Die Entdeckung der Magierin - Anna Bock - E-Book

Die Entdeckung der Magierin E-Book

Anna Bock

4,8

Beschreibung

„Die Königin der Kelche ist zurückgekommen!“ Dieser Satz ihres sonst eher schweigsamen Patienten lässt die Psychologin Chiara nicht mehr los. Unversehens gerät sie in ein Verwirrspiel aus seltsamen Todesfällen im Sängermilieu, während ihre Freundin Conny sie verführt, sich mit Tarot und Oper zu beschäftigen. Für Chiara tun sich völlig neue Welten auf und sie findet bislang ungeahnte Wege, mit schweren Fällen und den Herausforderungen ihres eigenen Lebens umzugehen.

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INHALT

Die Königin der Kelche

Der schweigende Taucher

Starke Frauen

Kartenspiele

Der Facebook-Freund

Der Eisbach

Grand opéra im Café Dernière

Die neue Buchhandlung

Im Labyrinth der Freundschaft

Irrungen, Wirrungen

Briefgeheimnisse

Kaffeehausgeschichten

Streit um Tosca

Fluchtwege

Brunnenbekenntnisse

Die Fahrt über den Bodensee

Die letzte Karte

Die Entdeckung der Magierin

Die Autorin

1

DIE KÖNIGIN DER KELCHE

Chiara saß auf ihrer Lieblingsbank am Weißenburger Platz. Sie blickte auf den prächtigen Brunnen, als plötzlich mit der Fontäne eine Frau aus dem Wasser emporstieg. Sehr groß, sehr schön, sehr sexy – doch wie aus einer anderen Zeit stammend: Ihre Bluse war tief ausgeschnitten, ihr Rock geschlitzt, ihre Haltung eher königlich als verführerisch, vor allem stolz. Domina und Göttin. Oben auf dem Brunnen drehte sie sich zunächst schnell um die eigene Achse und wurde dann immer langsamer, bis sie exakt die Geschwindigkeit erreicht hatte, mit der sie gerade noch auf dem Wasser getragen wurde. Ein Wunder der Balance. In jeder Hand hielt sie eine Puppe, denen sie jedoch keine Beachtung schenkte. Als sie die beiden Figuren, die wie unglückliche Marionetten wirkten, ins Wasser warf, schien es, als schüttle sie etwas Überflüssiges ab. Die Puppen zerbrachen. Plötzlich ging ein Ruck durch ihren Körper. Sie hörte auf, sich zu drehen, blieb direkt vor Chiara stehen und blickte ihr ins Gesicht. Erst jetzt begriff Chiara, wie groß die Frau war: mindestens dreimal so groß wie sie. Chiara realisierte die Gefahr, in der sie sich befand: Wenn die Frau endgültig aus dem Gleichgewicht geriet – und das musste in kürzester Zeit geschehen –, würde sie auf sie niederstürzen. Sie wollte aufspringen, aber irgendetwas hielt sie auf der Bank fest. Die übermächtige Frau öffnete lächelnd ihre Arme und kippte langsam vornüber, ihr entgegen. Chiara wusste, sie würde die Umarmung nicht überleben. Dennoch blieb sie reglos sitzen. Sie schloss die Augen.

„Schade, ich hätte gern gewusst, wie ich da herausgekommen wäre“, war Chiaras erster Gedanke, als sie aufwachte. Dass sie es geschafft hätte, daran bestand für sie kein Zweifel. Sie hatte nicht umsonst den Ruf, alle Krisen, die eigenen und die der anderen, zu bewältigen, und sie glaubte selbst daran. Meistens jedenfalls.

