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Was brauchen wir für ein geglücktes Leben? Auf jeden Fall die Linse, durch die es geglückt erscheint. Hinreißend herzerwärmend erzählt Sanaka Hiiragis Roman von der Schönheit des Lebens im Auge des Betrachters. Das Fotostudio von Herrn Hirasaka ist ein magischer Ort: Hier, an der Schwelle zum Jenseits, können die Besucher aus Fotografien ihren persönlichen Lebensfilm zusammenstellen. Hirasaka bietet dabei einen besonderen Service: Jeder Besucher erhält die Möglichkeit, zu einem bestimmten Moment seiner Vergangenheit zu reisen und eins der Fotos aufzufrischen. Ob eine einstige Erzieherin mit blasser Erinnerung ans Nachkriegs-Tokio, ein ermordetes Yakuza-Mitglied, das glaubt, nichts als eine bedauernswerte Schneise der Verwüstung hinterlassen zu haben, oder ein Mädchen aus perspektivlosen Verhältnissen – ihnen allen zeigt Hirasaka: Das Leben ist doch wunderschön, man muss nur im richtigen Moment hinsehen.
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Seitenzahl: 215
Sanaka Hiiragi
Die Erinnerungsfotografen
Roman
Aus dem Japanischen von Yukiko Luginbühl und Sabine Mangold
Hoffmann und Campe
Zeiger und Pendel der alten Wanduhr standen still. Hirasaka lauschte angestrengt. Aber im Fotoatelier herrschte eine Totenstille, die förmlich in den Ohren hallte. Seine Lederschuhe versanken weich im Flor des abgenutzten roten Teppichbodens. Er ging hinüber zum Tresen und berührte sanft das Enziansträußchen, um die Blüten neu zu arrangieren.
Die weit geöffnete Flügeltür am Ende des Flurs gab den Blick auf das Studio frei. In dem schwach beleuchteten Raum stand vor einem herabgelassenen Papierrollo ein einzelner prunkvoller Stuhl mit nur einer Armlehne. Davor war eine große Balgenkamera auf einem Stativ aufgestellt, beide aus robustem Holz gefertigt. Der Apparat schien viel zu wuchtig, um von einer einzelnen Person bewegt werden zu können, sehr zum Erstaunen von Hirasakas Besuchern, die immer wieder überraschte Kommentare über sein bemerkenswertes Aussehen abgaben, wie: »Mann, ist das ein schwerer Klotz.« Die Experten unter ihnen ließen sich zu fachmännischen Urteilen hinreißen – »Ja, ja, die gute alte Zeit. Das ist doch eine Anthony, wenn ich mich nicht irre« –, worauf meist eine ausgiebige Diskussion über Kameras folgte.
Draußen huschte eine Gestalt am Fenster vorbei. Eine Stimme, begleitet von einem energischen Klopfen an der Tür, ertönte: »Hallöchen, der Lieferdienst, eine Sendung für dich, Hirasaka-san!«
Hirasaka staunte über die Fähigkeit des Zustellers, trotz seiner immer gleichen Tätigkeit stets gut gelaunt zu sein. Er öffnete ihm die Tür. Draußen stand der junge Yama in der Uniform seiner Lieferfirma, auf dem Revers das Logo einer weißen Katze, daneben sein Namensschild. Die nach hinten geschobene Mütze gab seinen kahl geschorenen Kopf frei, der gut zu seinen gebräunten Armen passte.
Als Hirasaka die Größe des Pakets erblickte, das oben auf dem Stapel von Yamas Sackkarre lag, stockte ihm fast der Atem.
»Dein nächster Gast scheint eine reizende junge Dame zu sein«, schmunzelte Yama und hielt Hirasaka das Klemmbrett hin.
»Ha, wehe, wenn nicht!«
Hirasaka musste ebenfalls grinsen und quittierte den Empfang.
