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Texas, 1904: Die junge Telefonistin Georgie Gail ist stolz auf ihre Unabhängigkeit und darauf, dass sie sich in der Männerwelt ihres kleinen Ortes behaupten kann. Deshalb ärgert sie sich gleich doppelt, als die Telefongesellschaft ihr einen Techniker vor die Nase setzt, der ihr auf die Finger schauen soll. Doch der gutaussehende Luke Palmer ist alles andere als ein erfahrener Telefonist. In Wirklichkeit ist er ein Gesetzeshüter, der auf der Spur einer Verbrecherbande ist. Er hat also völlig andere Dinge im Sinn, als Telegraphenleitungen zu reparieren und sich mit dem couragierten Frauenzimmer auseinanderzusetzen, das ihm das Leben schwermacht. Aber als Georgie durch seine Arbeit in Gefahr gerät, erkennt er, dass mehr auf dem Spiel steht als nur sein Job ... Eine wunderbare Mischung aus Humor und Tiefgang.
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Seitenzahl: 562
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Über die Autorin
Deeanne Gist ist leidenschaftliche Schriftstellerin, die regelmäßig für ihre Romane mit Literaturpreisen ausgezeichnet wird. Zuletzt erschien „Liebe wider Willen“ auf Deutsch.
Sie ist verheiratet, hat vier erwachsene Kinder und lebt mit ihrem Mann und ihrem Border Collie in Texas.
Deeanne Gist
Liebe in der
Warteschleife
Roman
Aus dem Englischenvon Silvia Lutz
Das amerikanische Originalerschien im Verlag Bethany House Publishersunter dem Titel „Love on the Line“.© 2011 by Pressing Matters Publishing Co., Inc.© 2014 der deutschen Ausgabe by Gerth Medien GmbH, Dillerberg 1, 35614 Asslar1. Auflage 2014ISBN 978-3-96122-062-5Umschlaggestaltung: Michael Wenserit, Jennifer ParkerUmschlagfoto: Kevin White Photography, MinneapolisBearbeitung: Nicole ScholSatz: DTP Verlagsservice Apel, Wietze
Kapitel 1
Alle verlassen sofort den Zug!“
Während sie sich vorsichtig an dem Mann vorbeizudrängen versuchte, der eine Waffe auf die Zugfahrgäste gerichtet hielt, wurde Georgie Gail von aufgeregten Fahrgästen geschubst und angerempelt. Sie verdrehte sich fast den Hals, als sie versuchte, mehr zu erkennen, aber auf dem Mittelgang des Zuges herrschte ein zu dichtes Gedränge.
Niemand sprach ein Wort, selbst die Kinder spürten, dass sie still sein mussten. Angesichts der vielen Menschen, die sich so eng nebeneinander drängten, bildete sich eine dünne Schweißschicht unter ihrem Reisekleid aus brauner Wolle. Der leichte Zimtgeruch ihres selbst gemischten Eau de Cologne vermischte sich mit den süßen Parfüms und dem Duft der Pomade ihrer Mitreisenden.
Neben dem Zug standen zwei Mitglieder der Comer-Bande und bewachten den Ausgang. Die Februarsonne ging gerade hinter den Bäumen unter und überzog den Himmel mit rosa und roten Schattierungen.
„Vorsicht beim Aussteigen, Miss!“ Der Hutrand eines Stetsons tauchte die Augen des Banditen in Schatten, während ein Halstuch die untere Hälfte seines Gesichts bedeckte. Er hielt in einer Hand eine Waffe und hob die andere, um ihr beim Aussteigen behilflich zu sein.
Mit einem schweren Schlucken schob sie ihre Hand, die in einem dünnen Handschuh steckte, in die seine. Er stützte sie, als sie aus dem Zugwaggon auf die Erde sprang.
„Danke.“ Die Antwort kam unwillkürlich über ihre Lippen.
„Gern geschehen, Ma’am. Und jetzt Hände hoch!“
Sie warf einen Blick auf ihn und hob die Hände, aber er hatte sich bereits abgewandt, um der nächsten Frau zu helfen.
Ist das Frank Comer?, überlegte sie. Er war eindeutig höflich genug, um es sein zu können, aber sie hatte ihn sich größer vorgestellt. Breitschultriger. Überlebensgroß.
Die Abendluft kühlte ihre Haut ab, obwohl die Wärme des Frühlingsanfangs die Kälte etwas abmilderte. Das Klirren von Pferdegeschirr lenkte ihre Aufmerksamkeit auf mehrere Pferde, die ein paar Meter entfernt standen. Ein Palomino in der Farbe einer frisch geprägten Goldmünze schnaubte und schlug mit seinem hellen Schweif nach Fliegen.
Sie warf einen kurzen Blick zum vorderen Teil des Zuges, konnte aber weder Schaffner noch Lokführer entdecken. Eine Mischung aus Rauch und Dampf wehte aus dem Schornstein.
Ein Mitglied der Bande trat vor und betrachtete sie genau, bevor er sie zur Seite führte, wo drei Banditen mehr als fünfzig Fahrgäste mit ihren Gewehren in Schach hielten. Ein kleines Mädchen mit braunen Zöpfen stieß stolpernd von hinten gegen sie.
„Vorsicht“, flüsterte Georgie, die sich bückte, um sie festzuhalten. „Wo ist denn deine Mutter?“
„Ich kann sie nicht finden.“ Die Unterlippe des Mädchens zitterte. „Ich habe meinen Hut verloren. Wenn Mama das merkt, bekomme ich Prügel.“
Georgie hockte sich vor das Mädchen und strich diesem eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Nein, bestimmt nicht. Deine Mama versteht das und wird nicht schimpfen.“
Tränen traten in die Augen der Kleinen. „Sie hat gesagt, wenn ich wieder einen Hut verliere, gibt es Ärger. Und das heißt eine Tracht Prügel.“
„Wie heißt du?“
„Rosella Platt.“
„Rosella, mein Name ist Miss Gail und ich bin Telefonistin.“
Die Augen des Mädchens wurden ganz groß. „Wirklich?“
„Ja. Und wenn das hier vorbei ist, helfe ich dir, deine Mutter zu finden. Ich werde sogar –“
„Gibt es ein Problem, Miss?“
Georgie schaute hoch, dann richtete sie sich langsam wieder auf und hob die Hände. Der maskierte, kräftig gebaute Mann trug eine schmutzige Weste. Sein breiter Revolvergürtel lag um den Bund seiner eng sitzenden Hose.
„Rosella hat ihren Hut verloren“, sagte sie.
„Wirklich?“ Nun wandte er sich dem Mädchen zu. „Ich glaube, im Waggon lag ein Hut. Ist es ein Strohhut mit einer hübschen braunen Schleife?“
„Ja, Sir“, flüsterte Rosella. „So sieht er aus.“
„Dann ist es wahrscheinlich dein Hut. Mach dir also keine Sorgen.“
Er war einen ganzen Kopf größer als Georgie und richtete seine Aufmerksamkeit jetzt auf sie. „Darf ich einen Blick in Ihre Handtasche werfen, Miss?“
Blau. Seine Augen waren eindeutig blau und von dichten Brauen überzogen.
Sie nahm die Hände herab und schob das Retikül an ihr Handgelenk.
„Sie ist Telefonistin“, verriet Rosella dem Banditen mit ehrfürchtiger Stimme.
Der Mann schaute Georgie wieder an. „Wirklich? Sie arbeiten in einer Telefonvermittlung?“
„Ja.“
„Wo?“
„In Washington County.“
Er beugte sich nach hinten und neigte den Kopf zur Seite, um sie unter der breiten Krempe ihres Hutes besser sehen zu können. „Ich glaube, ich habe noch nie eine echte Telefonistin gesehen.“
„Mir geht es ähnlich, Sir.“ Sie schob die Finger in die Öffnung ihres Handtäschchens und öffnete die Bänder. „Ich habe noch nie einen echten Banditen gesehen.“
Kleine Fältchen waren nun an seinen Augenwinkeln zu sehen. Dann warf er einen Blick in das Täschchen und hielt es ihr wieder hin. „Danke, Miss.“
„Aber … wollen Sie das Geld nicht?“
„Sie leben allein?“
„Ja.“
„Sie haben dieses Geld als Telefonistin verdient?“
„Ja.“
„Dann behalten Sie es.“
Ihre Schultern entspannten sich. „Danke.“
„Bitte.“ Er ging an der Reihe entlang, aber statt Handtaschen an sich zu nehmen oder Taschenuhren von den Ketten zu reißen, beruhigte er eine ältere Frau. Er ließ ihr ihre Handtasche und forderte sie auf, die Arme nach unten zu nehmen. „Ihre Arme sind inzwischen bestimmt schon ganz schwer.“
Ein paar Schritte weiter gab er einem dünnen, blassen Jungen ein paar Münzen, die er aus dem Waggon gestohlen hatte, in dem die Eisenbahngesellschaft Wertgegenstände transportierte.
„Ist das Frank Comer?“, flüsterte Rosella. „Der echte Frank Comer?“
„Ich glaube schon“, antwortete Georgie aufgeregt.
„Er mag Sie.“
Georgie bedeutete dem Mädchen mit einer Handbewegung zu schweigen. Sie versuchte, die Hitze aus ihren Wangen zu vertreiben, während sie einen weiteren Blick auf den berüchtigten Verbrecher warf.
Comer klopfte einem Mann auf die Schulter und sagte etwas, woraufhin beide lachen mussten. Dann erregte eine Bewegung seine Aufmerksamkeit und er schaute rasch nach links. „Wir müssen los, Männer!“
Die Bandenmitglieder rannten zu ihren Pferden. Die Taschen mit der Beute schlugen bei jedem Schritt an ihre Seiten. Einige sprangen auf ihre Pferde, ein paar hatten Mühe, ihre aufgeschreckten Pferde zu zügeln.
