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Scheindebatte Flüchtlingskrise – Wie Politik und Medien eine Notstandsituation inszenieren Die "Flüchtlingskrise" von 2015 war in Wahrheit der Ausgangspunkt einer gewaltigen Medien- und Politikkrise. Mit medialen Fehldarstellungen, Verzerrungen, manipulierten Debatten und ideologischer Einflussnahme wurden die Deutschen in die Irre geführt. Das begann mit der tendenziösen Polit-PR-Show rund um den "Willkommenssommer" 2015. Spätestens das sich unmittelbar anschließende "Sodom und Gomorrha" der Kölner Silvesternacht ließ Medien und Politik eine 180-Grad-Wende vollziehen. Das war der Beginn eines Rechtsrucks, wie ihn die Bundesrepublik noch nicht erlebt hatte. Das Volk wurde von nun an mit zahlreichen Erzählungen vom "kriminellen Flüchtling", dem "besorgten Bürger", dem "Kartell des Schweigens" in der Politik und der vermeintlichen Alternativlosigkeit der europäischen Abschottung behelligt. Dabei ist jede für sich ein Armutszeugnis bundesdeutscher Medienkultur. Ihre Orientierungslosigkeit, Wankelmut und Hysterie haben die Medien allerdings mit der Flüchtlings- und Sicherheitspolitik der Bundesregierung gemeinsam. Diese reagiert, indem sie enorme Kapazitäten in Terrorabwehr und Grenzsicherung steckt, anstatt sich den wahren Problemen dieses Landes zu widmen. Ihr Realitätsferne zu attestieren scheint noch untertrieben. David Goeßmann deckt in seinem investigativen Sachbuch "Die Erfindung der bedrohten Republik" auf, wie innerhalb kurzer Zeit gegensätzliche mediale Konstruktionen von kollektiver spontaner Humanität und einer inneren Notstandsituation von der Politik fraglos übernommen wurden. Am Anfang standen die Flüchtlinge – und am Ende unsere beschädigte Demokratie.
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Seitenzahl: 643
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Verlag Das Neue Berlin – eine Marke der Eulenspiegel Verlagsgruppe Buchverlage
ISBN E-Book 978-3-360-50158-5
ISBN Print 978-3-360-01344-6
1. Auflage 2019
© Eulenspiegel Verlagsgruppe Buchverlage GmbH, Berlin
Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin
unter Verwendung einer Illustration von Christina Kuschkowitz
www.eulenspiegel.com
In online verfügbaren Annexen liefert David Goeßmann weitere Daten und Statistiken zur Berichterstattung der ARD-Tagesschau, zur Zahl der Zuwanderer zwischen 2014 und 2016 sowie zur Kriminalität im Rahmen der »Flüchtlingskrise«. Sie sind hier einsehbar:https://www.eulenspiegel.com/verlage/das-neue-berlin/titel/die-erfindung-der-bedrohten-republik.html
Über das Buch
Deutschland und Europa sind in den letzten Jahren politisch nach rechts gerückt. Doch schuld daran sind nicht Flüchtlinge und besorgte Bürger, sondern Politik und Medien, die Schutzsuchende zur Mega-Bedrohung gemacht haben. Das Buch zeigt, wie mit manipulativen Methoden Krisenstimmung erzeugt und Flüchtlingsabwehr im Schnellverfahren als alternativlos durchgewinkt wurde. Ein gefährliches Spiel, das Demokratie aushöhlt und die Gesellschaft für autoritäre Lösungen empfänglich macht.
Über den Autor
David Goeßmann, geboren 1969, ist Autor, freier Journalist und Produzent des unabhängigen Nachrichtenmagazins Kontext TV. Er studierte in Berlin Germanistik und Philosophie und arbeitete danach unter anderem für den Deutschlandfunk und die Deutsche Fernsehnachrichten Agentur (DFA) in Berlin und Düsseldorf für Nachrichtensender wie N-TV, CNN-Deutschland und N-24. Von 2005 bis 2007 agierte Goeßmann als freier Auslandskorrespondent in den USA für den ARD-Hörfunk, Spiegel Online und Die Welt und war anschließend Autor für eine TV-Produktionsfirma der Magazine ZDF WISO und Frontal 21. Bis heute verfasst er investigative Berichte u.a. für die TV-Sendung ZAPP Medienmagazin und schreibt Artikel, Blogs und Buchbeiträge.
Inhalt
Vorwort von Konstantin Wecker
DENKT MIT DEM HERZEN
Prolog
WIR GEGEN DIE IN DER BLOCKIERTEN DEMOKRATIE
Die Erfindung der bedrohten Republik
Die blockierte Demokratie: Wir gegen Die
Migrationskritik in der bedrohten Republik
Intellektuelle Selbstverteidigung
1
DER KURZE SOMMER DER »WILLKOMMENSKULTUR«
Willkommens-PR: »Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten«
Der Weg zur »Wende«: Fake-Medienkritik
»Druck im Kessel«: Wann schließen Sie die Grenzen?
Die große Erleichterung: Die Gatekeeper verriegeln die Tore
Die Parteilinie: Keine »besseren Vorschläge«
2
KÖLNER SILVESTERNACHT: EIN HISTORISCHES »SODOM UND GOMORRHA«
Wichtiger als Merkel, USA, Klima und Co.
»Wertvolle« vs. »wertlose« Täter
»Wahrheit nur unterm Ladentisch«?
Ohne Nachrichtenwert: Dunkelfeld und Anzeigenbereitschaft
Journalistisches »Racial Profiling« im Dienste der »Flüchtlingskrise«
Begründeter Sachbezug und »weiße Presse«
Täter »in einen Sack« stecken
Eine Nacht der Schande, die wir nie vergessen werden
Cross-Check I: Missbrauchsfälle in der Kirche
Cross-Check II: »Mediale Geilheit«, Harvey Weinstein und #MeToo
3
DER KRIMINELLE FLÜCHTLING: »GEWALT-IMPORT« UND TERRORHYSTERIE
»Sagen Sie mir nicht, dass wir da kein Problem haben«
»Importierte Gewalt«?