»Das Paket ist doch bestimmt viel zu schwer für dich, Hirasaka-san. Ich werde dir beim Tragen helfen. Ich habe schon lange nicht mehr solch eine Riesenlieferung gehabt. Das müssen die Fotos aus schätzungsweise hundert Jahren sein.«
Keuchend hievten die beiden Männer das große Paket auf den Empfangstresen. Hirasaka stieß einen hörbaren Seufzer aus, angesichts der Menge von Fotos, die da auf ihn warteten. Yama lachte kurz auf: »Willst du dich nicht mal langsam eines Besseren besinnen und den Job hier kündigen?«
»Ja, schon. Aber ein bisschen möchte ich noch durchhalten.«
»Du bist echt ein harter Brocken, Hirasaka«, sagte Yama und schob seine Mütze zurecht. »Ich muss auch wieder los, zu meiner nächsten Lieferung. Immer auf Achse. Da nehmen wir uns nichts. Aber zu Tode sollten wir uns nicht schuften.«
»Zu Tode schuften? Wir? Ich würde sagen, das ist das Einzige, worüber wir uns keine Sorgen machen müssen.«
Yama winkte kurz, nahm sein Klemmbrett unter den Arm und machte sich mit seiner Karre wieder auf den Weg. Hirasaka bereitete das Zimmer für Hatsue Yagi, seine nächste Besucherin, vor. Er hoffte, ihr mit geeigneten Fotos einen würdevollen Abschied bereiten zu können. Und vor allem wünschte er sich inständig, irgendwann der Person zu begegnen, die er suchte.
»Hatsue? Hatsue Yagi?«, rief eine Männerstimme.
Als sie ihren Namen hörte, schreckte die alte Dame hoch.
Wo war sie? Sie lag auf einem Sofa. Über ihr war eine unbekannte Zimmerdecke, und vor ihr stand ein Mann, der sie mit besorgter Miene ansah.
Hatte sie etwa einen Hitzschlag erlitten? Immerhin war es draußen ganz plötzlich sehr heiß geworden. Aber als sie versuchte, sich zu erinnern, was passiert sein könnte, schien ihr Gedächtnis ganz verschwommen, wie in einen Nebel gehüllt.
Mein Name ist Hatsue. Ich bin zweiundneunzig und wurde in Toshima, Tokio, geboren. Na bitte, dement bin ich noch nicht … hoffentlich.
Leicht verängstigt starrte sie in das Gesicht des Mannes. Wenn er meinen Namen kennt, dann müsste er doch eine Art Bekannter sein. Aber wer mochte das sein …? Na, vielleicht hat er meinen Namen ja auf einem meiner Gepäckstücke gefunden, während ich hier lag.
Während sie in ihren Erinnerungen kramte, versuchte sie sich vorsichtig auf dem Sofa aufzurichten, wobei sie den unteren Rücken schonte. Für jemanden, der gerade ohnmächtig geworden war, schien ihr Körper nicht in schlechtester Verfassung zu sein, befand sie.
Aber wer sollte das bloß sein? Selbst wenn sie auf der Straße unerwartet gegrüßt wurde, erinnerte sie sich stets zur Freude der Person an deren Namen: »Ach, Sie sind doch Herr oder Frau Soundso?« Auf diese Weise von einem Moment auf den anderen alt und senil zu werden, war schon niederschmetternd.
»Herzlich willkommen. Ich habe Sie erwartet!«, sagte der Mann.
Als sie auf sich selbst deutete, um sich zu vergewissern, dass er tatsächlich sie meinte, nickte er.
»Hatsue – so heißen Sie doch, oder?«
»Ja, schon …«
Sie blickte zu ihm auf. Er trug ein graues Hemd mit Stehkragen, das ihm das Aussehen eines sanftmütigen Pfarrers oder Priesters verlieh. Sein Haar war ordentlich frisiert. Er wirkte freundlich, hatte jedoch auch etwas Rätselhaftes an sich. Seine Gesichtszüge waren nicht unbedingt attraktiv, aber auch nicht unansehnlich, eher unscheinbar, nicht sehr markant.
»Mein Name ist Hirasaka, und ich betreibe dieses Studio schon seit Längerem«, stellte er sich nun vor.
Wo ist denn eigentlich mein geliebter Spazierstock? Habe ich ihn etwa fallen lassen, als ich ohnmächtig wurde?
Als Hatsue sich im Zimmer umschaute, fing der Mann sofort an, die Räumlichkeiten zu beschreiben, um ihr offenbar die Umstände begreiflich zu machen.
»Gleich am Eingang links ist das Atelier. Fotos können aber auch im Innenhof gemacht werden. Auf der rechten Seite befinden sich dann der Empfangssalon und die Dunkelkammer. Kommen Sie, ich führe Sie kurz herum.«
Normalerweise pflegte Hatsue stets sofort nachzufragen, wenn sie etwas irritierte.
»Ich habe Sie erwartet« – was hat er damit gemeint? Was will dieser Inhaber des Fotostudios ausgerechnet von mir? Und wie bin ich überhaupt hierhergekommen? Ich kann mich an gar nichts erinnern.