In diesem Augenblick stürmte auf der anderen Seite des Zuges ein Mann auf einem Pferd durch ein lichtes Wäldchen. „Alle auf den Boden legen!“
Der Befehl donnerte über die Köpfe der Fahrgäste hinweg und duldete keinen Widerspruch. Wie Dominosteine sanken die Leute auf die Erde. Rosella bewegte unruhig die Beine und versuchte, so dicht wie möglich an Georgie heranzukriechen.
„Still.“ Georgie strich beruhigend ihre Schulter. „Bleib ruhig liegen!“
Kugeln flogen über ihre Köpfe hinweg. Bei jedem lauten Knall zuckte Georgie zusammen. Die Versuchung, sich die Ohren zuzuhalten, war groß, aber sie wagte es nicht.
Eine Frau in ihrer Nähe schrie und löste damit eine Kettenreaktion aus. Georgie kam es so vor, als stünde sie in einem Glockenturm, in dem alle Glocken gleichzeitig läuteten. Trotzdem fragte sie sich, ob einige Schreie vielleicht von verwundeten Mitgliedern der Verbrecherbande stammten.
Hoffentlich nicht. Bitte, Herr, hilf Frank Comer und seinen Männern, sich in Sicherheit zu bringen.
Wie die übrige Bevölkerung von Texas verfolgte auch sie die Geschichten von Comers Überfällen und seiner Mildtätigkeit gegenüber Alten, Schwachen und Armen ganz genau.
Der Mann neben ihr bewegte sich. Staub stieg ihr in die Nase und in den Mund und klebte an ihren Zähnen. Sie hob den Kopf nur ein kleines bisschen und wischte sich mit dem Handschuh über die Lippen. Eine Kugel durchschnitt gefährlich dicht über ihr die Luft.
Sie drückte sich wieder flach nach unten und versuchte zu ignorieren, dass sich eine Hutnadel in ihre Kopfhaut bohrte. Stattdessen konzentrierte sie sich auf das Poltern der Pferdehufe, das sie unter sich spürte, und staunte darüber, dass die Erde als Reaktion auf die flüchtenden Männer und Tiere erzitterte.
Rosella begann zu wimmern. Georgie rollte sich zusammen, zog das Kind näher an sich heran und murmelte ein paar tröstende Worte. „Hab keine Angst, mein Kind, es ist gleich vorbei.“
Genauso schnell wie sie begonnen hatte, endete die Auseinandersetzung zwischen den Banditen und dem herbeistürmenden Gesetzesvertreter. Das Zittern der Erde, die Schüsse, die Rufe … alles verstummte plötzlich. Georgie blieb wie erstarrt auf der Erde liegen. Das rhythmische Zischen des Dampfes drang aus den Zylindern der Lokomotive. Der Geruch nach Kohle und Öl vermischte sich mit dem Geruch von Schießpulver.
Es dauerte nicht lange, dann begann ihr Kopf an der Stelle zu pochen, an der die Haarnadel sie piekte. Ein Stein unter ihren Röcken bohrte sich in ihre Hüfte. Eine Stelle an ihrem linken Fuß juckte in ihrem Stiefel. Und der Staub kitzelte immer noch in ihrer Nase.
„Können wir aufstehen?“, flüsterte Rosella.
Die Männer erhoben sich bereits und halfen den Frauen und Kindern auf die Beine.
„Rosella!“, schrie eine Frau.
„Mama!“ Das Mädchen rappelte sich schnell auf die Beine. „Ich habe meinen Hut nicht verloren. Er ist noch im Zug.“
Die Antwort der Mutter verstand Georgie nicht, aber sie sah, wie die Frau ihre Tochter umarmte und die beiden sich dann aufgeregt miteinander sprechend fortbewegten.
„Es ist vorbei, Miss. Sie können jetzt aufstehen.“ Die große, fleischige Hand eines Mitreisenden tauchte in Georgies Blickfeld auf.
Sie versuchte, sich daran festzuhalten, aber ihre Röcke hatten sich hoffnungslos um ihre Beine gewickelt, und sie konnte nicht aufstehen.
„Entschuldigen Sie, Miss.“ Er packte sie an der Taille, schwang sie hoch und stellte sie auf die Beine.
Sie schluckte einen überraschten Aufschrei hinunter. „Danke, Sir.“
Auch mit Hut war ihr untersetztes Gegenüber ungefähr fünf Zentimeter kleiner als sie. „Es besteht kein Grund zur Angst. Offenbar hat ein Texas Ranger von Comers Plänen Wind bekommen und ist zu unserer Rettung geeilt.“
Sie schüttelte ihre Röcke aus und warf einen Blick zur Lokomotive. Dort stand der Zugführer mit einem Mann, dessen Gesicht sie nicht erkennen konnte, da die Sonne inzwischen untergegangen und die Dämmerung aufgezogen war. Aber sie konnte seine Silhouette sehen.
Groß. Breitschultrig. Muskulös. Und von sich eingenommen.
„Wo sind die anderen?“ Die Stimme des Zugführers zitterte vor Wut. „Sie haben den Safe leergeräumt und dann die Reisenden aus den Personenwaggons geführt. Jetzt ist Comer längst über alle Berge. Ihr solltet in der ganzen Gegend auf Patrouille sein.“
„Das sind wir auch. Wir sind hier schon seit Wochen in der Gegend und haben uns entlang dieser Strecke aufgeteilt.“
„Aufgeteilt?“, rief der Zugführer entrüstet und wedelte mit den Armen. „Sie meinen, dass Sie allein sind? Ihr seid nicht in großen Gruppen zusammen? Das ist ja nicht zu glauben.“
„Natürlich nicht.“
„Sind Sie verrückt? Das war die Comer-Bande! Die hätten uns alle umbringen können!“
Georgie runzelte die Stirn. Comer war doch kein Mörder. Er war ein … ein freundlicher Dieb, der, laut den Zeitungen, mehr Menschen half als schadete.
Die Brust des Rangers blähte sich auf, als dieser tief einatmete. „Hören Sie zu, alter Mann. Ein Ranger reicht. Es wurde ja auch nur ein Zug ausgeraubt, oder?“
Georgie zog eine Braue in die Höhe. Vielleicht genügte ein einziger Ranger, um die Comer-Bande in die Flucht zu schlagen, aber es wären viel mehr nötig, um die Bande zu verhaften.
Mit einer gewissen Genugtuung wanderte ihr Blick zum Wald. Sie erstarrte. Sechs Bandenmitglieder lagen gefesselt auf der Erde.
Ihr stockte der Atem. Ein einziger Ranger hatte das alles gemacht? Ihr Blick glitt über die Männer mit den Tüchern vor den Gesichtern, aber im immer schwächer werdenden Licht konnte sie sie kaum erkennen. Comer war jedoch nicht darunter, wie sie aus den Worten des Zugführers schloss.
„Vielleicht ist ein einziger Ranger ja genug“, er beugte sich vor, „solange nicht Sie dieser Ranger sind. Comer entwischt Ihnen doch immer wieder. So wie ich es sehe, ist die Chance, dass Sie Comer fassen, genauso groß wie die, dass ein Hase einen Kojoten fängt.“
Der Ranger ballte die Fäuste und spannte sich sichtlich an. Dann drehte er sich um und schritt auf die Fahrgäste zu.
„Das muss Lucious Landrum sein“, flüsterte der untersetzte Mann vor Georgie seiner Frau zu. „Er ist seit fast einem Jahr hinter Comer her. Schau dir nur an, wie er angezogen ist! Ganz teure Sachen.“
Georgie betrachtete den Ranger, konnte aber angesichts der schlechten Lichtverhältnisse nicht erkennen, was er anhatte, geschweige denn, welche Qualität seine Kleidung hatte. Sie konnte nur einen Cowboyhut, eine Weste und einen Revolvergurt mit zwei Holstern sehen.
„Lu-ci-ous“, wiederholte seine Frau und zog die Silben in die Länge. „Was für ein seltsamer Name. Und schau dir nur seinen Bart an. Ich dachte, er trägt einen ordentlich gestutzten Schnurrbart.“
„Normalerweise schon. Aber du hast ihn ja gehört: Er ist seit Wochen unterwegs.“
Der Ranger blieb ein Stück von ihnen entfernt stehen und befragte zwei Männer, die vorne in der Reihe standen. Eine Frau in schwarzer Trauerkleidung begann, leise zu schluchzen.
„Wir werden es bald wissen.“ Der untersetzte Mann senkte die Stimme noch weiter. „Wenn seine Revolver Elfenbeingriffe haben und in die rechte Pistole ein Junge und in die linke, die dicht bei seinem Herzen steckt, ein Mädchen eingeschnitzt sind, ist es Landrum.“
Der Schaffner tauchte mit einer Laterne aus dem Zug auf und brachte sie zu dem Ranger hinüber, der jetzt nur noch ein paar Meter von Georgie entfernt war. Sie konnte nun einen eleganten weißen Stetson erkennen. Einen buschigen Bart. Ein olivfarbenes Hemd. Eine schwarze Krawatte. Und einen Revolvergurt, der um seine Hüften geschlungen war. Eine massive Schnalle aus Gold und Silber hielt den Gürtel zusammen. Sie strengte ihre Augen an, konnte die Pistolengriffe aber nicht erkennen.
„Und Sie haben nichts gesehen?“, fragte Landrum den kleinen Mann und seine Frau. „Nichts gehört? Überhaupt nichts?“
„Sie haben immer wieder gesagt: ‚Hände hoch!‘“, erwiderte die Frau.