Terrorhysterie
Die »Geißel des Terrorismus«
4
EROSION DES FLÜCHTLINGSSCHUTZES: DIE ENTSCHEIDENDE »ARMLÄNGE«
Lizenz zum Wegsehen: Die Umpolung der Schutzverantwortung
Verkehrtes Recht: Irreguläre, Geschleuste und andere Schutzunwürdige
Drei Schiffbrüche: Die Gatekeeper entsorgen den »Kollateralschaden«
5
ABSCHOTTEN FÜR FORTGESCHRITTENE: DER NEUE HUMANISMUS
Humanitäres Marketing: Die »Mutter der Flüchtlinge« in Geberlaune
»Höllenexperimente«: Wie Flüchtlinge in Lager gepackt werden
Das »Recht dazubleiben« und das System globaler Apartheid
»Die Logik, die uns ausmacht«
6
DAS TINA-PRINZIP DER ABSCHOTTUNGSPOLITIK
Endstation »Alternativlosigkeit«: Das TINA-Prinzip
Der »Exodus«: Der Angstapparat wird prophetisch
Die 400-Milliarden-Euro-Frage
Auf der Kippe: Die verknappte Akzeptanz
7
UNTER VERSCHLUSS: DIE POLITISCHEN ALTERNATIVEN ZUR ABSCHOTTUNG
»Vorzeige-Europäer und Ideengeber«: Der Weg zur alternativlosen Abwehr
Die richtige Flüchtlingspolitik wird entsorgt
Die zum Schweigen gebrachte Reform
Die moralische Supermacht
Die »isolierte Macht im Zentrum« auf der Suche nach der verlorenen Solidarität
Die moralische Krise
Epilog
DIE RECHTE GEWINNT, WENN DER GESELLSCHAFT DIE LUFT AUSGEHT
»Public opinion also needs to be correctly formed, not least to prevent unwarranted fears and speculations detrimental to migrants.«
Papst Franziskus
»They who have put out the people’s eyes reproach them of their blindness.«
John Milton
Vorwortvon Konstantin Wecker
DENKT MIT DEM HERZEN
Und wenn sie euch sagen
das Boot ist voll
wir können keine Flüchtlinge mehr
ins Land lassen
dann antwortet ihnen:
denkt mit dem Herzen.
Über zwölf Millionen deutsche
Flüchtlinge und Vertriebene
sowie fast zwölf Millionen ehemalige
Zwangsarbeiter
und ausländische KZ-Insassen
mussten nach dem Ende des Krieges
eine neue Heimat finden
Die Integration der Vertriebenen in das
massiv zerstörte
und verkleinerte Nachkriegsdeutschland
schien zunächst kaum lösbar.
Und wenn sie euch sagen
viele von denen haben doch sogar
eigenes Geld
dann:
denkt mit dem Herzen.
Denn wenn ihr fliehen müsstet und alles
verlassen
was euch lieb ist und teuer
dann würdet ihr doch auch versuchen
alles was ihr besitzt und je besessen habt
zu verkaufen
um Geld mitzunehmen
auf diese ungewisse
schier ausweglose Reise.
Und wenn sie euch sagen
da kommen ja fast nur junge Männer an
und kaum Frauen mit Kindern
dann:
denkt mit dem Herzen.
Würdet ihr nicht auch versuchen
im äußersten Elend
die kräftigsten eurer Familie auf die
Reise zu schicken
damit sie euch vielleicht sogar eines
Tages nachholen können?
Und wenn sie euch sagen
die prügeln sich doch in ihren
Unterkünften:
denkt mit dem Herzen.
Wie lange würdet ihr es wohl aushalten
eingepfercht zu sein
oft ohne Strom und Wasser
und bei schlechter Ernährung
ohne nicht einmal aggressiv zu werden
ohne durchzudrehen?
Und wenn sie euch sagen
was haben wir mit denen zu tun
die glauben doch an einen anderen Gott
die sind von einer fremden Kultur
dann:
benützt euren Verstand:
Kulturelle Reinheit ist eine Illusion.
Und die führte bei uns zu der
schrecklichsten Diktatur
der Menschheitsgeschichte.
Menschen sind wichtiger als Kulturen
sagt das all jenen
die sich so gerne mit Fakten schützen
deren Herkunft viel unsicherer ist
als das eigene Mitgefühl
sagt es ihnen
nicht hasserfüllt
doch bestimmt.
Erinnert sie an ihre eigenen Kinder
versucht ihnen zu vermitteln
wie es sich anfühlen würde
wäre man selbst an der Stelle dieser
Ärmsten.
Wer anderen die Herberge verwehrt
verdient es
sein Heim zu verlieren.
Denken wir mit dem Herzen.
Besiegen wir den Hass
durch Zärtlichkeit.
Das Wunder von 2015 war und bleibt für mich die Willkommenskultur: Millionen Menschen öffneten ihr Herz und halfen den Notleidenden, den Geflüchteten. Zwar habe ich trotzig manchmal beschworen, ich würde auch weiterkämpfen, wenn ich mit meiner Meinung ganz allein stünde. Aber es ist doch weitaus schöner, sich getragen zu fühlen von vielen ähnlich Gesinnten. Und die finden sich nicht nur im linken Spektrum. Unter den Helferinnen und Helfern sind Bürgerliche wie Arbeiter, Christen wie Atheisten, Prekäre wie Situierte, Hausmänner wie Straßenkehrerinnen … Ich bin nicht allein, das ist mein Trost.
So wichtig eine realistische Lebenseinstellung sein mag, sie darf nicht zum Käfig werden, in den wir unsere unmittelbaren Impulse, Menschen zu verstehen, zu schützen und zu helfen, einsperren lassen. Liebevolles Sprechen und Handeln muss sich ungestört von der Vorzensur vernünftelnder Machbarkeitserwägungen entfalten können.
Nehmen wir an, jemand bricht direkt vor Ihnen auf der Straße zusammen – fragen Sie dann erst, ob dieser Mensch Ausländer ist oder Deutscher, Linker oder Rechter, Armer oder Reicher? Sie helfen. Oder Sie sind ein durch Ideologien verblendeter, in abstrakten Denkgebäuden gefangener Mensch. Vielleicht ist dies ja die einfachste Definition von Rassismus: kein Gefühl zu empfinden für Menschen, die einem irgendein völlig vom Menschsein losgelöstes Gedankenkonstrukt als minderwertig vorgaukelt.
Täglich vernehmen wir die Stimmen der »Vernünftigen«: die Obergrenze sei erreicht, die Zuwanderung müsse gestoppt werden, die Willkommenskultur sei höchst umstritten und Mitgefühl sei Schwäche. Millionen Menschen wird ein lebenswertes Leben vorenthalten von einer kleinen Minderheit von Superreichen – und die Stimme der »Vernünftigen« erklärt das zum Naturgesetz. Wenn das Vernunft sein soll, wird es zunehmend wichtig, die Stimme der »Unvernunft« zu Wort kommen zu lassen, die Stimme des Herzens, damit diese nicht für immer verloren geht.
Doch wer ist hier eigentlich »unvernünftig« und wer »realistisch«? David Goeßmann zeigt in seinem Buch »Die Erfindung der bedrohten Republik«, dass die Stimmen der »Vernünftigen« alles andere als vernünftig gewesen sind. Politik und Medien desinformierten die Bürger, verängstigten sie, während sie die Verantwortung für die globale Flüchtlingskrise, die Folgen der »Flüchtlingsbekämpfung« und die von Bürgern unterstützte solidarische Lösung unter den Teppich kehrten. Das Buch blickt dabei hinter die Kulissen, hilft »die Krise« besser zu verstehen und mit dem Herzen zu denken. Aber vor allem zeigt es uns, dass gehandelt werden muss. Denn das Elend der Flüchtlinge und die Krise der Demokratie schreiten weiter voran, gerade weil die Verantwortlichen sicherstellten – mit Mauern, Deals und Meinungsmache –, dass sich das Wunder von 2015 nicht mehr wiederholt.