»Hier entlang bitte«, dirigierte sie Hirasaka.
Sie hatte Fragen über Fragen, aber jetzt musste sie sich erst einmal aufrappeln. Es war lange her, dass sie ohne Krückstock unterwegs gewesen war. Sich am Sofa abstützend, fing sie an zu schlurfen. Seltsamerweise fühlte sie sich körperlich so wohl wie schon lange nicht mehr, die üblichen Kreuzschmerzen waren wie weggeblasen. Langsam wagte sie sich vorwärts und folgte Hirasaka, der ihr mit besorgter Miene den Arm anbot.
Der Salon, in den er sie geleitete, strahlte eine ruhige und gemütliche Atmosphäre aus. Das Ledersofa war zwar abgewetzt, aber glänzte wie frisch gewienert, und der altertümliche Holztisch war ebenfalls sehr reizvoll. Man merkte den Möbeln an, dass es sich nicht um protzige Antiquitäten handelte, sondern um geliebte Stücke, die ihr Besitzer gut pflegte. Für sein Alter hatte der junge Mann offenbar einen exzellenten Geschmack.
Durch das Fenster konnte sie in den Innenhof schauen, der von einem flackernden Lämpchen beleuchtet wurde. Bei genauerem Hinsehen erkannte sie moosbewachsene Steinlaternen, einen Traubenkirschbaum und eine japanische Silberbirke, beides prächtige Gewächse. Die Szenerie würde eine vortreffliche Kulisse für eine Aufnahme im Kimono abgeben, dachte Hatsue.
In der einen Ecke des Salons stand eine Etagere mit einem elektrischen Wasserkocher, einem Vakuumkaffeebereiter, Tassen und anderem Geschirr. Hirasaka war offenbar ein Putzteufel, denn es war kein einziges Staubkörnchen darauf zu erkennen. Dann bemerkte sie den großen Karton auf dem Schreibtisch.
»Ich bringe Ihnen eine Tasse Tee«, sagte Hirasaka und drehte ihr den Rücken zu, um mit geübten Bewegungen die Kanne vorzubereiten. Hatsue beobachtete ihn und wagte nun die Frage zu stellen, die ihr schon die ganze Zeit über auf der Seele brannte.
»Äh … Verzeihung …«
Hirasaka wandte sich um.
»Darf ich Sie etwas fragen, auch wenn es komisch klingen mag?«
»Nur zu«, sagte Hirasaka und wartete, dass sie fortfuhr.
»Könnte es sein … Wäre es möglich … dass ich eventuell gestorben bin?«
Hirasakas Augen weiteten sich leicht, doch dann bestätigte er ihre Vermutung.
»Ja, gerade eben. Normalerweise würde ich jetzt die Situation erklären, aber hin und wieder kommt mein Gast auch von selbst drauf, so wie Sie jetzt.«
Hatsue hatte gemischte Gefühle: Einerseits war sie erleichtert über die Antwort, aber auch verwirrt und sogar ein wenig stolz, weil man sie für ihre Klugheit gelobt hatte. Der Tee war perfekt, weder zu stark noch zu schwach. Sie hätte gedacht, dass tot zu sein sich auch so anfühlen müsse – eben mehr tot. Und dass sie zum Beispiel ein dreieckiges Tuch als Kopfbedeckung tragen oder einen durchsichtigen Körper haben würde. Aber als sie ihre Beine anschaute, erschienen ihr diese ganz wie aus Fleisch und Blut. Auch die Wärmeempfindung beim Trinken und das Aroma des Tees waren unverändert.
Hirasaka setzte sich auf den Stuhl ihr gegenüber und behielt sie im Auge.
Hatsue geriet ins Grübeln.
»Ich habe mir immer vorgestellt, dass mich im Jenseits meine Mutter, mein Vater und mein Mann empfangen würden.« Aber nun war es ein Wildfremder, der sie dort begrüßte.
»Keine Angst, das hier ist nur ein kurzer Zwischenstopp«, sagte er, wohl um sie zu beruhigen.
Sie dachte kurz nach, bevor sie fortfuhr.
»Sagen Sie mal, Herr Hirasaka, Ihr Familienname verweist doch nicht etwa auf den Yomotsu Hirasaka aus der Mythensammlung Kojiki? Der Hades, in den es die Gottheit Izanagi verschlägt?«
Hirasaka war erstaunt über Hatsues Frage. Der Yomotsu Hirasaka war der Grenzbereich zwischen der Welt der Lebenden und der der Toten, eine Art Abgrund.