Doch heute war es irgendwie anders. Bevor sie überhaupt in den Tag gestartet war, hatte sie schon genug. Es war ja nicht nur ihr Job, in dem sie den Launen ihrer Mitmenschen permanent ausgeliefert war, es war auch das Privatleben. Wenn man es überhaupt als solches bezeichnen konnte. Einmal Psychologin, immer Psychologin. Dabei konnte sie den anderen keine Schuld geben. Sie selbst war es, die die Rollenverteilung bestimmte, das Drehbuch schrieb, in dem sie den Part der Verständnisvollen, Entgegenkommenden übernahm. Und wenn die Szene einen anderen Verlauf zu nehmen drohte, gelang es ihr – manchmal unter großer Anstrengung und mit erheblichem Energieeinsatz –, den Plot umzuschreiben: Dabei zwang sie den anderen regelrecht auf, sich nicht zu beherrschen, sondern ihre Emotionen herauszulassen.

Nicht selten setzte sie sich einem wahren Hagelkonzert an Aggressionen aus – warum? Nicht aus Menschenliebe oder aufgrund eines Helfersyndroms, sondern weil sie die Rolle der Auffängerin liebte. Ja, das war sie, eine Menschenfängerin.

Chiara verließ ihre Wohnung, ohne gefrühstückt zu haben. Sie ging ins Café Dernière. Dort bestellte sie einen Espresso und blickte dem Tiger, der ihr von der Wand aus zähnefletschend zugrinste, lange in die Augen. Das prächtige Tier war auf eine große Holztafel gemalt. Der Besitzer des Cafés hatte ihr erzählt, die Tafel sei Teil eines alten Karussells gewesen. Seither wählte sie immer den Platz gegenüber, wenn er frei war. Ein wildes Raubtier und ein altmodischer Jahrmarkt – die Kombination gefiel ihr.

Noch eine halbe Stunde, dann musste sie sich auf den Weg ins Krankenhaus machen. Ein Patient wartete auf sie. Sie hatte ihn erst einmal getroffen, ein besonders schwieriges Exemplar von Schweigsamkeit und Verstocktheit. Also auch eine besondere Herausforderung. Aber es war ja ihr Job, ungewöhnlich verschlossene Patienten der Psychiatrischen Klinik zum Reden zu bringen. Dazu war sie schließlich vom Chefarzt engagiert worden.

Als freiberufliche Psychologin war es nicht nur hilfreich, sondern sogar überlebenswichtig, mit Institutionen und Ärzten zusammenzuarbeiten, um wenigstens ein gewisses fixes Einkommen zu haben. Seit einiger Zeit verfügte sie über zwei Standbeine: Da war Helena, die Psychotherapeutin, die bestimmte Patienten an sie abtrat, und da war die Klinik, die sie für spezielle Härtefälle des Schweigens einsetzte. Im letzten Jahr hatte das hervorragend funktioniert, aber vor Kurzem hatte ihr Helena eröffnet, dass sie sich aus ihrer Praxis zurückziehen wollte. Sie war Anfang sechzig, machte ihren Job seit dreißig Jahren und hatte genug. Zum Glück auch genug Geld. Sie wollte ihre Zelte in München abbrechen und sich in Berlin niederlassen, wo ihre Schwester lebte. Ihr Sohn war längst erwachsen und pendelte ohnehin schon seit längerer Zeit zwischen München und Berlin.

Chiara gefielen diese Pläne, was ihr jedoch nicht gefiel, waren die Konsequenzen, die sich für sie daraus ergaben. Wie sollte sie in Zukunft an neue Patienten kommen? Sie hatte noch nie für sich und ihre Arbeit geworben, es hatte einfach noch nie die Notwendigkeit dazu bestanden. Das würde nun bald anders werden. Sie zahlte den Espresso, warf einen letzten Blick auf den Tiger und machte sich auf den Weg in die Klinik.

Ihr Patient wartete schon. „Sie ist zurück. Die Königin der Kelche ist zurückgekommen“, sagte er, als sie den Raum betrat und ihn anschaute. Seine Stimme stand in krassem Gegensatz zu seiner Mimik, sie hatte etwas sehr Anziehendes, war wohlklingend und sicher.

