Kurs Klimakollaps - David Goeßmann - E-Book

Kurs Klimakollaps E-Book

David Goeßmann

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Beschreibung

Die Sorge ums Klima treibt Millionen auf die Straße, und schon lange nicht mehr bloß Aktivisten wie Greta Thunberg, Fridays for Future oder Extinction Rebellion. Dass die Klimawandel-Politik der G20-Regierungen ein Desaster ist, ist mittlerweile bei allen Menschen angekommen, und auch die vermeintlich abgesichert Lebenden haben begriffen: Nur eine Energierevolution kann uns noch retten. Detailreich zeichnet David Goeßmann die Geschichte der globalen Klimapolitik nach und macht insbesondere an Deutschland und der Regierung Merkel sichtbar, wie Industriestaaten wissenschaftliche Erkenntnisse ignorieren und weiter auf fossile Brennstoffe setzen; wie die angebliche Vermittlung von Wirtschaft und Umweltschutz herhalten muss, die Etablierung erneuerbarer Energien zu verlangsamen; wie Politiker, die sich in Kyoto, Toronto und Kopenhagen zur Verantwortung bekannten und seit mehr als zehn Jahren vom Green New Deal reden, Konzernen zur Hand gehen, den Kampf gegen die Erderwärmung zu blockieren; wie der Abbau von Co2-Emissionen nicht nur hintertrieben, sondern umgehend im zwischenstaatlichen Handel mit Emissionen selbst zum Geschäft gemacht wird; wie Entwicklungsländer mit der Energiewende alleingelassen werden; wie Medien mit dem Trugbild vom "Klimavorreiter Deutschland" die Bürger beruhigen. Und wie selbst Wissenschaftler und Umweltschützer die Situation schönfärben. Es sind Protokolle eines historischen Scheiterns und verpasster Chancen. Goeßmann sagt: Eine neue Klimapolitik tut not. Eine, die nicht bei Kritik am Konsumverhalten und der Verantwortung des Einzelnen stehenbleibt, die sich aber ebenso wenig ausruht auf unverbindlichen Forderungen nach Systemwechsel und globaler Lösung. Noch ist eine Kursänderung möglich. Wir haben die Wahl – Politikwandel oder Klimakollaps.

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Impressum

Alle Rechte der Verbreitung vorbehalten.

Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist nicht gestattet,

dieses Werk oder Teile daraus auf fotomechanischem Weg

zu vervielfältigen oder in Datenbanken aufzunehmen.

Das Neue Berlin –

eine Marke der Eulenspiegel Verlagsgruppe Buchverlage

ISBN E-Book 978-3-360-50169-1

ISBN Print 978-3-360-01364-4

1. Auflage 2021

© Eulenspiegel Verlagsgruppe Buchverlage GmbH, Berlin

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin,

unter Verwendung einer Illustration von © istock/habrda

www.eulenspiegel.com

Inhalt

Vorwort

Luisa Neubauer: Wir lassen nicht locker!

Einleitung

Kurs Klimakollaps: Wer ist verantwortlich?

Teil I: Das Versagen der Politik

Der globale Termitenbefall (1859–1987)

Der Klimawandel wird entdeckt und ignoriert

Wissenschaftler mit Blackout: Keine Panik!

Wenn Realwissenschaft auf Realpolitik trifft

Der Ölpreis-Schock: Energiewende später

Das Klima betritt die Weltbühne (1980–2015)

Houston, wir haben ein Problem

Als der Bundestag die Welt retten wollte

Von Bremsern und Solarrebellen

Operation »Luxusstrom«: Die Energiewende wird abgewrackt

Kohl, Schröder, Merkel: Die Legende vom Vorreiter

Wir Klimaschmutzmitläufer

Einstürzende Klimaneubauten (1995–2015)

Von Berlin nach Kyoto: Kurs Klimakollaps

Die schicksalhafteste Phase der Menschheit beginnt

Notprogramm: Der deutsche Klimabankrott

Industrielobby gegen Wissenschaft: Die Klimaziele der EU

Gezähmte Forscher: Frisierte 2°C-Szenarien

Die nackte Wahrheit 2035

Fallstrick Politikberatung: Gefesselte Klimaschützer

Auf Tauchstation: Medien und Umweltschützer

Teil II: Die Krise der großen Illusion

Truman Show im Treibhaus (2015)

Der Paris-Effekt: Jubelnd in den Klimakollaps

»Copenparis«: Das neu vermarktete Scheitern

Umweltschützer: Händler der Hoffnungen

Misstöne von Konservativen: Sündenbock China

Gipfelzirkus: Ausbleibende Tempelreinigung

Des Kaisers neue Kleider: Der erpresste Klimadeal

Desaster-Klimapolitik ohne globalen Kompass (2009–2020)

Unter Tabu: Extreme Kohlenstoffungleichheit

Radau im Regierungsbezirk: Die »Kohlenstoffinsolvenz«

Blackbox Klimaschulden

Kein Skandal: Die Zahlungsverweigerung der Industriestaaten

Kenias Windpower: Klimagelder für Investoren

Die Neuerfindung der Klimapolitik (2015–2020)

Nach Paris: Lunte an die Klimabombe legen

Von Trump zur AfD: Rechter Kulturkampf

Spiel nicht mit den »Öko-Terroristen«

Generation Alarm: Kurswechsel Jetzt!

Klimanotstand und Sonnenaufgang

Epilog: Sind wir noch zu retten?

Von Gelber Wut zum Green New Deal

Machbar? Ein paar Fakten zur Verhinderung der Katastrophe

Für Energiewende-Skeptiker: Ökostrom oder Verzicht?

Wir sind die Energie-Revolution

Dank

Vorwort

Wir lassen nicht locker!

Es ist so hart, zuversichtlich zu bleiben in diesen Zeiten, in denen Kalifornien brennt oder Australien oder Griechenland oder Brasilien. In denen es flutet, in denen es schmilzt. In denen es stirbt. Krass hart ist es, da zuversichtlich zu bleiben, in dieser 1,2°C wärmeren Welt, die tobt, die eskaliert. Und wir fragen uns: Was soll denn da noch kommen? Was sollen denn 1,5°C noch werden? Und es ist krass hart, zuversichtlich zu bleiben, wenn wir hören, was unsere Regierung macht, mit einer 3-bis-5°-Politik, was soll denn da noch kommen? Und in den Momenten, wenn wir hören, dass man verhandeln muss, wie viel Klimaschutz wir uns noch leisten können – obwohl wir doch wissen, dass das Einzige, was unbezahlbar ist, kein Klimaschutz ist. In diesen Momenten ist es hart, zuversichtlich zu bleiben. Und wir möchten schreien und rufen und sagen: Macht die Augen auf!

Und wir fragen uns, wie viele Katastrophen braucht es noch? Wie viele Stürme, wie viele Fluten, wie viele Brände, wie viele Gletscher müssen denn noch schmelzen? Und dabei kennen wir die Antwort. Keine! Es braucht keine weiteren Katastrophen, es braucht keinen weiteren Brand, es braucht keine weitere Kriseneskalation. Und schon gar nicht ein weiteres Grad, bevor wir handeln können. Denn wir können handeln. Wir sind nicht hier, weil die Klimakrise gefährlich ist. Wir sind hier, weil wir wissen, dass es nicht so bleiben muss. Wir sind nicht hier, weil es brennt, sondern weil wir wissen, dass man löschen kann. Wir sind hier, weil wir wissen, dass eine klimagerechte Welt möglich ist, solange wir für sie kämpfen. Und weil wir wissen, dass es möglich ist, lassen wir nicht locker. Weil wir wissen, dass es möglich ist, lassen wir die Verantwortlichen nicht aus ihrer Pflicht. Und weil wir wissen, dass es möglich ist, machen wir weiter.

Wir haben in den letzten 1,5 Jahren Unmögliches geschafft. Wir haben eine Diskussion verändert. Und jetzt kommen wir zu dem Punkt, an dem wir Taten einfordern und Taten brauchen. Und auch da werden wir nicht locker lassen. Natürlich nicht. Was jetzt kommt, was im nächsten Jahr kommt, hin zur Bundestagswahl, das wird hart. Es wird unbequem. Und Menschen wollen sehen, wie wir daran untergehen. Menschen wollen sehen, dass wir aufgeben. Menschen wollen sehen, dass wir scheitern. Menschen wollen sehen, dass wir aufhören, unbequeme Fragen zu stellen. Menschen wollen sehen, dass wir aufhören, für unsere Zukunft zu kämpfen. Menschen wollen unsere Resignation. Aber das kriegen sie nicht. Wir werden im nächsten Jahr alles tun, was in unserer Macht steht, dass diese Bundestagswahl die erste wird, in der jede demokratische Partei einen 1,5°C-Plan hat. Wir werden für effektive Reduktionen kämpfen. Wir werden für Klimagerechtigkeit kämpfen. Wir werden für 1,5°C kämpfen, denn wir wissen, dass es möglich ist, solange wir da sind. Und wir sind da, und zwar sowas von!