Landrum rieb sich die Augen. Da sein Hut einen Schatten warf und er einen Vollbart trug, war sein Gesicht genauso wenig zu erkennen wie das der Banditen. „Irgendein Erkennungsmerkmal, Ma’am? Ein entstelltes Auge, eine Narbe? Jede Kleinigkeit könnte uns weiterhelfen.“
Das Ehepaar wechselte einen Blick, als würde ihnen das helfen, sich an etwas Wichtiges zu erinnern. Aber Georgie wusste, dass der Ranger hier nur seine Zeit vergeudete. Frank Comer war in Texas eine Legende. Er ritt schnelle Pferde, raubte Züge aus, überlistete die Gesetzeshüter und verteilte seinen neu erworbenen Reichtum unter den Menschen. Georgie hatte keine Zweifel, dass der Mann an jede Tür in diesem Bundesstaat klopfen könnte und mit offenen Armen aufgenommen werden würde und dass man ihm zu essen und Unterschlupf geben würde.
Nein. Die Fahrgäste dieses Zuges würden selbst Berühmtheit erlangen und die Geschichten von Comer noch viele Monate weitererzählen.
Es gelang den Umstehenden nicht, die weinende Frau zu trösten, die zunehmend hysterischer wurde. Ihr Schluchzen erinnerte an eine Säge, die durch Holz schneidet.
Landrum schaute schließlich in ihre Richtung. „Ist sie verletzt oder hat sie bloß Angst?“
Angesichts seiner groben Worte richtete sich Georgie zu ihrer vollen Größe auf. Sie öffnete den Mund, um die Frau zu verteidigen, aber die Witwe antwortete ihm selbst.
„Keines von beidem, Sir. Ich bin vor Dankbarkeit überwältigt. Als Mr Comer erfuhr, dass ich nach der Beerdigung meines Mannes Henry alles verloren hatte, hat er mir das hier gegeben.“ Sie zeigte ihm eine Handvoll Goldmünzen.
„Er hat mir meine Waffe abgenommen“, rief ein Mann weiter hinten in der Reihe, „aber dann hat er nur die Patronen herausgenommen und sie mir wieder zurückgegeben.“
„Er hat mein Heft unterschrieben.“ Ein Junge mit Krawatte und kurzer Hose hielt sein Groschenheftchen in die Höhe. Georgie hatte ihn im Zug darin lesen sehen. Auf dem Umschlag war eine bunte Zeichnung zu sehen, die einen maskierten Mann mit freundlichen Augen darstellte. In dicken Lettern stand darüber: Die Legende von FRANK COMER.
Ranger Landrum richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Witwe. „Dieses Geld gehört der ‚Texas & Pacific‘, Ma’am. Ich muss Sie auffordern, es zurückzugeben.“
Die Witwe zog die Hand zurück, dann kniff sie die Augen zusammen, öffnete den Kragen ihres Kleides und ließ die Münzen in ihr Mieder gleiten.
Landrum trat einen Schritt auf sie zu. „Das hätten Sie nicht tun sollen, Ma’am.“
Sie knöpfte ihren Kragen wieder zu und hielt dem Blick des Rangers stand, ohne mit der Wimper zu zucken. „Ich bin müde, Sir. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen, ich kehre in den Zug zurück.“
Die Frau rauschte an ihm vorbei und forderte ihn mit ihrem Blick heraus, es ja nicht zu wagen, sie aufzuhalten.
Georgie biss sich innen in die Wangen. Jede Unterstützung von Seiten der Zugreisenden, die Landrum vielleicht bekommen hätte, hatte er in dem Moment verspielt, in dem er die Witwe so unfreundlich behandelt hatte. Und sie hatte das Gefühl, dass er sich dessen auch bewusst war.
Sein wütender Blick wanderte zu dem Jungen mit dem Romanheft.
„Nein!“, schrie der Kleine und presste sich Hilfe suchend an seine Mutter.
Sie schwang ihn auf die Arme, drückte ihn fest an sich und ging ebenfalls zum Zug zurück. Die übrigen Fahrgäste folgten ihrem Beispiel und machten einen weiten Bogen um Texas Ranger Lucious Landrum.
Kapitel 2
Telefonvertreter?“ Lucious starrte seinen Vorgesetzten entsetzt an. „Ich soll als verdeckter Ermittler arbeiten? Und mich als Telefonvertreter ausgeben?“
„Und Telegrafenleitungen reparieren.“ Captain Heywood blickte nicht einmal auf und bewegte ungerührt eine kratzende Feder über ein Blatt Papier.
„Sie machen wohl Witze.“
„Sehe ich so aus, als würde ich Witze machen?“
Obwohl die Fensterläden vor den Fenstern des Büros im Ranger-Hauptquartier zum Schutz vor der Mittagssonne dicht verschlossen waren, trug der Captain seinen silbergrauen Stetson. Und Lucious musste nicht unter die Hutkrempe lugen, um zu wissen, dass der Mann keine Witze machte. Er hatte diesen Tonfall schon oft gehört.
„Sir, ich halte es für einen Fehler, verdeckt zu ermitteln. Mein Ruf als Ranger wird Comer schon aufscheuchen.“
„Wie beim letzten Mal und beim Mal davor und beim Mal davor?“ Das Kratzen der Feder wetteiferte mit dem Klicken des Ventilators an der Decke.
„Ja, mit allem nötigen Respekt. Genauso wie in diesen Fällen.“
Die Feder erstarrte. Die Krempe des Stetsons hob sich langsam. „Darf ich Sie erinnern, Landrum, dass diese Versuche alle fehlgeschlagen sind.“
„Ich habe ihn jedes Mal erfolgreich aufgescheucht, Sir. Ich habe ihn nur noch nicht festgenommen.“
Die Haut, die von den zahllosen Jahren auf Verbrecherjagd wettergegerbt war, war genauso sehr ein Markenzeichen seines Berufs wie der fünfzackige Stern auf der Jacke des Captains. „Unser Ziel ist es aber, ihn festzunehmen.“
„Genau das ist mein Plan. Ich werde ihn festnehmen. Aber wenn ich verdeckt ermittle, bin ich zwangsläufig zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt, um ihn aufzuspüren. Und während dieser Zeit könnte er noch ein Dutzend Züge ausrauben. Wenn Sie mir einen Trupp Männer geben, könnten wir nach Washington County reiten, ihn aufscheuchen, und dann hätte ich ihn.“
Heywood steckte die Feder in die Halterung und lehnte sich auf dem Holzstuhl zurück, der fast genauso alt war wie er und protestierend knarrte. „Das haben Sie letztes Mal auch gesagt.“
„Ich habe sechs seiner Männer verhaftet.“
„Aber keiner von diesen Männern redet.“
„Wir haben herausgefunden, dass Comer untergetaucht ist. Wir haben herausgefunden, dass er und seine Männer Land in Washington County besitzen. Dass sie sich zwischen ihren Raubzügen auf ihren Farmen verkriechen.“
„Das hatten wir bereits vermutet.“
„Und jetzt hat sich dieser Verdacht bestätigt.“
„Von den Zugreisenden haben Sie aber nichts erfahren.“
Lucious’ Kinn spannte sich an. „Die Leute schützen ihn, Sir. Sie glauben, was in den Zeitungen steht. Er spielt den Leuten etwas vor. Sie haben keine Ahnung, wie er wirklich ist.“
Heywood legte die Ellbogen auf die Stuhllehne und verschränkte die Finger. „Sie müssen nicht verdeckt ermitteln, Lucious.“
Lucious erlaubte sich den ersten freien Atemzug, seit er das Büro betreten hatte. „Danke, Sir.“
„Ich schicke Harvey. Er hat bestimmt nichts dagegen, getarnt zu ermitteln.“
„Nein.“
Heywood zog eine Braue in die Höhe. „Nein?“
„Ich brauche weder Harvey noch sonst jemanden, der meine Arbeit macht.“
„Gut.“ Heywood beugte sich vor und kramte in einem Papierstapel, von dem kleine Staubwolken aufstiegen. „Sie melden sich bei …“ Er zog ein Blatt Papier aus dem Stoß, legte es vor Lucious auf den Schreibtisch und klopfte mit dem Fingernagel darauf. „… bei einer Miss Georgie Gail. Sie ist Telefonistin der ,Southwestern Telegraph & Telephone Company’. Man hat ihr gesagt, dass ein Techniker kommt.“
Lucious überflog den Auftrag:
NAME: Lucious Landrum KOMPANIE: ADECKNAME: Luke Palmer BERUF: Telefonvertreter und -monteur, einschließlich Rechnungstellung und BuchhaltungEINSATZORT: Brenham, TexasARBEITSPLATZ: Büro von Georgie Gail, Telefonistin der Southwestern Telegraph & Telephone Company
Lucious blickte auf. „Luke Palmer, Sir?“
Heywood hatte sich schon wieder den Unterlagen zugewandt, an denen er zuvor gearbeitet hatte. „Ich dachte, das könnten Sie sich leicht merken, da ‚Luke‘ eine Abkürzung von ‚Lucious‘ ist und ‚Palmer‘ der Geburtsname Ihrer Mutter.“
Lucious fuhr sich mit der Hand über den Mund. „Wäre es in Ordnung, wenn ich nur die Reparaturen und die Buchhaltung mache?“
„Haben Sie etwas dagegen, Telefone zu verkaufen?“
„Ehrlich gesagt, ja. Das ist unehrenhaft, Sir.“
Heywood hob abrupt seinen Kopf und kniff die Brauen zusammen. „Unehrenhaft? Wie darf ich denn bitte diese Aussage verstehen?“
„Diese Dinger sind unzuverlässig. Selbst unter den besten Bedingungen funktionieren sie kaum, aber in Notfällen versagen sie fast grundsätzlich. Sie wiegen die Leute in falscher Sicherheit. Ich möchte nichts damit zu tun haben.“
Wenn er seine Bedenken einem anderen gegenüber geäußert hätte, hätte er nur verständnislose Blicke geerntet. Aber Captain Heywood kannte ihn. Er wusste besser als jeder andere, welches Misstrauen Lucious modernen Kommunikationsmitteln entgegenbrachte.
