Die Erotik - Georges Bataille - E-Book

Die Erotik E-Book

Georges Bataille

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Beschreibung

Der Philosoph und Schriftsteller, der die Bordelle von Paris als seine wahren »Kirchen« betrachtete, zählt zu den kühnsten und beunruhigendsten Denkern des 20. Jahrhunderts. Die Erotik, ein erzählerischer Langessay zwischen Anthropologie, Geschichtensammlung und Philosophie, ist der Versuch, in der Auseinandersetzung mit seinen wichtigsten Themen, »aus dem fragmentarischen Charakter« seiner früheren Werke »herauszukommen«. Systematisch verknüpft Bataille die sexuelle Basis der Religion mit dem Tod und bietet ein schillerndes Spektrum an Einblicken in Inzest, Prostitution, Ehe, Mord, Sadismus, Opfer und Gewalt sowie Überlegungen zu Freud, dem Marquis de Sade und der Heiligen Teresa. Überall, so Bataille, ist das Geschlecht von Tabus umgeben, die wir ständig überschreiten müssen, um das Gefühl der Isolation zu überwinden, das in uns allen herrscht. »Der menschliche Geist ist den überraschendsten Ansprüchen ausgesetzt. Unaufhörlich hat er Angst vor sich selbst. Seine erotischen Regungen erschrecken ihn. Die Heilige wendet sich entsetzt vom Wollüstigen ab: Sie weiß nichts von der Einheit, die zwischen seiner uneingestehbaren Leidenschaft und ihrer eigenen besteht.«

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Seitenzahl: 554

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Georges Bataille

DIE EROTIK

Aus dem Französischen von Gerd Bergfleth

Überarbeitet von Tim Trzaskalik

Mit einem Nachwort von Michel Surya

INHALT

Vorwort

Einführung

Erster Teil

Verbot und Überschreitung

I Erotik und innere Erfahrung

II Das mit dem Tod verbundene Tabu

III Das mit der Fortpflanzung verbundene Verbot

IV Die Verwandtschaft von Fortpflanzung und Tod

V Die Überschreitung

VI Tötung, Jagd und Krieg

VII Tötung und Opfer

VIII Vom religiösen Opfer zur Erotik

IX Die sexuelle Plethora und der Tod

X Die Überschreitung in der Ehe und in der Orgie

XI Das Christentum

XII Das Objekt des Begehrens: Die Prostitution

XIII Die Schönheit

Zweiter Teil

Verschiedene Studien zur Erotik

I Kinsey, die Unterwelt und die Arbeit

II Der souveräne Mensch Sades

III Sade und der normale Mensch

IV Das Rätsel des Inzests

V Mystik und Sinnlichkeit

VI Heiligkeit, Erotik und Einsamkeit

VII Vorwort zu Madame Edwarda

Schlussfolgerung

Anhang

Das Paradox der Erotik

Die Bedeutung der Erotik

Entwurf einer Schlussfolgerung zu Die Erotik

Die Erotik und die Faszination des Todes (Vortrag nebst Diskussion)

Nachwort:

Michel Surya, »Entsetzen und Entzücken«

Bibliografische Hinweise

FÜR MICHEL LEIRIS

VORWORT

Abbildung I

Hellenistisches Phallus-Monument des kleinen Dionysos-Tempels auf Delos. Der Sockel ist mit Reliefs verziert, die den Umzug bei den Dionysien darstellen. Die Frontseite zeigt den vogelförmigen Phallus, der bei diesem Umzug auf einem Wagen mitgeführt wurde.

Der menschliche Geist ist den überraschendsten Ansprüchen ausgesetzt. Unaufhörlich hat er Angst vor sich selbst. Seine erotischen Regungen erschrecken ihn. Die Heilige wendet sich entsetzt vom Wollüstigen ab: Sie weiß nichts von der Einheit, die zwischen seinen uneingestehbaren Leidenschaften und ihren eigenen besteht.

Dennoch kann man erforschen, was den menschlichen Geist zusammenhält, dessen Möglichkeiten sich von der Heiligen bis zum Wollüstigen erstrecken.

Ich versetze mich an einen Standpunkt, von dem aus ich wahrnehmen kann, wie diese entgegengesetzten Möglichkeiten sich einander angleichen. Ich will sie nicht aufeinander zurückführen; sondern ich versuche, jenseits ihrer wechselseitigen Verneinung eine äußerste Möglichkeit der Übereinstimmung zu erfassen.

Ich glaube nicht, dass der Mensch eine Chance hat, Licht in seine Situation zu bringen, bevor er nicht beherrscht, was ihn erschreckt. Nicht dass er auf eine Welt hoffen soll, in der es keinen Grund mehr für das Entsetzen gäbe, in der Erotik und Tod sich auf der Ebene mechanischer Verkettungen befänden. Aber der Mensch kann das, was ihn erschreckt, überwinden, er kann ihm ins Angesicht schauen.

Um diesen Preis entgeht er der seltsamen Verkennung seiner selbst, die ihn bisher kennzeichnete.

Im Übrigen folge ich nur einem Weg, auf dem andere mir vorausgegangen sind.

Schon lange vor der Arbeit, die ich heute veröffentliche, hörte die Erotik auf, ein Thema zu sein, das ein »seriöser Mensch«, ohne seinen Namen zu gefährden, nicht behandeln durfte.

Seit Langem sprechen die Menschen ohne Furcht und ausführlichvon der Erotik. Daher ist bekannt, wovon ich nun meinerseits spreche. Ich wollte nichts anderes, als zu erforschen, was die Vielfalt der beschriebenen Fakten zusammenhält. Ich habe mich bemüht, eine Gesamtheit an Verhaltensweisen kohärent darzulegen.