Prolog
WIR GEGEN DIE IN DER BLOCKIERTEN DEMOKRATIE
Zur intellektuellen Selbstverteidigung gegen inszenierte Bedrohungen
In seiner sogenannten Agenda-Rede 2003 entwarf Bundeskanzler Gerhard Schröder eine düstere Gegenwart und Zukunft. Nur eine »Reform« könne die Krise noch eindämmen. Wirtschaft, Politik und Medien hatten über Jahre gewarnt, dass das »Schlusslicht Deutschland« den Anschluss an die Weltwirtschaft gänzlich verlieren könne und Massenarbeitslosigkeit drohe. Vor dem Hintergrund der propagierten Gefahren wurde die Agenda 2010 entworfen, die Rente teilprivatisiert, die Banken faktisch zu Casinos umgebaut, der Sozialstaat ausgehöhlt und den »notleidenden« Unternehmen und dem Kapital die Steuerlast von den Schultern genommen, so dass immer mehr Reichtum von unten nach oben transferiert werden konnte.1
Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in den USA wurde ein »Sturm von Flugzeugen« prophezeit. Es war der Startschuss für den sogenannten »War on Terror«, massive Beschneidungen von Bürgerrechten sowie für den Ausbau des Überwachungsstaats. US-Präsident George W. Bush verkündete 2003 der amerikanischen Nation: »My fellow citizens, at this hour American and coalition forces are in the early stages of military operations to disarm Iraq, to free its people and to defend the world from great danger«.2 Der damalige Bundesverteidigungsminister Peter Struck mahnte im Bundestag, dass »unsere Sicherheit (…) nicht nur, aber auch am Hindukusch verteidigt« werde, »wenn sich dort Bedrohungen für unser Land wie im Fall international organisierter Terroristen formieren«. In Afghanistan sind heute, siebzehn Jahre nach Beginn des Krieges, immer noch deutsche Truppen stationiert.3
Bedrohungen werden immer wieder inszeniert und genutzt, um in Staaten unpopuläre Politiken durchzusetzen. Gegen den neoliberalen Umbau und die Kriege gab es von Anfang an massiven Widerstand aus den jeweiligen Bevölkerungen. Nicht ohne Grund. Die neoliberalen Politiken führten zu einem Angriff auf den Wohlfahrtsstaat, bremsten das Wirtschaftswachstum, reduzierten das Arbeitsvolumen und vergrößerten die Gefahren der Finanzindustrie, während die von Spekulation angetriebenen Großbanken später, als die Blase platzte, als »too big to fail« vom »Nanny-State«, also den Steuerzahlern, gerettet werden mussten. Nach dem Motto: Profite werden privatisiert, Verluste sozialisiert. Ebenso absehbar waren die Effekte der Kriege. Sie töteten Hunderttausende Menschen, vervielfachten und verbreiteten Terror, zerstörten und destabilisierten ganze Regionen, die nun durch hartnäckige »after wars«, also Bürgerkriege, in Gewalt zu versinken drohen.4
Auch die weiter zurückliegende Geschichte liefert reichlich Material dafür, wie Bedrohungen erfunden worden sind, um gesellschaftliche Widerstände gegen Politiken niederzuringen. So bauschte das Nazi-Regime mit Hilfe der Presse einzelne Übergriffe auf Volksdeutsche in Danzig zu systematischen Gräueltaten auf, inszenierte einen Überfall auf den deutschen Rundfunksender Gleiwitz und verdrehte polnische Verteidigungsstellungen gegen einen deutschen Angriff als Bedrohung Deutschlands durch polnische Truppen. Hitler verkündete während des Überfalls auf Polen: »Seit 5 Uhr 45 wird jetzt zurückgeschossen«. Deutschland »verteidigte« sich gegen sein östliches Nachbarland. Die Medien halfen dabei mit, die kriegsunwilligen Deutschen kriegsbereit zu machen, aber auch die Regierungen in Paris und London davon zu überzeugen, Hitler gewähren zu lassen.5
Die Erfindung der bedrohten Republik
»2015 darf sich nicht wiederholen.« So lautet seit dem »Flüchtlingsschicksalsjahr« die eindringliche Warnung. Bundesregierung, Parlament und Massenmedien erklärten ein ganzes Kalenderjahr wegen Schutzsuchenden zum Gefahrengut. Die Abwehrmaßnahmen der Politik wurden zu einem Verteidigungsakt erhoben. Deutschland sei in einen Notstand geraten, hieß es, in die Ecke gedrängt worden, aus der es sich nur mit »harten Entscheidungen« befreien könne. »Nie wieder 2015!« lautete die Angstbotschaft, die alle Bereiche der Gesellschaft erfasste. Es klang wie »Nie wieder Auschwitz«.6
Wissenschaftler sind ebenfalls besorgt über die gegenwärtigen Entwicklungen. Ein Fachgremium aus führenden Experten, 1945 von Albert Einstein erstmals ins Leben gerufen, rückte die sogenannte Doomsday Clock (die Weltuntergangsuhr) während der »Flüchtlingskrise« auf zwei Minuten vor Mitternacht vor. So nah am Endpunkt der Welt stand die Uhr nur einmal, 1953, als der Korea-Krieg wütete und die USA und die Sowjetunion sich einen Wettlauf um die Wasserstoffbombe lieferten. Flüchtlinge spielten bei der Gefährdungsanalyse allerdings keine Rolle. Bedroht sei die Menschheit vielmehr durch den voranschreitenden Klimawandel und die wachsende Gefahr eines Atomkriegs. So heißt es unter anderem im »Bulletin of the Atomic Scientists« von 2016:
»The world continues to warm. Keeping future temperatures at less-than-catastrophic levels requires reductions in greenhouse gas emissions far beyond those agreed to in Paris – yet little appetite for additional cuts was in evidence at the November climate conference in Marrakech. (…) Progress in reducing the overall threat of nuclear war has stalled – and in many ways, gone into reverse. This state of affairs poses a clear and urgent threat to civilization, and citizens around the world should demand that their leaders quickly address and lessen the danger.«7
1,8 Millionen Mal wurde in der deutschen Presse in den letzten drei Jahren auf Flüchtlinge und Asyl hingewiesen. In den Talkshows der öffentlich-rechtlichen Sender dominierten Themen wie Islam, »Flüchtlingskrise« oder Terrorismus. Obwohl im Bundestagswahlkampf 2017 die Kandidaten für das Kanzleramt Angela Merkel (CDU) und Martin Schulz (SPD) keine asylbezogenen Kampagnen führten, dominierte das Thema in den Medien. So befragten die Journalisten die beiden Kandidaten während des 95-minütigen TV-Duells rund die Hälfte der Zeit zur Flüchtlings- und Asylpolitik. In den Sommerinterviews von ARD und ZDF 2018 nahmen Fragen zu Flucht, Asyl und Migration mehr als ein Drittel der Redezeit ein, während Klimawandel und Klimaschutz nicht ein einziges Mal angesprochen wurden (wie auch viele andere wichtige Themen wie Armut kaum Aufmerksamkeit erhielten) – wie bei den Kanzlerkandidaten-Befragung ein Jahr zuvor. Die globale Erwärmung spielte im Wahlkampf und der Berichterstattung darüber insgesamt keine Rolle.8