»Sie kennen sich aber gut aus.«
Hatsue hatte schon immer Bücher verschlungen und war von Natur aus wissbegierig, daher besaß sie eine gute Allgemeinbildung. Wie tröstlich, dachte sie, dann kann mein Hirn ja nicht ganz eingerostet sein.
»Sie haben recht. Somit können wir gleich zum Wesentlichen kommen. Wir befinden uns hier tatsächlich in einem Grenzbereich zwischen Leben und Tod.«
»Und Sie, Herr Hirasaka, sind hier, um mich zu empfangen, ja?«
»Nun ja, eigentlich ist das hier nur eine Zwischenstation.«
»Sie meinen, das ist hier noch nicht die jenseitige Welt?«
»Genau.«
»Demnach müssten Sie dann Yama, der König der Unterwelt, sein, also eine Gottheit? Oder eine Art Buddha …? Aber Sie …« – sehen ganz und gar nicht danach aus. Diese Bemerkung hatte ihr auf der Zunge gelegen, als er ihr so ruhig lächelnd gegenübersaß. Mit der Teetasse in der Hand wirkte er nun mal wie ein ganz normaler Mensch.
»Ich bin nur ein Wegbegleiter. Wenn die Leute plötzlich erfahren, dass sie bereits gestorben sind, brechen sie sogleich in Tränen aus oder sind ganz niedergeschmettert. Einige veranstalten dann ein ziemliches Trara. Meine Aufgabe ist es, den Schock zu mildern. Deshalb ist dieses Fotostudio so gestaltet, dass es der Welt der Lebenden weitgehend ähnelt.«
Hatsue blickte sich um. Es stimmte, die Umgebung wirkte ganz friedlich, wie ein behagliches Fotostudio. Wäre sie stattdessen abrupt vor den König der Unterwelt gezerrt worden, hätte sie vor Angst gezittert und kein Wort herausgebracht.
»Deshalb tragen Sie auch noch ganz normale Kleidung. Sie sollen äußerlich so erscheinen, wie Sie es von sich gewohnt sind, damit Sie sich in Ihrer Haut wohlfühlen.«
»Ich bin froh, dass mein Knie wieder heil ist«, sagte sie und wippte mit ihrem rechten Bein hin und her. Hirasaka nickte zustimmend.
»Wenn Sie hier rennen, würden Sie ganz normal ins Schwitzen und außer Puste geraten. Im Prinzip stecken Sie noch im selben Körper wie zu Lebzeiten.«
Hatsue probierte, ihre Hand zu öffnen und zu schließen. Er hatte recht. Es fühlte sich unverändert lebendig an. Kaum zu glauben, dass ihr Körper in Wahrheit nicht mehr existieren sollte.
»Und wie wird es dort sein, wohin ich danach gehe? Ich meine das sogenannte Jenseits …«
Wenn’s sein muss, gehe ich überallhin, aber ich will wenigstens wissen, was mich erwartet. Es ist mir unheimlich, keine Ahnung zu haben, was als Nächstes passiert.
Offenbar hatte er ihre weiteren Gedanken erraten, denn er sagte:
»Verstehe. Zunächst haben wir sowieso noch etwas zu erledigen.«
Was sollte das sein? Hirasaka fing an, in der großen Kiste auf dem Tisch zu kramen. Er holte irgendwelche Dokumente hervor, zu Bündeln gepackt. Jedes Päckchen war mit weißem Papier ummantelt. Es kamen immer mehr Bündel zum Vorschein, jedes so dick, dass er es nicht mit einer Hand greifen konnte.
»Was soll das sein? Haben Sie meine Lesebrille? Ohne die kann ich nichts erkennen.«
»Es geht bestimmt auch ohne«, erwiderte Hirasaka. »Sie brauchen einfach nur Ihre Augen zu fokussieren.«
Als sie sich auf die vor ihr liegenden Bündel konzentrierte, gelang es ihr auf einmal, ihre sonst verschwommene Sicht scharf zu stellen. Sie konnte perfekt sehen. Es war lange her, dass sie mit bloßen Augen alles genau hatte erkennen können.
»Oh!«, rief sie erstaunt bei dem Anblick.
