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Joost Jongerden und Ahmet Hamdi Akkaya werfen in diesem Sammelband einen gründlichen und keinesfalls unkritischen Blick auf das politische Projekt der Arbeiterpartei Kurdistans, der PKK. Ganz im Gegensatz zur Untersuchung der kurdischen Frage in der Türkei, die schon lange in großem Umfang stattfindet, sind Forschungen zu den kurdischen Organisationen rar. Insbesondere dem Politikverständnis der PKK wurde wenig Aufmerksamkeit gewidmet, sodass diese Sammlung eine Forschungslücke schließt. Die Texte führen vor Augen, dass die Idee der Neugestaltung der Gesellschaft Kurdistans als ein Projekt der radikalen Demokratie verstanden werden muss und nicht bloß eine lokal begrenzte Initiative, sondern vielmehr Teil einer größeren Idee ist.
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Joost Jongerden Ahmet Hamdi Akkaya
Die Entwicklung der kurdischen Freiheitsbewegung
Gesammelte Texte zur Einführung in Geschichte und Gegenwart
Herausgegeben von Ali Çiçek
Aus dem Englischen von Hêlîn Dirik, Müslüm Örtülü, Ramazan Mendanlioglu, Dominik Metzger
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Print-ISBN: 978-3-949925-04-7
E-Pub-ISBN: 978-3-949925-05-4
https://doi.org/10.53291/9783949925054
© Westend Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2022
Umschlaggestaltung: Westend Verlag, Frankfurt am Main
Satz und Datenkonvertierung: Publikations Atelier, Dreieich
Prof. Dr. Joost Jongerden ist außerordentlicher Professor an der Universität Wageningen in den Niederlanden und Projektprofessor an der Asian Platform for Global Sustainability and Transcultural Studies an der Universität Kyoto in Japan. Seine Forschungen zum Thema „Do-It-Yourself-Development“ zielen darauf ab, Möglichkeiten einer alternativen Zukunftsentwicklung zu erforschen, die auf den täglichen Praktiken und den gegenwärtigen Kämpfen der Menschen beruhen. Er definiert „Do-It-Yourself-Development“ als einen dritten Ordnungsmodus, der analytisch von Staat und Markt als Ordnungsinstitutionen zu unterscheiden ist. Sein Hauptaugenmerk liegt auf der Türkei und Kurdistan.
Dr. Ahmet Hamdi Akkaya ist promovierter Politikwissenschaftler an der Universität Gent und arbeitete als Marie-Curie-Postdoktorand in der Forschungsgruppe „Raum und Macht“ an der Fakultät für Politikwissenschaften und Soziologie der Complutense-Universität Madrid. In seiner Dissertation „Die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK): Nationale Befreiung, Aufruhr und radikale Demokratie über Grenzen hinweg“ untersuchte er die Entstehung und Entwicklung der PKK. Seine Hauptforschungsinteressen liegen in den Themenfeldern Identität und Nationalismus, Aufstand und Soziale Bewegungen.
Mit freundlicher Unterstützung von:
Academy of Democratic Modernity
Civaka Azad: Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit
I | Einführung
Ein Volk jenseits des Staates – Kurdische Bewegungen und Selbstbestimmung im 20. und 21. Jahrhundert
Selbstbestimmung und Nationalstaat
Inverse Staatsbildung und sich entwickelndes nationales Bewusstsein
Die Entstehung zweier Traditionen in der kurdischen Politik
Süd- und Ostkurdistan
Nord- und Westkurdistan
Protostaatliche Entwicklung in Irakisch-Kurdistan
Nicht staatliche Verwaltung in Rojava
Fazit
Quellen
II | Entstehungshintergrund
Eine räumliche Perspektive auf die Bildung politischer Gruppen in der Türkei nach dem Putsch von 1971: Die Arbeiter-partei Kurdistans in der Türkei (PKK)
Joost Jongerden
Abstrakt
Einleitung
Der Putsch von 1971 und das Ende der öffentlichen Politik
Politische Räume neu gestalten
Das Entstehen der PKK
Eine räumliche Politik der Assoziation
Diskussion und Schlussfolgerung
Quellen
Aus der Linken geboren: Die Entstehung der PKK
Joost Jongerden und Ahmet Hamdi Akkaya
Einleitung
Hintergrund
Gruppenbildung
Die PKK, revolutionäre Gewalt und die Linke in der Türkei
Schlussbemerkungen
Die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und kurdische politische Parteien in den 1970ern
Joost JongerdenAhmet Hamdi Akkaya
Einleitung
Niederlage und Neuformierung
Kurdische Organisationen in den 1970er Jahren
TKDP
TKSP
Rizgarî/Ala Rizgarî
Kawa
Diskussion
Schlussfolgerungen
Quellen
III | Paradigmenwechsel
Die Neuordnung des Politischen: Die PKK und ihr Projekt der radikalen Demokratie
Joost Jongerden und Ahmet Hamdi Akkaya
Einleitung
Radikale Demokratie als Alternative zur liberalen Demokratie
Radikale Demokratie im kurdischen Kontext
Rückkehr auf die politische Bühne
Zusammenfassung
Quellen
Aus Niederlagen lernen: Entwicklung und Herausforderung des „neuen Paradigmas“ innerhalb der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK)
Joost Jongerden
Zusammenfassung
Einleitung