In der Presse tauchten Klimawandel und Klimaschutz seit Ausbruch der »Flüchtlingskrise« nur 230000 Mal auf, also mehr als siebenmal weniger als die »Flüchtlingskrise« im gleichen Zeitraum.9 In den nationalen Polittalksendungen war die globale Erderwärmung einzig im Zuge des deutschen Hitzesommers 2018 und den massiven Protesten gegen die Abholzung des Hambacher Forsts für den weiteren Kohleabbau kurzzeitig Thema. In den Jahren zuvor jedoch niemals, obwohl im Dezember 2015 in Paris ein entscheidender Klimagipfel stattfand, die Wissenschaftler immer eindringlicher vor dem drohenden Klimachaos warnen und die Treibhausgase seit zehn Jahren in Deutschland sogar leicht steigen, anstatt in dieser Zeit massiv gesunken zu sein.10
Die Gefahren eines möglichen Atomkriegs waren ebenso wenig in den einflussreichen Rundfunksendungen oder Leitartikeln vertreten.11 Und wenn einmal darüber berichtet wurde, dann über die »Schurkenstaaten« Iran, Nordkorea und Russland, während die Medien das aggressive Verhalten und die atomare Eskalation der USA und der anderen NATO-Staaten als Schutzmaßnahme rahmten.12 Auch das Versagen der deutschen und europäischen Klimaschutzpolitik wurde mehr oder weniger ausgeblendet statt es zu skandalisieren. So mahnen Klimawissenschaftler, dass die Treibhausgase in Deutschland, wie in anderen Industriestaaten auch, bis 2035 auf null reduziert werden müssten, um den Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur noch auf 2 Grad Celsius begrenzen zu können und die globale Bedrohung damit einigermaßen zu bannen – eine Emissionsreduktion doppelt so schnell wie geplant. Doch diese wichtige Information wird dem deutschen Publikum bis heute weiter vorenthalten. Jetzt verbleiben nur noch gut 15 Jahre für den Komplettumbau.13 Die Bundesregierung könnte auch der Ansicht der Bevölkerung folgen und die nukleare Teilhabe mit den USA (in Form von im Bundeswehr-Stützpunkt Büchel stationierten Atomsprengköpfen) sowie die Eskalation mit Russland beenden. Doch die Medien schüren weiter Ängste vor Russland und warnen vor einer Energie- und Stromkrise, wenn schneller auf alternative Energien umgestellt werde. Die Kluft zwischen Wissenschaft und politischer Öffentlichkeit14 könnte kaum größer sein.15
Auch eine andere Nachricht zur Einschätzung der weltweiten Bedrohungslage wird den Deutschen (und nicht nur ihnen) weiter vorenthalten. Denn nimmt man die Einstellung der Weltbevölkerungen, dann werden die USA als größte Gefahr für den Weltfrieden angesehen – mit 24 Prozent der Stimmen weit vor Pakistan mit acht Prozent, gefolgt von China (sechs Prozent) und Afghanistan (fünf Prozent). Die offiziellen »Schurkenstaaten« Russland, Nordkorea oder Iran sucht man vergeblich in der Top-Gefährderliste. Die Befragung wurde im Jahr 2013 durchgeführt, also vor der Präsidentschaft Donald Trumps. Damals leitete der Nobelpreisträger und erste schwarze Präsident der Vereinigten Staaten Barack Obama noch die Geschäfte in Washington D.C. Er eskalierte den Krieg in Afghanistan, weitete das Drohnenterrorprogramm massiv aus und brachte mehr Whistleblower und Journalisten ins Gefängnis als alle US-Präsidenten vor ihm zusammengenommen.16 Doch die Bundesregierung und die deutschen Medien haben eine andere Sicht als die Weltbevölkerung. Sie unterstützen unbeirrt die »Ordnungsmacht« USA bei Kriegen, Terrorprogrammen und gefährlichen Konfrontationen mit der Atommacht Russland, so dass die Gefahren nicht nur nicht eingedämmt, sondern immer weiter gesteigert wurden.17
Sehen wir uns demgegenüber die Bedrohung durch Flüchtlinge an, die Deutschland und die EU ab 2015 in eine derart tiefe Krise gestürzt haben, dass sich diese Situation nie wieder ereignen darf. In Deutschland, dem ökonomischen Powerhouse der Union, sind heute 970000 anerkannte Flüchtlinge registriert (Ende 2017), das ist gut ein Prozent der Bevölkerung. Ohne den Zuzug wäre Deutschland wohl geschrumpft. Auf dem reichsten Kontinent der Welt sind insgesamt 2,3 Millionen Flüchtlinge zu versorgen, also rund 0,5 Prozent. Die deutsche Ökonomie ist in der »Krise« stärker als zuvor gewachsen, auch wegen der Flüchtlinge und ihres überdurchschnittlichen Binnenkonsums. Der Staatshaushalt strotzt vor Überschüssen. Die Beschäftigung hat zugenommen, die Arbeitslosigkeit sank. Auch die Kriminalität hat in der »Krise« abgenommen, absolut wie relativ. Deutschland geht es nach 2015 und 2016 keineswegs schlechter, sondern in vielen Bereichen besser als zuvor.18
Überwältigende Mehrheiten der EU-Bürger stehen in Umfragen unbeirrt von »Krise«, »Kontrollverlust« und dem »Jahrhundertproblem« zur moralischen Pflicht, vor Krieg und Verfolgung fliehende Menschen in ihren Ländern aufzunehmen. Die Europäer sind ebenfalls in großen Mehrheiten für eine faire Verantwortungsteilung, auch wenn ihre Länder dadurch verpflichtet würden, mehr Schutzsuchende zu versorgen. Die meisten mahnen an, dass ihre Länder mehr für die Schutzsuchenden tun sollten. Die Deutschen stellten in mehreren Umfragen immer wieder klar, dass sie gegen den unter deutscher Geschäftsführung ausgehandelten EU-Türkei-Deal sind, auch wenn dadurch mehr Flüchtlinge nach Deutschland kommen würden. Die Erhebungen zeigen, dass die Europäer und Deutschen sich keineswegs von Flüchtlingen bedroht fühlen, sondern im Gegenteil die moralische Pflicht empfinden, weiter zu helfen. So sehen nur 23 Prozent der Bürger Deutschlands ihre Heimat in den Jahren der »Flüchtlingskrise« gefährdet – und das vor allem durch die Schließung von Geschäften vor Ort.19
Andererseits wurde auch eine Reihe von Ängsten und Sorgen in Hinsicht auf Flüchtlinge während der »Krise« an die Oberfläche gespült. Die Bürger zeigten sich besorgt über mehr Kriminalität, mehr Druck auf die Arbeitsmärkte oder eine drohende Zerrüttung des sozialen Friedens durch den Zuzug von Flüchtlingen. Viele Europäer betrachteten sogar Einwanderung und Terrorismus laut Eurobarometer vom Herbst 2015 als größere Probleme auf europäischer und nationaler Ebene als fehlende Arbeit und soziale Absicherung in ihren Ländern, ohne allerdings persönlich davon betroffen zu sein.20 Rechtsradikale Bewegungen und Parteien erhielten zudem starke Zuwächse, während fremdenfeindliche Gewalt dramatisch anstieg. Die Frage ist also: Wie kann es sein, dass Deutsche und Europäer einerseits in der »Krise« besorgt waren über die negativen Auswirkungen von Flüchtlingsaufnahme und gleichzeitig deutlich ihre Bereitschaft signalisieren, zu helfen und mehr Flüchtlinge in ihren Ländern aufzunehmen? Wie sind diese Ungereimtheiten in der öffentlichen Meinung zu erklären?