Und wie das geht – 1,5°C? Wie das geht – Klimagerechtigkeit? Es geht durch uns! Es geht durch uns, die immer mehr wissen. Es geht durch uns, die wir wissen, dass wir auf der Seite der Geschichte stehen, von den Menschen, die interveniert haben, als es noch nicht zu spät war. Wir sind die, die rechtzeitig »Stopp!« rufen. Deshalb sind wir hier. Nicht weil es schlimm ist, sondern weil es besser werden kann. Nicht weil es ungerecht ist, sondern weil es gerechter werden kann. Nicht weil die Klimakrise eskaliert, sondern weil es nicht so bleiben muss. Deshalb sind wir hier. Und deshalb werden wir bleiben.

Sie wollen unsere Resignation, und sie bekommen sie nicht. Sie wollen, dass wir mit der Coronakrise untergehen, aber das tun wir nicht. Sie wollen, dass wir von der Straße fernbleiben, aber wir kommen. Denn wir haben etwas, das niemand anderes hat. Es ist die Gewissheit, dass wir unsere eigene Zuversicht sind. Die Hoffnung wird uns nicht präsentiert. Nicht über die Medien und die Politik. Nein, die Hoffnung ist unter uns. Ihr alle seid Grund zur Hoffnung. Wir alle sind ein Grund der Zuversicht. Wir alle sind jemand, der jemand anderem die Hoffnung gibt, weiterzumachen. Und wir werden immer mehr. Wir lassen nicht locker! 1,5°C sind möglich, eine klimagerechte Zukunft ist möglich, solange wir dafür kämpfen.

Luisa Neubauer

(Leicht gekürzte Rede beim globalen Klimastreik vor dem Brandenburger Tor, Berlin, 25. September 2020)

Einleitung

Kurs Klimakollaps: Wer ist verantwortlich?

Der Traktor dreht sich quer zur Straße und droht zu kippen. Sein Anhänger, mit Bruchsteinen beladen, drückt unerbittlich. Mein Vater löst die Bremse, es ruckelt mächtig, während ich versuche, mich festzuhalten. Gerade noch fängt sich der Trecker. Wir rollen vorsichtig den Rest des abschüssigen Feldwegs hinunter.

Ich war damals wohl dreizehn Jahre alt. Einige werden ähnliche Erinnerungen haben an Geschehnisse, bei denen alles hätte schiefgehen können. Wenn einem klar wird, dass die Erwachsenen nicht alles unter Kontrolle haben. Dass es Kräfte gibt, mit denen man sich nicht anlegen sollte. Aber auch, dass mit geistesgegenwärtigem Handeln die Katastrophe verhindert werden kann.

Ich erinnere mich der Szene noch aus einem anderen Grund. Wir kamen damals aus einem Steinbruch und hatten den Abfall, der kommerziell für den Betreiber nicht verwertbar ist, eingesammelt und aufgeladen. Mit Grünsand- und Feldsteinen baute mein Vater die Außenwände des Hauses, in das wir später einziehen sollten. Er verwendete Naturmaterialien: Altpapier, Kork, selbst die Wolle seiner Schafe für die Isolierung, Baumstämme für die Konstruktion. Er weißte die Wände mit Kalk.

Wir lebten zu großen Teilen von dem, was der Bauerngarten hergab, und von den eigenen Schafen. Verschwendung gab es nicht, alles wurde in einem Kreislauf möglichst verwertet. Auch, weil meine Eltern noch Krieg und Nachkriegszeit erlebt hatten. Die Essensreste kamen auf den Kompost oder wurden an die Schafe verfüttert. Dinge reparierte man. Mein Vater, der von Bauer auf Bildhauer und Möbelbauer umgesattelt hatte, verwendete keine Nägel und Schrauben, er verzapfte das Holz. Später pflanzte er einen kleinen Wald an. »Das, was ich der Natur entnommen habe, will ich ihr zurückgeben.«

Ich verbrachte Kindheit und Jugend in den 1970er und 1980er Jahren in einem kleinen Dorf in Westfalen. Sicher lebten nicht alle Familien wie wir in unserer »Burg«. Aber der Geist der Nachhaltigkeit war überall vorhanden. Zwar wurde den Leuten auch damals schon eingeredet, dass sie Produkte »verbrauchen«. Aber ich habe noch keinen getroffen, der einen Fernseher kauft, um ihn zu verbrauchen statt zu nutzen und zu pflegen. In Wahrheit versucht eine Marketingmaschinerie, die allein in den USA jährlich ein bis zwei Billionen US-Dollar umsetzt – Kosten, die im Übrigen den Produkten draufgeschlagen werden –, Menschen zu Konsumenten zu degradieren. Die »geplante Obsoleszenz«, das künstliche Verkürzen der Lebensdauer von Produkten, ist nur die Spitze des Eisbergs.1

Das Bemühen um ein nachhaltiges Leben wie das meiner Eltern war in gewissem Sinn aber auf Sand gebaut. Jedenfalls, was den Klimawandel angeht, der heute zu Recht Klimakrise oder Klimakatastrophe genannt wird. Meine Mutter musste als Lehrerin jeden Tag mit dem Auto in die zehn Kilometer entfernte Stadt zur Schule fahren. Zum Einkaufen ohnehin. Das Haus wird bis heute mit einem Kachelofen beheizt, also durch Verbrennen von Holz, in der Küche stocherte mein Vater lange den Ofen mit Kohle, später kam eine Gasheizung dazu. Wir fuhren mit dem Auto nach Italien. Meine Eltern flogen, wenn auch erst spät und dann selten, mit dem Flugzeug in den Urlaub.

Meine drei Geschwister und ich haben gewiss einen größeren CO2-Fußabdruck als meine Eltern. Das ist nicht das Resultat von bewussten Entscheidungen, sondern durchs Leben bedingt. So arbeitete ich eine Zeit lang als Journalist in den USA. Wenn ich richtig zähle, habe ich dabei in gut zwei Jahren fünf Transatlantik-Flüge gemacht. Das allein sind ­insgesamt rund 20 Tonnen Kohlendioxid. Der durchschnittliche jährliche CO2-Verbrauch eines Deutschen lag damals bei rund 11 Tonnen. Heute versuche ich nur noch zu fliegen, wenn es sich nicht vermeiden lässt. In den letzten Jahren hat das geklappt. Meine Frau will nicht ganz auf Fernreisen verzichten. Ich möchte irgendwann mal meine Freunde in den USA wiedersehen. Es ist nicht leicht.

Zudem hat unser Verzicht, der nie genug scheint, keinen Einfluss auf die globale Klimakrise. Er ist natürlich wichtig, für einen selbst, als Signal. Aber die Schwierigkeiten verweisen auf ein Paradox, mit dem wir alle leben. Da Kohlendioxid in allem steckt, was uns umgibt, ist der kalte Entzug nicht vergleichbar mit der Bekämpfung anderer Bedrohungen wie der des sauren Regens oder der schwindenden Ozonschicht. Die konnten quasi per Knopfdruck abgeschaltet werden.

Die Klimakrise ist zudem um ein Vielfaches bedrohlicher. Die Vorhersagen der Wissenschaft sind heute derart vernichtend, dass einem schwindlig wird. Die Hitze, die wir bereits jetzt schon nahe der Erdoberfläche durch das menschengemachte Kohlendioxid in der Atmosphäre einfangen, entspricht der von 400000 Hiroshima-Bomben jeden Tag oder vier pro Sekunde. Im Durchschnitt ist die Erdtemperatur bisher um 1,2°C gestiegen. Studien zeigen, dass auch dann schon ein Drittel des Gletschereises schmelzen wird, wenn wir sofort aufhören, Treibhausgase zu produzieren. Aber bisher steigt die globale Emissionsmenge jährlich weiter an. Vorausgesetzt, alle Staaten tun, was sie zum Schutz des Klimas beim Gipfel in Paris versprochen haben, wird die Erde dennoch um 3–4°C aufgeheizt. Bei einem menschlichen Körper bedeutet ein derartiges Dauerfieber den Tod.2

Für uns Bewohner auf dem Planeten wird es bedeuten: In 80 Jahren werden die niedrigen und mittleren Lagen der Erde wegen des Hitzestresses sowie der Dürren nicht mehr bewohnbar sein und die meisten Bevölkerungen kaum noch ­Zugang zu Trinkwasser haben. Während die Zahl der ­Menschen ­zunimmt, wird die Landfläche schrumpfen. Elf Milliarden anstelle der gegenwärtigen knapp acht prognostiziert man für das Ende des Jahrhunderts. Johan Rockström, Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK), stellt vor diesem Hintergrund fest: »Es ist kaum vorstellbar, wie es möglich sein soll, acht Milliarden Menschen oder selbst die Hälfte davon zu versorgen.« Also werden in den kommenden Jahrzehnten viele, wahrscheinlich Milliarden Menschen sterben, wenn es keine Kursänderung gibt. »Eine reiche Minderheit mit modernem Lebensstil wird sicherlich überleben können, aber es wird eine chaotische, von Konflikten angetriebene Welt sein.« Mein Sohn, wie alle, die heute geboren werden, müsste in dieser Welt zurechtkommen. Wenn zudem sogenannte Kipppunkte im Erdsystem bei der weiteren Erhitzung in Gang gesetzt werden, was zu einer nicht mehr kon­trollier­baren Selbstverstärkung führt, heißt es auf lange Sicht sogar Game-over für die Spezies Mensch.3