„Sie sind der beste Mann, den wir haben, Lucious“, sagte der Captain jetzt mit weniger harter Stimme. „Und ich brauche Sie. Aber ich habe diesen Auftrag mit gewissen Vorbehalten unterschrieben. Der Sheriff von Washington County ist inkompetent. Die Stadtbewohner halten Comer für einen Helden. Und Sie neigen dazu, bei so etwas leicht die Geduld zu verlieren. Ich habe schon öfter überlegt, ob Sie wirklich der richtige Mann für diesen Auftrag sind.“
Wenn Heywood ihm einen Hieb in den Magen versetzt hätte, hätte er ihn nicht stärker treffen können. Er blickte schon sein ganzes Leben lang zu diesem Mann auf. Für ihn zu arbeiten war ein Privileg. Eine Ehre. Die Entdeckung, dass sein Captain an ihm zweifelte, war fast unerträglich.
„Gibt es so etwas wie ein Handbuch?“, fragte Lucious. „Ich habe keine Ahnung von Telefonen.“
Heywood war so freundlich, nicht zu lächeln, aber Lucious sah ihm an, dass er zufrieden war. Er zog eine Schublade auf und holte ein hellblaues Büchlein heraus. „Nehmen Sie das hier. Es ist ein Reparatur- und Verkaufshandbuch. Sie müssen es von der ersten bis zur letzten Seite lesen und sich so schnell wie möglich mit dem Inhalt vertraut machen. Es kostete mich einige Überredung, die SWT&T zu überzeugen, dass wir einen unserer Männer bei ihnen einschleusen dürfen.“
„Die SWT&T?“
„Die ‚Southwestern Telegraph & Telephone Company‘. Sie wollen ihr Telefonnetz ausbauen. Ich habe ihnen versichert, dass ich meinen besten Mann schicke und dass er für sie viele Telefone verkaufen wird.“
Lucious verzog keine Miene. „Ich werde mich bemühen, Sir.“
„Gut.“
Er nahm das Handbuch und ging zur Tür.
„Landrum?“
Lucious drehte sich um.
Die Miene des Captains war unerbittlich. „Ich will ihn haben. Wenn möglich, lebend. Wenn es nicht anders geht, auch tot. Aber ich will ihn. Wenn er Ihnen ein weiteres Mal durch die Lappen geht, setze ich Harvey auf ihn an.“
„Ich werde Ihnen den Verbrecher bringen, Sir.“ Als er durch die Tür schritt, kostete es ihn seine ganze Selbstbeherrschung, sie nicht hinter sich zuzuknallen.
❦
Endlich konnte Luke einen ersten Blick auf Brenham werfen, eine vorwiegend von deutschen Einwanderern bewohnte Stadt. Er saß in einem Anfängersattel, auf den sich normalerweise kein Ranger freiwillig setzen würde, auf einem gescheckten Pferd. Während seines fünftägigen Ritts von Alice nach Washington County hatte er die dreiundzwanzig Regeln für Mitarbeiter auswendig gelernt, die im Handbuch der SWT&T standen.
Regel 1: Achten Sie auf ein gepflegtes Äußeres. Es ist nicht nötig, maßgeschneiderte Anzüge zu tragen; genauso wenig ist es nötig, wie ein Kohlenschlepper auszusehen. Eine Latzhose kann respektabel wirken, aber man muss ihr ansehen, dass sie regelmäßig gewaschen wird; und die Schuhe müssen regelmäßig mit Schuhcreme in Berührung kommen.
Er hasste es. Keinen Stetson. Keine eleganten Cowboystiefel. Keinen Revolvergurt. Keinen Padgitt-Sattel. Keinen Schnurrbart. Nicht einmal eine richtige Hose! Er hatte seine Pistolen – Odysseus und Penelope – zusammen mit seiner Dienstmarke in einem speziell dafür konstruierten Fach seines Koffers versteckt.
Seine schwarz-weiß gescheckte Tobiano-Stute schüttelte ihre Mähne. Zweifellos ein empörter Protest dagegen, dass sie mit diesem schrecklichen Sattel auf dem Rücken durch die Stadt traben musste. Er hatte die Stute in der vergangenen Woche erworben, und obwohl er in allen anderen Punkten seine Maßstäbe zurückgeschraubt hatte, zog er bei Pferden eine Grenze. Wenn etwas Unerwartetes geschah, wollte er ein Pferd haben, auf das er sich verlassen konnte.
Er tätschelte den Hals der Stute und murmelte ihr mitfühlende Worte zu, während er sie auf eine Holzbrücke lenkte, die den Hog Branch River überquerte. Die pochenden Hufe erregten die Aufmerksamkeit einiger Jungen, die ihre Hosenbeine hochgekrempelt hatten und mit Elritzennetzen im Wasser standen. Sie wateten am Ufer entlang, blieben jetzt aber stehen und winkten.
Luke tippte grüßend an seinen Hut. Sobald seine Fingerspitzen die Krempe berührten, wurde er wieder daran erinnert, dass er seinen Stetson hatte wegpacken müssen. Anstelle des feinen Biberfells trug er jetzt einen braunen Farmershut, der, falls er Sears, Roebuck & Co.glauben schenken konnte, jedem Wetter standhalten würde. Er hatte sich die ganze Woche bemüht, ihn schmutzig zu machen, genauso wie seine neuen Latzhosen und seine Arbeitsstiefel. Hoffentlich sahen sie getragen, aber trotzdem anständig genug für einen Mitarbeiter der SWT&T aus, der für Reparaturen verantwortlich war.
Ein leichter Wind zog über den Fluss, und die Blätter einer Eiche flatterten wie die Rockschöße von Männern, die sich auf der Flucht befanden. Mit dem Wind kam der Duft des Frühlings. In der Ferne rief eine Wachtel.
Er ließ seinen Blick über das Gelände schweifen und vermutete ihr Versteck entweder in der Stechpalme oder auf dem Mesquitebaum. Er hatte sie fast erreicht, als die Wachtel plötzlich aus dem Mesquitebaum flatterte und sein Pferd aufschreckte.
Während er Honey Dew mit einer Hand zügelte, „zog“ er mit der anderen Hand, deutete mit dem Finger auf den Vogel und drückte mit dem Daumen ab. „Peng“, murmelte er. „Treffer.“
Die Wachteljagd liebte er genauso sehr wie die Jagd auf Verbrecher. Es gefiel ihm, wie diese bis zur letzten Sekunde in ihrem Versteck blieben und dann plötzlich in die Luft schossen und ihm nur den Bruchteil einer Sekunde Zeit ließen zu zielen. Natürlich nicht mit einer Pistole, sondern mit seiner Remington. Aber er hatte seine Schrotflinte zurücklassen müssen. Für die Verfolgung von Verbrechern brauchte er sein Gewehr. Er rückte die 1895er-Winchester, die in einer langen Gewehrtasche auf der linken Seite seines Pferdes steckte, zurecht und hielt dann nach weiteren Vögeln Ausschau.
Er hatte Comer genauso aufgescheucht wie die Wachtel. Dreimal. Aber jedes Mal hatte Comer entweder gewusst, dass er kam, oder er hatte göttlichen Beistand gehabt. Jedenfalls befand sich Luke deshalb jetzt in dieser unerfreulichen Situation.
Er seufzte tief. Es wäre nicht so schlimm, wenn die Männer sich wie eine typische Bande gemeinsam am selben Ort verkriechen würden. Dann hätte er sie nur aufspüren und verhaften müssen.
Aber nichts an Comer war typisch. Er ließ sich Zeit. Er dachte voraus. Und er hatte die Unterstützung der Bürger.
Er verteilte seine Männer in der ganzen Gegend. Er sorgte dafür, dass sie ihre Felder bestellten, bis sich nach jedem Überfall der Staub wieder ein wenig gelegt hatte.
Luke verlagerte sein Gewicht im Sattel. Soweit er wusste, waren sie schon die ganze Zeit Farmer gewesen. Vielleicht lebten sie seit Generationen in Washington County und kehrten nach jedem Raubüberfall in ein warmes, gemütliches Zuhause zurück.
Die Männer, die er beim letzten Raubüberfall gefasst hatte, hatten nicht viel verraten, aber das erklärte auf jeden Fall, warum es ihm so schwerfiel, das Versteck zu finden. Das einzige Mal, als er sie fast erwischt hätte, war direkt nach einem Überfall gewesen.
Ihm bliebe nichts anderes übrig, als sich bei jedem Farmer in der Gegend einzuschmeicheln. Er müsste sich zu ihnen setzen, Kaffee trinken und sich über Belanglosigkeiten unterhalten, bis die Leute ihm so weit vertrauten, dass sie ungezwungen über sich selbst und ihre Nachbarn plauderten. Das würde mindestens den Frühling und vielleicht sogar den Sommer in Anspruch nehmen.
Er rieb sich die Augen. Telefonvertreter. Er hasste Telefone. Er hasste jede Form von Kommunikation, bei der man von Geräten abhängig war, die von Menschen gemacht worden waren. Er erinnerte sich noch ganz genau daran, wie es in seiner Heimatstadt Indianola ausgesehen hatte, nachdem sie von einem der größten Wirbelstürme getroffen worden war, die die Vereinigten Staaten je erlebt hatten. Bäume waren entwurzelt worden. Ganze Gebäude waren verschwunden. Telegrafenleitungen zerstört. Es war unmöglich gewesen, mit Pferden durchzukommen. Und vier Kilometer Eisenbahnschienen waren zerstört worden. Ein Bild von kompletter Zerstörung bot sich damals.
Aber nichts davon hatte Captain Heywood, der damals noch ein junger Ranger ganz am Anfang seiner Berufslaufbahn gewesen war, aufhalten können. Luke war zehn Jahre alt gewesen, als Heywood groß und stocksteif im Sattel gesessen hatte und langsam durch den Schutt geritten war, der noch eine Woche zuvor eine blühende Küstenstadt gewesen war. Er hatte beim Aufräumen geholfen. Er hatte den Verwundeten geholfen. Und er hatte geholfen, Lukes Vater zu beerdigen, der bei der Tragödie sein Leben verloren hatte.