Vor ihr stapelten sich Unmengen Fotos. Hunderte und Aberhunderte Aufnahmen, auf denen die verschiedensten Szenen zu sehen waren. Der Platz in der Nähe ihres Elternhauses, Mutter und Vater in jüngeren Jahren. Wer konnte sie aufgenommen haben? Das Format war ein wenig größer als bei normalen Fotos. Die Bilder waren scharf, und man konnte alles gut erkennen.
»Es sind Aufnahmen aus Ihrem Leben, Hatsue. Eine pro Tag, das heißt dreihundertfünfundsechzig pro Jahr. Und da Sie zweiundneunzig Jahre alt geworden sind, hat sich im Laufe der Zeit eine beachtliche Menge angesammelt.«
Hatsue blätterte in den Fotos. Dabei entdeckte sie etliche Dinge wieder, die sie längst vergessen hatte. Der Brillenvogel, der immer im Kakibaum neben dem Grundstück ihres Elternhauses hockte. Die Ritzen in der abgenutzten Kiste, wo Milchflaschen abgestellt wurden. Das zauberhafte Streifenmuster, wenn das Sonnenlicht durch den vergitterten Eingang ins Haus fiel.
»Lassen Sie sich ruhig Zeit bei der Durchsicht. Ich möchte, dass Sie sich zweiundneunzig Fotos aussuchen, praktisch eins für jedes Jahr Ihres gesamten Lebens. Wählen Sie diejenigen, die Ihnen am besten gefallen.«
»Aber wofür denn?«, fragte sie verwundert.
Hirasaka öffnete eine Tür an der rechten Wand zu einem Raum, in dem hinter einer Werkbank ein undefinierbares Holzgestell zu sehen war. In dessen Mitte befand sich eine von vier Pfeilern gestützte Platte, auf der etwas abgestellt werden konnte, und diese Platte wiederum stand auf einem stabilen Sockel. Bambusleisten waren ebenfalls daran befestigt und eine Art Windrad, aber Hatsue konnte sich nicht vorstellen, welchem Zweck das Gerät dienen mochte. Die im Rohzustand befindlichen Holzelemente sahen aus, als würden sie erst noch behandelt werden.
»Hatsue, Ihre Fotoauswahl werden wir dann in diese Drehlaterne einsetzen.«
Hatsue schrak zusammen.
»Ist das etwa so eine Art Kaleidoskop, wo das Leben ganz schnell an einem vorbeizieht?«
»Das könnte man so sagen.«
»Aber jeder darf sich seine Fotos selbst aussuchen?«
Hirasaka berührte das Holzgestell.
»Ja, so ist es. Alle meine Gäste können eine persönliche Auswahl ihrer Lieblingsfotos treffen.«
»Das hätte ich nicht gedacht …«, sagte Hatsue immer noch verwundert. »Mit zweiundneunzig Fotos kann die Laterne sich ja sehenlassen. Ich freue mich schon darauf, Ihnen mein Leben vorzuführen – von null bis zweiundneunzig.«
Hatsue hatte immer geglaubt, dass die Drehlaterne nur eine Redewendung der Japaner für die letzten Augenblicke vor dem Tod sei.
»Oftmals berichten doch Menschen, die fast gestorben sind, von solch einer Drehlaterne.«
»Ja, das sind die seltenen Fälle von Nahtod-Erfahrungen. Diese Menschen waren hier, bevor sie wieder zu den Lebenden zurückkehrten. Wahrscheinlich vergessen sie einfach, dass sie jemals zu mir kamen, um ihre Fotos selbst auszuwählen. Alles, woran sie sich vage erinnern, sind die Szenen ihres Lebens, die in der Drehlaterne aufgeleuchtet sind. Schauen Sie sich gerne im Studio um.«
Hirasaka verließ kurz den Empfangssalon, um die gegenüberliegende Tür zu öffnen. Hatsue blickte in einen Raum mit einer sehr bequem aussehenden Chaiselongue in der Mitte. Nicht nur die Wände, sondern auch der Fußboden und das einzige Möbelstück waren in strahlendem Weiß gehalten. Das Ganze sah aus wie die Installation eines Künstlers. Auf der rechten Seite gab es eine weitere Tür, die nach draußen zu führen schien.
»Hier in diesem Zimmer findet der letzte Akt statt, wenn die Drehlaterne eingeschaltet wird. Die Vorführung ist allein für Sie gedacht, Hatsue. Ich würde mich allerdings sehr freuen, wenn ich als Konstrukteur des Geräts mit dabei sein dürfte.«
Eine sich langsam drehende Laterne. Diejenigen, die Hatsue kannte, waren aus traditionellem Japanpapier mit Blumenmuster gefertigt, durch welches das Licht rot oder gelb nach außen schimmerte.