Aus der Niederlage lernen
Paradigmenwechsel
Entwicklung und Anfechtung des Paradigmenwechsels
Diskussion und Schlussfolgerung
Liste der Interviews
Quellen
IV | Jüngere Entwicklung
Eroberung des Staates, Unterordnung der Gesellschaft: Eine kurdische Perspektive auf die Entwicklung des AKP-Autoritarismus in der Türkei113
Joost Jongerden
Einleitung
Narrative des Putsches
Die Eroberung des Staates
Die Befriedung der politischen Gesellschaft
Fazit
Quellen
Über Frieden reden und Krieg führen: Die Verhandlungen zwischen der Türkei und PKK
Joost Jongerden
Einleitung
Das Problem und seine Hintergründe
Setting und Parteien im „Friedensprozess“
Von der Roadmap zur (Nicht-)Einigung
Gründe für das (Nicht-)Abkommen
Opportunismus und Widerstand
Ein Naher Osten im Wandel
Eine Türkei im Wandel
Fehlende Institutionalisierung und politische Reformen
Mission Creep
Schlussfolgerung
Quellen
Titel
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Sandro Mezzadra: Vorwort. In: Joost Jongerden, Ahmet Hamdi Akkaya: Die Entwicklung der kurdischen Freiheitsbewegung – Gesammelte Texte zur Einführung in Geschichte und Gegenwart. Frankfurt am Main: Westend 2022. DOI: https://doi.org/10.53291/CAEG4936
Das Jahr 1978, in dem die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) nach jahrelangen Vorbereitungen formell gegründet worden ist, wird von ihren Mitgliedern als „existentielle Periode“ in ihrer Geschichte bezeichnet. Zu diesem Zeitpunkt waren seit dem Militärputsch erst sieben, seit dem Triumph des antiimperialistischen Volkskriegs in Vietnam erst drei Jahre vergangen. Dieser Volkskrieg schien damals neue Räume für die sozialistische Revolution in Südostasien und anderswo in der Welt zu öffnen. Nach einem Jahrzehnt des Guerillakampfes starteten 1978 auch die Sandinisten in Nicaragua die endgültige Offensive gegen die Diktatur Somozas, die im folgenden Jahr zum Sieg der Revolution führte. Waren die anderen Länder Mittel- und Lateinamerikas, allen voran El Salvador, folglich dazu verurteilt, diesem Weg zu folgen?
Im Iran entstand ebenfalls eine revolutionäre Bewegung, die innerhalb weniger Monate zum Sturz des Schahs führte. Viele linke Beobachter:innen hielten die religiöse Dimension dieser Revolution, die von Ayatollah Khomeini verkörpert wurde, im Vergleich zu der Rolle, die die Kommunistische Partei (die Tudeh) und die Volksfedajin-Guerilla spielten, für unbedeutend. Dabei handelte es sich zweifellos um einen dramatischen Fall von politischer Kurzsichtigkeit, aber das entsprach gewissermaßen dem Geist der Zeit. Rückblickend kann man wohl sagen, dass die späten 1970er Jahre den Anfang der neoliberalen Hegemonie markierten, die durch den Putsch von Pinochet in Chile 1973 vorweggenommen und später durch die Namen Thatcher und Reagan verkörpert wurde. Wenn man jedoch über Europa und den Westen hinausblickte, schien der Antiimperialismus erst am Ende einer historischen Entwicklung stehen zu können, wohingegen die sozialistische Revolution als eine absolut konkrete politische Möglichkeit betrachtet wurde.
Vietnam, Nicaragua und der Iran sind drei sehr unterschiedliche Länder mit jeweils sehr verschiedenen Geschichten und auch Verstrickungen in den Kolonialismus und Imperialismus (selbst im Fall des Iran, der nie offiziell kolonialisiert wurde). Die Revolutionen, die dort stattgefunden haben, warfen die drängenden Fragen zum Antikolonialismus, zur nationalen Selbstbestimmung und zum Nationalstaat erneut auf, die in den marxistischen Debatten seit dem frühen 20. Jahrhundert und insbesondere in den Anfangsjahren der Dritten Internationale eine wichtige Rolle gespielt hatten. Berühmte Kontroversen, wie jene zwischen Lenin und dem indischen Kommunisten Manabendra Nath Roy im Jahr 1920, schufen die Voraussetzungen für eine revolutionäre Politik außerhalb der westlichen Metropolen. Innerhalb dieser Debatten gab es viele verschiedene Standpunkte, und Lenin selbst schwankte zwischen verschiedenen Positionen in Bezug auf das Verhältnis zwischen nationalen Bewegungen und der kommunistischen Weltrevolution. Nach Lenins Tod jedoch wurde die Politik des Marxismus-Leninismus im Hinblick auf diese Themen brutal vereinfacht. Und insbesondere in der Frage der Sezession und Selbstbestimmung wurde das, was 1914 in vielerlei Hinsicht eine taktische Position Lenins gewesen war (mit dem Ziel, „den Nationalismus jeder Art, vor allem den großrussischen Nationalismus, zu bekämpfen“), zu einer Art Dogma. „Selbstbestimmung“, so erklären Joost Jongerden und Ahmet Hamdi Akkaya in ihrer Einleitung, wurde streng mit dem politischen Ziel verbunden, sich von „fremden nationalen Körperschaften“ abzuspalten und „einen unabhängigen Nationalstaat“ aufzubauen.