Die Widersprüche lösen sich auf, wenn man die massenmediale Berichterstattung berücksichtigt. So wurde die Schutzsuche von Flüchtlingen in Deutschland in den letzten drei Jahren zum »Jahrhundertproblem« transformiert und das Bild einer von Flüchtlingen »bedrohten Republik« erschaffen. Das ist die These des Buches, die in den folgenden Kapiteln entfaltet und analysiert werden soll. Die schiere Masse an Krisenberichterstattung und Angstnachrichten war erdrückend und musste verunsichern. So konnte der Hilfsimpuls der Bürger neutralisiert und entpolitisiert werden, während die Abwehrmaßnahmen ohne Diskussion im politischen Schnellverfahren umgesetzt wurden, wobei die einzige Sorge der Journalisten war, ob die Maßnahmen auch wirklich die Bedrohung bannen würden.21
Seitdem schaffen es nur noch wenige Schutzsuchende durch die verschärften Barrieren, die die Europäische Union immer hermetischer vor den Verpflichtungen der Genfer Flüchtlingskonvention abschirmen. Das Elend findet wie gewohnt draußen vor der Tür statt. Die intellektuelle und politische Klasse zeigt sich erleichtert. Der Europäische Rat stellte nach dem EU-Gipfeltreffen Mitte 2018 fest:
»Since 2015 a number of measures have been put in place to achieve the effective control of the EU’s external borders. As a result, the number of detected illegal border crossings into the EU has been brought down by 95% from its peak in October 2015. (…) The European Council is determined to continue and reinforce this policy to prevent a return to the uncontrolled flows of 2015 and to further stem illegal migration on all existing and emerging routes.«22
Der Notstands- und Bedrohungsdiskurs fabrizierte dabei eine neurotisierte Gesellschaft. Denn die politische Mainstream-Kommunikation sendete immer wieder »Double-Bind«-Botschaften aus. Double-Bind-Botschaften bestehen aus zwei sich widersprechenden Aussagen, die beide Gültigkeit beanspruchen. Dadurch entsteht eine Art mentaler Zwickmühle. Es heißt: Wir werden Flüchtlinge weiter schützen und ihnen »ein freundliches Gesicht« zeigen, aber wir müssen sie daran hindern, zu uns zu kommen. Die Willkommensbereitschaft der Deutschen ist faszinierend, aber politisch setzen wir das Parteiprogramm der AfD um.23 Wir bekennen uns zur Genfer Flüchtlingskonvention, aber wir werden mit allen Mitteln versuchen, das internationale Recht auszuhebeln. So konnte die moralische Verpflichtung gegenüber Schutzsuchenden einerseits behauptet, im gleichen Atemzug realpolitisch zersetzt werden. »Begrenzte Barmherzigkeit«, so brachten es deutsche Bischöfe und der damalige Bundespräsident Joachim Gauck auf den Punkt. Das Resultat der permanenten »Double-Bind«-Kommunikation ist mentale Verwirrung, die sich in Umfragen wiederfindet.
Selbst der Begriff »Flüchtlingskrise« ist ein humanitäres Codewort. Der Begriff suggeriert, dass Medien und Politik die Krise der Flüchtlinge in den Fokus nehmen würden und um Lösungen bemüht seien. Doch die eigentliche Bedeutung ist eine andere. So tauchte die »Krise« im öffentlichen Diskurs erst auf, als die Abschottung Deutschlands kollabierte, inklusive des Dublin-Systems. Bis Mitte 2015 wurde der Begriff »Flüchtlingskrise« praktisch nicht verwendet. Selbst als 2014 über vierzehn Millionen Flüchtlinge neu vertrieben wurden, gab es in der deutschen Öffentlichkeit keinen Grund, von einer »Flüchtlingskrise« zu sprechen. »Flüchtlingskrise« bedeutet tatsächlich (gemessen an seiner realen Verwendung im öffentlichen Diskurs): Krise Deutschlands mit Flüchtlingenaufgrund der kollabierten Abwehr beziehungsweise schlicht Abschottungskrise. Man stelle sich vor, die Medien hätten statt von »Flüchtlingskrise« von »Abschottungskrise« gesprochen: Die humanitäre Rhetorik wäre in sich zusammengebrochen.
