Die Glückslieferanten - Sanaka Hiiragi - E-Book

Die Glückslieferanten E-Book

Sanaka Hiiragi

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Beschreibung

Das Leben ist voller Begegnungen und Abschiede. Nicht immer sagen wir dabei das, was wir wollen oder eigentlich meinen. Was aber, wenn ein gemeinsamer Moment nun der letzte war? So mitreißend wie einfühlsam erzählt dieser Roman davon, dass es nie zu spät für das richtige Wort oder die richtige Geste ist. Der Himmellieferservice, bei dem die junge Nanahoshi arbeitet, überbringt ganz besondere Päckchen: versandt von Menschen, die wissen, dass sie zum Zeitpunkt des Empfangs womöglich verstorben sein werden, und adressiert an andere, die ihnen am Herzen liegen und die eine wichtige Botschaft unbedingt noch erreichen soll. Ob eine alte Dame, der ein besonders einsamer Geburtstag bevorsteht, ein junges Mädchen, dessen große Träume durch seine kleinliche Familie zu zerplatzen drohen, oder ein unglücklich verheirateter Mann, der noch viele Jahre später seiner Jugendliebe nachtrauert – ihnen allen öffnen die von Nanahoshi überbrachten Sendungen auf wunderbare Weise das verkantete Schmuckkästchen, das ihr Leben ist, wieder für das Schöne. »Bezaubernd! Steffen Gnam, Frankfurter Allgemeine Zeitung über Die Erinnerungsfotografen Hochwertige Ausstattung mit Farbschnitt und gestaltetem Vorsatzpapier

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Seitenzahl: 266

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Sanaka Hiiragi

Die Glückslieferanten

Roman

Yukiko Luginbühl | Sabine Mangold

Unser kleines Haus

Yūko Aragakis Lieblingsplatz war das Sofa. Dort lag sie von morgens an, wenn das hereinbrechende Tageslicht über Decke und Wände zu wandern begann, und starrte ins Leere, bis es im Zimmer wieder dunkel wurde. Sie tat das nicht freiwillig. Es gab kaum Platz zum Stehen, und der einzige Ort, an dem sie sich ausstrecken konnte, war das Sofa. Aus den angesammelten Müllbeuteln, durch die Werbeflyer, Lumpen und Verpackungen von Backwaren hindurchschimmerten, stachen Essstäbchen heraus. Überall häuften sich durcheinandergeworfene ungewaschene Kleidungsstücke, und die über ein Jahr alten Tageszeitungen stapelten sich wie Gesteinsablagerungen. Auch bei der letzten Müllabfuhr hatte sie wieder vergessen, die Lebensmittelabfälle hinauszubringen. Die abgestandene Luft war sicher schon tief in ihr schlohweißes Haar und die runzlige Haut eingesickert.

Draußen wurden Schritte hörbar, die exakt vor ihrem Haus anhielten. Da scheint jemand zu mir zu wollen, dachte Yūko und richtete sich auf. Sämtliche Gelenke in ihrem Körper knackten. Sie spähte durch die schmuddelige Gardine nach draußen. Als sie die lästige Gestalt erkannte, verzog sie angewidert das Gesicht. Eigentlich waren es immer ungebetene Gäste, die sie aufsuchten.

Vor der Tür stand Okino, die Sozialhelferin mit der weißen Tolle. Sie hielt eine Schachtel in der Hand. Wie üblich strahlte ihr Mondgesicht mit den Kulleraugen hinter der Nickelbrille, alles war schön rund.

»Hallo, Aragaki-san, sind Sie zu Hause? Heute ist wieder so herrliches Wetter!«, schallte ihre Stimme nach dem Klingeln aus der Gegensprechanlage.

Eine dreiste Person, diese Okino! Sie klingelte hartnäckig Sturm, obwohl niemand öffnete. Das war ziemlich ärgerlich. Alles an ihr war ärgerlich. Flüchtig besehen, erschien die Sozialhelferin auf dem Monitor auch heute wieder ganz dezent gekleidet, aber Yūko wusste es besser. Dem dicken dunkelbraunen Stoff und der eigenwilligen Form der Knöpfe nach zu schließen, stammte ihr Mantel von Hermès. Das gute Stück, schon viele Jahre getragen und picobello in Schuss gehalten. Das Strick-Ensemble darunter vermutlich auch. Ihre Schuhe waren zwar gerade nicht zu sehen, aber das mussten die üblichen Todds sein. Superbequeme Mokassins, wahrscheinlich maßgefertigt für ihre Fußform. Für einen Besuch bei einer alleinstehenden alten Frau in einem ärmlichen Messi-Haushalt fand Okino es wohl angebrachter, aus ihrer verfügbaren Garderobe möglichst schlichte Kleidungsstücke in unauffälligen Farben zu wählen. Besten Dank für diese Rücksichtnahme!

Wäre ich ein ganzes Leben lang mittellos gewesen, diese Erkenntnis wäre mir erspart geblieben, dachte Yūko, aber da ich mich zumindest etwas damit auskenne, durchschaue ich ihre Masche. Grässlich, so ein Theater! Und dann auch noch das!