Man kann sagen, dass dadurch unter anderem Lenins vernichtende Kritik am Staat in seinem revolutionären Manifest von 1917 Der Staat und die Revolution ausgelöscht wurde. Sicher, das Verhältnis zwischen dieser Kritik und dem revolutionären Staatsaufbau der Sowjetunion in ihren Anfangsjahren ist seit Jahrzehnten ein Thema heftiger Kontroversen. Aber darum soll es hier nicht gehen. Hervorzuheben ist vielmehr die Tatsache, dass der Staat seitdem im Mittelpunkt kommunistischer Politik steht (während er schon lange vor der Spaltung der internationalen Arbeiter:innenbewegung nach 1917 als ausschließlicher Horizont klassischer sozialdemokratischer Politik verstanden worden war). Es versteht sich von selbst, dass es in der Geschichte der revolutionären Politik des letzten Jahrhunderts viele heterodoxe Erfahrungen gibt. In vielen Teilen der Welt hat die Arbeiter:innenautonomie Parteiorganisationen und ihre staatszentrierte Agenda infrage gestellt, die Tradition der Sowjets und Arbeiter:innenräte hat Experimente mit der Selbstverwaltung am Arbeitsplatz und in der Nachbarschaft genährt, spezifische Formen der Autonomiepolitik haben antikoloniale und postkoloniale Befreiungsprojekte von Indien bis Bolivien geprägt. Es ließen sich leicht weitere Beispiele aufzählen. Es bleibt jedoch Fakt, dass der Mainstream der sozialistischen und kommunistischen Politik im 20. Jahrhundert den Staat als vorrangiges Instrument für die gesellschaftliche Transformation betrachtet hat und demnach der politische Horizont beschränkt war. Wir wissen, dass die Ergebnisse, gelinde gesagt, nicht besonders erfreulich waren. Und dennoch prägt die Betonung der Zentralität des Staates auch heute noch zahlreiche politische Projekte der Linken.
Aus diesem Grund sind Geschichte und Gegenwart der PKK, die in diesem Buch mit wissenschaftlicher Sorgfalt und politischem Engagement rekonstruiert und diskutiert werden, auch über den kurdischen Kontext hinaus so wichtig. Es ist kein Zufall, dass die Doktrin und die Praktiken des „demokratischen Konföderalismus“, wie sie zum Beispiel im Experiment von Rojava zum Ausdruck kommen, an verschiedenen Orten der Welt Widerhall finden. Dies tun sie in einer Weise, die an die Zustimmung, die dem Zapatismus1nach dem Aufstand in Ciapas von 1994 entgegengebracht wurde, erinnert. Sowohl der Zapatismus als auch die PKK, die oft miteinander verglichen werden, liefern uns inspirierende Beispiele für Bewegungen, die in der Lage sind, die Geschichte und Erfahrung der Guerilla in eine Politik der Befreiung – jenseits des Staates – für das 21. Jahrhundert umzuwandeln. Insbesondere im Falle der PKK führte der politische Wandel, der von Abdullah Öcalan nach seiner Gefangennahme und Entführung aus Kenia im Jahr 1999 eingeleitet wurde, zunächst dazu, das Ziel eines unabhängigen kurdischen Nationalstaats durch eine Politik der Autonomie und Selbstverwaltung zu ersetzen. Trotz der vielen Widerstände in seiner eigenen Organisation sorgte Öcalans Projekt außerdem dafür, dass die Struktur der Partei grundlegend infrage gestellt und zudem die Bedeutung von Themen betont wurde, die bis dahin nicht auf der Agenda der PKK gestanden hatten – vom Feminismus bis zur Ökologie. Im Dialog mit verschiedenen radikalen Denker:innen, wie Murray Bookchin, Michael Hardt und Antonio Negri, arbeitet Öcalan seit mehr als zwanzig Jahren an einem Projekt der ‚radikalen Demokratie‘, das einen neuen kommunistischen Horizont eröffnen soll.
Im Mittelpunkt des vorliegenden Buches steht die Geschichte dieses Projekts, das auf der Grundlage der kurdischen Politik seit den 1970er Jahren entstanden ist. Unabhängig von der (Selbst-) Kritik Öcalans in den Anfangsjahren der PKK ist es wichtig festzustellen, dass die Partei seit ihrer Gründung eine wichtige Rolle dabei spielte, das Gefühl der Einheit der Kurd:innen trotz ihrer geografischen und sogar politischen Heterogenität zu fördern. Indem sie die Klassenpolitik fast aller marxistischen Gruppen und Organisationen in der Türkei infrage stellte, bestand die PKK auf etwas, das wir heute ein ‚Recht auf Differenz‘ innerhalb des Proletariats nennen können.
Die Betonung der spezifischen Ansprüche der kurdischen Gesellschaft sowie die Tatsache, dass ihre Existenz seit der Gründung der türkischen Republik mit allen Mitteln geleugnet worden ist, eröffnete ein neues Kampfterrain. In dieser Hinsicht muss es als entscheidender Schritt gelten, dass sie in den 2000er-Jahren die Verbindung zwischen Nation und Staat aufkündigten, die bei der Gründung der Partei noch als selbstverständlich angesehen wurde – aus Gründen, die leicht zu verstehen sind, wie ich zu Beginn dieses Vorworts erläutert habe. Die Geschichte der nationalen Befreiungsbewegungen im 20. Jahrhundert ist geprägt vom Schatten eines Staates, der sich – zunächst vom Wunsch getragen, unabhängig und souverän errichtet zu werden – allzu oft in eine Macht verwandelt, die die gesamte Politik monopolisiert, die revolutionäre Fantasie austrocknet und schließlich monströse Unterdrückungsapparate entwickelt. Erinnern wir uns an die Worte Frantz Fanons in Die Verdammten dieser Erde (1961): „Wenn der Nationalismus nicht erklärt, bereichert und vertieft wird, wenn er sich nicht sehr rasch in politisches und soziales Bewusstsein, in Humanismus verwandelt, dann führt er in eine Sackgasse.“ Es ist leider festzustellen, dass dieser Prozess der Erklärung, Bereicherung und Vertiefung nach der Unabhängigkeit in vielen Fällen (einschließlich des algerischen, auf den sich Fanon bezog) einfachhin an den Staat delegiert wurde. Mit bekanntem Ergebnis.
