder die Stoffe aus den 30er-Jahren in Mode, als Frauen Batist, Dimity und Musselin getragen haben.“

„Für Unterwäsche?“

„Für Unterwäsche und auch für die Oberbekleidung.“ Die junge Verkäuferin schob die Hände unter die zusammengelegten Pantalons und hob sie hoch, damit Billy fühlen konnte, wie weich sie waren. „Einige, wie diese hier, sind hauchdünn, andere sind schwerer und strapazierfähiger.“

In der nächsten Stunde führte die Verkäuferin Billy von einer Abteilung zur nächsten, von Stockwerk zu Stockwerk und kleidete sie komplett neu ein.

Als Billy das Warenhaus verließ, hatte sie viel mehr Geld ausgegeben, als vernünftig war. Ein Teil ihrer Ersparnisse war jetzt aufgebraucht. Trotzdem konnte sie ihre Begeisterung nicht mäßigen. Sie würde ihre neue Stelle mit einem neuen Kleid, einem neuen Hut, neuen Handschuhen, neuen Strümpfen und der unanständigsten Unterwäsche, die sie je besessen hatte, antreten.

5

Billy stellte sich auf die Zehenspitzen und versuchte, im ovalen Spiegel über ihrem Waschtisch mehr von ihrem neuen Kleid zu sehen, aber sie konnte nur den oberen Teil des sommerlichen, blau gestreiften Mieders erkennen. Sie rückte die Schleife am Kragen gerade und stellte dann die Fersen wieder auf den Boden.

Sie liebte Schleifen. Das war schon immer so gewesen. Aber sie trug nie welche, denn sie versuchte ja, in einer Männerwelt ernst genommen zu werden.

Aber jetzt arbeitete sie im Frauengebäude. Dort durfte man sich doch bestimmt weiblich kleiden. Wenigstens hatte sie sich das am Vortag gesagt, als sie das Kleid gekauft hatte. Jetzt war sie sich allerdings nicht mehr so sicher.

Sie nahm ihre Ansteckuhr und stellte fest, dass sie in zehn Minuten aufbrechen musste. Nach einem letzten Blick in den Spiegel zog sie sich die Schleife vom Hals, schob die Knöpfe durch die Knopflöcher auf ihrem Rücken und streifte sowohl das Mieder als auch den Rock ab.

Sie war nicht einmal sicher, ob sie ihre gewohnten Blusen und Röcke tragen sollte. Diese wirkten so lehrerinnenhaft. Vielleicht sollte sie lieber eine Krankenschwesterntracht anziehen? Eine Freundin hatte ihr eine gegeben, weil sie ihr zu klein geworden war. Sie hatte gemeint, dass Billy sie ­vielleicht eines Tages gebrauchen könnte, wenn sie eine eigene Praxis hätte und sich eine Krankenschwester leisten könnte.

Billy öffnete den Deckel einer Reisetruhe, kramte darin und zog dann die Schwesterntracht heraus, die ganz unten gelegen hatte. Sie war weiß und feminin, aber nicht übertrieben weiblich. Diese Kleidung würde bei Patienten, die keine Ärztinnen gewohnt waren, sicher Vertrauen wecken.

Als sie sich umgezogen, ihre Ansteckuhr befestigt und ihr gerahmtes Abschlusszeugnis in die Tasche gesteckt hatte, hatte sie keine Zeit mehr, ihren Hut festzustecken. Sie würde ihn später aufsetzen.

Billy hängte sich ihre Tasche über den Arm und staunte über die Größe des Frauengebäudes. Das gesamte Gebäude war von Frauen entworfen und eingerichtet worden.

Während sie die Karyatiden und andere Skulpturen auf dem Dach betrachtete, zog sie gedankenverloren die langen Nadeln aus ihrem Hut und steckte sie sich in den Mund. Rundbögen ruhten auf dorischen Wandpfeilern. Besucher schlenderten auf einem offenen Balkon mit großen korinthischen Säulen entlang.

Doch dann fiel ihr ein, dass es schon sehr spät war, und sie beschleunigte ihre Schritte. Sie musste den Hut auf ihrem Kopf festhalten und eilte die Stufen hinauf.

„Sie sollten langsamer gehen, Miss.“ Der Befehlston in der Männerstimme war unüberhörbar. Und auch sein texanischer Akzent.

Billy stieß sich die Zehe an, ging aber unbeirrt weiter auf ihn zu, als wäre nichts passiert. Sie weigerte sich zu glauben, was sie dort sah. Das konnte doch nicht sein! Das konnte einfach nicht sein! Diese Stimme gehörte sicher zu einem anderen Mann, der ebenfalls aus den Südstaaten stammte. Die junge Frau hielt das Kinn gesenkt und steckte ihren Hut wieder fest. Nur für alle Fälle.

„Ich will schließlich nicht, dass Sie mit diesen Spießen im Mund stolpern“, fuhr er fort.