Wer ist aber verantwortlich, wenn nicht wir, die Konsumenten, unsere menschliche Natur, die unablässig nach Verbrauchen trachtet? Die Zahlen sind eindeutig. Die Indus­triestaaten vor allem in Europa und Nordamerika haben die Klimakrise verursacht, nicht Indien, China oder Afrika. Um genau zu sein: das Geschäftsmodell einer Reihe von Konzernen. So listet eine Studie die großen Profiteure des Kohlenstoffzeitalters auf: fünfzig privatwirtschaftliche Unternehmen, 31 Staatskonzerne und neun zentralistische Staaten, die als fossile Produzenten auftreten. Das Climate Accountability Institute hat die sogenannten Carbon Majors untersucht, die zwischen 1854 und 2010 für die meisten CO2- und Methanemissionen auf der Welt verantwortlich waren. Bis auf sieben Unternehmen, die Zement herstellen, sind alle Öl-, Gas- und Kohleproduzenten. Zusammen setzten sie ungefähr zwei Drittel der anthropogenen Treibhausgase frei.

Die sechs größten Emittenten dieses Clubs der Neunzig, mit fast 17 Prozent, heißen: Chevron (USA), Exxon-Mobil (USA), Saudi Aramco (Saudi-Arabien), BP (Großbritannien), Gazprom (Russland) und Royal Dutch/Shell (Niederlande). Der deutsche RWE-Konzern und seine Vorgängerunternehmen haben zu rund 0,5 Prozent auf das Klima eingewirkt. Auch ein Batzen, aber nicht ausreichend für die Top 20.4

Der Klimajournalist Bill McKibben bezeichnet diese Konzerne als »Schurkenindustrie«. Denn sie haben bereits in den 1970er Jahren gewusst, dass das Verbrennen von Kohle, Gas und Öl zu einem katastrophalen Klimawandel führen wird. Diese Erkenntnisse hielten sie aber unter Verschluss. Seitdem hat man viel Geld mit der toxischen Ware gemacht, während die Öffentlichkeit mit Kampagnen überzogen wurde, um den notwendigen Umstieg auf erneuerbare Energien (Wind, Sonne, Wasser, Geothermie) zu verlangsamen.

Etliche Untersuchungen zeigen, wie die »Klimaschmutzlobby« (der Titel eines gut recherchierten Buchs von Susanne Götze und Annika Joeres) immer wieder politisch intervenierte, um Klimaschutz auszuhebeln: vom Bauernverband über die Auto- und Luftfahrtindustrie bis zu den energieintensiven Branchen wie Stahl, Chemie und Bergbau, im Schlepptau stets die jeweiligen Gewerkschaften. Was nicht überrascht. Wenn man den Sumpf trockenlegt, beginnen die Frösche zu quaken.

Denkt man einen Schritt weiter, ist das aber nur die halbe Geschichte. Und jetzt wird es etwas ungemütlich für uns. Warum haben wir das zugelassen, vor allem jene, die über Einfluss verfügen? Warum siegte bei einer derart existenziellen Krise die Schurkenindustrie und konnte eine politische Kursänderung verhindern? Parlamente und Regierungen werden ja nicht von RWE und VW gewählt, sondern von uns.

Und was ist mit der Presse, den Kontrolleuren der Mächtigen? Was ist mit den öffentlich-rechtlichen Sendern, die finanziert werden von den Gebühren der Bürger, nicht vom Bundesverband der deutschen Industrie (BDI)? Allein in Deutschland arbeiten über 80000 Journalisten. Sie ­berichten fast im Stundentakt über das, was in unserem Namen geschieht. Warum schlug niemand Alarm? Auch andere Gruppen könnten Einfluss nehmen: Professoren, Vertreter zivilgesellschaftlicher Verbände, Kirchen. Niemand von ihnen arbeitet für die fossilen Industrien.

Und schließlich, was ist mit mir? Als ich in den 1990er Jahren studierte, war Klimawandel kaum ein Thema – jedenfalls nicht in meinem Umfeld. Ich hielt ihn für ein weiteres Problem wie das Ozonloch. Dann wurde das Kyoto-Abkommen beschlossen. Die Industriestaaten vereinbarten verbindliche Klimaziele. Alles sah gut aus. Ich half mit meiner Stimme, die Grünen in Regierungsverantwortung zu bringen. Ich überzeugte sogar meine Eltern, dasselbe zu tun. Schließlich brachte das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) Wind und Sonne als Energiequelle in Fahrt. Wenn ich nun von Berlin zu meinen Eltern fuhr, konnte ich vom Garten aus sehen, wie Windräder aus dem Boden sprossen und Bauern ihre Scheunen mit Solarpanelen bestückten.

In den Redaktionen, in denen ich als Journalist arbeitete, wurde über alles Mögliche geredet, nicht aber über die Klimakrise. Ich kann mich noch an einen Pressetermin erinnern. Das war im nordrhein-westfälischen Ibbenbüren. Der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) flog mit dem Helikopter ein. Die Zechen-Kapelle spielte. Er versprach den Bergleuten Unterstützung. Aber bei einer Untertagefahrt erfuhr ich, dass der Kohlebergbau ein teures Zuschussgeschäft ohne Zukunft sei. Man halte ihn nur noch am Leben, um den Export von Bergbautechnologie zu befördern. Das Ende der Kohle schien schon besiegelt. Die Umweltverbände forderten zwar mehr Ambition von der Regierung. Aber das war ja selbstverständlich. Bei jeder Tarifverhandlung fordern die Gewerkschaften mehr, als die Arbeitgeber anbieten. Es roch nicht nach Katastrophe, jedenfalls für mich.

Meine Sorglosigkeit sollte aber Risse bekommen. In den USA begegnete ich immer mehr warnenden Stimmen wie der vom Klimaforscher James Hansen, der zum Aktivisten wurde. Sie mahnten: Wir rasen sehenden Auges auf den Abgrund zu. Die Öl-Politik der Bush-Cheney-Administration brachte zudem radikale Klimabewegungen auf den Plan. Barack Obama versprach dann zwar, eine Energiewende einzuleiten und Millionen grüner Jobs zu schaffen. Doch unter seiner Führung blockierten die USA 2009 auf dem Klimagipfel in Kopenhagen erneut eine Kursänderung. Ich sah das und war zum ersten Mal besorgt.

Zu der Zeit kannte ich bereits wissenschaftliche Berichte des Weltklimarats (IPCC). Vor allem die sogenannte Budgetrechnung schockierte mich. Sie gibt an, wie viel Treibhausgase global noch in die Atmosphäre ausgestoßen werden können, ehe wir über die gefährliche Schwelle von plus 2°C kommen. Die Zahlen des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) von 2009 sowie der Klimaforscher Alice Larkin (früher Bows-Larkin) und Kevin Anderson vom britischen Tyndall Centre wirkten wie der durchdringende Ton eines Rauchmelders: Ab 2035 dürfen die Industriestaaten keine Kohle, kein Öl und Gas mehr für die Energiegewinnung nutzen, soll das Schlimmste noch verhindert werden. Da erschien die gleichzeitige Ankündigung der EU, erst nach 2050 zu dekarbonisieren, also auf Null-­Emissionen zu fahren, wie eine planetare Angriffserklärung.

Die Krise der Erdatmosphäre ist heute längst eine politische. Immer mehr Leute wachen auf und sehen, dass etwas schiefläuft. Im Jahr 2019 gingen Millionen gegen die Klimapolitik ihrer Regierungen auf die Straße. Sie fürchten den drohenden Klimakollaps und fordern einen Green New Deal. Sie wissen: Nur eine Energierevolution in den nächsten Jahren kann uns noch retten. Ob die Verantwortlichen dazu gebracht werden können, den Kurs rechtzeitig zu ändern, lässt sich nicht sagen. Sicher ist jedoch: Die nächste Protestwelle wird kommen, und sie wird größer sein als die letzte.

Vor diesem Hintergrund erzählt das Buch die Geschichte der globalen Klimapolitik. Es zeigt am Beispiel Deutschlands und der USA auf, wie die Welt auf Kurs Klimakollaps gebracht und über Jahrzehnte gehalten wurde. Wie die Regierungen der Industriestaaten die wissenschaftlichen Erkenntnisse seit den 1970er Jahren ignorierten und weiter auf fossile Brennstoffe setzten. Wie die Entwicklungsländer mit der Energiewende alleingelassen wurden und Konzerne Klimaschutz in den USA und der EU blockierten. Wie Medien am Thema vorbeigingen, Klimaschützer attackierten und mit der Erzählung vom »Klimavorreiter Deutschland« die Bürger beruhigten. Und wie selbst wissenschaftliche Politikberater und Umweltschützer die Situation schönfärbten.