Das Projekt des demokratischen Konföderalismus stützt sich auf das kurdische Nationalbewusstsein und die ‚Identitätspolitik‘, geht aber über ein exklusives Verständnis der Nation hinaus und erkennt die Bedeutung ethnischer, religiöser, sprachlicher und nationaler Unterschiede im vielfältigen Gefüge des Nahen Ostens im Allgemeinen und der kurdischen Gebiete im Besonderen an. Darüber hinaus impliziert die Kritik am Staat, wie Jongerden und Akkaya zu Recht betonen, immer schon eine Kritik an den Grenzen. Das radikaldemokratische Projekt der PKK, so schreiben sie, „zielt darauf ab, Grenzen flexibel und auf lange Sicht irrelevant zu machen“. Das ist tatsächlich ein ehrgeiziges und radikales Projekt, dessen Relevanz besonders durch die aktuellen Tendenzen zur Verstärkung und Militarisierung von Grenzen deutlich wird. Die Folgen dieser Entwicklungen werden besonders im Mittelmeer, nicht weit von den Gebieten Kurdistans entfernt, besonders dramatisch sichtbar. Eine solch radikale Haltung in Bezug auf Grenzen im Allgemeinen kündigt eine internationalistische Politik an, die auf anderen Grundlagen vollkommen neu erdacht werden muss.
Abschließend möchte ich sagen, dass dieses Buch die Widersprüche, Fehler und Fallstricke des Projekts der PKK keinesfalls verschweigt. Jongerden und Akkaya erwähnen zum Beispiel den „Mangel an Demokratie“ in den eigenen Reihen der Partei und übernehmen von Slavoj Žižek den Ausdruck „jakobinisches Paradoxon“, um die Spannungen zwischen dem Ziel einer radikalen Demokratie und der Anwendung von Gewalt als legitimes politisches Mittel zu deren Erreichung zu erörtern. Trotz dieser Problemfelder haben wir es hier mit einem realen politischen Projekt zu tun, dessen Gegenwart und Zukunft in Gebieten zu verwirklichen versucht wird, in denen Krieg herrscht: sowohl im türkischen Südosten, in den Bergen des Nordiraks als auch in Rojava. Innerhalb dieser Auseinandersetzungen darf zudem nicht vergessen werden, dass Öcalan seit 1999 im Gefängnis sitzt und ein wirklicher Friedensprozess in der Türkei nicht in Sicht ist.
Dieses Buch bietet den Leser:innen einen hervorragenden Überblick über die Geschichte sowie das aktuelle Projekt der PKK. Ihre weitere Zukunft wird, wie immer bei revolutionärer Politik, daran gemessen werden müssen, wie effektiv sie auf das Ziel des Aufbaus einer demokratischen, sozialistischen, feministischen und ökologischen Gesellschaft hinarbeitet.
Sandro Mezzadra, Februar 2022
Joost Jongerden und Ahmet Hamdi Akkaya
Joost Jongerden und Ahmet Hamdi Akkaya: Ein Volk jenseits des Staates – Kurdische Bewegungen und Selbstbestimmung im 20. und 21. Jahrhundert. In: Joost Jongerden, Ahmet Hamdi Akkaya: Die Entwicklung der kurdischen Freiheitsbewegung – Gesammelte Texte zur Einführung in Geschichte und Gegenwart. Frankfurt am Main: Westend 2022. DOI: https://doi.org/10.53291/LYGC7275
Das Selbstbestimmungsrecht diente im 20. Jahrhundert als Organisationsprinzip für nationale Befreiungsbewegungen in der ganzen Welt. Dies war bei den kurdischen politischen Bewegungen nicht anders, die von dem Grundsatz ausgingen, dass eine Nation ein Recht auf einen Staat hat, der die ausschließliche territoriale Kontrolle ausübt. Die nationale Selbstbestimmung wurde zur Grundlage des von ihnen beanspruchten Rechts, einen unabhängigen Staat Kurdistan zu gründen. Da die konstitutive Befugnis und die Rechtfertigung des Staates auf der Existenz einer sich selbst bestimmenden Nation beruhte (Keitner 2007: 2,5), formulierten die nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen kurdischen politischen Parteien ihren Kampf in Begriffen der Staatsbildung. Allerdings verwandelte sich im Laufe des 21. Jahrhunderts die Hervorhebung der Kurd:innen als ein Volk ohne einenStaat in die Betonung der Kurd:innen als ein Volk jenseits des Staates. Dies drückt sich zum einen in der Rückentwicklung des Protostaats in der Region Kurdistan im Irak (Başur oder Südkurdistan) zu einer familien- und stammesbasierten Politik aus, zum anderen in den Versuchen, in der Region Kurdistan in Syrien (Rojava oder Westkurdistan) eine Alternative zum Staat aufzubauen.