»Ich habe einen Apfelkuchen gebacken. Wie wär’s, Aragaki-san, essen Sie ein Stück mit mir?«

Sie beide waren in etwa gleichaltrig, die Sozialhelferin vielleicht geringfügig jünger als ihre eigenen fünfundsiebzig Jahre. Selbst aus wohlhabenden Verhältnissen stammend, hatte diese in den angesehenen Gutsbesitzer-Klan der Okinos eingeheiratet, deren Anwesen sich in der Nähe befand. Die Frau hatte diese nonchalante Art, die Menschen auszeichnete, die niemals finanzielle oder berufliche Sorgen hatten. Nachdem ihre Kinder längst aus dem Haus waren, hatte sie beschlossen, sich als ehrenamtliche Sozialarbeiterin für die Bezirksgemeinde zu engagieren, indem sie Seniorentreffs organisierte oder Koch- und Backkurse veranstaltete. In der Gegend war sie sehr beliebt und immer mit von der Partie, sei es bei freiwilligen Aufräum- und Reinigungsaktionen oder Fähnchen schwenkend, um eine vorbeiziehende Kinderschar auf dem Schulweg überschwänglich zu grüßen.

Sie kann sich so großzügig geben, weil sie selbst nichts entbehren muss. Ihre Sorglosigkeit erlaubt es ihr, zu jeder Zeit in bester Laune freudestrahlend zu lächeln. Yūko spürte eine tiefsitzende Frustration in sich aufsteigen. Ein typisches Missverständnis! Menschen, die alles haben, können diejenigen, die nichts besitzen, nicht begreifen. Absolut nicht! Wie mag sich wohl ein Mittelloser fühlen, wenn er von einer fürsorglichen Nachbarin ein freundliches Almosen erhält? Bei diesem Gedanken wurde Yūko bewusst, dass sie immer noch an etwas festhielt, was längst der Vergangenheit angehörte. Wie kleingeistig das doch war! Und deshalb wollte sie Okino nicht sehen. Aber sosehr sie sich auch sträubte, das aufdringliche, gutmütige Tantchen ließ sich in ihrem missionarischen Eifer nicht abschrecken. Nicht mal, wenn man sie mit »Bleib mir vom Leib!« fortscheuchte. Regelmäßig verabschiedete sie sich mit bedauernder Miene: »Na dann bis bald, Aragaki-san!«

Dingdong … dingdong … Als Yūko das beharrliche Gebimmel der Türglocke vollends auf die Nerven ging, bahnte sie sich notgedrungen einen Weg durch die Müllhalde und öffnete widerwillig die Tür.

»Hallo, Aragaki-san! Ich dachte, wir können gemeinsam Apfelkuchen essen. Ich habe ihn heute Morgen erst gebacken.«

Jede andere hätte wohl wegen des üblen Geruchs, der doch ganz sicher durch die geöffnete Tür nach außen drang, die Nase gerümpft, aber Okino benahm sich wie ein gut dressierter Hund und verzog keine Miene.

Liebe deinen Nächsten wie dich selbst! Auch wenn derjenige stinkt …

»Bitte scheren Sie sich nicht darum. Sie sind doch bestimmt hier, damit ich diesen Müll wegräume, oder? Ich erledige das schon, sobald mir danach ist.«

»Aber nein! Ich bin doch nicht gekommen, um mich zu beschweren. Ich kann durchaus verstehen, was das für eine Umstellung sein muss, so lange in einem Drei-Personen-Haushalt zu leben und dann plötzlich ganz auf sich gestellt zu sein. Das ist sicher deprimierend. Sie machen bestimmt eine schlimme Zeit durch. Und das Putzen fällt Ihnen offenbar schwer. Es ist ja auch höllenanstrengend. Das geht mir selbst nicht anders. Ich glaube, wir alle hassen Putzen. Eine lästige Angelegenheit.«

Mit einem vertrauensseligen Lächeln, als wären sie langjährige Freundinnen, ließ Okino ihren Blick über Yūko hinweg ungeniert durchs Zimmer schweifen. Sie schien sich Gewissheit darüber verschaffen zu wollen, wie viel Müll sich da tatsächlich angesammelt hatte.

Die wohlhabende Okino, die sich jede Menge Reinigungskräfte leisten kann, sagt mir, dass ihr das leidige Putzen lästig sei, dachte Yūko, verkniff sich jedoch eine spitze Bemerkung.

»Hören Sie, Aragaki-san, ich könnte doch mit der Pflegemanagerin sprechen. Wie fänden Sie es, wenn Sie sich mal tagsüber irgendwo anders aufhielten, dort zu Mittag essen und es sich so lange gemütlich machen könnten, bis die Putzkolonne vom Bezirksamt …«

»Auf keinen Fall!«

»Aber Sie fühlen sich doch sicher einsam, so ganz allein. Es freut mich zu hören, dass Sie noch bei guter Gesundheit sind, nur … wenn man hier nichts unternimmt, wäre das zu gefährlich, falls mal ein Feuer ausbricht.«

»Die Leute aus der Nachbarschaft würden es bestimmt begrüßen, wenn das alles in Schutt und Asche läge und mein Haus und ich vom Erdboden verschwänden. Sogar die Schulkinder denken so. Schließlich ist das ein ›verfluchtes Haus‹, das den Geruch des Todes verströmt.«

Den Kindern hier in der Gegend machte es regelrecht Spaß, sich über das ›Spukhaus‹ lustig zu machen. Wenn Yūko sich hin und wieder draußen blicken ließ, zeigten sie lachend mit Fingern auf sie und verhöhnten sie als Hexe.

»Das ist doch Unsinn! Wenn wir die Sache gemeinsam anpacken, wird das bald wieder das wunderschöne Häuschen von damals sein – das mit dem roten Dach. Sie sind doch nun auch schon über siebzig, da darf man sich ruhig mal von anderen helfen lassen.«

Typisch Okino! Auch ein schroffes ›Auf keinen Fall!‹ konnte sie nicht aus dem Konzept bringen. Sie hatte es sich in den Kopf gesetzt, das unleidliche Haus wieder in Schuss zu bringen, um die empörte Nachbarschaft zu beschwichtigen. Die barmherzige Samariterin gab nicht auf, bis die störende Müllhalde beseitigt war.