Die Königin der Kelche: Wo hatte sie das kürzlich erst gehört? Oder hatte sie es gelesen? Was meinte er damit? Er schaute sie weiterhin an und nickte leise vor sich hin. Also hatte er seine Austernschale nicht gleich wieder verschlossen, es bestand weiter Kontakt zwischen ihnen. Er war es gewesen, der diesen Kontakt hergestellt hatte. Und anscheinend hatte er auf sie gewartet, um ihr seine Mitteilung zu machen. Aber sie wusste, jede falsche oder auch nur unpassende Frage würde diese Verbindung zumindest für heute abschneiden. Was sollte sie tun?

Ihr Handy. Wie dumm, sie hatte vergessen, es auszuschalten. Laut ertönte die Habanera aus der Oper Carmen. Hektisch kramte sie in den Tiefen ihrer Tasche. Gefunden, Knopfdruck, Stille. Damit war die Chance, mit ihm ins Reden zu kommen, für heute wohl vertan. Doch wider Erwarten lächelte ihr Gegenüber: „Meine Kollegen finden es schrecklich, was mit ihrer Musik gemacht wird. Aber mir gefällt es ganz gut.“

Wieder überraschte sie die Souveränität, mit der er sprach. „Sie meinen, dass man die Musik damit entweiht?“, sagte sie, ohne nachzudenken.

„Ja, so ungefähr. Aber mir macht das nichts aus.“ Er lächelte wieder. „So leicht ist Bizet nicht zu entweihen.“

„Sie sind Musiker?“ Chiara fragte nicht als Therapeutin, sondern aus purer Neugier.

„Sänger.“

„Opernsänger?“

„Ja.“

Ah, daher also die Königin der Kelche. Wahrscheinlich handelte es sich um eine Opernfigur. Leider kannte sie sich in dieser Welt zu wenig aus und sie wollte sich auf keinen Fall blamieren. Die Königin der Nacht fiel ihr ein. Sie war auf dem richtigen Weg. Jetzt nur nichts kaputt machen, also bloß nicht weiterfragen.

Doch ihr Patient hatte ohnehin entschieden, dass er für heute genug geredet hatte. Sein Blick sagte ihr, dass die Auster ihre Schale wieder geschlossen hatte, nicht fest und unerbittlich, aber doch ziemlich bestimmt.

Auf dem Heimweg von der Klinik hörte sie ihre Mobilbox ab. Helena musste sie dringend sprechen. Chiara konnte sich den Grund denken. Es war so weit: Die Praxisschließung stand unmittelbar bevor. Nun ließ es sich nicht mehr verdrängen.

Einen Moment lang fühlte sie eine Mischung aus Trauer und Ratlosigkeit, und sie beschloss, erst am nächsten Morgen zurückzurufen. Stattdessen wählte sie die Nummer ihrer besten Freundin. Conny war eine große Opernfreundin, stand stundenlang an, um Karten für die Opernfestspiele zu bekommen, und reiste regelmäßig nach Bregenz, Salzburg und Bayreuth. Erst vor Kurzem war sie spontan für einen Tag nach Venedig gefahren, hatte sich am frühen Abend auf gut Glück vor dem Opernhaus La Fenice aufgestellt und tatsächlich eine Karte für Andrea Chénier ergattert. Seither schwärmte sie bei jedem Treffen von der grandiosen Inszenierung.

„Hi Conny, du musst mir helfen: In welcher Oper kommt die Königin der Kelche vor?“

Conny reagierte mit kreischendem Gelächter. Chiara fragte sich, wie es sein könne, dass ein musikalischer Mensch wie ihre Freundin derart unkontrolliert schrill lachte. „Sag mal, wo lebst du eigentlich?“, stieß Conny atemlos vor Lachen heraus. „Die Königin der Kelche in der Oper – also die müsste noch geschrieben werden! Aber warum eigentlich nicht? Ein faszinierender Gedanke. Schließlich gibt es ja auch eine Pique Dame.“

„Ich versteh nur Bahnhof. Was redest du denn da?“ Chiara war beinahe sauer. Sie mochte es nicht, wenn man sich über sie lustig machte. Da verstand sie keinen Spaß.