Diese Suche nach einer kohärenten Gesamtheit unterscheidet meine Bemühung von denen der Wissenschaft. Die Wissenschaft untersucht eine abgesonderte Frage. Sie häuft Spezialarbeiten an. Ich glaube, dass die Erotik für die Menschen einen Sinn hat, den die Wissenschaft auf ihrem Weg nicht erreichen kann. Die Erotik kann nur so betrachtet werden, dass man bei ihrer Betrachtung zugleich den Menschen betrachtet. Insbesondere kann sie nicht unabhängig von der Geschichte der Arbeit und nicht unabhängig von der Religionsgeschichte betrachtet werden.

Daher entfernen sich die Kapitel dieses Buchs oft von der sexuellen Realität. Andererseits habe ich Fragen vernachlässigt, die manchmal nicht weniger wichtig erscheinen werden als die behandelten. Ich habe alles der Suche nach einem Standpunkt geopfert, von dem aus die Einheit des menschlichen Geistes fassbar wird.

Die Arbeit setzt sich aus zwei Teilen zusammen. Im ersten habe ich systematisch die verschiedenen Aspekte des menschlichen Lebens, wie sie von der Erotik aus in Betracht kommen, in ihrem Zusammenhang dargestellt.

Im zweiten habe ich einzelne Studien vereinigt, in denen ich dieselbe Frage erörtere: Die Einheit des Ganzen ist unverkennbar. Es handelt sich in beiden Teilen um dieselbe Untersuchung. Die Kapitel des ersten Teils und die verschiedenen Studien des zweiten wurden gleichzeitig geschrieben, seit dem Krieg bis zum laufenden Jahr. Diese Vorgehensweise hat einen Nachteil: Ich konnte Wiederholungen nicht vermeiden. Vor allem habe ich im ersten Teil gelegentlich in anderer Form Themen wiederaufgenommen, die im zweiten Teil behandelt werden. Mir ist dieses Verfahren umsoweniger hinderlich erschienen, als es dem allgemeinen Aspekt der Arbeit entspricht. Jede besondere Frage umschließt in ihr schon die ganze Frage. In gewissem Sinne beschränkt sich dieses Buch auf eine Gesamtansicht des menschlichen Lebens, die von einem immer anderen Blick winkel aus wiederholt wird.

Indem ich die Augen auf eine solche Gesamtsicht richtete, hat mich nichts mehr angezogen als die Möglichkeit, in einer allgemeinen Perspektive das Bild wiederzufinden, von dem meine Jugend besessen war: das Bild Gottes. Sicher kehre ich nicht zu meinem Jugendglauben zurück. Aber in der verlassenen Welt, in der wir umgehen, hat die menschliche Leidenschaft nur einen Gegenstand. Die Wege, auf denen wir uns mit ihm befassen, sind verschieden. Dieser Gegenstand hat die vielfältigsten Aspekte; aber den Sinn dieser Aspekte durchdringen wir nur, wenn wir ihren tiefen Zusammenhang gewahren.

Ich lege Wert auf die Feststellung, dass in dieser Arbeit die Impulse der christlichen Religion und des erotischen Lebens in ihrer Einheit erscheinen.

Ich hätte dieses Buch nicht schreiben können, wenn ich die Probleme, die es mir stellte, allein hätte ausarbeiten müssen. Ich möchte hier darauf hinweisen, dass meiner Anstrengung der Spiegel der Tauromachie von Michel Leiris voranging, in dem die Erotik als eine an das Leben selbst gebundene Erfahrung betrachtet wird, nicht als Gegenstand einer Wissenschaft, sondern der Leidenschaft, und in tieferer Hinsicht einer poetischen Kontemplation.

Vor allem im Hinblick auf den Spiegel, den Michel Leiris am Vorabend des Krieges schrieb, soll dieses Buch ihm gewidmet werden.

Darüber hinaus möchte ich ihm hier meinen Dank aussprechen für die Hilfe, die er mir anbot, als eine Erkrankung mir unmöglichmachte, mich selbst um die Beschaffung der Fotografien zu kümmern, die meinen Text begleiten.

Ich möchte an dieser Stelle zum Ausdruck bringen, wie sehr ich gerührt bin über die eifrige und effiziente Unterstützung, die eine große Zahl meiner Freunde mir bei dieser Gelegenheit gewährten, indem sie es auf sich nahmen, mir die entsprechenden Dokumente zu verschaffen.

Namentlich erwähne ich hier Jacques-André Boiffard, Henri Dussat, Théodore Fraenkel, Max-Pol Fouchet, Jacques Lacan, André Masson, Roger Parry, Patrick Waldberg, Blanche Wiehn.

Ich kenne weder M. Falk noch Robert Giraud noch den großartigen Fotografen Pierre Verger persönlich, denen ich ebenfalls einen Teil dieser Dokumentation verdanke.

Ich zweifle nicht daran, dass der Gegenstand meiner Studien und das Gespür für den Anspruch, dem mein Buch gehorcht, wesentlich zu ihrem Eifer beigetragen haben.

Ich habe noch nicht den Namen meines ältesten Freundes erwähnt, Alfred Métraux. Angesichts der Hilfe, die er mir gewährte, müsste ich eigentlich von all dem sprechen, was ich ihm verdanke. Er hat mich nicht nur in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg in das Gebiet der Anthropologie und der Religionsgeschichte eingeführt, sondern seine unbestrittene Autorität hat mir auch das Gefühl der Sicherheit – einer soliden Sicherheit – gegeben, wenn ich über die entscheidende Frage von Verbot und Überschreitung gesprochen habe.

EINFÜHRUNG

Abbildung II

Die Erhängung. Zeichnung von André Masson zu Sades Justine, 1928. Unveröffentlicht.