»Glauben Sie nicht, dass Ihnen ein wenig Kontakt zu Ihren Mitmenschen guttun würde? Sie singen doch gern. Es gibt hier einen Kreis, da singen wir gemeinsam, hauptsächlich alte Volkslieder. Das macht Spaß«, sagte Okino und drückte ihr einen Flyer in die Hand.

Der Anblick der wahllos durcheinanderpurzelnden Noten darauf machte Yūko irgendwie wütend.

»Bitte gehen Sie jetzt!«

»Äh … aber …«

»Gehen Sie einfach! Ich hatte es doch auch schon beim letzten Mal gesagt. Bleiben Sie mir vom Leib!«

Als sie bereits im Begriff war, die Tür zuzuschlagen, reichte ihr Okino noch die Schachtel durch den Spalt.

»Hier, bitte! Der Apfelkuchen. Essen Sie ihn. Später. Er ist wirklich gut.«

Am liebsten hätte Yūko die Schachtel weggeschleudert, aber das erschien ihr dann doch zu schroff, und so nahm sie sie missmutig entgegen. Der frisch gebackene Apfelkuchen war durch die Pappe hindurch noch spürbar warm.

Absichtlich geräuschvoll schloss Yūko die Tür, zerknüllte den Flyer und warf ihn auf die Berge von Müllbeuteln, durch die sie sich den Weg zum Wohnzimmer freischaufelte. Den Apfelkuchen rührte sie nicht an.

Hier brauchte sich niemand mehr blicken lassen. Wirklich nicht! Sie wollte nichts anderes, nur in diesem Kokon aus Müllbeuteln und abgestandener Luft langsam entschlummern.

Yūko machte es sich wieder auf dem Sofa bequem und starrte an die Decke. Rätselhaftes Ungeziefer krabbelte dort entlang.

Nun war es fast ein Jahr her, dass die beiden sie verlassen hatten. Die ganze Zeit über hatte sie noch etwas mit ihnen besprechen wollen, aber nun … hier vom Sofa aus … konnte sie niemanden erreichen. Außerdem würden die beiden ohnehin nicht mehr antworten können. Nie mehr.

Sie waren echte Freundinnen gewesen, Tenko-chan und Kana-chan …

 

Erneut klingelte es an der Tür.

Höchst ungewöhnlich, zwei Besucher an einem Tag, wunderte sich Yūko. War Okino etwa noch einmal umgekehrt? Unwirsch schaute sie auf den Monitor.

Ein unbekanntes Gesicht blickte ihr entgegen. Eine Frau mit grauem Käppi, unter dem kurze Haarfransen hervorlugten. Sie hatte ein Paket bei sich, offenbar war das eine Botin von einem Kurierdienst. Aber Yūko hatte keine Geschwister, und zur Familie ihres Mannes, der bereits vor zehn Jahren gestorben war, bestand kein Kontakt. Sie war mutterseelenallein. Es gab auch keinerlei Freunde, die ihr etwas hätten schicken können. Tatsächlich hatte sie schon jahrelang kein Paket mehr erhalten. Außerdem befand sich kein Namensschild an ihrer Klingel. Demnach musste es sich um eine Betrügerin handeln, die es auf ältere Alleinstehende abgesehen hatte. Nun waren es schon zwei Frauen – Okino und diese angebliche Botin –, die ihren schwelenden Groll in Wallung brachten. Sie war fest entschlossen, diese lästige Person zum Teufel zu jagen. Allein schon ihre merkwürdige Uniform, die Yūko in dieser Gegend nie zuvor gesehen hatte, wirkte verdächtig.

Dingdong – schon wieder klingelte es, diesmal an der Wohnungstür.

Als Yūko öffnete, fragte die Zustellerin: »Entschuldigung, bin ich hier richtig bei Yūko Aragaki? Ich komme von den ›Himmelsboten‹ und habe ein Paket für Sie.«

Himmelsboten? Nie gehört, so einen Firmennamen! Für eine Frau war die junge, schlanke Lieferantin unerwartet groß. Und hatte erstaunlich lange Beine.

Als Yūko aufschaute, trafen sich ihre Blicke. Die Augen unter dem Käppi wirkten offen und freundlich. Auf der grauen Uniform prangte als Symbol ein weißes Flügelpaar.

Offensichtlich drang doch ein ziemlicher Gestank aus der Wohnung, das konnte man der Lieferantin ansehen. Es schien ihr den Atem zu verschlagen, aber sie riss sich zusammen und lächelte bei dem Versuch, sich nichts anmerken zu lassen. Sie hielt Yūko das Paket hin.

»Kein Bedarf!«

Als Yūko ihr die Tür vor der Nase zuschlagen wollte, rief die Frau überstürzt: »Bitte warten Sie! Das Paket ist von …«

»Ich will das aber nicht!«, wehrte Yūko zornig ab.

Ihrer resoluten Stimme hatte sie schon immer vertraut. In solchen Situationen war Angriff die beste Verteidigung, indem man den Gegner durch lautes Anbrüllen mundtot machte. Auf diese Weise hatte sie sich neulich schon einen Hausierer vom Hals geschafft.

»Das ist doch der reinste Schwindel. Ich werde die Polizei rufen.«

Erschrocken von der lautstarken Drohgebärde wich die Lieferantin einen Schritt zurück, blieb jedoch beharrlich.