Jetzt musste Luke nicht nur die Menschen dafür begeistern, ihr Geld in diese neuen Bauernfängereien zu investieren, er musste auch noch Zeit mit Nettigkeiten und geselligem Geplauder vergeuden. Es gab wohl nichts, das der Natur von Lucious Landrum so sehr widersprach.
Regel 11: Seien Sie höflich und zuvorkommend, und scheuen Sie sich nicht, gelegentlich ein wenig humorvoll zu sein. Es schadet niemandem, wenn er ein wenig Humor an den Tag legt.
Der junge Mann zügelte seine Stute ein wenig, ritt über die Eisenbahnschienen und blieb schließlich vor dem Bahnhof stehen.
Im Inneren des kleinen Schindelgebäudes bestanden alle Oberflächen aus polierter Eiche – die Wände, der Boden, die Dachbalken, die Bank. Zwei Fahrkartenschalter, die sich direkt gegenüber der Eingangstür befanden, waren mit mehreren vertikalen Holzgitterstäben versperrt. Aber niemand stand dahinter.
Rechts von ihm drängte sich eine Gruppe von Jungen zwischen fünf und zwölf Jahren um ein Telefon, das an der Wand befestigt war. Die Hand des größten Jungen verschloss den Sprechtrichter, der Hörer befand sich irgendwo in ihrer Mitte. Plötzlich lachten und kicherten alle laut, aber im nächsten Augenblick ermahnten sie sich wieder gegenseitig zum Schweigen.
Luke schmunzelte belustigt. Wer auch immer gerade telefonierte, der Inhalt seines Gespräches würde innerhalb weniger Minuten in der ganzen Stadt bekannt sein.
Ein neuerlicher Lachanfall ließ die Jungen nach hinten taumeln, wodurch dem größten der Sprechtrichter aus der Hand glitt. Mehrere hielten sich den Bauch und krümmten sich vor Lachen. Einer warf sich in dem Versuch, die anderen zu übertrumpfen, auf den Boden. Das schallende Gelächter hallte von den Bahnhofswänden wider.
Grinsend trat Luke auf den Fahrkartenschalter zu, um nach dem Weg zu fragen. Bevor er jedoch dort ankam, flog die Eingangstür auf. Ein Mädchen von ungefähr neun Jahren stapfte herein.
„Jungs! Es reicht!“ Sie baute sich in ihrer hochgekrempelten, weiten Latzhose breitbeinig und mit den Fäusten in die Hüften gestemmt vor ihnen auf. Wenn er die schmutzigen Zöpfe, die auf ihren Schultern lagen, nicht gesehen hätte, hätte er wahrscheinlich gar nicht gemerkt, dass er ein Mädchen vor sich hatte.
Die Kleine marschierte in die Gruppe hinein und stieß sie zur Seite, als wären sie die Schwingtüren zu einem Saloon. Die Jungen, die immer noch lachten, ließen sich von ihr herumstoßen … bis sie versuchte, dem ältesten Jungen den Hörer aus der Hand zu nehmen. Er hob sofort den Arm hoch, damit sie nicht an den Hörer herankommen konnte.
„Gib mir den Hörer, Kyle!“
„Komm doch und hol ihn dir, Bettina!“
„Miss Georgie schickt mich. Gib ihn mir!“
Luke warf einen Blick zum Fahrkartenschalter. Ein alter Mann mit Brille und buschigen, weißen Brauen verfolgte die Szene, unternahm aber keine Anstalten, dem Mädchen zu helfen. Die Herausforderung des Jungen schien ihn höchstens zu belustigen.
Bettina schob sich erregt einen Zopf auf den Rücken. „Ich komme auf jeden Fall ran und hole mir dieses Ding. Du weißt, dass ich das kann.“
„Dann zeig mir doch, wie du das anstellen willst.“
Das Gelächter verstummte. Luke spannte sich an.
Der Junge war dürr wie eine Bohnenstange und hatte offenbar einen kräftigen Wachstumsschub hinter sich. Eine winzige Ansammlung von Barthaaren spross an seinem Kinn und an den Stellen, an denen irgendwann Koteletten wachsen würden. Das war kein kleiner Junge mehr; dieser Junge stand kurz davor, ein Mann zu werden.
Luke trat auf die Gruppe zu. „Diese kleine Dame hat dich aufgefordert, ihr das Telefon zu geben, Junge.“
Kyle fuhr herum. Genauso wie die anderen Jungen. Offensichtlich hatte keines der Kinder bis jetzt seine Anwesenheit bemerkt.
„Wer sind Sie denn?“
„Mr Palmer. Ich arbeite für die Telefongesellschaft.“ Er zwang sich, seine Schultern zu entspannen und seinen Ton zu mäßigen, und setzte ein freundliches Lächeln auf. „Ich werde mit Miss Gail zusammenarbeiten. Und wenn sie sagt, dass ihr auflegen sollt, dann denke ich, müsst ihr auflegen.“
„Ich brauche Ihre Hilfe nicht, Mister“, brummte Bettina. „Ich kann mich selbst durchsetzen.“
Er wandte den Blick nicht von Kyle ab. Der Junge zögerte. Luke sah ihm an, dass er nicht sicher war, auf wen er hören sollte.
Tu es nicht, dachte Luke. Ich soll nett sein. Ich muss nett sein.
Der Junge hob das Kinn. „Die Kurze hat recht, Sir. Das geht Sie nichts an.“
Schneller als eine Klapperschlange schnappte sich Luke den Hörer und reichte ihn dem Mädchen. „Danke, Kyle. Und ich glaube, die ‚Kurze‘ heißt Bettina. Ich würde vorschlagen, dass du sie mit ihrem Namen ansprichst.“
Ein bewunderndes Raunen ging durch die Reihe. Luke tadelte sich im Stillen. Er hatte nicht so schnell sein wollen. Er entwaffnete schon so lange Männer, dass er nicht einmal mehr nachdachte. Er handelte einfach.
Gott sei Dank waren nur Kinder und ein alter Mann Zeugen seiner Schnelligkeit gewesen. Falls sie diese Episode weitererzählten, würde jeder annehmen, dass sie nur übertrieben.
Er ließ seinen Blick über die Gruppe schweifen. „Schluss mit lustig, Jungs. Verschwindet jetzt. Ich werde euch sicher bald wieder in der Stadt sehen.“
Die Jungen schauten ihren Anführer an.
„Kommt, Leute. Hier drinnen stinkt es so sehr, dass es selbst in einem Stall besser riecht.“
Sei nett. Du musst nett sein.
Luke ließ ihn unversehrt zur Tür hinausgehen, dann wandte er sich an Bettina.
„Ich hätte mir den Hörer auch selbst geholt“, knurrte sie mit finsterer Miene.
„Davon bin ich überzeugt, aber ein Gentleman steht nicht tatenlos daneben, wenn eine junge Dame unfreundlich behandelt wird.“
Sie schnaubte. „Ich bin keine Dame. Das weiß hier jeder. Ich bin nur der Balg eines Säufers.“
Es kostete ihn viel Mühe, keine Reaktion zu zeigen, und er rief sich ins Gedächtnis, dass sie nur wiederholte, was man ihr zweifellos unzählige Male gesagt hatte. „Für mich bist du eine Dame.“ Er sah auch, dass sie zu klein war, um den Hörer auflegen zu können. „Soll ich den Hörer für dich auflegen?“
„Das kann ich selbst.“
Er seufzte. „Das weiß ich, aber es wäre mir eine Ehre, wenn ich dir helfen dürfte.“
Sie runzelte die Stirn. „Sie gehören nicht zu den Erwachsenen, die nicht ganz richtig im Kopf sind, oder?“
Luke streckte die Arme aus, um sie hochzuheben, hielt aber abrupt inne, als sie zurückwich und sich schützend die Arme über den Kopf hielt.
Ihr Vater war also nicht nur ein Trinker, er schlug seine Tochter offensichtlich auch. Luke musste sich ein anderes Vorgehen ausdenken.
Er verschränkte die Finger und hielt sie ihr als Steighilfe hin. „Wie wäre es mit einem Steigbügel?“
Die Kleine ließ langsam die Arme sinken und stellte dann einen schmutzigen Stiefel, der ihr zwei Nummern zu groß sein musste, in seine Hände.
Er hob sie hoch und sie legte den Hörer auf die Gabel. Sobald er sie wieder herabgelassen hatte, zog sie ihren Fuß zurück und lief zur Tür hinaus.
Er warf einen Blick auf den Fahrkartenverkäufer. Der Mann schob ein Stück Kautabak von einer Backe in die andere, dann wandte er den Kopf zur Seite und spuckte aus.
Luke trat an das Schalterfenster, holte tief Luft und erkundigte sich nach dem Weg zur Cottonwood Lane.
Kapitel 3
Telefonzentrale.“ Georgie schob ihren Stuhl näher an den Klappenschrank heran, der einem sehr schmalen, hochkant stehenden Klavier ähnelte, doch an der Stelle, an der bei einem Klavier das Notenblatt lag, befand sich ein schwarz eingerahmtes Netz aus Buchsen und runden Metallplatten. An der Stelle der Klaviatur war der Schrank von einem Wald an Steckern und Kippschaltern übersät.
Sie sprach in einen Sprechtrichter, der an einer Seilrolle hing, stellte seine Höhe richtig ein und nahm einen Bleistift zur Hand. Nummer zwölf war das Telefon des Arztes.
„Von Hardenberg hier, Georgie. Ich mache jetzt einen Hausbesuch bei Mrs Blesinger, dann fahre ich bei den Schultes und den Zientiks vorbei. Ich müsste gegen drei Uhr wieder hier sein.“
Die junge Frau schrieb seine Termine auf. „Ich habe alles notiert. Würden Sie Mr Schulte bitte ausrichten, dass das Postamt angerufen hat und er in den nächsten Tagen ein Paket abholen soll?“
Ding.