In diesem Kapitel diskutieren wir diese aktuellen politischen Entwicklungen mit Blick auf den historischen Kontext. Wir schauen dabei auf das Verhältnis der Kurd:innen und der kurdischen Politik zum Staat, sowohl als Objekt und als auch Ziel des politischen Kampfes. Bei der Betrachtung werden wir zwei starke Strömungen der kurdischen Politik der letzten Jahrzehnte unterscheiden. Die eine entwickelte sich aus der Tradition der Demokratischen Partei Kurdistans (KDP, Partiya Demokrat a Kurdistanê)2, mit Molla Mustafa Barzani als Ikone; die andere entstand aus der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK, Partiya Karkerên Kurdistan) und wurde inspiriert von den Ideen ihres seit 1999 inhaftierten Vorsitzenden, Abdullah Öcalan3. Die erste Strömung verstand die Verwirklichung der Selbstbestimmung weiterhin im Sinne der Staatsbildung – wie dies im Unabhängigkeitsreferendum in der irakischen Region Kurdistan im Jahr 2017 zum Ausdruck kam – und fiel in eine familienbasierte Politik zurück. Die zweite initiierte eine Bewegung, die begann, den Staat nicht als Ziel, sondern als Hindernis auf dem Weg zur Selbstbestimmung wahrzunehmen. So entwickelte sich in Irakisch-Kurdistan eine fragile (proto-)staatliche Struktur der kurdischen Regionalregierung (KRG) zum regierungsamtlichen Ausdruck von Familiennetzwerken, während die Demokratische Föderation Nordsyrien (DFNS, einschließlich Rojava) auf der Grundlage einer nicht staatlichen gesellschaftlichen Organisierung gegründet wurde, die sich auf die zusammenhängenden Begriffe und Konzepte „demokratische Autonomie“ und „demokratischer Konföderalismus“ bezieht.
Das Kapitel besteht aus fünf Hauptabschnitten. Der erste Abschnitt bietet eine kurze Einführung in die Idee der Selbstbestimmung der Nation und des Staates und behandelt, wie diese in der kurdischen Politik Ausdruck fanden. Der zweite Abschnitt befasst sich mit den Kurd:innen und der Staatsbildung aus einer historischer Perspektive und beschreibt das Verhältnis der Kurd:innen zum Staat im Sinne einer „umgekehrten“ Staatsbildung in Kurdistan, die Integration der Kurd:innen in die zentralisierten Verwaltungen der umliegenden Länder wie auch die Geschichte der mit diesem Prozess verbundenen Rebellionen. Der dritte Abschnitt diskutiert die beiden Hauptströmungen in der kurdischen Bewegung – die eine repräsentiert durch die PKK, die andere durch die KDP – und konzentriert sich auf ihre Herangehensweisen an die kritische Frage der kurdischen Politik bezüglich der Staatlichkeit. Der vierte Abschnitt befasst sich mit den Erfahrungen der Regionalregierung Kurdistans (KRG) und der Verwaltung von Rojava in Bezug auf Staatlichkeit. Der fünfte und letzte Abschnitt des Kapitels ist den Ausblicken und Schlussfolgerungen vorbehalten, wozu auch die Herausforderungen und Kontingenzen der beiden Modelle gehören.
Die Beziehung zwischen Nation und Staat entstand vor dem Hintergrund des Wandels in Europa, bei dem Reiche zu Nationalstaaten wurden, und der damit verbundenen Frage nach den Eigenschaften der Untertanen in der Verwaltung dieser neuen Entitäten. Es entstand eine Bevölkerungspolitik, die sich an der Idee des Nationalismus orientierte, einem politischen Konzept, das davon ausgeht, dass die Grenzen politischer Einheiten (Staat) und kultureller Einheiten (Nation) übereinstimmen sollten, und das lehrt, dass die Macht eines Staates davon abhängt, inwieweit seine Untertanen dem Ideal der besonderen kulturellen Identität entsprechen, die die Nation kennzeichnen soll (Koehl 1953). Der Nationalismus hatte sich also im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einem lebhaften und vielschichtigen politischen Imaginären entwickelt, in dem „die Nation“ zu einer Grundlage für politische und territoriale Ansprüche wurde. Jede sich selbst identifizierende Nation sollte die Kontrolle über einen Staat haben, der die ausschließliche territoriale Kontrolle ausübte (Keitner 2007: 2–3). Jedes Arrangement, das die Grenzen des Staates nicht mit denen der Nation gleichsetzte, wurde als suboptimal (Keitner 2007), als Zeichen der Unterlegenheit (Clastres 1989) oder als Ungerechtigkeit (Challiand 1993) betrachtet.