»Der Marquis de Sade [bestimmt] den Mord als einen Gipfel der erotischen Erregung.« (S. 29)

Von der Erotik ist es möglich zu sagen, dass sie die Bejahung des Lebens bis in den Tod ist. Genau genommen ist das keine Definition, aber ich glaube, dass diese Formel den Sinn der Erotik besser ausdrückt als irgendeine andere. Wollte man eine genaue Definition geben, müsste man gewiss von der sexuellen Aktivität zur Fortpflanzung ausgehen, von der die Erotik eine besondere Form darstellt. Die sexuelle Aktivität zur Fortpflanzung ist den geschlechtlich differenzierten Tieren und den Menschen gemeinsam, aber anscheinend haben die Menschen allein ihre sexuelle Aktivität zu einer erotischen Aktivität gemacht: Was die Erotik von der gewöhnlichen sexuellen Aktivität unterscheidet, ist eine vom natürlichen Zweck der Fortpflanzung und der Versorgung der Kinder unabhängige psychologische Suche. Von dieser elementaren Definition komme ich übrigens unmittelbar auf die Formel zurück, die ich zuerst vorgeschlagen habe und nach der die Erotik die Bejahung des Lebens bis in den Tod ist. Denn obwohl die erotische Aktivität zuerst ein Überschwang des Lebens ist, ist dem Gegenstand dieser psychologischen und, wie gesagt, von der Sorge um die Fortpflanzung des Lebens unabhängigen Suche der Tod nicht fremd. Dieses Paradox ist so groß, dass ich ohne Zögern versuchen möchte, durch die folgenden zwei Zitate meiner Behauptung einen Anschein von Begründung zu geben:

»Das Geheimnis ist leider nur allzu gewiss«, bemerkt Sade, »und kein etwas im Laster verwurzelter Libertin, der nicht wüsste, wie groß die Gewalt des Mordes über die Sinne ist …«1

Derselbe schreibt den noch merkwürdigeren Satz:

»Es gibt kein besseres Mittel, sich mit dem Tod vertraut zu machen, als ihn mit dem Gedanken einer Ausschweifung zu verbinden.«2

Ich sprach von dem Anschein einer Begründung. Der Gedanke Sades könnte in der Tat eine Verirrung sein. Auf alle Fälle handelt es sich, selbst wenn es wahr ist, dass die Tendenz, auf die er sich bezieht, in der menschlichen Natur nicht ganz selten vorkommt, um eine verirrte Sinnlichkeit. Dennoch bleibt eine Beziehung zwischen dem Tod und der sexuellen Erregung bestehen. Der Anblick oder die Vorstellung einer Mordtat können, zumindest bei Kranken, das Verlangen nach sexuellem Genuss wecken. Wir können uns nicht mit der Behauptung begnügen, die Krankheit sei die Ursache dieser Beziehung. Ich persönlich räume ein, dass sich in Sades Paradox eine Wahrheit enthüllt. Diese Wahrheit ist nicht auf den Horizont des Lasters beschränkt: Ich glaube sogar, dass sie die Grundlage sein kann für unsere Vorstellungen vom Leben und vom Tod. Schließlich glaube ich, dass wir über das Sein nicht unabhängig von dieser Wahrheit nachdenken können. Das Sein erscheint dem Menschen zumeist als etwas unabhängig von den Regungen der Leidenschaft Gegebenes. Im Gegensatz dazu behaupte ich, dass wir uns das Sein niemals außerhalb dieser Regungen vorstellen dürfen.

Ich bitte zu entschuldigen, dass ich jetzt von einer philosophischen Erwägung ausgehe.

Im Allgemeinen ist es der Fehler der Philosophie, sich vom Leben zu entfernen. Aber ich will Sie sofort beruhigen.3 Die Erwägung, die ich anstelle, bezieht sich sehr eng auf das Leben: Sie bezieht sich auf die sexuelle Aktivität, diesmal im Hinblick auf die Fortpflanzung. Ich sagte, dass die Fortpflanzung der Erotik entgegengesetzt ist; aber wenn es auch richtig ist, die Erotik so zu definieren, dass der erotische Genuss und die Fortpflanzung als Zweck unabhängig voneinander sind, so ist der grundlegende Sinn der Fortpflanzung nichtsdestoweniger der Schlüssel zur Erotik.

Die Fortpflanzung bringt diskontinuierliche Wesen ins Spiel.

Die Wesen, die sich fortpflanzen, sind untereinander verschieden, und die gezeugten Wesen sind untereinander und von jenen verschieden, aus denen sie hervorgegangen sind. Ein jedes Wesen ist von allen anderen verschieden. Seine Geburt, sein Tod und die Ereignisse seines Lebens können für die anderen von Interesse sein, aber unmittelbar ist es nur selbst daran interessiert. Nur es selbst wird geboren. Nur es selbst stirbt. Zwischen dem einen und dem anderen Wesen liegt ein Abgrund, erstreckt sich die Diskontinuität.

Dieser Abgrund befindet sich zum Beispiel zwischen Ihnen, die Sie mir zuhören, und mir, der ich zu Ihnen spreche. Wir versuchen, miteinander zu kommunizieren, aber keine Kommunikation zwischen uns wird die ursprüngliche Differenz beseitigen können. Wenn Sie sterben, dann bin nicht ich es, der stirbt. Sie und ich, wir sind diskontinuierliche Wesen.

Aber sobald ich diesen Abgrund, der uns trennt, in Erinnerung rufe, beschleicht mich das Gefühl einer Lüge. Dieser Abgrund ist tief, ich sehe kein Mittel, ihn zu beseitigen. Doch wir können gemeinsam das Schwindelerregende dieses Abgrunds empfinden. Er kann uns faszinieren. In einem gewissen Sinne ist dieser Abgrund der Tod, und der Tod ist schwindelerregend, er ist faszinierend.