»Hm, verstehe. Es ist also nicht so, dass man einen Fluss überquert und direkt ins Jenseits gelangt.«
»Man könnte es als eine Art Zeremonie bezeichnen, bei der man sein Leben Revue passieren lässt.«
Hatsue dachte, dies sei ein geeigneter Zeitpunkt, sich danach zu erkundigen, was ihr auf der Seele brannte.
»Sie sprachen von einer Art Zwischenstation. Aber was passiert mit mir danach?«
Hirasaka senkte den Blick und betrachtete seine Hände, bevor er Hatsue direkt anschaute. Offenbar fiel ihm die Antwort schwer.
»Tut mir leid, da muss ich leider passen. Ich weiß auch nicht mehr als das, was man vom Hörensagen kennt. Schließlich bin ich selbst noch nicht dort gewesen. Und niemand, der endgültig hinübergegangen ist, ist jemals zurückgekommen.«
Hatsue fühlte sich leicht beklommen. Was mochte das für eine Welt sein, in die sie anschließend gelangte? Oder würde sie sich einfach in nichts auflösen?
»Es heißt doch, eine Seele, die ins Nirwana eintritt, kann durch Wiedergeburt ein gänzlich neues Leben führen.«
Sie kehrten in den Salon zurück, wo Hirasaka ihnen Tee nachschenkte. Als er einen Schluck nahm, führte auch Hatsue ihre heiße Tasse an die Lippen. Während sie trank, dachte sie bei sich: Dieser Tee, den ich gerade trinke, hat genau die richtige Temperatur. Sterben bedeutet dann wohl, auch derartige Empfindungen zu verlieren. Ich werde alles vergessen, was ich je gewusst habe. Mein Bewusstsein erlischt dann.
Vermutlich war Hirasaka ihre verstörte Miene nicht entgangen, denn er versuchte ihre Ängste zu beschwichtigen: »Auch wenn man in die andere Welt übergeht, ist es nicht so, dass alles, was die Persönlichkeit Hatsue ausmacht, völlig verschwindet. Wir bewahren doch ein jeder die Erinnerungen unserer Vorfahren. Sie schlummern in der Seele.« Hirasaka unterbrach sich und spann den Gedanken etwas anders weiter. »Angenommen, Sie treffen jemanden zum ersten Mal, haben jedoch das untrügliche Gefühl, dieser Person schon einmal begegnet zu sein. Oder ein Ort kommt Ihnen vertraut vor, obwohl Sie noch nie dort gewesen sind. Solch ein Déjà-vu haben Sie doch bestimmt auch schon mal erlebt, oder?«
»O ja«, stimmt ihm Hatsue zu. »Sogar dieser Ort hier kommt mir seltsam bekannt vor.«
Hirasaka lächelte. »Das könnte durchaus eine der aufbewahrten Erinnerungen sein. Oder aber ein Zeichen für eine extreme emotionale Bindung an die Welt der Lebenden, zum Beispiel in Form von Groll oder Bedauern. Dann kann der Betreffende nicht so einfach hinübergehen. In diesem Fall bleibt die Seele am selben Ort gefangen.«
Hatsue nickte.
»Herr Hirasaka, Sie meinen also, ich soll meinem Alter entsprechend zweiundneunzig Fotos auswählen, um daraus meine persönliche Drehlaterne zu bauen. Und während ich mir die Rückschau ansehe, werde ich ins Nirwana eingehen.«
Folglich gab es noch eine Menge zu tun. Selbst das Sterben war mit Arbeit verbunden.
»Es spielt übrigens keine Rolle, wie berühmt oder wohlhabend jemand zu Lebzeiten war. Hier zählen allein die Erinnerungen.«
Hatsue starrte auf den Berg an Fotos, der sich vor ihr auftürmte. Wie lange würde es wohl dauern, bis sie alle durchgesehen hatte?
»Heutzutage, wo es Computer und Smartphones gibt, eine Drehlaterne noch mit den Händen zusammenzusetzen … finde ich eigentlich komisch.«
Hatsue wunderte sich wirklich ein wenig, dass sie in ihrer Todesstunde keine digitalen Bilder oder Videos aussuchen sollte, sondern papierne Fotos.
Hirasaka zog ein einzelnes Bild aus dem großen Stapel heraus.