Die blockierte Demokratie: Wir gegen Die
Die Erfindung der »bedrohten Republik« und die Propagierung der Alternativlosigkeit von Abwehr im Zuge der erhöhten Flüchtlingsaufnahme rührt an ein grundsätzliches Problem: Die zunehmende Aushöhlung der Demokratie. Denn erneut wurden demokratische Prozesse in der politischen Öffentlichkeit blockiert und ausgehebelt. So wurde mit Angstbotschaften die brutalisierte Abwehr von Flüchtlingen gerechtfertigt. Die Regierung konnte sich dabei auf jede Menge »Argumente«, manipulative Umdeutungen und ideologische Rahmungen der Journalisten verlassen. Es waren Beruhigungspillen fürs Volk, die von den Medien wie am Fließband geliefert wurden. Denn die Folgen der »unschönen« Abschottung, waren, wie der ehemalige Bundesinnenminister Thomas de Maizière es ausdrückte, »unschöne Bilder«, die von uns ausgehalten werden müssten.24
In der »Krise« von 2015 bis 2017 sind über 12000 Flüchtende im Mittelmeer ertrunken,25 wahrscheinlich genauso viele oder mehr zusätzlich auf dem Weg durch Wüsten verdurstet und verhungert. Allein die Opfer im Mittelmeer bedeuten jedes Jahr durchschnittlich eineinhalb Mal so viele Tote, wie bei den Angriffen von 9/11 zu beklagen waren. Das sind allerdings nur die dokumentierten Fälle, die von Überlebenden berichtet werden. Das gut recherchierende Projekt »Migrant Files« geht davon aus, dass in den letzten 15 Jahren weit mehr, bis zu 80000 Flüchtende, allein im Meer gestorben sind – dazu käme noch einmal mindestens die gleiche Opferzahl infolge von Verdursten, Verhungern und Ermordungen.26 Die Erosion des Flüchtlingsschutzes schreitet derweil weiter voran, inklusive »KZ-ähnlichen« Zuständen wie in Libyen, Versklavungen, dauerhaften Internierungen und den »Höllenexperimenten«, denen Flüchtlinge in den Lagern im Globalen Süden ausgesetzt werden.27 Hilfsboote werden abgedrängt und attackiert von der libyschen Küstenwache, bezahlt von der EU. Es herrschen katastrophale Zustände auf Flüchtlingsrettungsschiffen – eine Mutter und ihr Säugling im Koma sowie Krätze an Bord –, denen aber die Einfahrt in europäische Häfen verweigert wird.28 Die Regierungen Europas schauen weg, inklusive der Bundesregierung, die Medien entsorgen die »Kollateralschäden« durch gezielte Ignoranz. Wie Heribert Prantl es vor der »Krise« auf den Punkt brachte: »Die EU schützt sich mit toten Flüchtlingen vor Flüchtlingen«.29
Die Erfindung der »bedrohten Republik« diente aber nicht nur dazu, im politischen Schnellverfahren die Lösung der »Krise« durchzusetzen, Fachwelt, Zivilgesellschaft und Bürgermeinung dabei auszuschalten und kritische Meinungsbildung in Hinsicht auf zivile und faire Alternativen abzublocken. Mit ihrem Bedrohungsdiskurs boten Politik und Medien dem sozialen und politischen Frust in der Gesellschaft zudem Sündenböcke an. AfD, Pegida und Neonazis nahmen die »Blitzableiter« dankend an, während Süddeutsche Zeitung, Spiegel, ARD und Co. dem Frust ständig neue Symbole und Geschichten zuführten, die Schutzsuchende zur Gefährdung, zum Mega-Problem und zur Jahrhundertkrise stilisierten. Gleichzeitig wurde das Anwachsen von rechtsradikalen Kräften und Fremdenfeindlichkeit wiederum in der politischen Öffentlichkeit recycelt, um die Abwehr von Flüchtlingen als Reaktion auf destabilisierte demokratische Verhältnisse in der EU und Deutschland zu rechtfertigen.
Die stigmatisierende Symbolproduktion, die Minderheiten an den Pranger stellt, ist ein gefährliches Spiel. Denn die dabei stimulierte Blitzableitung von angestautem Frust auf Sündenböcke kann demokratische Institutionen erodieren. Ein repressives »Wir« verschafft sich zunehmend Raum in der Gesellschaft und betritt immer selbstbewusster die politische Bühne, während Minderheiten mehr und mehr ausgesondert und institutionell stigmatisiert werden.
Einige institutionelle Verschiebungen sind jenseits der Wahlerfolge der AfD in Deutschland und der politischen Rechtsentwicklung im Zuge der »bedrohten Republik« schon zu besichtigen. Der Schutz von Minderheiten in der Medienberichterstattung, verankert im Pressekodex, wurde nach der Kölner Silvesternacht für obsolet erklärt. Seitdem ist der Pranger-Journalismus fester Teil der politischen Öffentlichkeit. Bei Münchener Oktoberfesten werden die Straftaten von Asylbewerbern von der Polizei nun extra veröffentlicht. Ein massives »Racial Profiling« fand in der Silvesternacht 2016/2017 auf der Kölner Domplatte statt, da angeblich ein neues »Sodom und Gomorrha« drohte. Das BKA führt seit 2016 einen Extra-Bericht »Kriminalität im Fokus«, bei dem die Straftaten von Zuwanderer-Flüchtlingen gesondert behandelt werden. In Bayern wurde das Polizeirecht massiv verschärft, andere Bundesländer planen ebenso die Befugnisse der Polizei drastisch auszuweiten. So werden antidemokratische »Wir«-gegen-»Die«-Schemata und repressive Strukturen in die Gesellschaft eingepflanzt, die sie wiederum anfälliger machen für rechtsradikale und faschistische Ermächtigungen.30
Die negative Gegenüberstellung Deutsche vs. Flüchtlinge im Zuge der »Krise« ist nur der Kulminationspunkt in einer Reihe von politischen Diffamierungen von »Out-Groups«, um unpopuläre Politiken durchzusetzen. Sie reicht von den »Sozialschmarotzern« im Zuge der Agenda-2010-Debatten über die »Schurkenstaaten« wie Afghanistan, Irak oder Russland (um geopolitisch Kriege und Eskalationen durchzusetzen) bis hin zum »Schuldenstaat« wie Griechenland, um damit den Wohlfahrtsstaat in der EU zu attackieren.31
All das spielt sich ab vor dem Hintergrund eines zunehmenden Niedergangs der Demokratie, der nicht nur in den USA, sondern auch in Europa zu beobachten ist. So wurden wichtige Entscheidungen an die Bürokratie in Brüssel delegiert, die wiederum zu großen Teilen die Finanzindustrie repräsentiert. Den Griechen wurde 2015 erklärt, dass nicht sie über ihr Schicksal entscheiden dürften. Der deutsche Finanzminister und die Troika aus Europäischer Zentralbank, Internationalem Währungsfonds und EU-Kommission wischte das Nein der Griechen gegen die Austeritätsmaßnahmen beiseite und setzte ein brutales Spar- und Sozialkürzungsprogramm durch. Jetzt dürfen die Griechen leiden, während sich die französischen und deutschen Großbanken ihrer Ausfallrisiken entledigen konnten – zu Lasten der deutschen und europäischen Steuerzahler.32
So fühlen sich überall in der EU und auch in Deutschland die Menschen von ihrer Politik und ihren Medien alleingelassen. Sie wenden sich ab von zentralen Institutionen der Demokratie wie dem Parlament und den Medien. Das Misstrauen ist wie schon gesehen nicht unbegründet. Studien in den USA und auch in Deutschland zeigen, dass die Meinung großer Teile der Bevölkerung praktisch keinen Einfluss auf die politischen Entscheidungen ihrer Regierung hat, während die Wünsche der obersten Einkommens- und Vermögensschicht den Kurs festlegen.33
Während immer mehr Reichtum von unten nach oben abgesaugt wird, werden die Bürger auf die Zuschauertribüne verbannt. Sie dürfen Banken retten, dafür zahlen, aber nicht einmal über ihre Abgeordneten Kontrolle über die Hunderten Milliarden Euro ausüben.34 Ihre Sorgen und Nöte werden gleichzeitig in der Realpolitik zum »Gedöns« degradiert, für das lediglich symbolische Heftpflaster verabreicht werden. Steigende Mieten und Wohnungslosigkeit; kaputte Schulen und Bahnchaos; wachsende Armut und gedemütigte Hartz-IV-Aufstocker; überforderte Alleinerziehende, gestresste Studierende und Abgehängte; versteckte und offene Armut im Alter; Pflegekrise; blockierte Energiewende, steigende Treibhausgase und bedrohlicher Klimawandel; Bauernhofsterben auf dem Land; deindustrialisierte Zonen ohne Perspektiven in Ost und West; steigende Konzernmacht: Die Liste der Missstände ließe sich lange weiterführen. Keiner dieser Missstände wird ernsthaft von den politisch Verantwortlichen adressiert, viele von ihnen werden sogar weiter verschärft. Die Bürger haben allen Grund, frustriert zu sein, Angst zu haben und schwarzzusehen.