In diesem Kontext erklärten die kurdischen nationalen Befreiungsbewegungen, welche nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden, die Gründung eines unabhängigen Staates zu ihrem politischen Endziel. Damals basierten die Unabhängigkeitsbestrebungen auf einem marxistisch-leninistischen Ansatz zur Frage der Selbstbestimmung, wie er insbesondere von Lenin vertreten wurde, der geschrieben hatte, dass die „Selbstbestimmung der Nationen die politische Trennung dieser Nationen von fremden nationalen Körpern und die Bildung eines unabhängigen Nationalstaates“ bedeute (Lenin 1914). Die Behandlung dieser Frage der nationalen Selbstbestimmung durch den Führer der Kurdischen Demokratischen Partei Irans (KDPI, Hîzbî Dêmukratî Kurdistanî Êran), Abdul Rahman Ghassemlou, in seinem Buch Kurdistan and the Kurds, das von der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften veröffentlicht wurde, ist typisch für die Art und Weise, wie die vom Marxismus-Leninismus inspirierten kurdischen politischen Parteien den Status Kurdistans und das Endziel der Befreiungskämpfe seit den 1960er Jahren betrachteten:
„Der Marxismus-Leninismus bekennt sich zum Selbstbestimmungsrecht jeder Nation, und dieses Recht hat für sie einen konkreten Inhalt. Lenin hat in seiner Polemik mit den Reformisten und Abweichlern vom Marxismus deutlich gezeigt, dass die Selbstbestimmung der Nationen die politische Trennung dieser Nationen von fremden nationalen Körperschaften und die Bildung eines unabhängigen Nationalstaates bedeutet. (…) Die Selbstbestimmung der Nationen im Programm der Marxisten kann keine andere Bedeutung haben als die politische Selbstbestimmung, die politische Unabhängigkeit und die Bildung eines Nationalstaates. (…) [Lenin] rügte jeden, der dieses Recht leugnete oder es anders als ein Recht auf Trennung betrachtete. ,Ein Sozialist, der Mitglied einer dominierenden Nation ist‘, schreibt Lenin, ,und somit weder im Frieden noch im Krieg das Recht der unterdrückten Nationen auf Trennung fördert, ist weder Sozialist noch Internationalist, sondern Chauvinist‘“ (Ghassemlou 1965: 246).
Das Recht auf Selbstbestimmung wurde sowohl als eine Frage der Trennung als auch der Vereinigung betrachtet; eine Trennung Kurdistans von den postimperialen (safawidischen und osmanischen), nach dem Zweiten Weltkrieg kolonisierenden Staaten (Türkei, Iran, Irak und Syrien) und die Vereinigung dieser Teile zu einem einzigen, nämlich Kurdistan (Ghassemlou 1965: 247). Darüber hinaus wurde eine Vereinigung mit anderen Völkern im Nahen Osten als abhängig von einer Trennung betrachtet, da eine „Brüderlichkeit“ nicht im Rahmen einer kolonialen Beziehung entstehen könne. Selbstbestimmung in Form von Staatsbildung wurde als Teil eines weltweiten Kampfes für die Befreiung der unterdrückten Völker gesehen, wie es im Manifest der PKK von 1978 zum Ausdruck kam:
„Unter den heutigen Bedingungen ist ein unabhängiger Staat der einzig wahre und richtige Weg und daher die einzige revolutionäre These; andere Thesen und Fahrpläne sind reformistisch, weil sie die Staatsgrenzen nicht berühren, und weil sie reformistisch sind, sind sie reaktionär. Mit dem Ziel, ein politisch, wirtschaftlich und in anderer Hinsicht unabhängiges Land zu schaffen, wird die Befreiungsbewegung Kurdistans, zunächst in Beziehung zu den Nachbarvölkern, dann zu den Völkern in der Region und der Welt, im Interesse einer proletarischen Weltrevolution arbeiten“ (PKK 1978: 128).
Diese doppelte Legitimation des Kampfes durch das Recht auf nationale Selbstbestimmung und durch den Marxismus-Leninismus bot einen Rahmen, in dem die kurdischen Befreiungsbewegungen und politischen Parteien ihren besonderen Fall mit universalistischen Prinzipien verbanden (Casier 2009: 11). Der Kampf für die Unabhängigkeit verknüpfte den Fall eines kurdischen Nationalstaates mit dem universellen Prinzip der Selbstbestimmung (wobei die Verweigerung des Rechts auf die Gründung eines Staates die Verweigerung eines universellen Prinzips der internationalen Politik wäre), während der Marxismus-Leninismus den kurdischen Fall in den breiteren Kontext einer Dialektik zwischen Unterdrücker und Unterdrückten stellte (wobei die Beendigung dieser unterdrückerischen Beziehung beide befreien und ihnen so ermöglichen würde, neue Beziehungen auf der Grundlage der Gleichheit zu etablieren).
Der Anspruch auf einen Nationalstaat ist ein modernes Phänomen (Gellner 1997: 236). Jahrhunderte lang hatten Großreiche Europa und den Nahen Osten beherrscht. Das Osmanische Reich, das sich über Teile Europas, Nordafrikas und des Nahen Ostens erstreckte, war ein Gefüge von direkter und indirekter Herrschaft. Die einzigen Gebiete, die tatsächlich zentralisiert waren, bildeten Teile des Balkans und Ägyptens sowie wichtige Verkehrswege, während die übrigen Territorien größtenteils selbst verwaltet wurden. Dies war auch bei der Kurdistan-Region innerhalb des Osmanischen Reiches der Fall, die aus Emiraten bestand, welche von kurdischen Mirs regiert wurden. Im Versuch, das Reich zu modernisieren und zu stärken, wurden die kurdischen Emirate jedoch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufgelöst (Eppel 2008; van Bruinessen 1978).