»Mal sehen, was diese Szene hier bei Ihnen auslöst. Wissen Sie noch, wann und wo es aufgenommen wurde?«
Zu sehen war eine abschüssige Landstraße.
»Ach …«
Sie erinnerte sich.
Zu beiden Seiten dieser Straße erstreckten sich Reisfelder, so weit das Auge reichte. Eine Windböe bog die Halme, die wogten wie Meereswellen.
Sie lief die Straße hinunter und spürte, wie ihr der Schweiß über die Schläfen rann. Ein trockener Wind wehte. Er roch und schmeckte nach Salz. In Sichtweite hockte ein weißer Reiher, der erschrocken aufflog. Er schwang sich in die Lüfte empor und war nur noch als kleiner Punkt am Himmel zu sehen. Sie schaute ihm so lange nach, bis er ganz verschwunden war. Die Ärmel ihres Kimonos flatterten. Plötzlich rauschte der Wind in ihren Ohren. Sie war noch jung in jenem Sommer, der sich endlos hinzuziehen schien. Ihr Körper strotzte nur so vor Energie, und sie hatte das Gefühl, immer weiterlaufen zu können.
»Und? Weckt es Erinnerungen?«
»Ja, das tut es. Ich weiß es noch ganz genau. Das war die Straße, die durch Reisfelder hindurch in die nächste Ortschaft führte. Ich habe diese Gegend sehr geliebt.«
Von dem Augenblick an, als Hatsue das Foto in die Hand genommen hatte, sprudelten die Erinnerungen und Gefühle nur so in ihr empor.
»Haben Sie denn auch in letzter Zeit noch an diesen Ort gedacht?«
»Nein, überhaupt nicht. Er war völlig aus meinem Gedächtnis verschwunden. Kein Wunder, denn inzwischen ist dort alles zubetoniert und ein Wohngebiet entstanden.«
Hirasaka nahm das Foto in die Hand, um es genauer zu betrachten.
»Eine herrliche Gegend.«
»Aber leider gibt es sie so nicht mehr«, sagte Hatsue.
Schweigend reichte er ihr das Foto zurück.
»Wenn Sie dieses Foto betrachten, kommt Ihnen sicher allerhand in den Sinn, nicht wahr? Erinnerungen an jene Zeit.«
Hatsue betrachtete das Foto eingehender. Wie körnig es war. Es erschien ihr sogar stellenweise farbig. Es bestand nur aus Schwarz-Weiß-Pixeln, und doch enthielt diese kleine quadratische Fläche Geräusche, Wind, ihre Stimmung, kurzum die gesamte Atmosphäre jenes Tages. Wie war es möglich, dass all dies in den winzigen Körnchen verborgen lag?
»Fotos besitzen eine ziemliche Macht, nicht wahr?«, bemerkte Hirasaka leise.
Hatsue starrte weiter auf das Foto. Es war keine Aufnahme mit künstlerischem Anspruch. Nur ein ganz gewöhnliches Foto von einer Straße. Aber nun, wo es die Landschaft nicht mehr gab, existierte sie nur noch auf dem Bild. Plötzlich erschien Hatsue dieses banale Foto unglaublich kostbar.
Von Hirasaka ermuntert, beugte sich Hatsue über den Stapel, aus dem sie nun ihre Lieblingsbilder heraussuchte und anschließend sortierte. Das nahm sehr viel Zeit in Anspruch, da sie sich jedes einzelne Foto aufmerksam anschaute. Als sie so bedächtig die Aufnahmen sichtete, fiel ihr auf, dass sie doch vieles vergessen hatte. Bevor sie ein Bild betrachtete, war der abgebildete Gegenstand oder die Situation aus dem Gedächtnis verschwunden, aber mit dem Anblick war alles sofort wieder da.
Inzwischen hatte sich Hirasaka in gebührendem Abstand zurückgezogen, offenbar um sie in Ruhe auswählen zu lassen. Vom Nebenraum aus, zu dem er die Tür offen gelassen hatte, behielt er sie sorgsam im Auge, während er an der Drehlaterne werkelte. Wegen der immensen Anzahl von Fotos war es sicher eine aufwendige Konstruktion, zu gewaltig, als dass eine einzelne Person sie anheben könnte. Es würde sicher eine beeindruckende Revue werden, dachte Hatsue.
Das Auswählen der Fotos erwies sich als ziemlich anstrengend. Der Anblick der vielen Bündel, die die Kiste noch immer bereithielt, und die Vorstellung, sie alle restlos durchsehen zu müssen, ließen Hatsue seufzen. Als sie bei ihrem siebten Lebensjahr angekommen war, kam Hirasaka zu ihr herüber.