Sie wissen zudem, dass die schlechte Realität nicht vom Himmel gefallen ist, sondern aus politischen Entscheidungen resultiert, die von Journalisten (um es freundlich auszudrücken) intellektuell lediglich eskortiert worden sind.35 Das gilt unter anderem für die neoliberalen Angriffe auf den Wohlfahrtsstaat und die militärische Interventionspolitik. Seit über zwei Jahrzehnten hören die Bürger in Endlosschleife, dass »harte Entscheidungen« getroffen werden müssen, damit am Ende alles für alle wieder gut oder doch besser wird. Während Kommunen jedoch weiter zum Sparen gezwungen werden, viele Menschen ihre Lebenshaltungskosten vor allem in den Städten nicht mehr tragen können und Armut sich ausweitet, erhält das deutsche Militär gleichzeitig in wenigen Jahren 80 Prozent mehr Geld, von 2015 bis 2019 innerhalb von nur vier Jahren absolut 10 Milliarden Euro zusätzlich. Tendenz steigend. Denn die Regierung möchte möglichst bald das NATO-Versprechen einlösen, zwei Prozent der gesamten deutschen Wirtschaftsleistung für Soldaten, Panzer und Kriegseinsätze auszugeben. Mancher mag sich da fragen: Warum wird derart viel Geld für »militärische Lösungen«, warum werden astronomische Summen für Banken und Konzerne ausgegeben, anstatt sinnvolle Politiken in Deutschland und der Welt damit zu ermöglichen?36
Was immer die Europäer in ihren Ländern an etablierten Parteien seit vielen Jahren wählen, sie bekommen mehr oder weniger immer die gleiche Politik. Der daraus resultierende Frust und Vertrauensverlust ist längst nicht mehr nur ein bohrendes Gefühl in westlichen Demokratien, sondern wird zunehmend politisch. Die Briten haben der EU und dem politischen Establishment mit ihrem, wenn auch knappen, Brexit-Yes eine Lektion erteilen wollen. Sie werden erfahren, dass der Neoliberalismus auch ohne EU funktioniert und Demokratie national blockiert werden kann. Darüber hinaus gewinnen rechtsradikale und populistische Parteien in ganz Europa immer mehr an Rückhalt in der Gesellschaft. Auch sie werden keine Lösung für den Frust bringen. Im Gegenteil. Trump hat den Superreichen, dem oberen einen Prozent, wie angekündigt ein Steuergeschenk in Höhe von gigantischen 1,5 Billionen Dollar gemacht, während die Gegenfinanzierung über Sozialkürzungen in den nächsten zehn Jahren eingebracht werden soll. Die AfD ist ebenfalls auf der Seite der Reichen und Superreichen. In Frankreich propagiert der Front National eine Politik für die Familie und mittelständische Betriebe. Ob es mehr ist als wahltaktische Rhetorik, um bei der Bevölkerung zu punkten, ist allerdings fraglich.37
Diejenigen, die über sehr viel Einfluss auf die Politik und Meinungsbildung verfügen, haben verständlicherweise kein Interesse daran, sich mit dem gesellschaftlichen Frust in den unteren Etagen der Gesellschaft auseinanderzusetzen oder Steuergerechtigkeit und soziale Gleichheit anzustreben. Andererseits stellt der wachsende Bürger-Frust eine Gefahr für die Interessen der Elite und der Kapitaleigner, also der Business-Klasse dar. Daher versuchen Massenmedien, dominiert von milliardenschweren Verlegerdynastien und Medienkonzernen, die Aufmerksamkeit auf andere Bereiche zu lenken: Weg von der Politik, hin zu Unterhaltung, Sport und Konsumismus.38
Aber auch in der politischen Arena müssen Ventile für Wut und Ohnmacht geschaffen werden. Denn selbst in bürgerlichen Schichten rumort es angesichts der gesellschaftlichen Missstände. So werden Kriege und außenpolitische Konflikte benutzt, um eine Art intellektuellen »Wir«-gegen-»Die«-Teamspirit zu erzeugen. Die Bush-Regierung kramte nach den Anschlägen von 9/11 ständig neue »Red-Alert«-Bedrohungen hervor. Die Botschaft ist immer die gleiche: »Wir« werden bedroht von »denen«. »Wir« müssen gegen »die« zusammenhalten. »Wir« sind die Guten, »sie« sind die Bösen. Zugleich ermöglicht das »Wir«-gegen-»Die«-Schema das Ausleben von politischer Unzufriedenheit. Es heißt: Die Muslime sind schuld. Oder: Die Russen sind schuld. Oder: Die Griechen sind schuld. Nicht: Die Banken sind schuld oder: Die eigene Regierung ist schuld. Im ARD-Politmagazin Kontraste brachte ein Kneipenbesucher in einem Dorf in Mecklenburg-Vorpommern die Logik so auf den Punkt: »Früher haben die Wessis auf die Ossis geschimpft, die Ossis auf die Wessis. Und jetzt schimpfen beide auf die Ausländer«.39
Zurück bleiben verängstigte Bevölkerungen. Diese Verängstigung ist letztlich ein Nebenprodukt der Rhetoriken, mit denen Kriege, »harte Entscheidungen« und unfaire Muskelspiele gegenüber Schwächeren in der internationalen Arena gerechtfertigt werden. Die umherschwirrende Angst wird von interessierten Seiten in Petrischalen künstlich weiter gezüchtet. So wird der politische Unmut zunehmend von seiner Quelle und Zielscheibe, von den Eliten und »denen da oben« weggelenkt auf die »Feinde unserer Art zu leben«, die uns bedrohen. Thilo Sarrazin hat dieses Potenzial meisterlich ausgeschöpft und die ganze Klaviatur der Ablenkung nach dem Muster bedient: »Die sind schuld« beziehungsweise »der Islam schafft Deutschland ab«. Die Medien boten ihm ein breites Forum. Das Buch wurde zu einem großen Bestseller. Nicht zufällig kommt Sarrazin aus der Finanzindustrie. Er ist ein klassischer Rattenfänger. Aber die »Ratten«, die verängstigten Menschen, wurden im Zentrum der neoliberalen Demokratie, von Konzernen, dem politischen Establishment und der massenmedialen Öffentlichkeit erzeugt.