Es sind Protokolle eines historischen Versagens, aber auch verpasster Chancen. Zugleich ist es eine Geschichte von unten, die beleuchtet, wie zurückgedrängte Bewegungen neue Wege suchten und dabei an Stärke gewannen. Sie erzählt von mutigen Klimaschützern und Vorreiter-Politikern. Die Kursänderung ist nach wie vor möglich, auch wenn Energiewende-Skeptiker das Gegenteil behaupten und Fatalismus verbreiten. Dazu braucht es 100 Prozent Erneuerbare in kurzer Zeit und viel Geld für die globale Kehrtwende.

Der Blick zurück mahnt aber auch zu Realismus. Die Politik – und das bedeutet nicht nur Regierung und Parlament – muss für die Kursänderung massiv unter Druck gesetzt werden. Wie Martin Luther King vor streikenden Arbeitern sagte: »Was ist Macht? Der Gewerkschaftsführer Walter Reuther sagte einst, dass ›Macht die Fähigkeit von Gewerkschaften (…) ist, den mächtigsten Konzern der Welt – General Motors – dazu zu bringen, ja zu sagen, wenn er eigentlich nein sagen will‹.«5

Die Protestbewegungen haben die Industriestaaten bereits gezwungen, ihre Treibhausgase etwas schneller zu reduzieren. Die Klimaschmutzlobby ist nicht allmächtig. Lässt man sie weitermachen, droht nicht nur ein Traktor umzustürzen, sondern es wird, wie Bill McKibben sagt, das »menschliche Spiel« auf der Erde infrage gestellt.

1 Michael Dawson: The Consumer Trap. Big Business Marketing in American Life. Urbana / Chicago 2003.

2 Bill McKibben: Falter. Has the Human Game Begun to Play Itself Out? New York 2019, S. 22.

3 Gaia Vince: The Heat is on Over the Climate Crisis. Only Radical Measures Will Work. The Guardian, 18. Mai 2019 [https://tinyurl.com/y6bdqhr5].

4 Stefan Kreutzberger: Tanz auf dem Vulkan. Hintergrund, 12. September 2019 [https://tinyurl.com/y44kfgub].

5 Paul Heideman: Um rassistische Ungleichheit zu bekämpfen, müssen wir die Macht der Konzerne angreifen. Jacobin, 11. August 2020 [https://tinyurl.com/y3dzg6gs].

Teil I: Das Versagen der Politik

Der globale Termitenbefall (1859–1987)

Der Klimawandel wird entdeckt und ignoriert

Stellen Sie sich vor, ein Bauprüfer teilt Ihnen mit, dass Termiten ihr Haus befallen haben und das Dach einstürzen wird. Sie wären ein Dummkopf, wenn Sie nicht handeln würden. Die Entdeckung des Klimawandels sei zwar, so Spencer R. Weart, lange nicht derart klar gewesen. Aber es habe seit den 1950er Jahren ausreichend Berichte gegeben, die auf den, um im Bild zu bleiben, Befall hingewiesen hätten.6

Schon im 19. Jahrhundert hatten der britische Naturwissenschaftler John Tyndall und der schwedische Nobelpreisträger Svante Arrhenius den Zusammenhang von Kohlendioxid-Produktion und Erderwärmung entdeckt. Tyndall beschrieb in einer Vorlesung an der Royal Society in England 1862 den Treibhauseffekt mit einem prägnanten Bild: »So wie ein Staudamm ein lokales Anschwellen eines Flusses bewirkt, so erzeugt unsere Atmosphäre, die als Barriere für die von der Erde kommende Strahlung wirkt, einen Anstieg der Temperaturen an der Erdoberfläche.«7

Tyndall berechnete, dass eine Verdopplung des Kohlendioxid-Gehalts der Atmosphäre die Temperatur um 4–6°C ansteigen lässt, da dadurch die Sonnenrückstrahlung von der Erde wie in einem Treibhaus eingefangen wird. Nach dem Prinzip: mehr CO2, mehr Wärme. Der Brite Guy Stewart ­Callendar in den 1930er Jahren und der US-amerikanische Klimaforscher Charles David Keeling in den 1950er Jahren fanden schließlich heraus, dass die CO2-Konzentration in der Atmosphäre durch das Verbrennen von Kohle, Gas und Öl stark ansteige. Der menschengemachte Klimawandel wurde seitdem mehr und mehr anerkannt als ein ernstes Problem.

1956 nutzte der kanadische Physiker Gilbert Plass erstmals einen Computer, um die zu erwartende Erwärmung zu kalkulieren. Er konnte dabei auf Daten der Johns Hopkins University zurückgreifen. Seine Berechnungen ergaben, dass sich die Erde bei Verdoppelung der atmosphärischen CO2-Konzentration um 3,6°C erwärme. Für das Jahr 2000 ging er davon aus, dass der Gehalt in der Atmosphäre um 30 Prozent ansteige. Daraus resultiere eine globale Erwärmung von etwa 1°C.8

Die Erderwärmung lag nach Plass’ Berechnung also in der unmittelbaren und nicht, wie früher noch gedacht, ferneren Zukunft. Der renommierte US-Klimatologe und Ozeanograf Roger Revelle, der bedeutende Forschungsarbeiten über den ansteigenden CO2-Gehalt veröffentlicht hatte und vor den Gefahren des Treibhauseffekts frühzeitig warnte, folgerte: »Die Menschheit hat ein großangelegtes geophysikalisches Experiment begonnen, das es in dieser Form weder in der Vergangenheit gab noch in der Zukunft ein zweites Mal geben wird.«9

1956 berichtet das US-Magazin Time auf Grundlage von Revelles Forschung über den Treibhauseffekt. Die weitere Verbrennung von Kohle, Gas und Öl werde, so Revelle, »einen gewaltsamen Effekt auf das Erdklima« haben. Im internationalen geophysikalischen Jahr 1957/58 konnte schließlich nachgewiesen werden, dass die Verbrennung fossiler Brennstoffe die atmosphärische Konzentration von CO2 tatsächlich ansteigen lässt.10

Eine angesehene Wissenschaftler-Vereinigung befand 1965, dass »ab dem Jahr 2000 der Anstieg von CO2 in der Atmosphäre (…) vielleicht ausreiche, um nachweisbare und eventuell deutliche Änderungen im Klima zu erwirken«. Der britische Meteorologe John Stanley Sawyer sah 1972 im Magazin Nature einen Anstieg um 0,6°C bis 2000 voraus. Eine ziemlich exakte Prognose. Sawyer mahnte, der Erwärmung mehr Beachtung zu schenken. In den 1960er Jahren ergaben zudem diverse Simulationen einen Anstieg von 2–4°C, wenn der CO2-Anteil in der Atmosphäre sich verdoppeln sollte. Dieser Unsicherheitsfaktor besteht bis heute. Das liegt an der sogenannten Klimasensitivität, die Schwankungen zulässt.11

In den 1970er Jahren rückte der Treibhauseffekt immer mehr in den Fokus verschiedener Forschungsfelder. Modelle wurden entwickelt, die den künftigen Anstieg der Erdtemperatur genauer berechneten. Der Geochemiker Wallace Smith Broecker, als »Dekan unter den Klimawissenschaftlern« bezeichnet, prägte 1975 schließlich den Ausdruck »globale Erwärmung«. »Es wurde für die Forscher zunehmend schwierig, sich nicht um den Treibhauseffekt zu sorgen«, schreibt Spencer Weart. »1979 bestätigten die leistungsstärksten Computer, dass es unmöglich ist, ein Klimamodell zu konstruieren, bei dem sich die Temperatur nicht um einige Grad erhöht, wenn der CO2-Gehalt sich verdoppelt.«12 Zu dieser Zeit warnte auch die renommierte Wissenschaftsorganisation National Academy of Sciences in den USA vor der globalen Erwärmung. Sie ging davon aus, dass eine CO2-Verdopplung die Temperatur um 1,5–4,5°C ansteigen lassen werde.