Da war es wieder. Der Akzent. Diese unverkennbare tiefe Stimme. Ihr Magen zog sich zusammen.

„Ich bin spät dran“, murmelte sie, als sie nur noch eine Hutnadel im Mund hatte.

„Sie sollten lieber zu spät kommen, denn als Patientin auf der Krankenstation landen, auf die Sie offenbar gerade zusteuern.“

Die junge Frau war entsetzt. Doch dann merkte sie, dass er sie nicht erkannte, sondern nur ihre Schwesterntracht gesehen hatte. Hoffentlich.

Um Zeit zu gewinnen und einen Vorwand zu haben, den Kopf weiter gesenkt zu halten, zog sie die Haarnadel, die sie gerade eingesteckt hatte, wieder heraus und befestigte sie ein wenig weiter links. „Ich werde schon aufpassen.“

Sie erreichte den Treppenabsatz. Und die Tür. Doch jetzt versperrte ihr ein Paar Cowboystiefel aus einem undefinierbaren Tierleder den Weg. Oh nein! Oh nein! Oh nein!

Sie konnte den Blick nicht heben. Das ging einfach nicht.

„Trotzdem muss ich darauf bestehen, dass Sie erst Ihre Nadeln feststecken, bevor Sie weitergehen.“

„Wenn es unbedingt sein muss!“ Sie zog die letzte Hutnadel aus ihrem Mund und stocherte damit an der Rückseite ihres Hutes herum, um eine gute Stelle zu finden, an der sie die Nadel befestigen konnte. Doch sie konnte an nichts anderes denken als an die neuen, unanständigen, hauchdünnen Pantalons, die über ihre Oberschenkel strichen, und die zarten Spitzenrüschen, die ihre Waden berührten.

Ihre Wangen begannen zu glühen. Sie hätte ihre alte Unterwäsche anziehen sollen. In der rauen, steifen Baumwollwäsche, die sie mit eigenen Händen genäht hatte, hätte sie sich viel sicherer gefühlt. Morgen würde sie sie wieder anziehen. Und übermorgen auch. Und am Tag danach ebenfalls.

Wieder schossen ihr jene peinlichen Momente im Keller durch den Kopf. Obwohl sie versucht hatte, nicht darüber nachzudenken, obwohl sie versucht hatte, sich nicht vorzustellen, was er wohl alles gesehen hatte, als sie durch das Fenster gekrochen war, gingen ihr jene Minuten immer wieder durch den Kopf und ließen ihr keine Ruhe. Sie konnte diese Bilder einfach nicht vertreiben.

Als Ärztin hatte sie gelernt, wie ein menschlicher Körper funktionierte. Wie ein männlicher Körper funktionierte. Deshalb wusste sie ohne den Hauch eines Zweifels, dass diese Bilder auch in seinem Kopf ausgesprochen präsent waren. Falls er damals auch nur einen kurzen Blick auf ihr Gesicht hatte werfen können, würden diese Bilder neu lebendig werden, sobald sie den Kopf hob.

Die Nadel steckte fest. Sie konnte es nun nicht länger hinauszögern. Sie musste ihn anschauen.

6

Billy beschloss, dass Angriff die beste Verteidigung war, und hob mit herausfordernd zusammengekniffenen Lippen den Kopf. „Sind Sie jetzt zufrieden?“

Sein Blick glitt über ihre Frisur, ihren festgesteckten Hut und ihr Gesicht und blieb schließlich an ihren hellbraunen Augen hängen. „Ja, Ma’am. Sehr zufrieden.“

Nichts deutete darauf hin, dass er sie wiedererkannt ­hatte.

Sie starrte ihn mit offenem Mund an. Es war kaum zu glauben! Ihr Hut hatte tatsächlich vor zwei Tagen ihr Gesicht verdeckt! Und sie hatte keinen Akzent, keine ungewöhnliche Stimme und trug auch keine Cowboystiefel. Selbst ihre Pantalons waren ganz gewöhnliche Modelle gewesen. Zumindest die, die sie an jenem Tag im Keller getragen hatte. Und wenn er die, die sie jetzt trug, sehen könnte, würde er sie bestimmt nicht wiedererkennen. Solche Pantalons wie die von Marshall Field’s hatte er bestimmt noch nie zu Gesicht bekommen. Sie grinste innerlich.

Billy zog eine Braue hoch und beschloss, dass sie ihr Glück nicht überstrapazieren wollte. „Dann machen Sie mir bitte Platz. Ich werde drinnen gebraucht.“

Er trat zur Seite und streckte die Hand nach dem Türgriff aus. Mit einer schnellen Bewegung kam sie ihm jedoch zuvor, zog die Tür auf, spazierte in das Gebäude und überließ es ihm, die Tür entweder aufzufangen oder sich den Kopf daran zu stoßen.