„Das kann ich gern machen. Bis später.“
Sie zog das Kabel aus Nummer zwölf und steckte es in Nummer zweiundzwanzig. „Telefonzentrale.“
Ding. Sie warf einen Blick auf ihr Brett. Die Klappe von Nummer fünfzehn fiel auch nach unten.
„Ruf mich in der nächsten Zeit bitte nicht an, Georgie. Mein Baby macht endlich seinen Mittagsschlaf.“
„Gut. Vielleicht sollten Sie sich auch ein wenig ausruhen, Mrs Bargus. Ich stelle jedenfalls keine Gespräche zu Ihnen durch. Vergessen Sie nicht, mir Bescheid zu geben, wenn Martie Junior wieder wach ist.“
Sie stöpselte Mrs Bargus aus und schaltete Nummer fünfzehn ein. „Telefonzentrale.“
„Können Sie mir Agnes ans Telefon holen, Georgie? Ich muss unbedingt wissen, was sie in ihre Tomatensülze rührt. Sie schmeckt köstlich …“
Ding. Nummer acht.
„… ich kriege meine nie so hin. Sie hat sie am Dienstagmorgen zum Frauenlesekreis mitgebracht. Wir lesen ‚Der letzte Mohikaner‘, wissen Sie, und fingen gerade an, über die Stelle zu sprechen, an der die Mädchen von Indianern gefangen werden, als ich ein Stück von Agnes’ Sülze in den Mund steckte. Es war einfach himmlisch. Ich habe danach kein Wort mehr …“
Ding. Georgie legte die eine Hand auf einen Kippschalter und die andere auf einen Stecker, dann ließ sie den Blick über die Buchsenreihe auf ihrem Klappenbrett gleiten. Über jeder Buchse befand sich eine winzige, bewegliche Platte, die nicht größer war als eine Fünf-Cent-Münze. In jede Platte war eine Nummer eingraviert. Sobald jemand anrief, fiel die Klappe nach unten, beziehungsweise die Platte ging auf und zeigte Georgie damit an, wer gerade anrief. Im Moment war das Nummer acht.
„… gehört. Ich sage Ihnen, Sie haben etwas in Ihrem Leben verpasst, wenn Sie nicht …“
„Mrs Oodson, entschuldigen Sie, dass ich Sie unterbreche, aber …“
„… Agnes’ Sülze probiert haben. Natürlich kommen ihre Maisklößchen nicht an meine heran. Meine sind außen knusprig und innen ganz weich. Das Geheimnis kann ich Ihnen gern verraten. Es ist …“
Ding.
Georgie atmete tief ein. „Einen Moment, Mrs Oodson.“
Sie brachte den Kippschalter in die neutrale Stellung, dann nahm sie einen Stecker, rollte das Kabel ab und steckte ihn in Nummer acht.
„Bitte warten Sie einen Moment. Ich bin sofort für Sie da.“
Sie stellte den Schalter von Nummer acht in die Mittelposition, dann nahm sie ein Kabel aus demselben Schaltkreis wie Mrs Oodsons. Sie steckte es in Nummer fünfundzwanzig, zog den hinteren Schalter zurück und drehte die Kurbel, dass es einmal lang und zweimal kurz klingelte.
„Hallo?“
Georgie schob den Schalter vor und ermöglichte es damit sich selbst und den zwei Frauen, deren Verbindung sie hergestellt hatte, sich gegenseitig zu hören. Mrs Oodson hatte ohne Pause weitergesprochen.
„… trug ein furchtbares Rot. Ich verstehe nicht, warum Frauen mit orangefarbenen Haaren darauf bestehen, Rot zu tragen. Haben diese Frauen denn keinen Spiegel? Es ist einfach …“
„Hallo?“, wiederholte Agnes.
„Hier kommt ein Gespräch für Sie.“ Georgie stellte den Kippschalter auf neutral und behielt damit die Verbindung zwischen den zwei Frauen bei, klinkte sich selbst aber aus dem Gespräch aus.
Sie kehrte zu Nummer acht zurück und schob den Schalter für diese Verbindung vor. „Entschuldigen Sie, dass Sie warten mussten. Telefonzentrale.“
„Wie viel Uhr ist es, Georgie?“, erklang Burch Leathermans tiefe Stimme. „Meine Uhr ist wieder stehen geblieben.“
Sie schaute auf ihre Ansteckuhr. „Bei mir ist es elf Uhr dreiundfünfzig, Sir.“
„Gut. Danke.“
Sie zog das Kabel heraus, deaktivierte den Schalter, lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und rieb sich unter dem Kopfhörer das Ohr. Für einen Donnerstag herrschte heute sehr viel Betrieb. Die Damen begannen normalerweise nicht vor zehn, miteinander zu telefonieren, aber heute hatten sie früh angefangen und telefonierten seitdem pausenlos. Allerdings müssten sie bald das Mittagessen auf den Tisch bringen und Georgie hätte in der nächsten Stunde ein wenig Luft.
Die junge Frau wischte mit einem Staubtuch um die zehn Schalterverbindungen auf ihrem Klappenschrank herum. Jedes Paar stellte eine Verbindung her: Ein Kabel verband die erste Person, das nächste Kabel die zweite. Von ihren zehn Verbindungen waren im Moment sechs in Betrieb. Die überkreuzten Kabel erinnerten an riesige rote Regenwürmer, die sich vom Tischteil ihres braunen Eichenklappenschranks zu den Buchsen auf der Rückwand erstreckten.
Falls die übrigen auch noch telefonieren wollten, müsste sie das Gespräch von Fred und Birdie unterbrechen. Das junge Liebespaar war schon den ganzen Vormittag am Telefon und sorgte für große Erheiterung bei den Jungen unten am Bahnhof.
Sie fragte sich, ob Bettina es geschafft hatte, sie vom Telefon zu vertreiben. Georgie zog den Schalter von Nummer eins zurück und aktivierte ihren Hörer, aber nicht ihren Sprechtrichter.
„… hättest sehen sollen, was Chili mit der Schlinge des Hundefängers gemacht hat“, sagte Birdie gerade. „Er warf sie über den Hund, aber statt wegzulaufen, machte sie Männchen, und dadurch konnte er sie nicht festziehen.“
„Diese Chili ist ein schlaues Kerlchen“, antwortete Fred.
Die Verbindung war jetzt viel deutlicher und lauter als vorher, was bedeutete, dass weniger Leute zuhörten. Georgie stellte den Schalter wieder auf neutral und lächelte. Das war auch eine Möglichkeit, sich ein wenig Privatsphäre zu verschaffen: Man musste einfach so lange sprechen, bis es den anderen irgendwann zu viel wurde und sie auflegten.
Sie legte die Hände an ihren Rücken, streckte sich und warf einen Blick aus dem riesigen Fenster in ihren Garten. Die rosa Akeleien hatten gerade angefangen zu blühen und lockten Vögel, Bienen und Schmetterlinge an. Ein Kolibri schwebte mit rubinrotem Hals über einer glockenähnlichen Blüte der Akelei und saugte ihren süßen Nektar.
Georgie tastete blind nach ihrem Opernglas und stellte es auf den Vertreter der kleinsten Vogelart der Welt scharf. Als ahne er, dass er ein Publikum hatte, flog das verspielte Männchen seitlich, dann rückwärts und blieb schließlich mitten in der Luft stehen, bevor es aus ihrem Blickfeld verschwand.
Ehrfurcht und Freude erfüllten sie. Der Winter hatte Abschied genommen und machte dem Frühling Platz. Sie hoffte, er würde noch mehr Vögel in ihren Garten locken als im vergangenen Jahr.
Sie versuchte, ihren Garten mit den Augen eines Vogels zu betrachten. Er bot viel freien Himmel zum Fliegen und Jagen. Aber umrahmt wurde er von Bäumen, Büschen, Ranken und Bodendeckern, die dafür geschaffen waren, Vögel anzulocken.
Nadelbäume für die Grackeln, Stechpalmen für die Singvögel, mexikanische Pflaumen für die Obstvögel. Geißblatt und Jungfernreben für eine ganze Reihe ihrer gefiederten Freunde. Wilder Roggen für den Bau von Nestern. Und auf einem anderthalb Meter hohen Pfosten ein selbst gebastelter Brutkasten mit einem abgerundeten Eingang und Platz auf beiden Seiten. In nur wenigen Monaten hätte eine glückliche Vogelfamilie hier ein gemütliches, ungestörtes Zuhause, um ein Nest zu bauen. Sie war gespannt, welche Vogelart es dieses Mal wäre.
Unter ihrer hinteren Veranda hingen abwechselnd Behälter mit Zuckerwasser und Vogelfutter. Im gesamten Garten verteilt befanden sich drei verschiedene Vogelbäder, da junge Vögel vor allem an Wassermangel starben. Die junge Frau hatte sogar Gewächse angepflanzt, die Insekten in ihren Garten lockten, da sie wusste, dass sie für ihre Vögel eine wichtige Futterquelle waren.
Sie legte ihr Opernglas auf die Ecke des Klappenschranktisches zurück. Dann zog sie einen Kippschalter nach dem anderen zurück, um zu überprüfen, ob noch jemand in der Leitung war. Alle hatten aufgelegt, selbst Fred und Birdie hatten ihr Gespräch endlich beendet. Die junge Frau zog ein Kabel heraus und aktivierte ihre von einer Feder betriebene Rolle, die sie unter der Tischplatte aufrollte, sodass nur der Metallschalter sichtbar war. Als alle Kabel wieder einsatzbereit waren, warf sie einen Blick auf ihre Uhr. Mittagspause.