1981 warnten Klimawissenschaftler zudem: »Die Auswirkungen von CO2 sind vielleicht noch nicht bis zur Jahrhundertwende feststellbar. Dann jedoch könnte die atmosphärische CO2-Konzentration bereits so hoch sein (und weiter ansteigen), dass klimatische Änderungen, die deutlich größer sind als jemals zuvor im letzten Jahrhundert, nicht mehr aufzuhalten sind. Um das zu verhindern, wäre es notwendig, Entscheidungen zu treffen (zum Beispiel die Reduktion menschengemachter CO2-Emissionen), und zwar einige Zeit, bevor ein eindeutiger ›Beweis‹ über den Effekt von CO2 auf das Klima vorliegt.«13

Die sich verdichtenden Erkenntnisse zum Klimawandel waren auch der Grund, warum Öl-Konzerne wie Exxon oder Shell in den 1970er Jahren zunehmend besorgt waren und intern Forscherteams beauftragten, den für sie alarmierenden Befund zu prüfen. Die Wissenschaftler kamen zu dem Ergebnis, dass die fossile Energienutzung nachweislich einen Treibhauseffekt erzeuge mit am Ende katastrophalen Folgen. Die Studien wurden den Vorständen präsentiert, jedoch unter Verschluss gehalten, bis sie vor einigen Jahren durchsickerten. Es war aber nicht so, dass Exxon den Gutachten keinen Glauben schenkte. So erhöhte der Konzern seine Ölplattformen, um für den prognostizierten Anstieg des Meeresspiegels gewappnet zu sein. Zudem schickte man ein Forscherteam nach Alaska, um die Effekte des Klimawandels zu untersuchen. Es stellte fest, dass die Exploration von Ölfeldern in der Region durch die globale Erwärmung kostengünstiger werde und sich die Bohrsaison von zwei auf fünf Monate verlängere, was auch eintrat.14

Sicherlich gab es lange Unsicherheiten, auch unterschiedliche Einschätzungen, was den Treibhauseffekt und seine Auswirkungen betrifft. Im Gegensatz zum Termitenbefall ist der Klimawandel ein komplexes Phänomen, bei dem wissenschaftliches Neuland betreten wurde. Doch es kristallisierte sich im Verlauf heraus, dass man es mit einem planetaren Problem bisher unbekannter Dimension zu tun hat. Die Daten zeigten, dass die Erwärmung zu nicht revidierbaren Konsequenzen führen werde.

Früh stand also fest, dass die Natur des Problems es erfordert, umgehend zu handeln und nicht erst auf einen absoluten Beweis und allgemeinen Konsens zu warten. Denn dann könnte es zu spät sein, wie Forscher immer wieder betonten. So verwies der Club-of-Rome-Bericht »The Limits to Growth« (Grenzen des Wachstums) 1972 darauf, dass, auch wenn nicht genau klar sei, wann die CO2-Verschmutzung zu irreversiblen Schäden des Erdklimas führen wird, die begrenzte Fähigkeit der Erde, Schadstoffe zu absorbieren, Grund genug sei, äußerste Vorsicht walten zu lassen. Vor allem auch, weil »die Gefahr, solche Grenzen zu erreichen, besonders hoch ist, da es üblicherweise lange dauert, bis sich die negativen Effekte der in die Umwelt eingebrachten Schadstoffe auf das Ökosystem zeigen«.15

Die politisch Verantwortlichen reagierten nicht, obwohl sie unterrichtet waren. In einem Bericht an das Weiße Haus etwa hieß es schon 1965: »Bis zum Jahr 2000 wird es 25 Prozent mehr CO2 in unserer Atmosphäre geben als heute. Das wird das Wärmegleichgewicht der Atmosphäre derart modifizieren, dass deutliche Änderungen im Klima auftreten müssen, die nicht mehr durch lokale oder selbst nationale Anstrengungen unter Kontrolle gebracht werden können.«16

Das wissenschaftliche Beratungsgremium in den USA ging von einem Anstieg zwischen 0,6 und 4°C bis zur Jahrhundertwende aus. Wenn künftig nur die Hälfte der verbleibenden fossilen Rohstoffe verbraucht und damit die CO2-Konzentration in der Atmosphäre verdoppelt würde, lande man bei 2–12°C. Der Bericht warnte zudem vor sich selbst verstärkenden Prozessen (den erwähnten Kipppunkten im Erd­system) wie die erhöhte CO2-Freisetzung bei sich erwärmenden Ozeanen. Es drohe ein Meeresspiegelanstieg von 12 Metern pro Jahrhundert, sollte das Antarktische Eisschild in einem Prozess von 1000 Jahren abschmelzen. Die Wissenschaftler sprachen von einem »gewaltigen geophysikalischen Experiment«, das die Menschheit hier durchführe. Die US-Regierung setzte aber weiter auf fossile Energien.17

Ein anderer Bericht von 1977 nun an das Energieministerium der USA zeigte, dass die fossilen Energien zu unerträglichen und unumkehrbaren Katastrophen führen werden. Zwei Jahre später verschickten Elite-Forscher der amerikanischen Geheimdienste eine Studie mit dem Titel »Die langfristigen Umweltfolgen von CO2 für die Atmosphäre« nicht nur ans Weiße Haus, sondern auch an das Energieministerium, ­Dutzende von Wissenschaftlern in den USA und im Ausland, Interessenverbände, Ministerien, Umweltbehörden sowie das Pentagon. Sie warnten vor Dürren, Ernteausfällen, Migra­tionsbewegungen, Abschmelzen der Polkappen und einem Meeresspiegelanstieg von mehr als fünf Metern.18

Auch auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs gab es Forscher, die dem Treibhauseffekt und der globalen Erwärmung nachgingen. Ein Team aus Wissenschaftlern der DDR, UdSSR und ˇCSSR fuhr Mitte der 1970er Jahre an den Äquator, zur Arktis und in Gebirgsregionen, um klimatische Veränderungen zu erkunden. Das Fazit der Forscher: »CO2 kann auf Grund des Treibhauseffektes zur Erwärmung führen.« Der Meteorologe Karl-Heinz Bernhardt von der Humboldt-Universität Berlin gehörte zu dem Team. Ihm und seinen Kollegen war klar: »Die Jahresmitteltemperatur der Erde steigt. Es kann sogar zu einer sehr drastischen Zunahme kommen.«19 Doch auch die Regierungen der sogenannten Ostblock-­Staaten hatten andere Prioritäten, als auf den Klimawandel zu reagieren. In der DDR führte der starke Anstieg des Ölpreises in den 1970er Jahren dazu, dass die Regierung zunehmend auf Braunkohle setzte.

Auch in der Bundesrepublik war früh bekannt, was der Treibhauseffekt anrichten wird. So erschien »Weather« von Philip D. Thompson und Robert O’Brien 1966 auf Deutsch. Die Autoren warnten darin: »Die Öfen und Verbrennungs­maschinen der Menschen stoßen etwa 12 Milliarden Tonnen Kohlendioxyd pro Jahr in die Erdatmosphäre ab. In den nächsten fünfzig Jahren wird sich die Menge vervierfachen. Eine solche Wachstumsrate könnte die mittlere Temperatur auf der Erde um etwa 1°C erhöhen und dadurch, auf lange Sicht gesehen, das Grönlandeis und die ausgedehnten arktischen Eisfelder zum Schmelzen bringen, den Meeresspiegel um fünfzig Meter anheben und alle Häfen und Küsten in der Welt unter Wasser setzen.«20 Fünfzig Jahre später sollte sich die Erde tatsächlich, wie vorhergesagt, um gut 1°C erwärmen.

Die Bundesregierung hätte ihre Politik auch an den Erkenntnissen des Klimatologen Hermann Flohn ausrichten können. Der sagte 1979 auf der World Climate Conference in Genf, es sei sehr wahrscheinlich, dass »kurz nach der Jahrhundertwende ein Niveau erreicht werden könnte, dass alle Warmperioden der letzten 1000 bis 1200 Jahre übersteigt (…) Dieses Risiko muss selbst bei sehr hohen Kosten vermieden werden«.21 Der Temperaturanstieg falle in den Polarregionen sogar um das Dreifache höher aus. Daher sei es möglich, dass der weitere CO2-Ausstoß »ziemlich schnell zu einem eisfreien Arktischen Ozean führe«. Das werde nicht nur einen steigenden Meeresspiegel zur Folge haben, sondern auch einen starken Rückgang an Regenfällen um das Mittelmeer, im Nahen Osten und im Südwesten der USA sowie eine Zunahme von Sommerdürren in den heißen und subtropischen Regionen.

Die Weltklimakonferenz in der Schweiz verabschiedete am Ende einen Bericht und eine Deklaration. Es sei »die profundeste und umfassendste Darstellung des Klimas und seiner Beziehung zur Menschheit«, schrieb David Arthur Davies, Generalsekretär der World Meteorological Organisation (WMO). Der menschengemachte Klimawandel wurde darin als plausible Tatsache anerkannt. Schon Ende des Jahrhunderts werde eine globale Temperaturerhöhung nachweisbar sein, die sich bis Mitte des nächsten Jahrhunderts zu einem »bedeutsamen Ereignis« entwickeln könnte. Daher müsse man, um »ernsthafte Umweltprobleme« zu vermeiden, »einige Aspekte der Weltwirtschaft (…) umbauen«. Es wurde zugleich ein Weltklimaforschungsprogramm und das Intergovernmental ­Panel on Climate Change (IPCC), der sogenannte Weltklimarat, ­initiiert und 1988 dann offiziell ins Leben gerufen.

Wissenschaftler mit Blackout: Keine Panik!