Mit Blick auf das Kurdistan vom fünfzehnten bis zum 20. Jahrhundert charakterisiert van Bruinessen (1978: 194f) die politischen Entwicklungen als einen in umgekehrten Bahnen verlaufenden Staatsbildungsprozess, bei dem die kurdische Gesellschaft die „Stufen“ vom (Ur-)Staat zum Häuptlingstum und dem Stamm zurück durchlief. Der Zerfall größerer politischer Institutionen in Kurdistan und die Aggressivität des aufkommenden türkischen, persischen und arabischen Nationalismus bedrohten die kurdische nationale Identität mit dem Auslöschen. Als Reaktion auf diesen Prozess führten kurdische Elitegruppen, die sich um Scheichs und Aghas organisierten, verschiedene kurze und langwierige Kämpfe. Diese zielten darauf ab, eine gewisse Form der Autonomie von den Zentralverwaltungen, in die sie eingegliedert waren, zu beanspruchen und aufrechtzuerhalten und somit eine kurdische Identität zu verteidigen, die gleichzeitig als politische Dynamik parallel zu den anderen Nationalismen zum Ausdruck kam. Die Rebellionen waren jedoch geografisch begrenzt und im Allgemeinen politisch auf die Anhänger:innen bestimmter religiöser und stammesbezogener Führer beschränkt.
Die wichtigsten Aufstände waren die von Scheich Ubeydullah in Colemerg 1880 (Osttürkei), Scheich Mahmud in Silêmanî 1919–22 (Nordostirak), dem Stammesführer Simko 1919–22 in der östlichen Region Urmia (Nordwestiran); dann der Aufstand von Scheich Said 1925 in Diyarbakir (Südosttürkei), der Agri-Aufstand4 1929 (Osttürkei) und der Aufstand von Seyid Riza 1935–38 in Dersim (Südosttürkei) sowie der Aufstand von 1932 in der Region Barzan (Nordirak) unter Führung von Scheich Ahmad. Obwohl die Aufstände als Reaktionen der Eliten von einem nationalen Bewusstsein gegen die Bedrohung etablierter Lebensweisen geprägt waren (Olson 1989; Tejel 2009), kämpfte die Mehrheit der Anführer für lokale oder regionale Interessen – ein Partikularismus, welcher die Schaffung eines umfassenderen politischen Programms verhinderte (Jwaideh 2006: 292f).
Zwar führte der Prozess der umgekehrten Staatsbildung dazu, dass Stämme und ihre Untergliederungen im 19. und 20. Jahrhundert zu den wichtigsten sozialen und politischen Einheiten in Kurdistan wurden, es gab jedoch auch viele Kurd:innen, die keine Stammeszugehörigkeit hatten. Ferner gab es Regionen, in denen der Stammesgedanke keine bedeutende Rolle spielte, jedoch die Stammesdominanz infolge der kolonialen Intervention wiederhergestellt wurde. Zum Beispiel förderte das von den Briten um die Jahrhundertwende in Silêmanî aufgebaute Verwaltungssystem die Wiederbelebung eines auf persönlichen und stammesbezogenen Loyalitäten basierenden Systems, das in der Folge als Rückschritt dargestellt wurde (Jwaideh 2006: 163–73). Auch die Zentralverwaltungen der vier Staaten mit Sitz in Ankara, Teheran, Bagdad und Damaskus nutzten Stammesloyalitäten als Mittel für eine indirekte Herrschaft.
Auch wenn eine umgekehrte Staatsbildung stattgefunden hat, kann dies nicht für die Entwicklung einer nationalen Identität behauptet werden. Im Laufe des 20. Jahrhunderts bildete sich unter den Kurd:innen ein immer stärkeres Gefühl der nationalen Zugehörigkeit heraus – wenn auch in einer im Vergleich zu den benachbarten (türkischen, arabischen und persischen) Nationalismen eher späten und relativ schwachen Form. Im Gegensatz zur türkischen Nationalbewegung waren die Kurd:innen zum Zeitpunkt des Zusammenbruchs des Osmanischen Reiches am Ende des Ersten Weltkriegs weder politisch noch militärisch gut organisiert, was sie zu einem schwachen Akteur bei den Verhandlungen zur Neuordnung des Nahen Ostens machte. Der Vertrag von Sèvres von 1920 und der an seine Stelle tretende Vertrag von Lausanne von 1923 legten neue Grenzen fest – im Wesentlichen die der Türkei und der unter britischer und französischer Herrschaft stehenden Gebiete, aus denen die modernen Staaten Irak und Syrien hervorgingen – und ließen die Kurd:innen geteilt zurück. Die Tatsache, dass ein wachsendes Nationalbewusstsein nicht automatisch zu einem Staatsbewusstsein führt, wird insbesondere durch die Haltung der kurdischen Delegation auf der Lausanner Konferenz deutlich. Obwohl sich die kurdischen Delegierten ihrer kurdischen Identität durchaus bewusst waren, verteidigten sie die Eingliederung in die neue Republik Türkei und erhoben sogar den Anspruch, dass Mossul Teil der Türkei werden sollte (Jwaideh 2006).
Auf die Gefahr hin, zu sehr zu vereinfachen, können wir die Entstehung zweier Haupttraditionen in der kurdischen Politik seit der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg unterscheiden, welche in verschiedenen Zonen Kurdistans verankert sind: eine im östlichen Teil des Irans und im Nordirak (Süd- und Ostkurdistan), die aus der KDP hervorgegangen ist, und die andere im Südosten der Türkei (Nord- und Westkurdistan), hervorgegangen aus der PKK.