❦
Luke betrachtete den riesigen Telegrafenmast, der vor dem schlichten Häuschen in der Cottonwood Lane stand. In alle Richtungen gingen dicke Kabel ab. Aber alle hatten ihren Ursprung im Dach dieses Hauses. Er vermutete, dass sie zum Klappenschrank in diesem Cottage führten.
Er band Honey Dew an die Pferdestange und trat durch das Gartentor ein. Eine überdachte Veranda führte um das kleine, gelbe Schindelhaus herum und bot Platz für eine grüne Bank rechts neben der Tür und zwei Rattanschaukelstühle und eine Verandaschaukel auf der linken Seite. Ein Eichhörnchen saß auf einem Gartenstuhl unter einer riesigen Eiche auf den Hinterbeinen und zog die Nase kraus.
Luke fragte sich, ob die Telefongesellschaft auch die Gartenmöbel stellte. Bei der Vorbereitung auf seine verdeckten Ermittlungen hatte er zu seiner Überraschung festgestellt, dass die SWT&T ihren Telefonistinnen auf dem Land ein komplett möbliertes Haus zur Verfügung stellte. Er konnte verstehen, dass man das für eine verheiratete Frau tat, aber für eine unverheiratete junge Frau?
Eine solche Selbstständigkeit war ungewöhnlich, selbst bei einer Frau, die schon so alt war wie Miss Gail. Laut seinem Bericht war sie zwanzig und unverheiratet. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, warum sie wohl noch unverheiratet war.
Er rückte seinen Hut zurecht und stieg die Stufen hinauf. Die Haustür stand offen und ihn trennte nur eine Fliegengittertür von ihr.
Luke klopfte. Keine Bewegung, kein Geräusch. Er konnte sehen, dass die Tür zu einem großen Wohnbereich führte.
Er klopfte erneut. „Hallo? Ist jemand zu Hause?“
Nichts. Er trat ein Stück zurück und lugte durch das große Fenster über der grünen Bank, das ihm einen Blick in das große Zimmer eröffnete. Dann ging er um die Schaukelstühle auf der linken Seite herum und spähte durch ein offenes, kleineres Fenster.
Spitzenvorhänge wehten im Wind und gaben einen Moment lang den Blick auf ein Bett, einen Waschtisch und einen Kleiderschrank frei. Er richtete sich schnell wieder auf, obwohl dafür keine Notwendigkeit bestand. Im Schlafzimmer war niemand.
Seufzend ließ er seinen Blick die Straße hinauf und hinab wandern. Ihr Haus war eindeutig das kleinste in der Straße. Schräg gegenüber und drei Grundstücke weiter stand die Kirche. Aber dort war niemand zu sehen und auch sonst nirgends.
Honey Dew schlug mit dem Schweif und bewegte langsam den Kopf.
Er kehrte zur Tür zurück und klopfte ein weiteres Mal. Dann späte er durch die Fliegengittertür. Eine Fensterreihe säumte die gesamte Südseite des Wohnzimmers. Ihm gegenüber standen ein großer, mit Unterlagen beladener Schreibtisch, der Klappenschrank und ein verschlossener Kasten. Vielleicht befanden sich darin ja all die Kabel?
In der Mitte der westlichen Wand stand ein gemauerter Kamin mit Bücherregalen zu beiden Seiten. Er zog die Brauen in die Höhe. Die SWT&T versorgte sie doch bestimmt nicht auch noch mit Büchern. Aber woher sollten diese ganzen Bücher sonst kommen? Sollte sie Miss Gail alle selbst angeschafft haben?
Ein Polstersofa, ein Sessel und ein Schaukelstuhl füllten die Mitte des Raumes aus und waren alle auf den Kamin ausgerichtet.
Kein Teppich, keine Wandbehänge. Kein Nippes auf dem Kaminsims. Keine unzähligen kleinen Gegenstände, die jedes Wohnzimmer, das er bisher gesehen hatte, ausfüllten.
Er runzelte die Stirn. Die Telefongesellschaft hatte berichtet, dass sie von der Vermittlungszentrale in Dallas gesandt worden sei und seit über einem Jahr hier wohne. Er hätte erwartet, dass sie dem Haus inzwischen eine weibliche Note verliehen hätte.
Der junge Mann richtete sich auf und schlug nach einer Mücke, die an seinem Ohr summte. Vielleicht sollte er einmal hinter dem Haus nachsehen. Er war schon auf halbem Weg um das Haus herum, als ihm der Gedanke kam, dass sie vielleicht auf der Toilette sein könnte.
Er verlangsamte seine Schritte und spähte vorsichtig um die Ecke. Falls sie gerade vom Toilettenhäuschen käme oder dorthin unterwegs wäre, würde er schnell zur Straße zurückeilen und sich dem Haus von Neuem nähern.
„Verdammt noch mal, Ivan!“ Die schneidende Stimme einer Frau erklang. „Ich hatte dir doch gesagt, dass du dich hier nie wieder blicken lassen sollst. Wie oft muss ich dir das noch sagen?“
Luke erstarrte. Ein ungebetener Verehrer? Eine Frau, die allein lebte, war leichte Beute. Er ging hinter einem riesigen Holunderbusch in Deckung und bewegte sich langsam und geräuschlos weiter.
„Ich habe es satt, dass du immer mit heraushängender Zunge ankommst und dir der Geifer aus dem Maul läuft. Mir reicht es. Hörst du? Es reicht.“
Luke hielt abrupt inne. Was für eine Frau sagte so etwas? Es gab nur eine Art von Frauen, die solche Worte zu einem Mann sagten. Und diese Frauen wohnten nicht in einem anständigen Haus in einer ehrbaren Wohngegend.
„Verschwinde.“ Ihre Stimme stieg um eine Oktave höher. „Nein! Fort!“ Bumm. „Das ist mein Ernst. Fort mit dir!“ Bumm. Bumm.
Luke machte einige schnelle Schritte, nahm den Hut ab und spähte um die Ecke.
Eine kleine, schlanke Frau hielt mit einer Hand den Saum ihres braunen Rockes hoch und schwang mit der anderen einen Besen.
„Ich will dich hier nie wieder sehen“, schimpfte sie und sprang über ein Beet mit rosa Blumen. „Mist, wieder nicht getroffen.“
Er bewegte sich langsam vom Haus weg. Wen oder was auch immer sie hier schlug, es war jedenfalls kein Zweibeiner.
„Fort!“ Sie holte aus.
„Rrraaarr!“ Eine rotbraune Katze erreichte springend den Rand des Gartens. Die Frau war ihr dicht auf den Fersen.
„Such dir dein Mittagessen woanders, Ivan! Hier gibt es für dich nichts zu holen!“ Sie holte aus und verfehlte die Katze erneut. „Niemals! Hörst du?“
Ivan sprang auf den Stamm eines Holunders, dann auf einen Zaun und auf die andere Seite hinüber.
„Verschwinde!“, rief sie und drohte ihm mit der Faust. „Denn wenn ich dich das nächste Mal hier erwische, schieße ich mit einer Steinschleuder nach dir. Du wirst schon sehen!“
Luke rieb sich mit der Hand über den Mund. Was zum Kuckuck hatte diese Frau gegen Katzen?
Sie stand mit dem Rücken zu ihm da, eine blonde Strähne fiel über ihre Schulter, während sie den Besengriff so fest umklammerte, dass ihre Knöchel weiß hervortraten.
Die junge Frau schaute zum Baum hinauf und hielt sich die Hand schützend über die Augen. „Jetzt ist alles wieder gut, meine Kleinen. Ihr könnt herauskommen.“
Ah! Dort oben saßen ein paar Kinder, die Angst vor Katzen hatten.
Aber niemand antwortete auf ihren Ruf. Es war kein Blätterrascheln zu vernehmen. Er trat ein paar Schritte vor. Erst jetzt fiel ihm auf, wie faszinierend ihr Garten war.
Auf den ersten Blick sah es fast so aus, als wäre er willkürlich angelegt worden. Aber bei genauerer Betrachtung fiel ihm auf, dass nichts in diesem Garten willkürlich war. Er sah eher aus wie ein gut arrangiertes Orchester: Ganz vorne, wo bei einem Orchester die Saiteninstrumente waren, standen Blumen. Hohes Gras an der Stelle der Holzbläser. Sträucher am Platz der Posaunisten. Von Ranken überwucherte Zäune an der Stelle der Schlaginstrumente. Und dazwischen verstreut mittelgroße Bäume. Am Rand des Gartens bildeten drei riesige, Schatten spendende Bäume die Kulisse.
Sie trat zum Holunderstrauch, lehnte den Besen an den Stamm und steckte dann ihre zwei kleinen Finger in den Mund.
Tschiiio … wiet wiet wiet wiet. Tschiiio, tschiiio, tschiiio … wiet wiet wiet wiet.
Seine Kinnlade fiel nach unten. Ihr Pfiff war kräftig, laut und klang genauso wie irgendein Vogel, den er schon tausendmal gehört hatte. Er hatte keine Ahnung, was es für ein Vogel war. Er würde ihn nicht erkennen, selbst wenn er ihn sähe. Aber diesen Gesang hatte er eindeutig schon gehört. Schon sehr oft.
Sie wiederholte ihren Pfiff und zu seinem Erstaunen bekam sie eine Antwort. Sein Blick wanderte zu den Zweigen des Baumes, aber er sah nichts.
Lachend stemmte sie die Hände in die Seiten, legte den Kopf in den Nacken und hob das Kinn. Ein leichter Wind bewegte die Haare, die sich aus ihrem Knoten gelöst hatten.
„Mach dir keine Sorgen, mein Süßer“, sagte sie. „Ich habe diese böse alte Katze verjagt. Dir kann jetzt nichts mehr passieren.“
„Das ist gut“, sagte Luke mit einem breiten Akzent. „Es beruhigt mich sehr, das zu hören. Danke.“
Mit einem erschrockenen Kreischen fuhr sie herum. Ein Vogel flatterte aus dem Holunderstrauch, aber Luke schenkte ihm keine Beachtung. Es interessierte ihn nicht mehr, welcher Vogel diesen Ton von sich gegeben hatte.