»Aber hören Sie, Aragaki-san, dieses Paket ist von Myōjin-san und Watabe-san.«

Eine Sendung von Myōjin und Watabe? Unmöglich! Von Tenko-chan und Kana-chan? Wie konnte das sein? Plötzlich hatte sie das Gefühl, die Zeit bliebe stehen.

»Ich … ich brauche nichts!«, stammelte sie nun eine Spur leiser.

»Aber schauen Sie, es ist tatsächlich von Frau Myōjin und Frau Watabe.«

Sie zeigte Yūko den Aufkleber, auf dem als Empfängerin stand: ›Yūko Aragaki‹. Als Absender las Yūko tatsächlich die beiden vertrauten Namen. Auch die jeweilige Handschrift kannte sie gut: die stark aufgedrückten eckigen Zeichen von Tenko-chan sowie die leicht geneigte, elegante Katakana-Schrift von Kana-chan.

Plötzlich trübte sich ihre Sicht. Sie verstand selbst nicht, was in ihr vorging. Ihre Knie wurden weich. Sie schlug die Hände vors Gesicht und weinte.

Auf dem Namensschild der Zustellerin stand ›Nanahoshi‹, also Siebenstern. Vielleicht hatte Nanahoshi Bedenken, eine weinende alte Frau, der sie soeben ein Paket ausgehändigt hatte, im Stich zu lassen, oder sie befürchtete, bei den Nachbarn Aufsehen zu erregen, jedenfalls sagte sie nun:

»Hier können wir doch nicht stehen bleiben. Wollen wir nicht erst mal reingehen? Dann kann ich Ihnen in aller Ruhe erklären, was es mit dem Paket auf sich hat.«

Nanahoshi hatte garantiert bemerkt, wie grässlich es hier drinnen stank, aber nach einem hörbaren Räuspern wartete sie geduldig, bis Yūko allmählich aufhörte zu weinen.

»Sind das die beiden hier auf dem Foto, Myōjin-san und Watabe-san?«, fragte sie, wohl in der Absicht, Yūko zu besänftigen.

Im Eingangsbereich hing ein großformatiges gerahmtes Porträt, das offensichtlich in einem Fotostudio aufgenommen worden war. Auf einen Fremden mochte das Trio wie drei ältere Schwestern wirken, die sich blendend verstanden. Tatsächlich waren sie jedoch nicht blutsverwandt, und auch ihre Lebenswege waren sehr unterschiedlich verlaufen. Tenko-chan hatte vorgeschlagen, zum Andenken an den Einzug in ›Unser kleines Haus‹ ein professionelles Fotostudio aufzusuchen. Zu diesem Anlass setzten sie sich auf Diät und besuchten einen Beauty-Salon, in dem sie sogar ein Wimpernlifting vornehmen ließen. Das Outfit arrangierte Kana-chan, die einen Sinn für modisches Styling besaß. Außerdem besuchten sie am Morgen des Fototermins selbst noch einen Friseur, wo Tenko-chan ihr schlohweißes Haar mit einem Stich ins Lila tönen ließ, während Kana-chan sich für Pink und Yūko sich für Orange entschied.

»Du meine Güte, wir sehen aus wie eine Ampel«, lachten sie sich kaputt. Nun gab es die beiden nicht mehr.

Yūko bot Nanahoshi an, sich schon mal ins Wohnzimmer zu setzen, während sie sich sammelte. Sie schob die Dinge auf dem vollgestellten Tisch zusammen, um dort Platz zu schaffen. Dann brachte sie die Abfallsäcke, die im Weg standen, in den Nachbarraum und zog die halbgeöffneten Vorhänge ganz auf. Als sie den Papierhaufen, der sich in der voluminösen Gardine verfangen hatte, wegnahm, kam ein verstaubtes Klavier zum Vorschein. Es war schon ewig nicht mehr gestimmt worden. In dem schummrigen Halbdunkel tagsüber waren sie nicht weiter aufgefallen, aber jetzt, wo das grelle Tageslicht hereinströmte, sah man überall Staubflusen herumwirbeln.

Yūko schämte sich und holte gleich den Mopp heraus, worauf Nanahoshi sagte: »Oh, das kann ich doch machen«, und ihr schnell zur Hand ging.

Als sie von all dem Staub niesen musste, versuchte Yūko das Fenster aufzuschieben, um ordentlich zu lüften. Es klemmte jedoch, da es lange nicht bewegt geworden war. Laub und anderer Schmutz hatten sich in dem Metallrahmen verfangen, aber schließlich schafften sie es mit einem lauten »Hau-Ruck!« gemeinsam, das Fenster weit zu öffnen. Der frische Märzwind bauschte die Gardine. Aus dem Garten, den seit einer Ewigkeit niemand mehr betreten hatte, war das Rascheln der vertrockneten Gräser zu hören.

Yūko bekam ein schlechtes Gewissen, dass die Zustellerin sogar Staub bei ihr wischte, während sie ihr nicht mal etwas zu trinken anbot. Eilig kramte sie die schon lange nicht mehr benutzte Teekanne hervor und bereitete heißes Wasser zu.

»Bitte sehr!« Yūko reichte ihr die Tasse mit frisch gebrühtem Tee, die Nanahoshi dankend entgegennahm. Als sie zum Trinken ihr Käppi absetzte, sprangen die Zipfel ihrer zerdrückten Kurzhaarfrisur hinter den Ohren hervor. Mit den großen Augen und dem schlanken, langen Hals sah sie aus wie ein Reh.

Das Paket lag einsam auf dem leeren Tisch. Trotz seines kleinen Formats wog es einigermaßen schwer. An der Handschrift der beiden Absenderinnen bestand kein Zweifel.