„Nun sei doch nicht gleich böse, das passt so überhaupt nicht zu einer Königin der Kelche. Eher zu einer der Stäbe oder Schwerter“, beschwichtigte Conny. „Was machst du gerade? Hast du Zeit? Wollen wir uns treffen?“

Chiara willigte sofort ein. Die Gegenwart der Freundin würde ihr guttun.

Conny bildete das absolute Kontrastprogramm zu all ihren Patienten und Kollegen und Kolleginnen. Sie war der spontanste Mensch, den Chiara kannte. Das rührte vielleicht auch daher, dass sie sich nicht mit festen Arbeitszeiten herumplagen musste. Sie betrieb eine Secondhand-Boutique in der Steinstraße. Wobei die Bezeichnung „betreiben“ ziemlich irreführend war, denn Conny war selten dort. Anfangs war der Laden Montag bis Samstag von 14 bis 19 Uhr geöffnet, aber bald war an der Eingangstür fast immer, wenn Chiara daran vorbeiging, das Schild „Heute ausnahmsweise geschlossen“ zu sehen. Irgendwann hatte sich Conny dann für die Variante „telefonische Anmeldung“ entschieden. „Wie eine Praxis“, hatte sie gewitzelt.

Als Chiara einmal in großer Geldnot war, hatte Conny ihr sofort die notwendige Summe geliehen. Das war das einzige Mal, dass die beiden etwas detaillierter über ihr jeweiliges Einkommen sprachen. Conny hatte damals eine Erbschaft erwähnt, die ihr zwar kein luxuriöses, aber doch ein weitgehend sorgenfreies Leben ermöglichte. Chiara hatte sofort gespürt, dass Conny nicht weiter darüber reden wollte, und daher auch nicht weiter nachgefragt.

„Wo wollen wir hingehen? Was schlägst du vor?“

Conny musste nicht lange überlegen: „Heute gibt es nur eins, das Café Dernière.“

„Ach, da bin ich doch jeden Tag! Heute Morgen war ich auch schon dort.“

„Macht nichts, heute muss es sein. Wir treffen uns aber nebenan in der Buchhandlung. In einer Stunde, okay? Ich muss jetzt Schluss machen.“

Noch ehe Chiara nachfragen konnte, warum um alles in der Welt sie sich mit ihr in der Esoterischen Buchhandlung treffen wollte, war die Verbindung beendet. „Ach, Conny, du weißt doch, dass ich diese Buchhandlung noch nie betreten habe und dass mir der ganze Eso-Kram gestohlen bleiben kann“, sagte sie laut zu sich selbst und wählte noch einmal Connys Nummer, aber die Freundin hatte schon auf Mobilbox geschaltet.

Chiara setzte sich auf dem Weißenburger Platz auf ihre Lieblingsbank, sog die Herbstsonnenstrahlen ein und versuchte sich beim Plätschern des Brunnenwassers zu entspannen. Konnte man sich einen schöneren Ort vorstellen? Der eigenartige Traum von heute Morgen fiel ihr wieder ein. Warum hatte er diesen Brunnen als Schauplatz gewählt? Die Szenerie war so realistisch gewesen – genau wie in diesem Moment. Und irgendwo hatte sie die Frau auch schon einmal gesehen. Der Traum hatte sie beunruhigt und eine Form von Selbstkritik bei ihr erzeugt, die sie nicht mochte. Es war etwas Bedrohliches dabei. Nein, sie wollte sich jetzt nicht weiter damit beschäftigen.

Zur verabredeten Zeit traf Chiara vor der Buchhandlung ein. Conny winkte ihr durchs Schaufenster zu. Sie stand an der Kasse und ließ sich etwas als Geschenk einpacken. Chiara beschloss, draußen zu warten, obwohl sie die Besitzerin des Ladens, die auch Stammgast im Dernière war, sehr gern mochte und sich schon oft gefragt hatte, wieso diese nüchtern und energisch wirkende Frau einen esoterischen Buchladen betrieb.