Der Wächter musste sie aufgefangen haben, denn es fiel weiterhin helles Sonnenlicht ins Foyer. Billy schaute sich suchend um. Ihr Blick blieb an einer Tür mit einem unauffälligen Schild und der Aufschrift „Dienstleistungsbereich“ hängen. Wahrscheinlich befand sich dahinter auch die Krankenstation. Und wenn nicht, würde man ihr zumindest den Weg dorthin zeigen können.

Sie eilte hinein und lehnte sich dann hastig atmend an die Tür. Ihre Haut war abwechselnd heiß und kalt. Ihre Pantalons klebten an ihren Beinen.

Nach und nach begann sie, ihre Umgebung wahrzunehmen. Die Weltausstellung war auf ihre Dienstleistungsbereiche sehr stolz. Es gab sie in allen größeren Gebäuden und an ausgewählten Orten, die auf dem gesamten Gelände verteilt waren.

Billy hatte gelesen, dass man sie gebührenfrei als Ruhe­räume nutzen konnte. In einigen Bereichen gab es angeblich Friseursalons, Schuhputzer, Paketdienste und Imbissstände. In anderen befanden sich Telegrafenämter, ­Botendienste, Toiletten und Verkaufsstände.

Bei diesem Dienstleistungsbereich handelte es sich jedoch eher um einen Salon, in dem sich Familien ausruhen konnten. Eine eindrucksvolle Sammlung von Ölgemälden beherrschte neben einem kunstvollen Kamin, einem Damenschreibtisch und einem Briefkasten den Raum. Im Moment nutzte niemand den Schreibtisch oder die tannengrünen Sofas und gemütlichen Sessel, die in Sitzgruppen im Raum verteilt waren. Direkt gegenüber von ihr befand sich eine große Holztür. Es deuteten jedoch weder Stimmen noch Schilder darauf hin, dass sich dahinter die Krankenstation verbarg.

Billy wollte aber auf keinen Fall ins Foyer zurückkehren und das Risiko eingehen, Scott wieder über den Weg zu laufen. Nur gut, dass sie ihm kürzlich nicht ihren Namen verraten hatte. Als ihr Blick auf die Uhr fiel, wand sie sich innerlich. Sie kam fast eine halbe Stunde zu spät.

Sie trat auf die andere Tür zu und klopfte.

Eine hübsche junge Frau in einer Schwesterntracht öffnete ihr. Nach einem kurzen Blick auf Billys Kleidung traten zwei Grübchen auf ihre Wangen, als sie lächelte. „Oh, guten Morgen. Ich bin Schwester Findley. Ich wusste nicht, dass ich Verstärkung bekomme. Bitte kommen Sie herein.“

Billy ging an ihr vorbei in die Krankenstation. „Mein Name ist Doktor Billy Jack Tate. Ich soll die Ärztin ersetzen, die an Typhus erkrankt ist.“

Schwester Findleys Wangen röteten sich, wodurch ihre großen, blauen Augen und ihre flachsblonden Haare noch stärker betont wurden. „Entschuldigen Sie bitte vielmals, Doktor Tate. Ich dachte …“ Sie beendete ihren Satz nicht.

Billy lächelte. „Es ist meine Schuld. Ich wusste nicht, was ich anziehen soll, und habe mich deshalb für eine alte Schwesternuniform entschieden. Was tragen denn die anderen Ärztinnen normalerweise?“

„Meistens Röcke und Blusen. Doktor Ashford hat allerdings die Krankenstation für heute schon verlassen.“

„Ja, ich habe mich leider etwas verspätet. Die Straßenbahn brauchte viel länger, als ich erwartet hatte. Entschuldigen Sie bitte vielmals.“

„Das macht nichts. Heute ist nicht viel los.“

Billy schaute sich an ihrem neuen Arbeitsplatz um. Auf der anderen Seite des kleinen Zimmers, das eher wie ein Büro aussah, befand sich eine Tür, die in einen weiteren Raum führte. Links an der Wand stand ein einfacher Schreibtisch. Auf der Schreibtischplatte und dem Schrank, der darüber hing, befanden sich die unterschiedlichsten Fläschchen und Instrumente. In der Ecke gab es einen Waschtisch mit Handtüchern und fließendem Wasser. Eine Seife verbreitete einen sauberen, angenehmen Geruch.

Rechts von ihr erregte ein mit Stoff überzogener riesiger Schreibtisch, der unzählige Fächer und Schubladen hatte, ihre Aufmerksamkeit. Im obersten Regal entdeckte sie Oslers „Neue Prinzipien und Praxis der Medizin“, Avicennas „Medizinkanon“ und Meigs’ „Geburtshilfe“. Sie strich mit den Fingern über die Schreibtischplatte, schob ein Stethoskop zur Seite und entdeckte Doktor Ashfords Notizen, die sie offensichtlich erst an diesem Morgen verfasst hatte.