Die erste Tradition hat ihre Wurzeln in der Republik Mahabad, wo namhafte Persönlichkeiten die KDPI gründeten und mit Unterstützung der Sowjetunion am 22. Januar 1946 die Gründung der Republik Mahabad verkündeten. Obwohl sie nur von kurzer Dauer war – iranische Truppen marschierten im Dezember desselben Jahres in die Stadt ein und der Präsident der Republik, Qazi Mohammed, sein Bruder Sadr und sein Cousin Sayf Qazi wurden am 31. März 1947 gehängt –, wurde die Republik Mahabad zu einem inspirierenden Symbol für viele Kurd:innen. Einer ihrer Generäle, der Stammesführer Molla Mustafa Barzani, wurde zum Anführer einer kurdischen Nationalbewegung im Irak und zum Symbol für die kurdischen Bestrebungen nach Selbstbestimmung.
In den 1960er und 1970er Jahren dominierte die von Barzani geführte KDP nicht nur die Politik in Südkurdistan (Nordirak), sondern war auch der wichtigste Akteur in der kurdischen Politik anderswo. Obwohl die Träume von der Unabhängigkeit aufrecht blieben, nahm die KDP im Irak Verhandlungen mit den nachfolgenden Regierungen über Autonomie auf, während sich die KDPI im Iran unter dem Slogan „Demokratie für den Iran, Autonomie für die Kurd:innen“ organisierte (Entessar 1984). Schließlich führte dieser jahrzehntelange militärische und politische Kampf 1970 zur Anerkennung der kurdischen territorialen Autonomie im Irak.
Die feindseligen Auseinandersetzungen gingen dennoch weiter und mündeten schließlich in einen ausgewachsenen Krieg zwischen der KDP und dem irakischen Regime. Dieser endete erst, als der Iran, der die Kurd:innen unterstützt hatte, ein Abkommen mit dem Irak schloss, in dem er die logistische Unterstützung im Gegenzug für die (für den Iran) günstige Beilegung eines Grenzstreits einstellte (Bengio 2006). Auf die Auflösung der territorialen Autonomie der Region Kurdistan folgten ein von Bagdad aus unter Sadamm organisiertes langwieriges Programm der Arabisierung, Aufruhr und schließlich die Schrecken der chemischen Angriffe und Massendeportationen in den Jahren 1987 und 1988, die zu einer effektiven Niederlage der kurdischen Guerillas im Irak führte (HRW 1993; van Bruinessen 1994: 16, 21).
Die Bedingungen für die Kurd:innen im Irak änderten sich nach dem Ersten Golfkrieg 1991 unter Führung der USA, als die Operation „Desert-Storm“ gegen die irakische Besetzung Kuwaits gestartet wurde. Nach der faktischen Niederlage der irakischen Armee am 28. Februar 1991 und ermutigt durch die Bush-Regierung, Saddam Hussein zu stürzen, brachen im (schiitischen) Süden und (kurdischen) Norden des Irak Volksaufstände aus. Im Norden begann der Aufstand am 4. März 1991 in Raniya, im Gouvernement Silêmanî, und breitete sich rasch über die gesamte Region aus. In weniger als zehn Tagen war der größte Teil von Irakisch-Kurdistan unter der Kontrolle der Rebellen (McDowall 2000: 371).
Als die Bush-Regierung schnell einen Rückzieher machte (Romano 2006), gewann die irakische Armee die Kontrolle über einen Großteil des Gebiets zurück, was zu einer Massenflucht von Kurd:innen in die Türkei und den Iran führte. Am 6. April 1991 führten die Streitkräfte der internationalen Koalition die Operation „Provide-Comfort“ durch, um den Geflüchteten humanitäre Hilfe zukommen zu lassen, und richteten zu ihrem Schutz eine Flugverbotszone (NFZ) nördlich des 36. Breitengrades ein (Chorev 2007; Romano 2006). Es war diese NFZ, welche die autonome Region Kurdistan ins Leben rief (Gunter 2008; McDowall 2000; Romano 2006; Yoshioka 2015). Als die USA 2003 den Irak besetzten (Zweiter Golfkrieg), wurden die Grenzen der Region Kurdistan weiter nach Süden verschoben (Yoshioka, 2015: 22f), und 2014, als die irakische Armee in Mosul unter dem Angriff des Islamischen Staates im Irak und in der Levante (ISIL) – jetzt nur noch Islamischer Staat (IS) – zusammenbrach, rückten die kurdischen Streitkräfte (Peschmerga) weiter nach Süden vor und übernahmen die Kontrolle über die lange umstrittene Stadt und das ölreiche Gebiet von Kirkuk.
Betrachtet man die Entwicklung im Rückblick, so wurde 1991 eine neue territoriale Einheit geschaffen, welche die Gouvernements Silêmanî (Sulaymaniyah), Hewlêr (Erbil) und Dihok (Dohuk) umfasste5. Diese Region wurde als „Region Kurdistan im Irak“ oder „Autonome Region Kurdistan“ bezeichnet. Mit der Abhaltung von Parlamentswahlen im Jahr 1992 und der Einrichtung der Regionalregierung Kurdistans (KRG) wurde ein Prozess der Staatsbildung eingeleitet. Leider wurde dieser Prozess jedoch durch die Auseinandersetzungen zwischen den beiden wichtigsten politischen Parteien, der KDP und der PUK, zwischen 1994 und 1998 unterbrochen und führte zu einer Teilung der Region Kurdistan, wobei der westliche Teil unter der Kontrolle der KDP und der östliche unter der der PUK stand.