Ich werde jetzt versuchen zu zeigen, dass für uns, die wir diskontinuierliche Wesen sind, der Tod den Sinn der Kontinuität des Seins hat: Die Fortpflanzung führt zur Diskontinuität der Wesen, aber sie bringt ihre Kontinuität ins Spiel, das heißt, sie ist innig mit dem Tod verbunden. Und indem ich von der Fortpflanzung der Wesen und vom Tod spreche, werde ich mich bemühen, die Identität zwischen der Kontinuität der Wesen und dem Tod darzulegen, die beide gleichermaßen faszinierend sind und deren Faszinationskraft die Erotik beherrscht.

Ich spreche von einer elementaren Störung, von dem, was seinem Wesen nach eine grundstürzende Erschütterung ist. Auch wenn die Tatsachen, von denen ich ausgehe, zunächst belanglos erscheinen mögen. Es sind Fakten, die die objektive Wissenschaft feststellt und die sich scheinbar in nichts von anderen Tatsachen unterscheiden, die uns zweifellos betreffen, aber von fern, ohne irgendetwas mit sich zu bringen, was uns intim erregen könnte. Diese augenscheinliche Bedeutungslosigkeit ist trügerisch, doch will ich zunächst in aller Einfachheit davon sprechen, als hätte ich nicht die Absicht, Sie sofort über Ihren Irrtum aufzuklären.

Sie wissen, dass sich die Lebewesen auf zwei Arten fortpflanzen. Die elementaren Wesen kennen eine geschlechtslose Fortpflanzung, aber die komplexeren Wesen pflanzen sich geschlechtlich fort.

In der geschlechtslosen Fortpflanzung teilt sich das einfache, einzellige Wesen, wenn ein bestimmter Grad seines Wachstums erreicht ist. Es bildet zwei Kerne aus, und aus einem Wesen entstehen zwei. Aber wir können nicht sagen, dass das eine Wesen ein zweites hervorgebracht hat. Die zwei neuen Wesen sind gleichermaßen Produkte des ersten. Das erste Wesen ist verschwunden. Im eigentlichen Sinne ist es gestorben, denn es lebt in keinem der beiden Wesen weiter, die es hervorgebracht hat. Es zerfällt nicht in der Art, wie die geschlechtlichen Tiere sterben, aber es hört auf zu sein. Es hört insofern auf zu sein, als es diskontinuierlich war. Zumindest an einem Punkt der Fortpflanzung aber hat es Kontinuität gegeben. Es gibt einen Punkt, an dem das ursprünglich Eine Zwei wird. Sobald zwei vorhanden sind, ist die Diskontinuität jedes der Wesen wiederhergestellt. Aber der Übergang schließt zwischen den beiden einen Augenblick von Kontinuität ein. Das erste stirbt, aber in seinem Tod zeigt sich der fundamentale Augenblick der Kontinuität zweier Wesen.

Dieselbe Kontinuität kann im Tod geschlechtlicher Wesen nicht auftauchen, ihre Fortpflanzung ist grundsätzlich unabhängig vom Todeskampf und von ihrem Verschwinden. Aber die geschlechtliche Fortpflanzung, die im Grunde die gleiche Teilung funktioneller Zellen ins Spiel bringt wie die ungeschlechtliche, fördert eine neue Art des Übergangs von der Diskontinuität zur Kontinuität zutage. Das Spermatozoon und die Eizelle sind im Elementarzustand diskontinuierliche Wesen, aber sie vereinigen sich, und demnach entsteht eine Kontinuität zwischen ihnen, um ein neues Wesen zu bilden, und zwar mit dem Tod, mit dem Verschwinden der getrennten Wesen. Das neue Wesen selbst ist diskontinuierlich, aber es trägt den Übergang zur Kontinuität in sich, die Verschmelzung, die für jedes der beiden verschiedenen Wesen tödlich ist.

Diese Veränderungen scheinen möglicherweise bedeutungslos, bilden aber die Grundlage für alle Lebensformen. Um sie verständlicher zu machen, lege ich Ihnen nahe, sich willkürlich den Übergang des Zustands, in dem Sie sich befinden, zu einer vollkommenen Zweiteilung Ihrer Person vorzustellen, die Sie nicht überleben könnten, da die aus Ihnen hervorgegangenen Doubles sich wesentlich von Ihnen unterscheiden würden. Notwendigerweise wäre keines dieser Doubles dem gleich, der Sie jetzt sind. Um Ihnen gleich zu sein, müsste das eine Double tatsächlich mit dem anderen kontinuierlich verbunden sein, es dürfte ihm nicht entgegengesetzt sein, wie es das ist. Darin liegt eine Bizarrerie, der die Vorstellungskraft nur mit Mühe folgt. Wenn Sie sich im Gegensatz dazu eine Verschmelzung zwischen einem von Ihresgleichen und Ihnen denken, analog der von Spermatozoon und Eizelle, können Sie sich ohne allzu große Schwierigkeit die Veränderung vorstellen, um die es sich handelt.

Ich lege diese groben Vorstellungen nicht nahe, um eine Präzisierung anzuführen. Zwischen dem klaren Bewusstsein, das wir verkörpern, und den winzigen Wesen, um die es sich handelt, ist die Distanz beträchtlich. Dennoch möchte ich Sie vor der Gewohnheit warnen, diese winzigen Wesen lediglich von außen zu betrachten; vor der Gewohnheit, sie als Dinge zu betrachten, die innerlich nicht existieren. Sie und ich existieren innerlich. Aber das gleiche gilt von einem Hund und infolgedessen von einem Insekt oder einem noch kleineren Wesen. So einfach ein Wesen auch sein mag, es gibt keine Schwelle, von der ab die innerliche Existenz erst auftauchte. Sie kann nicht das Ergebnis wachsender Komplexität sein. Hätten die winzigen Wesen nicht von Anfang an, auf ihre Weise, eine innerliche Existenz, könnte keine Komplexität diese Existenz zum Vorschein bringen.