Zur selben Zeit begannen politische Beratungsgremien das Thema herunterzuspielen. So beauftragte US-Präsident Jimmy Carter 1979 die National Academy of Science mit einem Bericht zum CO2-Problem. Eine Million Dollar wurden dafür bereitgestellt. Im Oktober 1983, mittlerweile unter Ronald Reagan, dem jeglicher Umweltschutz verhasst war, veröffentlichte man die Ergebnisse. In der 496 Seiten langen Untersuchung »Changing Climate« werden die dramatischen Folgen geschildert, bis zu Handelskriegen und politischen Revolutionen. Der Vorsitzende William Nierenberg kommt im Vorwort zu dem Schluss, dass auf der Stelle gehandelt werden müsse, und zwar bevor alle Details überprüft seien.

Die bis dahin teuerste Studie zur Klimakrise wurde auf einer großen Gala in der Wissenschaftsakademie in Washington D.C. vorgestellt. Auch die Vize-Präsidenten der mächtigen Gas- und Ölkonzerne waren anwesend. Sie hatten die Kommission beraten. Auf der Pressekonferenz ereignete sich dann Bemerkenswertes. Die Wissenschaftler behaupteten auf einmal, dass es gar keinen dringenden Handlungsbedarf gebe, ihrem eigenen Bericht widersprechend. Nierenberg stellte fest: »Vorsicht, keine Panik.« Auch Roger Revelle, der seit Jahrzehnten vor der Erderwärmung gewarnt hatte, beschwichtigte: »Wir stellen die Ampel auf Gelb, nicht auf Rot.« »Es handelt sich keineswegs um eine absolute Katastrophe. Es geht um einen Wandel.« Nathaniel Rich fragt in »Losing Earth« zu Recht, warum Klimaforscher, die alle Präsidenten seit Eisenhower gewarnt hatten, den Klimawandel plötzlich herunterspielten. »Aus alldem zu folgern, dass nichts unternommen werden solle, war nicht bloß wahnsinnig, sondern schlicht falsch.«

Warum sie es trotzdem taten, kann Rich nicht aufklären. Doch er gibt Hinweise. So gehörte der Vorsitzende Nierenberg zum »quasi-königlichen Rat« von Wissenschaftlern, der seit Franklin D. Roosevelt das Weiße Haus beraten habe. Er sei konservativer Republikaner, Reagan-Anhänger, marktgläubig zudem und ein Vertreter des amerikanischen Exzeptionalismus, der von einer Sonderstellung der USA überzeugt ist. Alle beteiligten Wissenschaftler hatten ferner die Technikgeschichte Amerikas maßgeblich geprägt, an der Atombombe mitgebaut, für das Militär im Zweiten Weltkrieg gearbeitet, die Raumfahrt entwickelt und die Computerindustrie ermöglicht. Sie seien durchdrungen von technokratischem Optimismus.

Die Medien sprangen sofort auf die Beschwichtigung an. »Nierenbergs Presseerklärung zu Changing Climate, die hundertmal kürzer war als die Studien (…), erhielt hundertmal so viel Medienaufmerksamkeit«, so Rich. Washington Post und New York Times brachten Schlagzeilen wie »Weckruf zum Nichthandeln« und »Wachsender Widerstand gegen Über­eilung bei Erderwärmung«. Dabei griffen sie auf vom Weißen Haus überarbeitete Aussagen zurück.

Der menschengemachte Klimawandel wurde in den folgenden Jahren von der Presse fallengelassen. Die Industrie zog sich von dem Thema ebenfalls zurück. Es drohte keine Gefahr mehr für ihr Geschäftsmodell. Aktivisten und Umwelt­politiker wie Al Gore mussten von vorne anfangen, um politische Öffentlichkeit für das Thema zu erzeugen. Erst mit dem Ozonloch viele Jahre später fanden wieder Anhörungen zum Klima­wandel im Kongress statt.

Auch in Deutschland wurden von politisch beauftragten Wissenschaftlern in den 1980er Jahren Beruhigungspillen verteilt. Angesichts diverser Umweltkrisen und Proteste hatte die Bundesregierung bereits 1972 einen Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU) ins Leben gerufen, angegliedert an das Bundesinnenministerium. Ein Umweltministerium gab es zu der Zeit noch nicht. Das Gremium arbeitete aber nicht wirklich unabhängig. Die Mitglieder wurden vom Ministerium handverlesen, Vertreter der Regierung nahmen an den Sitzungen teil. Die Berichte waren vor allem in der Anfangszeit darauf bedacht, nicht in Konflikt zu geraten mit dem politischen Kurs und den ökonomischen Interessengruppen, wie u.a. Gerhard Timm gezeigt hat. Die Untersuchungen zeichneten die Umweltkrisen meist weich und endeten mit »politisch akzeptablen« Empfehlungen im Einklang mit den Industrie- und Unternehmerverbänden.22

Am deutlichsten war die Tendenz des Rats, Umweltkrisen und deren Folgen herunterzuspielen, im Fall der globalen Erderwärmung. So fasste der SRU in seinem Sondergutachten »Umwelt und Energie« von 1981 den Kenntnisstand zum Klimawandel zusammen, basierend auf einem Gutachten des Meteorologen Heinz Fortak. Es heißt in dem Bericht, dass sich der CO2-Gehalt der Atmosphäre durch die Nutzung fossiler Energien nach Forschungskonsens voraussichtlich von 336 Teilchen pro Millionen (ppm) schon in 50 Jahren verdoppeln werde. Die Klimamodelle zeigten, dass sich damit die mittlere Lufttemperatur in der Nähe der Erdoberfläche um 2,8°C erhöhen wird (Schwankung zwischen 1,5 und 4). Die Erwärmung sei am größten über den Polarkappen. Doch trotz dieser wissenschaftlichen Erkenntnisse gab man Entwarnung: »Der Rat mißt nach Abwägung aller bekannt gewordenen Fakten der CO2-Belastung aus dem Verbrauch fossiler Brennstoffe keine wesentliche Bedeutung für das globale Klima zu. Der vielschichtige Problemkreis sollte aber weiterhin aufmerksam verfolgt werden.«23

Ein fehlgeleitetes Umweltvotum, das der wissenschaft­lichen Einsicht, wie sie u.a. der Klimatologe Flohn acht Jahre zuvor geäußert hatte, diametral widersprach. Kein einziger Meteorologe, Ozeanograf oder mit dem Klimathema vertrauter Wissenschaftler saß damals im 12-köpfigen Gremium des Bundesinnenministeriums. Dafür ein Wirtschafts- und Finanzwissenschaftler sowie Experten für Lärmpsychologie, Landesplanung und Umweltrecht.

Die Zusammensetzung des Gremiums sowie das Relativieren der drohenden Klimakrise änderten sich auch sechs Jahre später nicht. Im SRU-Umweltgutachten 1987 spielte der durch die hohen Treibhausgas-Emissionen erzeugte Klimawandel wie zuvor kaum eine Rolle. Drei von 677 Seiten sind dem »gewaltigen geophysikalischen Experiment« gewidmet. 13 Seiten dagegen beschäftigen sich allein mit den Belastungen von Immissionen auf wildlebende Tiere in Deutschland. Die großangelegte Untersuchung ging nicht einmal darauf ein, was eine globale Temperaturerhöhung von bis zu 4°C bis Mitte des nächsten Jahrhunderts bedeuten würde. Vielmehr fokussierten die Politikberater noch stärker als zuvor auf ­Ungewissheiten.24

Wenn Realwissenschaft auf Realpolitik trifft

Damit hatte sich der SRU vollends ins wissenschaftliche Nirwana verabschiedet. Er ignorierte bewusst die immer lauter werdenden Forderungen von Experten. So warnte etwa Ende 1985 der Arbeitskreis Energie der Deutschen Physikalischen Gesellschaft (DPG) vor den weltweiten Klimaänderungen. Man diskutierte Gegenmaßnahmen, die aber von den politisch Verantwortlichen nicht ergriffen wurden. Darum veröffentlichte die DPG ein Jahr später gemeinsam mit der Deutschen Meteorologischen Gesellschaft (DMG) einen Aufruf.