Conny kam heraus und drückte ihr das in Geschenkpapier eingewickelte Päckchen in die Hand. „Du musst es gleich auspacken“, sagte sie beim Betreten des Café Dernière. Chiaras Lieblingstisch war besetzt. Sie würde also ohne den gewohnten Blickkontakt mit dem Tiger auskommen müssen.

Zu Chiaras Überraschung enthielt das Päckchen ein Set Tarotkarten. Sie blickte die Freundin fragend an. „Misch die Karten, teil sie in drei Stapel auf und zieh aus dem mittleren eine Karte.“

Connys Anweisung klang so streng und präzise, dass Chiara ihren Widerspruchsgeist für einen Moment aufgab und wortlos Folge leistete. Sie zog das As der Kelche.

In diesem Moment fiel es ihr wie Schuppen von den Augen: Die Königin der Kelche war eine Tarotkarte! Sie hatte sie bei Conny gesehen, die täglich Tarot legte und die aktuellen Karten für den jeweiligen Tag dann immer auf ihrem Schreibtisch liegen ließ.

Conny hatte schon oft versucht, ihr das Tarot schmackhaft zu machen – bislang ohne Erfolg. Doch die Freundin schwor darauf. Sofort begann sie mit der Interpretation: „Das As der Kelche – großer Reichtum an Emotionen, den du mit anderen teilst, Sensibilität, Kontakt mit dem Universum. Die Karte passt hundertprozentig zu dir, meine Liebe. Auch wenn du dich dagegen wehrst.“

Chiara war mit ihren Gedanken bei ihrem Patienten. „Was kann er damit gemeint haben? Die Königin der Kelche ist zurückgekommen.“

„Wer? Wen meinst du?“

Chiara berichtete der Freundin, was sie in der Klinik erlebt hatte.

Conny überlegte: „Die Königin der Kelche steht für starke Gefühle, emotionalen Neuanfang, aber auch Sicherheit. Sie fordert dazu auf, den eigenen Gefühlen zu vertrauen. Ich müsste mehr über deinen Patienten wissen, um dir mehr dazu zu sagen.“

„Ich hab ihn heute zum zweiten Mal gesehen. Beim ersten Mal vor einer Woche hat er überhaupt nicht gesprochen, und heute empfing er mich mit der Botschaft von der Rückkehr der Königin der Kelche.“

„Und warum hast du vermutet, sie sei eine Opernfigur?“

„Er hat auf meinen Handyton reagiert, du weißt ja, die Habanera, und dabei ist herausgekommen, dass er Opernsänger ist. Aber nach dieser Offenbarung war Schluss.“

„Spannend!“ Conny war auf einmal ganz aufgeregt. „Du solltest das Ganze als Aufforderung verstehen, dich endlich mit Tarot zu beschäftigen. Das wäre sicher auch ein Superbetätigungsfeld für dich. Du könntest psychologische Tarotberatung oder psychologische Beratung mit Tarotdeutung anbieten. Ich wette, die Klientinnen würden dir die Tür einrennen.“

„Genau das ist es, was ich niemals tun würde. Das ist doch vollkommen ...“ „Unseriös! Ich weiß schon, was du sagen willst. Aber da irrst du dich. Gerade weil du so auf Seriosität bestehst, solltest du dich mal ernsthaft damit auseinandersetzen. Ich verspreche dir, es lohnt sich.“

Sie zog etwas aus der Tasche. „Das hätte ich beinahe vergessen, ich hab dir mein Begleitbuch mitgebracht.“ Sie legte das Buch, auf dem eine Tarotkarte abgebildet war, vor Chiara auf den Tisch. „Auf meine Anmerkungen brauchst du nicht zu achten. Du weißt, ich lese immer mit dem Bleistift. Aber jetzt lass uns erst mal was trinken.“

Chiaras Handy meldete sich. Wieder war es Helena, und nach kurzem Zögern entschuldigte sich Chiara bei Conny, stand auf, um draußen zu telefonieren, und nahm das Gespräch an. Sie hatte mit ihrer Vermutung recht gehabt. Noch vor Jahresende, also in weniger als vier Monaten, würde Helena die Praxis schließen.