Deshalb ist aber die Distanz zwischen diesen mikroskopisch kleinen Tieren und uns nicht weniger groß. Die haarsträubenden Vorstellungen, die ich angeregt habe, können also keinen präzisen Sinn erhalten. Ich wollte nur auf eine paradoxe Weise die unscheinbaren Veränderungen ins Bewusstsein rufen, um die es sich handelt und die für unser Leben grundlegend sind.

Grundlegend sind die Übergänge vom Kontinuierlichen zum Diskontinuierlichen oder vom Diskontinuierlichen zum Kontinuierlichen. Wir sind diskontinuierliche Wesen, Individuen, die getrennt voneinander in einem unbegreiflichen Abenteuer sterben, aber wir haben Sehnsucht nach der verlorenen Kontinuität. Wir ertragen die Situation nur schwer, die uns an eine Zufalls-Individualität fesselt, an die vergängliche Individualität, die wir sind. Während wir das verängstigte Verlangen nach der Dauer dieses Vergänglichen hegen, sind wir zugleich von der Vorstellung einer ursprünglichen Kontinuität besessen, die uns ganz allgemein mit dem Sein verbindet. Die Sehnsucht, von der ich spreche, hat nichts zu tun mit der Kenntnis der von mir angeführten grundlegenden Gegebenheiten. Man kann darunter leiden, nicht so in der Welt zu sein wie eine Welle, die sich in der Vielheit der Wellen verliert, ohne etwas von den Entzweiungen und den Verschmelzungen der einfachsten Wesen zu wissen. Aber bei allen Menschen bestimmt diese Sehnsucht die drei Formen der Erotik.

Ich werde nacheinander von diesen drei Formen sprechen, nämlich von der Erotik der Körper, von der Erotik der Herzen und schließlich von der sakralen Erotik. Ich werde davon sprechen, um deutlich zu machen, dass es in ihnen immer darum geht, die Vereinzelung des Wesens, seine Diskontinuität, durch ein Gefühl tiefer Kontinuität zu ersetzen.

Man kann sich leicht vorstellen, was die Erotik der Körper oder der Herzen bezeichnet, aber die Idee einer sakralen Erotik ist weniger vertraut. Der Ausdruck ist übrigens zwiespältig, insofern jede Erotik sakral ist, doch auf die Körper und die Herzen stoßen wir, ohne in den sakralen Bereich im engeren Sinne einzutreten. Hingegen bezeichnet die systematische Suche nach einer Kontinuität des Seins, die über die unmittelbare Welt hinausführt, ein wesentlich religiöses Unterfangen; in ihrer im Abendland üblichen Form verschmilzt die sakrale Erotik mit der Gottsuche, genauer: mit der Gottesliebe, doch geht der Orient einer ähnlichen Suche nach, ohne unbedingt eine Gottesvorstellung ins Spiel zu bringen. Insbesondere der Buddhismus verzichtet auf diese Idee. Wie dem aber auch sei, ich will schon jetzt unterstreichen, was mein Versuch bedeutet. Ich habe mich bemüht, einen Begriff einzuführen, der auf den ersten Blick befremdlich, unnötig philosophisch erscheinen mochte, den der Kontinuität, die der Diskontinuität des Wesens entgegengesetzt ist. Ich kann nun die Tatsache hervorheben, dass uns ohne diesen Begriff die allgemeine Bedeutung der Erotik und die Einheit ihrer Formen entgehen würden.

Mit dem Umweg über die Darstellung der Diskontinuität und der Kontinuität der kleinsten Wesen, die sich im Fortpflanzungsprozess befinden, versuche ich, dem Dunkel zu entrinnen, in das der riesige Bereich der Erotik seit eh und je getaucht ist. Es gibt ein Geheimnis der Erotik, das ich damit enthüllen möchte. Wäre das möglich, ohne zunächst in die tiefste Tiefe, in das Herz des Seins vorzudringen?

Ich musste soeben zugeben, dass man die Betrachtungen über die Fortpflanzung der kleinsten Wesen für bedeutungslos, für belanglos halten könnte. Es mangelt ihnen die Stimmung einer elementaren Gewalt, die alle Äußerungen der Erotik, um welche es sich auch handeln mag, beherrscht. Das Gebiet der Erotik ist im Wesentlichen das Gebiet der Gewalt, das Gebiet der Verletzung. Aber denken wir über den Übergang der kleinsten Wesen von der Diskontinuität zur Kontinuität nach. Wenn wir uns die Bedeutung vergegenwärtigen, die diese Zustände für uns haben, begreifen wir, dass es immer höchst gewaltsam ist, das Wesen aus der Diskontinuität herauszureißen. Das Gewaltsamste für uns ist der Tod, der uns gerade jener Hartnäckigkeit entreißt, mit der wir auf der Fortdauer des diskontinuierlichen Wesens, das wir sind, beharren. Bei dem Gedanken, dass die diskontinuierliche Individualität in uns plötzlich erlöschen soll, versagt uns das Herz. Wir können die Regungen unseres Herzens nicht einfach mit denen der winzigen Lebewesen, die im Fortpflanzungsprozess stehen, vergleichen, aber so winzig die Wesen auch sein mögen, wir können uns nicht vorstellen, dass das Sein in ihnen ohne Gewalt aufs Spiel gesetzt wird: Das elementare Wesen als Ganzes steht nämlich auf dem Spiel im Übergang von der Diskontinuität zur Kontinuität. Nur die Gewalt kann auf solche Weise alles aufs Spiel setzen, die Gewalt und die namenlose Erregung, die mit ihr verbunden ist! Ohne Verletzung des konstituierten Wesens, das sich in der Diskontinuität konstituiert hat, können wir uns den Übergang von einem Zustand zu einem anderen, wesentlich unterschiedenen nicht vorstellen. In den dunklen Übergängen der in Fortpflanzung begriffenen winzigen Lebewesen finden wir nicht nur den Grund der Gewalt wieder, die uns in der Erotik der Körper den Atem verschlägt, sondern es enthüllt sich uns auch der innerste Sinn dieser Gewalt. Was bedeutet die Erotik der Körper anderes als eine Verletzung der Partner in ihrem Sein? Eine Verletzung, die an den Tod grenzt? Die an den Mord grenzt?