Die Zustellerin stellte sich nun mit ihrem vollen Namen vor: Ritsu Nanahoshi.

»Wir von den Himmelsboten haben die Aufgabe, die Hinterlassenschaft des Auftraggebers dem ausgewählten Empfänger zu übergeben.«

»Himmel? Boten? Hinterlassenschaft?«

Yūko verstand gar nichts mehr. Auch von den jeweiligen Bestattungsinstituten der beiden hatte es keine diesbezüglichen Hinweise gegeben. Es war doch völlig absurd, dass sie vom Himmel ein Paket auf die Erde geschickt haben sollten. Yūko musterte die Zustellerin. Unter den Tisch zu spähen und zu prüfen, ob sie Beine hatte, war nicht nötig … diese Frau war ein Wesen aus Fleisch und Blut.

»Myōjin-san und Watabe-san haben uns noch zu Lebzeiten gebeten, Ihnen diese Sendung zu überbringen.«

Auf Nanahoshis Gesicht erschien ein sanftes Lächeln. Wenn sie über die beiden Verstorbenen sprach, hatte Yūko nicht das Gefühl, dass ihre Freundinnen nicht mehr unter den Lebenden weilten. Nanahoshi wirkte jung und vital, aber gleichzeitig war sie von einer mysteriösen Aura umgeben, als stünde sie selbst irgendwie mit dem Tod in Verbindung.

»Sie meinen also, die beiden haben mir das bereits zu Lebzeiten geschickt?«

Yūko starrte auf das Paket. Tenko-chan war vor anderthalb Jahren ins Krankenhaus eingeliefert worden. Also musste es noch davor geschehen sein.

Yūko konnte sich nicht dazu durchringen, das Paket zu öffnen. Egal, worin sein Inhalt auch bestehen mochte, es brachte die beiden nicht zurück. Und selbst wenn sie es öffnete, würde sich ihre Einsamkeit in diesem Haus dadurch eher noch verstärken.

Ihre Miene schien sich deutlich verdüstert zu haben, denn Nanahoshi warf ihr einen besorgen Blick zu.

»Sie waren mit den beiden befreundet, ja?«

»Genau. Ganz dicke Freundinnen, seit der Highschool-Zeit. Wir waren in den gleichen AGs und sind auch nach dem Schulabschluss als Erwachsene immer in engem Kontakt geblieben. Aber dann sind die beiden ganz plötzlich gestorben und haben mich allein zurückgelassen … Obwohl wir uns geschworen haben, für immer zusammenzubleiben …«

Ihre Stimme versagte schon wieder. Sie kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen an.

Hastig kramte Nanahoshi in ihrer Jackentasche.

»Äh … hier … ich habe was für Sie. Schokolade. Wenn man traurig ist, hilft etwas Süßes. Ich nasche auch davon, wenn ich mich kaputt fühle, zum Beispiel nach dem Ausliefern. Bitte!«

Nanahoshi reichte ihr eine Praline. Ihren Rat befolgend, wickelte Yūko das Stück Schokolade aus dem Stanniolpapier und steckte es in den Mund. In der merkwürdigen Atmosphäre des verwahrlosten Wohnzimmers sowie in Gegenwart der unbekannten Lieferantin und ihrer rätselhaften Sendung schmeckte die Schokolade erstaunlich süß.

»Wollen Sie es nicht öffnen?«, fragte Nanahoshi und schob das Paket sachte über den Tisch.

»Ich mag nicht.«

»Wieso denn nicht? Es kommt doch von Ihren Freundinnen.«

»Ich möchte keine Enttäuschung erleben. Ich weiß zwar nicht, was drin ist, aber es könnte doch sein, dass ich etwas erwarte, was nicht erfüllt wird.«

»Das erinnert mich an Schrödingers Katze. Solange Sie es nicht öffnen, bleibt ungewiss, ob sich etwas Gutes oder etwas Enttäuschendes darin befindet.«

Was redet die bloß für seltsames Zeug, dachte Yūko. Und wie lange gedenkt sie zu bleiben?

»Ist denn die Zustellung hiermit nicht erledigt?«

»Nein, erst wenn ich die Sache persönlich übergeben habe.«

»Aber das ist doch jetzt geschehen.«

»Myōjin-san und Watabe-san haben mich ausdrücklich gebeten, Ihnen den ›Inhalt‹ auszuhändigen.«

Ein beklemmendes Schweigen breitete sich aus.

Mir reicht’s! Kann sie nicht endlich abhauen?, zürnte Yūko innerlich.

Nanahoshi blickte zum Regal mit dem Nippes und rief: »Ach, ist das da ein Fotoalbum?«

Offenbar hatte sie den dicken roten Buchrücken im obersten Fach entdeckt.

»Ah, das ist ja großartig! Ein roter Ledereinband, wie hübsch!«

Die Zustellerin blieb hartnäckig und versuchte, wie es schien, ein Gespräch anzuzetteln, um Yūko zu motivieren, endlich das Paket aufzumachen.

Notgedrungen holte Yūko das völlig verstaubte Album aus dem Regal und wischte es sauber. Kana-chan, die einen Sinn für schöne Dinge besessen hatte, hatte es früher einmal auf einem Pariser Flohmarkt gekauft und von einem Sattler herrichten lassen.

»Was steht denn hier?«

Auf dem roten Ledereinband war ein kursiver Schriftzug zu lesen.

»Es ist Französisch und bedeutet ›Unser kleines Haus‹.«

»Ach, wie hübsch! Darf ich mal reinschauen?«

»Aber Sie haben doch sicher noch mehr auszuliefern.«

Sonst waren Zusteller oft überfordert und darum kurz angebunden. Kann sie sich das überhaupt leisten?, wunderte sich Yūko.