Während ein Teil von ihr Optimismus versprühte, stand der andere Teil fassungslos daneben und sagte: „Gib doch endlich mal zu, dass du dir Sorgen machst. Du kennst Helena lange genug, vielleicht kann sie dir helfen. Sag ihr, dass du enttäuscht bist. Spiel doch nicht immer die Starke.“ Vergeblich, die souveräne Menschenfängerin in ihr hatte wieder einmal die Oberhand behalten und beendete das Telefongespräch mit einem Scherz.

Als sie ins Café zurückkam, saß ihre Freundin kopfschüttelnd vor der Süddeutschen Zeitung. „Hier steht, ein Sänger ist vom Dach der Opéra Garnier in Paris gestürzt. Man hat ihn am Morgen nach der Carmen-Aufführung gefunden. Was macht ein Sänger auf dem Dach der Pariser Oper?“

2

DER SCHWEIGENDE TAUCHER

Er würde sich in Zukunft stärker kontrollieren müssen, das hatte ihm die Begegnung mit der Psychologin heute gezeigt. Stärker abschotten gegen verräterische Gefühle – Gefühle, die ihn sprechen ließen, obwohl er sich das Gegenteil fest vorgenommen hatte.

Er konnte sich immer noch nicht erklären, was geschehen und warum es geschehen war. Es war einfach aus ihm herausgebrochen, als sie ins Zimmer trat und ihn anschaute. Dabei hatte sie außer der Begrüßung noch überhaupt nichts zu ihm gesagt, als schon der Satz aus ihm herausplatzte. Den er am liebsten sofort wieder verschluckt hätte. Er hätte sich dafür ohrfeigen können. Der Kernsatz, in dem sich seine gesamte Problematik zusammenfassen ließ: das Ende seines bisherigen Lebens, seiner Arbeit, seiner Karriere und der Sturz in ein Chaos aus Ängsten, Assoziationen, Gedanken, das sich nicht ordnen ließ. Und ihn letztlich gewaltsam an ein Ereignis erinnerte, das er glaubte, hinter sich gelassen zu haben.

All das steckte in diesem Satz. Aber das wusste die Frau natürlich nicht. Vielleicht würde sie ihn ja vergessen. Schon beim Auftauchen dieser Überlegung wusste er, dass sich seine Hoffnung nicht erfüllen würde. Die Psychologin war zwar für einen Moment lang irritiert gewesen und schien nach seiner unerwarteten Information angestrengt über etwas nachzudenken, aber es dauerte überhaupt nicht lange, bis sie sich gefasst hatte. Und dann ertönte ja schon die Habanera.

Dabei mochte er sie, die dunkelhaarige Frau mit den hellen blauen Augen, die ihm gleich ihren Vornamen genannt hatte: Chiara. Sie strahlte eine Fröhlichkeit aus, wie er sie eigentlich noch nie zuvor erlebt hatte. Nicht die Überdrehtheit seiner Kolleginnen, die sich sehr schnell in Niedergeschlagenheit verwandeln konnte. Zustände, die er selbst nur allzu gut kannte. Er vermied das Wort Depression ganz bewusst, sogar in seinen Gedanken. Gerade in der Situation, in der sich befand, und an dem Ort, an dem er sich aufhielt. „I put a spell on you!“ – Worte waren mächtig und konnten von einer Sekunde zur anderen über sein Leben entscheiden. Er wehrte sich gegen eine Diagnose, an der er sich dann in Zukunft würde abarbeiten müssen. Das beste Mittel dagegen war Schweigen.

Gesprächsfetzen zwischen der Stationsärztin und dem Leiter der Klinik hatte er entnommen, dass man jemanden von außen hinzuziehen würde, der äußerst erfolgreich war in der Kunst, andere zum Sprechen zu bringen, eine Psychologin. Also war er vorbereitet gewesen. Bei der ersten Begegnung mit Chiara widerstand er tapfer der Versuchung, sich mit ihr zu unterhalten. Heute, bei der zweiten, war es schon vorbei gewesen mit seiner Standfestigkeit.