Alles, was die Erotik ins Werk setzt, hat zum Ziel, das Wesen im Allerintimsten zu treffen, dort, wo das Herz versagt. Der Übergang vom Normalzustand zu dem des erotischen Begehrens setzt in uns eine verhältnismäßige Auflösung des in der diskontinuierlichen Ordnung konstituierten Wesens voraus. Der Begriff der Auflösung passt zu dem geläufigen Ausdruck eines losen Lebens, wie er mit der erotischen Aktivität verbunden ist. Im Prozess der Auflösung der Wesen kommt dem männlichen Partner gewöhnlich die aktive Rolle zu; die weibliche Rolle ist passiv. Im Allgemeinen ist es der passive, weibliche Teil, der als konstituiertes Wesen aufgelöst wird. Doch für einen männlichen Partner hat die Auflösung der passiven Seite nur einen Sinn: Sie bereitet eine Verschmelzung vor, in der sich zwei Wesen mischen, die zum Schluss gemeinsam denselben Grad der Auflösung erreichen. Die ganze erotische Veranstaltung ist auf eine Zerstörung der Struktur jenes abgeschlossenen Wesens ausgerichtet, das ein am Spiel beteiligter Partner im Normalzustand ist.

Die entscheidende Handlung ist die Entblößung. Die Nacktheit steht im Kontrast zum abgeschlossenen Zustand, zum Zustand der diskontinuierlichen Existenz. Sie ist ein Zustand der Kommunikation, der die Suche nach einer möglichen Kontinuität des Seins offenbart, die über die Selbstbefangenheit hinausführt. Die Körper öffnen sich der Kontinuität durch jene geheimen Kanäle, die uns die Empfindung der Obszönität vermitteln. Die Obszönität bezeichnet die Verwirrung, die eine dem Selbstbesitz, dem Besitz der dauerhaften und sich behauptenden Individualität entsprechende Verfassung der Körper stört. Es findet eine Enteignung statt im Spiel der Organe, die sich in der stetig wiederkehrenden Verschmelzung verströmen, ähnlich dem Hin und Her der Wellen, die sich durchdringen und ineinander verlieren. Diese Enteignung ist so vollständig, dass sich die meisten Menschen im Zustand der Nacktheit, der sie ankündigt, der ihr Bild ist, verbergen, und das umso eher, wenn auf die Nacktheit die erotische Handlung folgt, die die Enteignung vollendet. In den Kulturkreisen, in denen die Entblößung ihre volle Bedeutung besitzt, stellt sie, wenn nicht ein Simulakrum, so doch ein gefahrloses Äquivalent der Tötung dar. Im Altertum war die Auflösung (oder die Zerstörung), auf der die Erotik beruht, so spürbar, dass sie den Vergleich des Liebesakts mit dem Opfer rechtfertigte. Wenn ich von der sakralen Erotik sprechen werde, welche die Verschmelzung der Wesen mit einem Jenseits der unmittelbaren Wirklichkeit betrifft, werde ich auf den Sinn des Opfers zurückkommen. Doch lege ich schon jetzt Nachdruck auf die Tatsache, dass der weibliche Partner in der Erotik als das Opfer erschien, der männliche als der Opferer, wobei sich im Vollzug des Liebesakts beide in der Kontinuität verlieren, die durch einen ersten Akt der Zerstörung eröffnet wird.

Was diesen Vergleich in seinem Wert schmälert, ist der geringe Grad von Zerstörung, um den es sich handelt. Wir könnten höchstens behaupten, dass die erotische Aktivität schwerer ihren Höhepunkt erreicht, wenn das Element der Verletzung, ja der Gewalt, das sie begründet, ausbleibt. Indessen würde die wirkliche Zerstörung, die Tötung im eigentlichen Sinne, keine vollkommenere Form der Erotik mit sich bringen als das ganz vage Äquivalent, von dem ich sprach. Die Tatsache, dass der Marquis de Sade in seinen Romanen den Mord als einen Gipfel der erotischen Erregung bestimmt, hat nur den einen Sinn: dass wir uns nicht notwendigerweise von der Erotik entfernen, wenn wir die in ihr angelegte Bewegungsrichtung, wie ich sie beschrieb, bis zur äußersten Konsequenz führen. Im Übergang vom normalen Zustand zum Begehren gibt es eine grundlegende Faszination des Todes. In der Erotik steht immer die Auflösung konstituierter Formen auf dem Spiel. Ich wiederhole es: jener Formen des sozialen, regelmäßigen Lebens, welche die diskontinuierliche Ordnung der ausgeprägten Individualitäten ausmachen, die wir sind. Trotz Sade ist aber das diskontinuierliche Leben in der Erotik nicht, und weniger noch als in der Fortpflanzung, zum Verschwinden verurteilt: Es ist lediglich in Frage gestellt. Es muss im höchsten Grade verwirrt und gestört werden. Es gibt ein Suchen nach der Kontinuität, aber nur dem Prinzip nach, sodass die Kontinuität, die allein der Tod der diskontinuierlichen Wesen endgültig herstellen könnte, nicht den Sieg davonträgt. Es handelt sich darum, ins Innere einer auf die Diskontinuität gegründeten Welt so viel Kontinuität einzuführen, wie diese Welt ertragen kann. Sades Wahnwitz geht über diese Möglichkeit hinaus. Er ist die Versuchung einer kleinen Zahl, und manchmal gibt es einige, die bis ans Ende gehen. Aber für die Gesamtheit der normalen Menschen zeigen definitive Handlungen nur die äußerste Richtung der wesentlichen Wege an. Es gibt einen schrecklichen Exzess in der uns belebenden Erregung: Der Exzess erhellt den Sinn der Erregung. Aber für uns ist das nur ein entsetzliches Zeichen, das uns unaufhörlich daran erinnert, dass sich uns der Tod, der Abbruch jener individuellen Diskontinuität, an die uns die Angst fesselt, als eine höhere Wahrheit erweist als das Leben.