»Für heute ist alles erledigt. Mein Chef übernimmt den Rest, also habe ich Zeit!«

Nanahoshi lächelte verschmitzt.

Beim Durchblättern tauchten Fotos ihrer Reisen zu dritt auf, was Yūko für eine Weile in den Bann zog.

Ach ja, hier waren wir unterwegs, um Tenko-chans Scheidungsjubiläum zu feiern.

Ausgelassen posierten die drei vor einem Hotel in Izu.

»Das ist übrigens Tenko-chan.«

Yūko zeigte auf die größte der drei Frauen.

Tenko-chan war auch die Resoluteste von uns, erinnerte sie sich. Unsere zuverlässige Pionierin. Unter den buschigen Brauen blitzte ein waches Augenpaar. In der Schule ist sie auch bei den jüngeren Mädchen sehr beliebt gewesen. Auf diesem Foto dürfte sie bereits in den Fünfzigern gewesen sein, aber immer noch in straffer Haltung. Sie hatte vorzeitig ihren Bürojob aufgegeben, wie auch ihr Hausfrauendasein. Als Klassenbeste war sie redegewandt und zielorientiert, immer die Nase vorn. Als Erste von uns hatte sie einen Freund, hat auch als Erste den Führerschein gemacht und vor uns allen geheiratet. Vorreiterin war sie außerdem in Sachen Computer und Handy. Aber leider auch beim Sterben …

»Hier sind wir drei vor einem Onsen. Tenko-chan hatte früh geheiratet, sich dann aber im späteren Alter von ihrem Zahnarzt-Gatten getrennt, als die Beziehung auf dem Nullpunkt war. Auf dieser Reise haben wir ihre Scheidung gefeiert.«

»Ihre Scheidung gefeiert … Aha! Hört sich witzig an.«

Diese Zustellerin scheint ihr Herz auf der Zunge zu tragen, dachte Yūko. Plappert einfach so drauflos. Na ja, kann ja nicht schaden, ein bisschen mit ihr zu plaudern, um sich die Zeit zu vertreiben.

»Ja, eine Scheidung ist weitaus strapaziöser als eine Hochzeit. Die Reise nach Izu sollte sie etwas aufmuntern. An den Abenden in der Pension haben wir beratschlagt, wo Tenko-chan in Zukunft wohnen könnte, also sobald ihre Scheidung durch war und sie von zu Hause ausziehen würde. ›Hört mal‹, sagte sie zu uns, ›ich bin doch erst in den Fünfzigern, da wird das nicht unbedingt meine letzte Bleibe sein. Wie wäre es mit einem Haus auf dem Land? … Ach nein, doch besser eine Wohnung in der Stadt … Wie findet ihr Karuizawa? Oder noch besser wäre doch, wenn gleich nebenan ein Onsen wäre …‹ Bis spät in die Nacht haben wir damals herumgealbert.«

Nanahoshi lehnte sich vor.

»Heiße Quellen sind etwas Wunderbares. Ich mache gern Rundreisen durchs ganze Land, aber diese Onsen-Bäder liebe ich über alles. Wie schön wäre es, in einem solchen Gebiet zu wohnen«, stimmte sie zu.

»Na ja, bei all den Überlegungen ist dann auch der Gedanke aufgekommen, dass es höchste Zeit sei, Kana-chans Wohnung zu renovieren.«

Yūko deutete auf Kana-chan neben den anderen beiden. Im Gegensatz zu Tenko-chan hatte sie große, sanfte Augen, die unter einem auffallend kurz geschnittenen Pony durch eine modische Brille blickten. Ein feines Lächeln umspielte ihren Mund. Mit ihrer zierlichen Figur wirkte sie selbst im fortgeschrittenen Alter noch ziemlich mädchenhaft.

Kana-chan besaß ein ruhiges Naturell. Während ihres Auslandsstudiums in Frankreich war sie dort ihrer großen Liebe begegnet. Wegen kultureller Diskrepanzen oder unterschiedlicher Ansichten über die Ehe ging ihre Beziehung jedoch in die Brüche, worauf Kana-chan allein in ihre Heimat zurückkehrte. Von da an hatte sie eine Teilzeit-Lehrstelle für Französisch an der Uni gehabt und als Übersetzerin gearbeitet, war jedoch zeit ihres restlichen Lebens Single geblieben.

Auf dem Foto war Kana-chan ebenfalls Ende fünfzig. Voller Selbstbewusstsein trug sie zu ihrem leuchtend pinkfarbenen Outfit einen kontrastreichen lindgrünen Schal. Ihr Stil war schon immer sehr ausgefallen gewesen. Mit zunehmendem Alter kleidete sie sich sogar noch extravaganter.

»Und dann hatte Tenko-chan plötzlich eine Idee: ›Ich hab’s! Wie wäre es, wenn wir drei zusammenziehen?‹«

Yūko fiel es in dem Moment wie Schuppen von den Augen: Na klar, das war die Lösung! Drei gleichgesinnte Frauen unter einem Dach! Sie selbst war verwitwet und alleinstehend. Tenko-chan war Einzelkind und ihre Eltern waren bereits tot, und Kana-chan hatte vor kurzem ihre ältere Schwester verloren und besaß auch keine Angehörigen mehr. Yūko hatte zwar noch entfernte Verwandte, aber keine Kinder oder engere Familienmitglieder, was die Nachlassfrage vereinfachte. Als juristisch ausgebildete Verwaltungsangestellte war Tenko-chan mit Erbschaftsregelungen bestens vertraut. Die Idee der Wohngemeinschaft war also kein Luftschloss, sondern ein Projekt, das durchaus Hand und Fuß hatte.