Klimawandel sei »eine der größten Gefahren für die Menschheit«. Bei Überschreitung einer globalen Erwärmung um 1°C im Vergleich zum Durchschnittswert vor der Industrialisierung sei mit schwerwiegenden Folgen zu rechnen. Sie würden sich nicht spektakulär ankündigen, doch wenn sie einmal auftreten, werde es zu spät sein.25 Um die Temperaturerhöhung einigermaßen einzudämmen, müssten alle Treibhausgase sofort »stetig und kontinuierlich« vermindert werden, dass »in spätestens 50 Jahren (also 2037 – D.G.) die Emissionsraten insgesamt im weltweiten Mittel höchstens noch ein Drittel der heutigen Emissionsraten betragen. Das bedeutet ab sofort eine Verminderung aller Emissionsraten um im Mittel ca. 2 Prozent pro Jahr, und zwar weltweit. Würde mit den Einschränkungen erst nach ein bis zwei Jahrzehnten begonnen, nachdem bereits deutliche Klima­änderungen sichtbar geworden sind, müßte die Reduktion der Emissionsraten innerhalb von zwei bis drei Jahrzehnten auf ein Viertel der heutigen Werte erfolgen. Dies bedeutet eine Verminderung der Emissionsraten um ca. 7 Prozent pro Jahr; eine solche Reduktion ist nicht realisierbar.«

Die Wissenschaftler empfahlen Gegenmaßnahmen wie drastische Energieeinsparungen durch Effizienzsteigerung und den schnellen Ausbau der erneuerbaren Energien, inklusive der weiteren Erforschung technologischer Möglichkeiten. Sie forderten zudem die Festlegung von Limits für noch tolerierbare Treibhausgase, die Erarbeitung von Szenarien, um diese Obergrenzen zu erfüllen, und die Erstellung von Quoten für die USA, EG-Länder, Japan, UdSSR und China, die zusammen die Hälfte des fossilen Kohlenstoffs förderten und verbrauchten. Die Lösung der Krise sei nur international möglich und erfordere einen klaren Plan. Die Experten der DPG und DMG wussten dabei, dass die Klimakrise eine mathematische Gleichung ist, mit einem festen CO2-Budget und entsprechenden Reduktionskurven, die sich nicht um Willensbekundungen kümmert. Der Aufruf wurde mit einer Auflage von 2500 Exemplaren gedruckt und an Politiker, Journalisten, Vertreter der Wirtschaft sowie die Mitglieder der DMG verschickt.

Die Forderungen basierten im Prinzip auf dem, was man in den Klimawissenschaften heute Budgetrechnung nennt. Danach gibt es ein begrenztes globales Treibhausgasbudget bei einer festgelegten maximalen Temperaturerhöhung. Dieser »CO2-Kuchen« muss auf die einzelnen Staaten der Welt verteilt werden. Was für die Industriestaaten wiederum bedeutet, ihren Ausstoß ab 1986 schnell zu minimieren, um im 1°C-Budget zu bleiben – vorausgesetzt, es findet eine einigermaßen faire, gleichmäßige Verteilung je nach Bevölkerungsgröße statt. Denn die reichen Länder müssen von einem extrem hohen pro-Kopf-Emissionslevel aus starten, so dass ihr Kuchenstück schnell aufgegessen wird. Die Bundesrepublik etwa hatte Ende der 1980er Jahre einen Pro-Kopf-Verbrauch von 14 Tonnen, Indien dagegen 0,6 Tonnen, China 1,9. Die Budgetrechnung enthält also eine ziemlich unangenehme Nachricht für die Industriestaaten: Ihr müsst sofort handeln, Energie einsparen, aus den Fossilen aussteigen und sie er­setzen durch erneuerbare Energien.

Solch eine globale Rechnung mit nationalen Budgets wurde aber, wie wir noch sehen werden, in den Industriestaaten über Jahrzehnte hinweg aus der politischen und massenmedialen Arena verbannt beziehungsweise mit irreführenden und getunten Zahlen aufgehübscht. Es gab daher gar keinen Druck für Staaten wie Deutschland, budgettreu zu reduzieren. Später verkaufte man mit korrumpierten nationalen Zielen eine fehlgeleitete Politik als »ambitioniert«. Heute liegen die globalen Emissionen über 60 Prozent höher als damals, nicht wie gefordert 60 Prozent niedriger. Das Worst-Case-Szenario trat ein, vor dem die deutschen Meteorologen gewarnt hatten.

Dabei war der Politik früh klar, dass gehandelt werden muss. Eine Untersuchung von Daniela Russ (Universität in Toronto) zeigt, dass in den 1980er Jahren alle Parteien in Deutschland, Österreich und der Schweiz den Klimawandel in ihren Wahlprogrammen zum Gegenstand machten. Sie leugneten ihn keineswegs, obwohl das damals noch leichter möglich gewesen wäre als heute. Russ kommt zu dem Schluss: »Der anthropogene Klimawandel war und ist in den drei untersuchten Ländern nicht sachlich umstritten. Diese grundlegende Problembeschreibung, die Geschichte des Treibhauseffektes, zieht sich mehr oder weniger stark durch alle Wahlprogramme. Damit wird nicht nur das Problem parteiübergreifend definiert, sondern auch eine bestimmte Lösung präferiert, nämlich die Reduktion der Treibhausgase. Beim Klimawandel handelt es sich damit in erster Linie, und auf dieser grundlegenden Ebene, um das seltene Phänomen einer parteiübergreifend geteilten Problembeschreibung.«26

Jedoch bestand die Einigkeit zu dieser Zeit vor allem darin, kaum über die globale Erwärmung zu sprechen. Anfänglich war es die deutsche FDP, die sie zum Thema machte. In ihrem Programm hieß es: »Die Verbrennung von Erdöl, Erdgas und Kohle, der Gebrauch von Fluor-Chlor-Kohlenwasserstoffen, z.B. in Spraydosen oder das Abholzen großer Waldgebiete inner- und außerhalb Europas können zu unübersehbaren Gefahren der Klimaveränderung bis hin zur Veränderung unserer Atmosphäre führen.« Die Liberalen forderten »die Untersuchung der Auswirkungen dieser Gefahren und die ­Erarbeitung notwendiger Gegenmaßnahmen, die weltweit getroffen werden müssen«.

Die drohende Umweltkatastrophe war aber auch für die FDP letztlich ein vernachlässigbares Problem. Als die Grünen 1983 in den Bundestag einzogen und das Thema besetzten, ließ die FDP es mehr und mehr fallen. Russ spricht von ­einem politischen Value-Thema: Die Parteien schmückten sich mit Klimaschutz-Rhetorik. Sie signalisierten nach außen Umweltbewusstsein, um Punkte bei den Wählern zu erzielen.

Daher blieben die Programme in Sachen Gegenmaßnahmen vage und beliebig. Das gilt für Deutschland, Österreich und die Schweiz gleichermaßen. Man riet zu Steuern und Anreizen, meist ohne Hinweis, auf welche Bereiche das konkret abzielen sollte. Auch Atomkraft galt in den 1980er Jahren noch als Lösung für eine CO2-freundliche Energiegewinnung. Das änderte sich infolge des großen Reaktorunglücks von Tscher­nobyl.

Im Bundestag kam Klimaschutz auch schon zur Sprache, aber ebenfalls nur als Randthema. So zeigt eine Recherche der Süddeutschen Zeitung, dass mit dem Einzug der Grünen erstmals Begriffe wie »Treibhauseffekt« oder »Erderwärmung« in den Reden auftauchten. 1994 wurde der Begriff »Klimawandel« in einer Rede benutzt. Die Autoren kommen zu dem Schluss: »Das gesellschaftliche Interesse an Umwelt- und Naturschutz brachte die Grünen in den Bundestag, aber das Interesse war nicht stark genug, um eine nachhaltige Veränderung beim Klimaschutz anzustoßen. Zunächst galt das Klima als eines von vielen Umweltthemen. Eine gemeinsame internationale Anstrengung war lange Zeit undenkbar. Die Politik konnte sich nicht auf Lösungsvorschläge verständigen und diese verfolgen. Bis heute wird das Problem bagatellisiert oder sogar geleugnet.«27

Der Ölpreis-Schock: Energiewende später

Der erste, der auf das Phänomen des Klimawandels im Bundestag einging (wenn er es auch noch nicht beim Namen nannte), war Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD), nach einem Wirtschaftsgipfel in Tokio 1979. Vor dem Hintergrund der Ölkrisen sorgten sich die Industriestaaten um die zunehmend unsicheren, verteuerten Ölimporte aus den OPEC-Ländern. Schmidt teilte den Bundestagsabgeordneten mit, dass auf dem Gipfel ein Konsens erreicht worden sei. Es werde eine dauerhafte Ölverknappung geben, so die einhellige Meinung dort. Daher müssten die Verbräuche gesenkt sowie Kohle und Kernkraft als alternative Energiequellen ausgebaut werden. Auch umweltfreundliche Quellen sollten mehr Aufmerksamkeit bekommen. In diesem Zusammenhang erwähnte Schmidt auch den Klimawandel: »In den letzten drei Jahrzehnten haben sich die Emissionen an Kohlendioxid auf der ganzen Welt verdreifacht. Die möglichen Konsequenzen für das Klima auf dem ganzen Erdball – nicht allein, aber z.B. auch in der Sahel-Zone – sind noch nicht sicher abzuschätzen, aber sie werden bei den langfristigen energiepolitischen Entscheidungen berücksichtigt werden müssen.«28

Am Ende seiner ökonomisch ausgerichteten Rede kündigte er an, Einsparbemühungen wegen der steigenden Ölpreise zu verstärken, die Priorität auf deutsche Kohle und Atomenergie zu setzen und neue Nutzungstechniken für Kohle zu erforschen: »Obwohl die massive Nutzung von Kohle trotz modernster Techniken auf Grenzen stößt, nämlich durch die damit verbundene Umweltbelastung, so wird die Kohle bei der Verstromung doch weiterhin Vorrang haben müssen. (Beifall bei der SPD und der FDP) Deshalb wird die deutsche Steinkohle jährlich mit 6 Milliarden DM unterstützt. Wir tun das, obwohl die Kohle auf diese Weise teurer wird, weil sie der einzige gewichtige Energieträger ist, bei dem wir uns von ausländischen Entscheidungen weitestgehend unabhängig machen können. (…) Die Bundesregierung wird die neuen Techniken zur Verflüssigung und Vergasung von Kohle von 1977 bis 1980 mit insgesamt 650 Millionen DM fördern.«29