Die Erotik der Körper hat auf alle Fälle etwas Schweres, Düsteres an sich. Sie bewahrt die individuelle Diskontinuität, und das immer ein wenig im Sinne eines zynischen Egoismus. Die Erotik der Herzen ist freier. Wenn sie sich dem Anschein nach von der Materialität der körperlichen Erotik trennt, so geht sie in Wirklichkeit insofern aus ihr hervor, als sie oft nur ihre durch die gegenseitige Zuneigung der Liebenden stabilisierte Erscheinungsform ist. Sie kann sich ganz davon trennen, aber dann handelt es sich um Ausnahmen, wie sie in der großen Verschiedenheit der Menschen vorkommen. Die Leidenschaft der Liebenden setzt im Grunde die Verschmelzung, die zwischen den Körpern stattfand, auf der Ebene der geistigen Sympathie fort. Sie setzt sie fort, oder sie ist ihr Auftakt. Aber für den, der sie empfindet, kann die Leidenschaft eine stärkere Bedeutung haben als das Begehren der Körper. Wir dürfen niemals vergessen, dass sie trotz der Glückseligkeitsversprechen, die sie begleiten, zuerst Verwirrung und Störung mit sich bringt. Sogar die glückliche Leidenschaft veranlasst eine so heftige Unordnung, dass das Glück, um das es sich handelt, bevor es ein Glück ist, das man genießen kann, mit seinem Gegenteil, dem Leiden, vergleichbar ist. Das Wesen der Leidenschaft ist es, die fortdauernde Diskontinuität durch eine wunderbare Kontinuität zwischen zwei Wesen zu ersetzen. Aber diese Kontinuität wird hauptsächlich in der Angst empfunden, insofern sie unerreichbar ist, ein Trachten in Ohnmacht und Zittern. Ein stilles Glück, in dem das Gefühl der Sicherheit die Oberhand gewinnt, hat nur den Sinn einer Beruhigung des langen Leidens, das voranging. Denn für die Liebenden ist die Aussicht größer, sich nur flüchtig zu begegnen, als die hingerissene Betrachtung der intimen Kontinuität, die sie vereint, genießen zu können.

Die Aussichten zu leiden sind umso größer, als nur das Leiden die ganze Bedeutung des geliebten Wesens offenbart. Der Besitz des geliebten Wesens bedeutet nicht den Tod, im Gegenteil, aber der Tod ist mit der Suche verbunden. Wenn der Liebende das geliebte Wesen nicht besitzen kann, denkt er manchmal daran, es zu töten: Oft würde er es lieber töten als verlieren. In anderen Fällen wünscht er sich selbst den Tod. Was in dieser Raserei auf dem Spiel steht, ist das Gefühl einer möglichen Kontinuität, die im geliebten Wesen erblickt wird. Es scheint dem Liebenden, dass einzig das geliebte Wesen – das liegt an schwer zu definierenden Korrespondenzen, die über die sinnliche Vereinigung hinaus die Vereinigung der Herzen ermöglichen – in dieser Welt verwirklichen kann, woran unsere Begrenzungen uns hindern, nämlich das völlige Verschmelzen, die Kontinuität zweier diskontinuierlicher Wesen. Die Leidenschaft verwickelt uns auf diese Weise in das Leiden, denn sie ist im Grunde das Streben nach etwas Unmöglichem und, oberflächlich gesehen, nach einer Übereinstimmung, die von Zufälligkeiten abhängt. Indessen verspricht sie einen Ausweg aus dem grundlegenden Leiden. Wir leiden an unserer Isolierung in der diskontinuierlichen Individualität. Die Leidenschaft wiederholt uns ununterbrochen: Wenn du das geliebte Wesen besäßest, bildete dieses Herz, das die Einsamkeit erstickt, mit dem des geliebten Wesens ein einziges Herz. Zum Teil wenigstens ist dieses Versprechen illusorisch. Aber in der Leidenschaft nimmt das Bild der Verschmelzung, manchmal für jeden der Liebenden auf andere Weise, mit wahnsinniger Intensität Gestalt an. Jenseits ihres Bildes, ihres Projekts, kann übrigens die prekäre Verschmelzung, die sich das Überleben des individuellen Egoismus vorbehält, zur Wirklichkeit werden. Gleichwohl: In den meisten Fällen muss durch das Leiden – die drohende Trennung – das volle Bewusstsein dieser prekären und zugleich tiefen Verschmelzung aufrechterhalten werden.

Wie dem auch sei, müssen wir von zwei entgegengesetzten Möglichkeiten Kenntnis nehmen.

Ist die Vereinigung der beiden Liebenden die Wirkung der Leidenschaft, schließt sie den Tod ein, das Begehren nach dem Mord oder dem Selbstmord. Was die Leidenschaft kennzeichnet, ist eine Aura des Todes. Unterhalb dieser Gewalt – der das Gefühl für die kontinuierliche Verletzung der diskontinuierlichen Individualität entspricht – beginnt das Gebiet der Gewöhnung und des Egoismus zu zweit, das heißt eine neue Form der Diskontinuität. Nur in der Verletzung der individuellen Isolierung – auf Höhe des Todes – erscheint jenes Bild des geliebten Wesens, das dem Liebenden alles bedeutet. Für den Liebenden ist das geliebte Wesen die Transparenz der Welt. Was in ihm transparent wird, davon werde ich später im Zusammenhang mit der göttlichen oder sakralen Erotik sprechen. Es ist das volle, unbegrenzte Sein, das von keiner persönlichen Diskontinuität mehr begrenzt wird. Es ist, mit einem Wort, die Kontinuität des Seins, die vom Liebenden als eine Befreiung wahrgenommen wird. Etwas Absurdes, eine schreckliche Vermischung liegt in diesem Anschein, aber durch die Absurdität, die Vermischung und das Leiden hindurch eine wunderbare Wahrheit. Im Grunde ist nichts illusorisch an der Wahrheit der Liebe: Das geliebte Wesen kommt für den Liebenden, zweifellos nur für den Liebenden, aber einerlei, der Wahrheit des Seins gleich. Der Zufall will, dass der Liebende über das geliebte Wesen, da die Vielfalt der Welt verschwunden ist, den Grund des Seins, die Einfachheit des Seins erfasst.