»Dann ging alles ratzfatz. Kana-chan verkaufte ihre Wohnung, und ich bin meine auch schnell losgeworden. Wir haben gemeinsam ein altes, aber stilvolles Haus gekauft und es wunderschön renoviert. Dann machten wir unsere Testamente, damit es keine Streitigkeiten geben würde, wenn eine von uns starb. Das kleine Heim war unser Palast.«

Als sie ihre Testamente verfassten, erschien ihnen das als Vorsichtsmaßnahme für eine spätere Zukunft. Der Tod lag aber noch in weiter Ferne, keine Vorahnung kündigte ihn an. Yūko hätte damals nie damit gerechnet, dass sie irgendwann allein zurückbleiben würde.

»Klingt wunderbar, so eine Frauen-WG zu dritt. Das war bestimmt lustig.«

»Kann man wohl sagen. Erst im Alter ist mir klar geworden, wie wertvoll es ist, gute Freunde zu haben. Diese zehn gemeinsamen Jahre sind wahrscheinlich die schönsten meines gesamten Lebens gewesen. Wir hatten immer Spaß. Ich habe die Zeit sehr genossen. Vielleicht lag es sogar daran, dass wir nicht miteinander blutsverwandt waren, sondern einfach nur beste Freundinnen. Wenn man mich nach meiner Jugend fragen würde, dann müsste ich auch heute noch antworten: Die fand erst in meinen Sechzigern statt.«

Es gab Zeiten, wo dieses inzwischen verwahrloste, stinkende Haus vom Duft frischer Blumen erfüllt gewesen war. Jede von ihnen hatte andere Lieblingspflanzen und freute sich darauf, sie zur passenden Saison im Garten zu setzen. Frühmorgens wurden sie gewässert und ab und zu mit einer Gartenschere getrimmt, worauf sie die abgeschnittenen Blumen in einer antiken Vase arrangiert hatten. In Sachen Ikebana galt Yū-chan als die Könnerin. Sie verbrachte gern viel Zeit damit, sich ganz genau zu überlegen, wie sie die drei verschiedenen Sorten am schönsten kombinieren konnte, um ihre unterschiedlichen Charaktere durch die Blumen sprechen zu lassen. Erst wenn sich die Farben und Düfte gegenseitig ergänzten, kamen die Gestecke voll zur Geltung. Genauso wie das Trio in dem kleinen Haus.

Warum hielten sich Blumen eigentlich nicht? Die verwelkten wurden aus der Vase genommen, bis auch die letzte an der Reihe war, im Müll zu landen. Nachdem sie fort waren, blieb nur die Erinnerung an ihre schöne Pracht.

Wieso mussten zunächst so schöne Blumen später welk und braun werden und sich im Abfall häufen? Wie wundervoll Erinnerungen auch sein mochten, Yūko hätte nie gedacht, dass der Verlust ein so schmerzhaft klaffendes Loch in ihrem Herzen hinterließ.

Hätte sie das vielleicht nicht so stark gespürt, wenn sie von vornherein allein gelebt hätte?

Ihr Name würde nicht in die Geschichte eingehen, auch in beruflicher Hinsicht hatte sie keine nennenswerten Leistungen erbracht und war kinderlos geblieben. Kein Ruhm, kein Reichtum. Niemand würde um sie trauern, wenn sie jetzt von der Welt verschwände. Eine Zeitlang würde es vielleicht nicht mal jemand bemerken. Wofür hatte sie eigentlich gelebt? Um jeden Tag auf den Tod zu warten, bis ihre Zeit abgelaufen war. Hatte es überhaupt einen Sinn, zu leben?

Tagtäglich ernährte sie sich leidlich von abgepacktem Brot aus dem Supermarkt, das sie gierig aus der Plastiktüte riss und verschlang. Kein Wunder, dass sie bei den Kindern als Hexe verschrien war.

Der schöne gemeinsame Garten war inzwischen von Unkraut überwuchert. Den Nachbarn, der sie darum bat, wenigstens den Rasen zu mähen, hatte sie erst angefaucht und dann fortgejagt. Alles versank in Chaos. Alles.

Vielleicht lag es an der kleinen Unstimmigkeit, die eigentlich eine Bagatelle gewesen war, bevor die beiden starben. Zu einem Streit war es nicht einmal gekommen, weil sie selbst den Mund gehalten und ihren Unmut hinuntergeschluckt hatte. Aber offenbar wirkte dieser Vorfall noch immer nach.

Hätte sie sich damals besser alles von der Seele reden sollen? Ihre Gefühle offen darlegen? So hatten sich die Dornen des Ungesagten in ihr festgebohrt, sie konnte sich nicht von ihnen befreien. Selbst jetzt noch nicht, wo die beiden nicht mehr lebten.

»Ähm …«, räusperte sich Nanahoshi und riss sie aus ihren Gedanken. »Ist alles okay?«

Unverändert lächelnd blickten ihr die beiden Gefährtinnen aus dem aufgeschlagenen Album entgegen.

»Auf diesem Foto könnte man Sie für Schwestern halten«, bemerkte Nanahoshi.