Es ist wie gesagt ein gefährliches Spiel mit Rückschlag-Effekten. Denn es macht die Schleusen auf zu Kanälen, die trübe Gewässer in sich tragen. Der Fokus auf Minderheiten, andere Kulturen und Nationen als Bedrohung des »Wir« dockt an faschistische Ermächtigungstaktiken an, wie Jason Stanley von der Yale University in seinem aktuellen Buch »How Fascism Works« zeigt. Nach dem Schema: »Wir sind die Opfer, sie die Täter. Sie sind minderwertig und nicht vertrauenswürdig. Sie leben im Sodom und Gomorrha. Sie kommen zu uns und nehmen uns die Arbeit weg und begrabschen unsere Frauen und Mädchen. Ohne sie wäre alles besser«.40
Die liberalen Medien wissen um die Gefahr, den Geist komplett aus der Flasche zu lassen, und dosieren die Zuläufe aus den trüben Kanälen, anders als die Trumps, Orbáns, Putins und Erdog˘ans, die offen die Demokratie angreifen und autoritär auf »Wir«-gegen-»Die«-Rhetorik umschalten. In Deutschland wie in den meisten europäischen Staaten werden die Schleusen bisher nur in politisch kritischen Momenten weiter geöffnet, um Kriegseinsätze, internationale Konfrontationen oder repressive Akte gegen Widerstände durchzusetzen. Dann kann das Herabwürdigen von Staaten, Religionen und Kulturen bis zur Diffamierung hochgedreht werden.
Migrationskritik in der bedrohten Republik
Die Erfindung der »bedrohten Republik«, des »neuen Humanismus« und der Alternativlosigkeit der Abschottung im Mainstream arbeitete in der »Krise« zu großen Teilen aber nicht mit offenem Rassismus und Hetze, sondern mit einer komplexen Rhetorik aus Statistiken, Halbwahrheiten und verdeckten Herabwürdigungen, die aber politisch das gleiche Ziel verfolgen: Flüchtlinge auf Armlänge vom EU-Territorium fernzuhalten. Das macht die suggestive Stärke der modernen Bedrohungs-PR aus, die ständig »Double-Bind«-Botschaften aussendet, Diffamierungen über Bande spielt, vom eigentlichen Skandalon ablenkt und argumentativ einen Tunnelblick erzeugt, während die humanitäre Fassade gewahrt wird. So konnte erreicht werden, eine an sich lösungsorientierte und solidarische Gesellschaft während der »Krise« in ängstliche Passivität zu bannen, um brutalisierte Abschottung gegen Flüchtlinge durchzusetzen. Denn über allem schwebte die ultimative Bedrohung: »Nie wieder 2015! Nie wieder Chaos! Keine endlose Masseneinwanderung!«
Angesichts der Vielschichtigkeit und suggestiven Kraft der »Krisen«-Botschaften ist eine komplexe journalistische Gegenrecherche notwendig. Denn nur so kann hinter die Kulissen der »bedrohten Republik« geschaut werden. Nur so kann geprüft werden, ob die Botschaften, Argumente und Erzählungen tatsächlich die Realität wiedergegeben haben.
Noch eine zweite, etwas längere Vorbemerkung ist notwendig. Bei der Analyse der »bedrohten Republik« geht es nicht um Migranten, sondern explizit um Flüchtlinge. Die »Flüchtlingskrise« war, wie schon Anfang der 90er Jahre im Zuge des Jugoslawienkriegs, eine genuine Flüchtlingskrise (im Sinn der kollabierten territorialen Abschottung gegen Schutzsuchende) und keine Migrationskrise, wie oft unterstellt wird (Migration verstanden als: Zuwanderung von unerwünschten Einwanderern aus dem Globalen Süden in den Globalen Norden). Es waren 1,3 Millionen Asylbewerber und Flüchtlinge, die 2015 die gegen sie errichteten EU-Abschottungsbarrieren durchbrachen und die »Krise« erzeugten. Zwei Drittel von denen, die schließlich nach Deutschland kamen, erhielten Asyl und Schutz nach nationalem und internationalem Recht. Demgegenüber ist die Zahl der technisch als »irreguläre« beziehungsweise »illegale« Migranten bezeichneten Einwanderer eher klein. Sie ist in den letzten Jahren auch nicht bedeutsam gestiegen. Potenzielle »irreguläre« Migranten werden auch nicht durch territoriale Abwehr, sondern weit effizienter durch die Recht- und Perspektivlosigkeit in der EU abgeschreckt. Denn »Illegale« müssen bereit sein, in der EU ein elendes und unsicheres Leben im Untergrund, am Rande der Gesellschaften zu führen. Anders bei den Flüchtlingen. Sie haben weitreichende Bleibe- und Schutzrechte.41
Daher ist die aktuelle »Kritik der Migration« fehlgeleitet und beinhaltet eine suggestive Umdeutung der »Krise«.42 Sicherlich, man kann über die Nachteile von Zuwanderung aus dem Globalen Süden für die Herkunftsländer (»brain drain«), für die Armutsmigranten selbst und die soziale Balance in den Industriestaaten debattieren. Schaut man sich die Forschung an, ergibt sich ein gemischtes Bild in Hinsicht auf die ökonomischen und sozialen Folgen.43 Es kommt wie so oft auf die Umstände und die Politik an. Aber der eigentliche Punkt ist: Flüchtlinge sind keine Migranten und 2015 war keine Migrationskrise. Warum also plötzlich die Sorge um die schädliche Wirkung der Armutsmigration auf die reichen Gesellschaften, die zu großen Teilen ein Phantomschmerz ist?44
Die Ökonomisierung von Migration und Ausblendung moralischer und humanitärer Aspekte verkürzen zudem das Problem. Wenn senegalesische Fischer keine Fische mehr in ihren Netzen fangen können, weil die EU dem Land Fischereiabkommen aufgezwungen hat, so dass EU-Trawler die Westküste vor Afrika leer fischen dürfen (während die europäische Wirtschaft davon profitiert und Deutsche, Spanier und Franzosen in ihren Supermärkten den dort gefangenen, günstigen Fisch kaufen), dann hilft eine abstrakte ökonomische Kritik der Migration nicht weiter, solange die Missstände nicht beseitigt und die Zustände nachhaltig verbessert worden sind.45 Denn Menschen aus diesen Regionen werden weiter migrieren, egal, ob wir das wollen oder nicht, ob es wirtschaftlich sinnvoll ist oder nicht. Migranten werden auch keineswegs, wie die Migrationsforschung immer wieder herausstellt, von der Wirtschaft oder den Regierungen der Industriestaaten als billige Arbeitskräfte angelockt, auch wenn Illegale in die neoliberale Ökonomie der reichen Länder integriert werden.46 Sie machen sich vielmehr auf den Weg, weil sie von Perspektivlosigkeit »gepusht« werden. Zudem ist das Argument, dass Migration keine Lösung der globalen Ungleichheit und des Elends darstelle und ins Große gerechnet ins Chaos führe, für die politische Antwort auf die akuten Missstände bedeutungslos.