Otto Graf Lambsdorff (FDP), Minister für Wirtschaft, bekannte sich ebenfalls zur Kohle, da trotz Einsparungen der Energieverbrauch im Jahr 2000 um »etwa ein Drittel höher sein wird als jetzt« und »die neuen Energien, wie z.B. Sonne, Wind und Erdwärme, nur einen um 5 Prozent liegenden Anteil des Gesamtverbrauchs beisteuern können«, so die Prognose des Ministeriums. »Für dieses unverzichtbare Mehr an Energie ist die Kohle unumstritten eine tragende Säule. Unsere Politik, der deutschen Kohle trotz hoher Kostennachteile ihren angemessenen Platz zu sichern, werden wir konsequent fortführen.«30

Die Prognose zeigt, wohin die Regierung energiepolitisch Ende der 1970er Jahre steuerte: mehr Energieverbrauch mittel- und langfristig, größtenteils gedeckt durch subventionierten Kohleeinsatz, während die Erneuerbaren ihrem Schicksal überlassen werden sollten. In einem Szenario der Regierung von 1980 spielen Wind und Sonne folgerichtig bis zum Jahr 2000 keine Rolle, während die Energiegewinnung aus Kohle-, Erdgas- und Atomkraftwerken kontinuierlich ansteigt.31

Man wollte also nicht nur nichts gegen die steigenden Treibhausgase unternehmen, sondern plante, über die nächsten zwei Jahrzehnte den Ausstoß weiter voranzutreiben. Das ist die realpolitische Bedeutung der »Energieunabhängigkeit« und »Berücksichtigung« des Klimawandels, wie sie nicht nur von der deutschen Regierung, sondern von den Führungen aller Industriestaaten in Tokio ausgerufen wurde. Im deutschen Parlament stimmte auch die Union, damals in der Opposition, in den Beifall ein.

Den Prognosen und Ankündigungen folgten entsprechende Taten. Eine Analyse der Forschungs- und Entwicklungsgelder (R&D) für Energiequellen zeigt, dass seit 1973 in Deutschland durchgehend deutlich mehr Mittel in fossile und nukleare Energien flossen als in klimaneutrale Erneuerbare. 1983 waren es 400 Millionen DM bei den fossilen. Die Gelder für Kernkraft wuchsen schon seit den frühen 1960er Jahren massiv an und gipfelten 1983 auf einen jährlichen Wert von 1,5 Milliarden Mark. Forschungsmittel für Erneuerbare gab es dagegen erst ab Anfang der 1980er Jahre, und die machten lediglich 4 Prozent aller R&D-Ausgaben für Energie aus. 1983 erreichten die Mittel mit 80 Millionen DM ihr Maximum, um dann abzusinken und erst in den 1990er Jahren wieder leicht zu steigen. Selbst 2001 flossen noch 80 Prozent mehr Gelder in Atomkraftforschung. Rolf Wüstenhagen und Michael Bilharz schreiben daher 2003: »Der Erfolg der erneuerbaren Energien in Deutschland konnte sich vollziehen, obwohl die Regierung in den letzten fünfzig Jahren bei der Forschungs- und Entwicklungsförderung stark auf Atomenergie fokussiert war.«32

In den 1980er Jahren gab es wegen fehlender Entwicklungsprojekte dann auch keine nennenswerte Energie aus erneuerbaren Quellen in Deutschland – abseits der schon bestehenden Wasserkraftwerke, die aber nur einen kleinen Teil der Energie für die Stromgewinnung abdeckten. Die 100 Meter hohe Growian-Windkraftanlage, die 1983 in Betrieb genommen worden war, riss man schon 1988 wieder ab. In der Mitte des Jahrzehnts sind einige kleinere Windräder entstanden, die aber kaum einen Effekt erzielen konnten. Denn 1979 hatten der Energieverband VDEW und der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) zwar eine Vereinbarung geschlossen, Strom aus erneuerbaren Energien in die Netze aufzunehmen und entsprechend zu vergüten. Die meisten Versorger verweigerten allerdings die Abnahme. Die Vergütung lag mit weniger als zehn Pfennigen pro Kilowattstunde zudem weit unter den Erzeugungskosten von Windrädern oder gar Solaranlagen.33 In der Darstellung des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (der sogenannten Wirtschaftsweisen) werden deswegen beim Primärenergieverbrauch nach Quellen Erneuerbare wie Photovoltaik, Windkraft und Biogas auch erst ab 1995 aufgeführt. Sie waren davor eine unbedeutende Größe.34

Das lag aber nicht daran, dass Windkraftanlagen oder Solar­panels in Deutschland zur Stromgewinnung noch nichts beitragen konnten. Der durch das Anwachsen der Anti-Atomkraftbewegung aufgeschreckte Bundestag setzte zum Beispiel 1979 die Enquete-Kommission Zukünftige Kernenergiepolitik aus Abgeordneten und Wissenschaftlern ein. Ein Jahr später kam die Kommission in einem Zwischenbericht mehrheitlich zu der Überzeugung, dass ein Ausstieg aus der Atomwirtschaft möglich sei, wenn der Energiebedarf gesenkt und Erneuerbare ausgebaut würden. Zu dieser Zeit erzeugten deutsche Atomkraftwerke jährlich über 400 Petajoule, das sind 3,5 Prozent des damaligen Primärenergieverbrauchs. Den Erneuerbaren wurde vom Bundestagsgremium also deutlich mehr zugetraut als energetische Totgeburten zu erzeugen.

Und das war noch eine konservative Schätzung. Das Ökoinstitut sah deutlich mehr Potenziale für Erneuerbare, die selbst der SRU zum Anlass nahm, die Politik zum Handeln aufzurufen.35 In »Die Energiewende – Wachstum ohne Erdöl und Uran« errechneten die Umweltwissenschaftler 1980, dass die Erneuerbaren in den nächsten Jahren 10 Prozent des ­Verbrauchs abdecken könnten. Durch weiteren Ausbau der alternativen Energien und gesteigerte Effizienz lasse sich der fossile Anteil bis 2030 um 75 Prozent gegenüber 1980 reduzieren. Die Hälfte der gesamten Energie Deutschlands würden dann die Erneuerbaren erzeugen.36

Das Ökoinstitut war mit dieser Ansicht nicht allein. Es gab bereits eine Reihe wissenschaftlicher Szenarien, die eine Komplettumstellung berechneten. 1975 wurde das erste 100-Prozent-­Szenario für Schweden erstellt (»Solar ­Sweden«). Weitere folgten. 1978 für Frankreich (ohne Zieljahr), 1980 für die USA mit dem Zieljahr 2050, 1982 für Westeuropa mit dem Zieljahr 2100 und 1983 für Dänemark für 2030. Man hätte daran anknüpfen und entsprechende Maßnahmen ergreifen können, aber wie Hermann Scheer beklagt: »Keines dieser Szenarien wurde jedoch öffentlich wahrgenommen, selbst wenn sie – wie 1980 in den USA – von Regierungsorganisationen (wie in diesem Fall von der Federal Emergency Management Agency, FEMA) veröffentlicht und mit Hilfe der Union of Concerned Scientists, einer unabhängigen Wissenschaftsorganisation mit zahlreichen Nobelpreisträgern unter ihren Mitgliedern, erstellt wurde. Im Mainstream der Energie­diskussion waren solche Szenarien tabu. Selbst ein deutscher Greenpeace-Vertreter antwortete mir noch im Jahr 2006 auf die Frage, warum seine Organisation sich in ihren Veröffentlichungen nicht auf solche Szenarien beziehe: ›Wir wollen ernst genommen werden.‹ Mittlerweile veröffentlicht Greenpeace selbst 100-Prozent-­Szenarien.«37

Solche Skepsis prägte von Anfang an die Debatte in Deutschland und blockierte die Wende. So erklärte 1977 Hans-Karl Schneider, der damalige Direktor des Energiewirtschaftlichen Instituts der Universität Köln und Vorsitzende der »Wirtschaftsweisen«: »Mehr als fünf Prozent sind bei Sonnenenergie, Windenergie, Erdwärme und anderen ›exotischen‹ Energien einfach nicht drin.« Er sollte mit seiner Annahme wie die Pessimisten nach ihm Unrecht behalten (dazu im ­Epilog mehr). Obwohl erst seit dem Jahr 2000 mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) Wind, Sonne und Biomasse den Markt wirklich betreten durften, waren es 2010 bereits 10 Prozent. Bis 2030 hätten durch mehr Energieeffizienz und Ausbau der Alternativen 100 Prozent erreicht werden können, wie Berechnungen zu jener Zeit zeigen.38