»Ja, so war es auch wirklich. Die Leute aus unserer gesamten Umgebung dachten, wir seien Geschwister: Tenko-chan galt als die Älteste, gefolgt von Kana-chan, und dann kam ich, die lahme Schnecke ›Yū-chan‹. So wurde ich von allen genannt. Ich war nämlich die Langsamste von uns dreien.«

Yūko blätterte weiter. Es gab Aufnahmen von dem Trio beim Frühstück, von Ausflügen und Reisen, und dann auch eine, wo sie sich dicht zusammengerückt im Badspiegel eines Hotels mit Gesichtsmasken aufgenommen hatten. Fotos von ihnen im Kimono oder nachdem sie im Garten Blumen gepflanzt hatten, sowie eins mit einem misslungenen Kuchen, der wie ein großer Reiskräcker aussah. Erinnerungen an mehr als ein Jahrzehnt waren hier festgehalten.

Yūko hätte das Album wahrscheinlich nie mehr geöffnet. Es geschah tatsächlich zum ersten Mal, seitdem sie hier allein wohnte.

Auf den Bildern sah man, wie sie allmählich alterten. Ihre Gesichter bekamen zunehmend Falten. Die einst so stabil gebaute Tenko-chan war deutlich dünner und kleiner geworden. Vor der Reise ging sie in die Klinik, um sich ein Medikament gegen eine vermutliche Blasenentzündung verschreiben zu lassen. Diese Reise musste dann storniert werden.

Von da an gab es so gut wie keine Fotos mehr von ihr. Mit Ausnahme eines einzigen, aufgenommen in der Klinik. Sie lag im Bett, bis auf die Knochen abgemagert, mit hohlen Wangen und so geschrumpft, als wäre sie eine andere Person. Die Krankheit war schneller fortgeschritten als erwartet. Am Ende konnte sie nicht mehr wie erhofft nach Hause zurückkehren, sondern starb in dem Krankenhaus, in dem sie zuvor behandelt worden war.

Als Nanahoshi umblätterte, fand sie die nächste Albumseite leer.

»Ich habe sie angefleht, sie solle bei uns bleiben«, schluchzte Yūko und schlug die Hände vors Gesicht.

Nanahoshi reichte ihr ein Papiertaschentuch.

Kurz nach Tenko-chans Tod brach auch Kana-chan zusammen, bevor die Zeit die noch frischen Wunden hatte heilen können. Sie hatte ihre chronische Erkrankung immer für harmlos erklärt, in Wahrheit jedoch verschwiegen, dass sich ihre Werte mehr und mehr verschlechterten. Und dann ging alles blitzschnell.

Yūkos Brust war wie zugeschnürt. Warum bin ich als Einzige übrig geblieben?, fragte sie sich. Das war doch unser kleines Haus.

Sie hatte das Gefühl, Nanahoshi lausche ihren Gedanken.

»Mein Leben taugt nichts mehr, ich ertrage es nicht. Es ist wirklich eine Qual, ohne Tenko-chan und Kana-chan hier mein Dasein zu fristen. Ich vermisse Tenko-chans Tee und Kana-chans selbst gebackenes Brot. Und den Klang des Klaviers. Aber jetzt ist das Haus verwüstet. Der Garten ebenso. Es macht keinen Spaß mehr, am Leben zu sein. Sogar das heißgeliebte Klavier ist nur noch ein Ablageplatz für Müll. Tja, dann solltest du wohl dein Leben beenden, mag mancher denken. Aber ich fürchte mich vor dem Tod. Ich habe Angst davor, Tenko-chan und Kana-chan nie wiederzusehen und ganz allein in der Finsternis herumzuirren.«

Nanahoshi wartete geduldig, bis Yūko aufhörte zu schluchzen. Sanft berührte die Zustellerin das Päckchen.

»Möchten Sie es nicht doch öffnen?«, schlug sie vor.

Yūko schüttelte den Kopf.

»Ich möchte nicht noch mehr trauern. Die beiden sind endgültig fort. Was hilft da das Weinen? Wir können nie wieder etwas gemeinsam unternehmen, nie wieder zusammen lachen. Aus und vorbei ist es. Unsere Geschichte ist ein für alle Mal zu Ende.«

Yūko grübelte weiter: Jeden Morgen beim Aufwachen denke ich, schon wieder aufstehen. Das Haus mit den verrotteten Abfällen ist ein Abbild von mir. Nur mein Überlebenstrieb hält mich noch hier. Ich liege apathisch auf dem Sofa und warte auf den Tod, der jederzeit eintreten kann. Wer ist überhaupt in der Lage, nachzuempfinden, wie es mir geht?

»Für einen jungen Menschen wie Sie ist es sicher schwer nachvollziehbar, wie es sich anfühlt, wenn man mutterseelenallein den Tag beginnen muss.«

Nanahoshi blickte sie mit ernster Miene an. Jetzt sah sie wie eine Priesterin aus, die ein bedeutsames Orakel verkündet. Dann schloss sie die Augen, und die Atmosphäre war auf einmal spannungsvoll aufgeladen. Yūko bemerkte ihre langen Wimpern. Eine Weile blieb Nanahoshi reglos sitzen, als konzentriere sie sich auf etwas. Vielleicht besaß sie die geheimnisvolle Gabe, übersinnliche Dinge zu spüren?

Ein Windstoß bauschte die Vorhänge.

Ganz langsam öffnete Nanahoshi die Augen und blickte Yūko an.

»Ich verstehe es nicht«, sagte sie.

Sie hatte so geradlinig geantwortet, dass Yūko unwillkürlich die Schultern fallen ließ.

War das eben eine Art … Trance?, fragte sie sich. Vielleicht weil Nanahoshi sie so eindringlich ansah, sagte sie hastig: »Wenn man gefragt wird, ob man es nachvollziehen kann oder nicht, dann wahrscheinlich eher nicht. Ich meine, man neigt eher dazu, es nicht zu verstehen.« Yūko kratzte sich verlegen am Kopf, während sie ihre komplizierten Überlegungen anstellte.