„Ich habe nicht mit Ihnen gesprochen“, keuchte sie.
Er setzte seinen Hut wieder auf. „Wirklich nicht?“
„Nein.“ Sie stand zwischen mehreren Salbeipflanzen, deren kräftig rote Blüten eine ein Meter hohe Hecke um sie herum bildeten.
Er schlenderte näher zu ihr hinüber. „Sie müssen Miss Gail sein.“
„Das stimmt. Und wer sind Sie?“
„Luke Palmer. Ich soll hier in der Gegend die Telegrafenleitungen reparieren.“
„Oh!“ Sie ging um den Salbeistrauch herum, strich hastig ihren Rock glatt und steckte die Bluse ordentlich in den Rock. „Ich habe nicht … ich wusste nicht … ich …“ Sie brach ab und seufzte laut. „Guten Tag.“
Er tippte an seinen Hut. „Guten Tag.“
„Willkommen in Brenham.“
„Danke.“
Ihre Augen waren grün. Natürlich hatte er schon grüne Augen gesehen. Meistens waren sie ein wenig blau und ein wenig grün. Aber diese Augen waren vollkommen grün wie die einer skandinavischen Göttin, auch wenn dieser Vergleich hinkte, da sie nicht größer war als ein Zwerg. Aber sie hatte trotzdem überall die richtigen Rundungen.
„Wann sind Sie angekommen?“, fragte sie.
„Soeben.“
Sie schlug die Hände zusammen. „Oh, du meine Güte. Sie kommen gerade erst an. Haben Sie schon gegessen?“
„Ja, Ma’am. Ich habe unterwegs gegessen.“
„Oh, verstehe. Gut.“ Die junge Frau schluckte, machte aber keine Anstalten, ihn ins Haus zu bitten. Sie stand nur da und rang die Hände.
Er warf einen Blick in den Garten. „Ein schöner Garten.“
Sie drehte sich zum Garten herum und zeigte ihm dabei ihr Profil. Eine glatte Stirn. Eine Stupsnase. Volle Lippen. Ein kleines Kinn. Einen schlanken Hals.
„Finden Sie?“
Er brauchte eine Sekunde, um sich zu erinnern, wovon sie sprach. Ah ja, der Garten. „Ja.“
Alles an ihr wurde weicher. „Ich hoffe, den Vögeln gefällt er auch.“
Im Bruchteil einer Sekunde erinnerte er sich an Dinge, die er gesehen, aber nicht beachtet hatte: Vogelbäder. Futterhäuschen. Und ein Brutkasten, der einmal eine alte Kiste gewesen war. „Ganz bestimmt.“
Sie drehte sich wieder zu ihm um und lächelte. Er blinzelte. Sie war vorher schon hübsch gewesen, aber wenn sie lächelte, strahlte ihr ganzes Gesicht, besonders ihre Augen. Lachfältchen umrahmten ihre Lippen. Gerade, weiße Zähne leuchteten ihm aus ihrem Mund entgegen. Ein winziges Muttermal links neben ihrer Unterlippe zitterte.
„Gehen wir jetzt lieber hinein, Mr Palmer. Dann kann ich Ihnen zeigen, wo alles ist. Nach der Mittagspause wollen die Leute sich unterhalten und jede Nummer auf dem Klappenschrank wird nach unten fallen.“ Mit leicht schaukelnden Hüften rauschte sie an ihm vorbei.
Dass diese Frau nicht verheiratet war, musste psychische Gründe haben. Denn an ihrer Figur war eindeutig nichts auszusetzen.
Luke nahm den Hut ab und folgte ihr durch die Hintertür ins Haus.
Kapitel 4
Ihre vordringlichste Aufgabe besteht darin, die Leitungen auf den neuen Telegrafenmasten zu verlegen.“ Georgie stand zwischen dem neuen Mitarbeiter und ihrem Schreibtisch.
Sie hatte gewusst, dass er kommen würde, sie hatte nur nicht gewusst, dass er heute eintreffen würde. Jetzt. In dieser Minute. Und er sah ganz anders aus, als sie erwartet hatte.
In Dallas hatte sie viele Monteure gesehen, aber keiner von ihnen war so … männlich gewesen. Die Männer, die sie kannte, beschrieb sie nicht oft mit diesem Attribut. Als sie genauer darüber nachdachte, stellte sie fest, dass ihr kein einziger Mann einfiel, auf den diese Beschreibung zutraf.
Sie neigte den Kopf zur Seite und überlegte genau, warum das Wort bei diesem Mann passte. Wenn sie ihre Vögel beobachtete, notierte sie jede Kleinigkeit. Ihr Blick wanderte zu Mr Palmers Kopf hinauf, um ihn genauer in Augenschein nehmen zu können.
Scheitel: gelockte, braune Haare, die augenscheinlich an diesem Morgen kein Kamm gezähmt hatte. Augen: blau; das Blau eines Indigofinks. Stirn: vollkommen normal. Keine auffallenden Merkmale. Schnabel: betörendes Lächeln, das er in unerwarteten Momenten zeigte. Kinn: kantiges Kinn, das sicher am Ende des Tages eine Rasur vertragen konnte. Kehle: vorstehender Adamsapfel. Brust: ein Körperbau, um den ihn jeder Boxkämpfer beneiden würde. Gefieder: Jeanslatzhose und weißes Chambrayhemd.
Sie seufzte. Nein, es war nicht eine einzelne Sache. Es war der ganze Körper vom Kopf bis zu den Füßen, vom Bauch bis zum Rücken.
„Es tut mir leid“, sagte sie, „aber die Gewinnung neuer Kunden muss warten, bis alle anliegenden Arbeiten erledigt sind.“
„Ich bekomme meine Anweisungen von der SWT&T und nicht von Ihnen.“ Er trat einen Schritt vor, um sie ein wenig in die Enge zu treiben. „Ich wäre Ihnen also dankbar, wenn Sie mir die Liste mit den Personen geben könnten, die einen Anschluss haben.“
Sie bedachte ihn mit einem geduldigen Lächeln. „Sie verstehen mich anscheinend nicht, Mr Palmer. Wir müssen uns zuerst um die Kunden kümmern, die wir bereits haben. Erst dann können wir anfangen, neue Kunden zu gewinnen.“
Er streckte ihr auffordernd die Hand hin. Flügel: schwielig, groß und kräftig.
„Die Liste bitte“, wiederholte er.
„Glauben Sie nicht, dass Sie bessere Chancen haben, neue Kunden zu gewinnen, wenn wir echte Telegrafenleitungen an echte Telegrafenmasten montiert haben und nicht irgendwelche Drähte an Bäume, Zäune und alles, was zufällig gerade zur Verfügung steht, klammern? Meine Güte, einige Leute bekommen ihre Telefonverbindung über einen Stacheldraht.“
Seine Hand blieb unbeweglich dort, wo sie war. „Ich verlege die Leitungen, Miss Gail. Aber jetzt hätte ich gern diese Liste.“
„Ich muss leider darauf bestehen. Zuerst verlegen Sie die Leitungen.“
Ding.
Georgie warf einen Blick auf den Klappenschrank. Nummer neun war nach unten gefallen. Sie unterdrückte ihre Frustration, ging um ihn herum, setzte ihren Kopfhörer auf, steckte ein Kabel ein und schob den Schalter vor. „Telefonzentrale.“
„Hier ist L. J. Ich habe gehört, dass der neue Monteur eingetroffen ist. Kommt er vorbei und holt den Wagen und das ganze Zeug, das die anderen Monteure für ihn hiergelassen haben? Ich brauche wirklich dringend den Platz.“
Sie warf einen Blick auf Mr Palmer. Er strich mit den Fingern über einige Unterlagen auf ihrem Schreibtisch und schob sie auseinander.
„Ich schicke ihn sofort zu Ihnen, Mr Lockett. Ich weiß, dass er es nicht erwarten kann, mit der Arbeit anzufangen.“
Palmer warf ihr einen Seitenblick zu, dann schnüffelte er weiter in ihren Sachen.
Sie zog das Kabel heraus. „Das war der Mietstall. Ihr Materialwagen steht dort, bepackt mit kilometerlangem verzinktem Draht, Isoliermaterial, Klammern, Steigeisen und allem anderen, was Sie brauchen, um anfangen zu können.“
Er ignorierte sie. Eine braune Locke fiel ihm in die Stirn.
„Mr Palmer, wären Sie so freundlich und würden von meinem Schreibtisch weggehen?“
Er schob die Unterlagen zusammen, stellte sie auf und klopfte die Kanten gerade. „Ich glaube, Miss Gail, das ist mein Schreibtisch.“
Sie versteifte sich. „Wie bitte? Dieser Schreibtisch gehört …“
„… der ‚Southwestern Telegraph & Telephone Company‘. Und die hat mich beauftragt, die Rechnungsstellung, das Kassieren der Gebühren und die Abwicklung der Beschwerden zu übernehmen. Da sich das Büro der SWT&T hier befindet, ist es nur sinnvoll, dass hier auch die Rechnungsstellung, das Kassieren und die Abwicklung der Beschwerden bearbeitet werden. Somit ist das jetzt mein Schreibtisch, Miss Gail.“
Man hatte ihr mitgeteilt, dass er diese Aufgaben übernehmen sollte, aber sie hatte nicht die Absicht, ihm diese Aufgaben und ihren Schreibtisch auch zu überlassen. Als sie Mr Marshall im Büro in Dallas darauf angesprochen hatte, hatte er geschmunzelt. „Natürlich wird er das alles übernehmen“, hatte er gesagt. „Wenn ein Mann vor Ort ist, sind wir nicht länger auf eine Frau angewiesen.“
Allein schon für diese Worte hätte sie ihm am liebsten die Federn gerupft.