»Sind das die Fotos, die Sie sich ausgesucht haben?«
»Ich hatte vor, eine engere Auswahl zu treffen, aus der ich dann zum Schluss die zweiundneunzig Bilder aussortiere. Aber nun bin ich ganz erschlagen von der Menge.«
»Sie können jederzeit eine Pause einlegen. Ihr Körper wird sicher nicht ermüden, Ihr Geist aber schon.«
Hirasaka fragte, ob er sich die Fotos ansehen dürfe.
»Aber natürlich«, erwiderte Hatsue. Es war ihr jedoch etwas peinlich, als würde sie einem Fremden ihr privates Album zeigen.
»Das sind wohl Ihre Eltern? Sie sehen sehr gütig aus.«
Ihr Vater trug eine Weste, und neben ihm stand die Mutter in einer Kittelschürze. Sie hatte einen Schirm bei sich, was auf einen regnerischen Tag hindeutete. In der anderen Hand hielt sie einen Korb. Stimmt, früher gab es diese Bambuskörbe, mit denen die Leute einkaufen gingen.
»Und das hier sind die Kinder aus der Nachbarschaft?«
Im Vordergrund war die kleine Mii zu sehen, die fröhlich lachend die Lücken ihrer ausgefallenen Milchzähne zeigte. Hinter ihr standen die drei Brüder Tagawa mit ihren Bürstenhaarschnitten. Die Säume ihrer mehrfach geflickten kurzen Hosen waren ausgefranst. Abgetragene Kleidungsstücke, die immer weitervererbt wurden. Damals war es üblich, kaputte Dinge zu reparieren.
»Ja, das waren meine Freunde. Ich war die Schnellste von allen, und schwimmen konnte ich auch gut. Ich war so burschikos und kampflustig, dass ich es den Bandenführern ordentlich gezeigt habe. ›Du wirst nie einen Mann finden‹, hieß es immer. Ich wusste gar nicht, dass wir dermaßen zerlumpt waren, aber sehen Sie nur, wie schmuddelig und zerzaust wir aussehen«, amüsierte sie sich.
Hirasaka musste ebenfalls lächeln.
Hatsue warf einen Blick zu den verstreuten Fotos auf dem Tisch.
»Es erstaunt mich, wie viel ich inzwischen vergessen habe. Ich habe immer geglaubt, mich gut an Vergangenes erinnern zu können, aber tatsächlich ist das alles aus dem Sinn. Sogar die Gesichter meiner Eltern musste ich gerade eine ganze Weile studieren.«
Ihr Lieblingsbilderbuch und die Blechdose, an der sie so hing, waren bis eben ebenfalls aus ihrem Gedächtnis verschwunden gewesen. Und was sie einmal vergessen hatte, existierte praktisch auch nicht mehr.
»Das scheint nun mal der Lauf der Dinge zu sein. Seinen Lebensweg zu finden, bedeutet demnach wohl auch, sich allmählich von den Erinnerungen verabschieden zu müssen.«
Eine Weile später brachte ihr Hirasaka einen Becher frisch gebrühten Tee. Sachte stellte er das Tablett vor sie hin. Neben dem dampfenden Getränk lag auf einem Teller eine traditionelle Süßigkeit. Es war Yōkan. Die Pastete aus süßen Bohnen war Hatsues liebste Nascherei.
Ihre anfängliche Skepsis gegenüber dem Sortieren der Fotos hatte sich inzwischen in Wohlgefallen aufgelöst. Es schien ihr nun eine reizvolle Aufgabe zu sein, als letzten Akt ihres Lebens vergessene Erinnerungen aufzufrischen und in Form einer Drehlaterne in einen Zusammenhang zu bringen. Sie trank einen Schluck heißen Tee und kostete einen Bissen von der Bohnenpastete.
»Danke! Ich war immer ganz versessen auf Yōkan.«
»Freut mich, dass es Ihnen schmeckt«, sagte Hirasaka und lächelte zufrieden.
»Ist es denn in Ordnung, dass ich mir so viel Zeit dabei lasse?«
»Aber sicher doch. Nehmen Sie sich unbesorgt alle Zeit der Welt. Mir selbst bereitet es Freude, meinen Gästen dabei zuzusehen, wie sie in Erinnerungen schwelgen«, beruhigte sie Hirasaka und trank selbst einen Schluck Tee.