Über die prekären, von günstigen Zufällen abhängigen Möglichkeiten hinaus, die den Besitz des geliebten Wesens gewährleisten, hat sich die Menschheit seit Urzeiten bemüht, ohne solche Zufälle zur Kontinuität zu gelangen, die sie befreit. Das Problem hat sich angesichts des Todes gestellt, der das diskontinuierliche Wesen augenscheinlich in die Kontinuität des Seins stürzt. Diese Art, die Dinge zu sehen, drängt sich dem Geist zwar nicht von Anfang an auf, doch rührt der Tod, der die Zerstörung eines diskontinuierlichen Wesens ist, in keiner Weise an die Kontinuität des Seins, die im Allgemeinen außerhalb von uns existiert. Ich vergesse nicht, dass in dem Wunsch nach Unsterblichkeit die Sorge ins Spiel kommt, das Überleben in der Diskontinuität zu sichern – das Überleben des persönlichen Wesens –, aber ich lasse diese Frage beiseite. Ich betone die Tatsache, dass der Tod die Kontinuität des Seins, da sie den Ursprung der Wesen bildet, nicht erreicht; die Kontinuität des Seins ist von ihm unabhängig; der Tod bringt sie, im Gegenteil, zur Erscheinung. Dieser Gedanke, scheint mir, muss die Grundlage für die Interpretation des religiösen Opfers sein, mit dem die erotische Handlung verglichen werden kann, wie ich vorhin sagte. Die erotische Handlung löst die Wesen, die sich in sie einlassen, auf und offenbart ihre Kontinuität, die an jene aufgewühlter Gewässer erinnert. In der Opferhandlung findet nicht nur eine Entblößung, sondern eine Tötung des Opfers statt (oder eine bestimmte Art der Zerstörung, wenn der Gegenstand der Opferhandlung kein lebendes Wesen ist). Das Opfer stirbt, und die Anwesenden haben an einem Element teil, das sein Tod offenbart. Dieses Element ist das, was man, mit den Religionshistorikern, das Sakrale nennen kann. Das Sakrale ist eben die Kontinuität des Seins, die denen offenbart wird, die ihre Aufmerksamkeit in einem feierlichen Ritus auf den Tod eines diskontinuierlichen Wesens richten. Durch den gewaltsamen Tod wird die Diskontinuität eines Wesens gebrochen: Das, was bleibt und was in der eintretenden Stille die angstvollen Seelen spüren, ist die Kontinuität des Seins, der das Opfer zurückgegeben wurde. Nur eine spektakuläre Tötung, die unter Bedingungen vollzogen wird, die der Feierlichkeit und Gemeinschaftlichkeit der Religion entsprechen, ist geeignet, zu offenbaren, was gewöhnlich der Aufmerksamkeit entgeht. Übrigens könnten wir uns nicht vorstellen, was sich im geheimsten Innern der Teilnehmer bekundet, wenn wir uns nicht auf religiöse Erfahrungen beziehen könnten, die wir persönlich gemacht haben, und sei es in unserer Kindheit. Alles bestätigt die Annahme, dass das Sakrale der primitiven Opfer im Wesentlichen dem Göttlichen der gegenwärtigen Religionen entspricht.

Ich sagte eben, dass ich von der sakralen Erotik sprechen werde; ich hätte mich verständlicher gemacht, wenn ich zuerst von der göttlichen Erotik gesprochen hätte. Die Liebe zu Gott ist eine geläufigere, weniger verwirrende Idee als die Liebe zu einem sakralen Element. Ich habe es nicht getan, ich wiederhole es, weil die Erotik, deren Gegenstand jenseits der unmittelbaren Wirklichkeit angesiedelt ist, bei Weitem nicht auf die Liebe zu Gott zurückgeführt werden kann. Ich wollte lieber schwer verständlich als ungenau sein.

Im Wesentlichen ist das Göttliche mit dem Sakralen identisch, wenn man von der relativen Diskontinuität der Person Gottes absieht. Gott ist ein zusammengesetztes Wesen, das auf der Gefühlsebene, und sogar in grundlegender Weise, die Kontinuität des Seins besitzt, von der ich spreche. Die Vorstellung von Gott ist aber deshalb nicht weniger, in der biblischen Theologie ebenso wie in der rationalen Theologie, an ein persönliches Wesen gebunden, an einen von der Gesamtheit des Seienden unterschiedenen Schöpfer. Was die Kontinuität des Seins betrifft, beschränke ich mich darauf zu sagen, dass sie meiner Meinung nach zwar nicht erkennbar, wohl aber erfahrbarist, wenn auch in zufälligen, immer ein wenig anfechtbaren Formen. Die negative Erfahrung allein ist es meines Erachtens wert, Aufmerksamkeit zu beanspruchen, und diese Erfahrung ist reich. Wir dürfen niemals vergessen, dass die positive Theologie von einer negativen Theologie begleitet wird, die sich auf die mystische Erfahrung gründet.

Obwohl sie sich klar davon unterscheidet, scheint mir die mystische Erfahrung schon durch die universale Erfahrung des religiösen Opfers mitgegeben. Sie führt in die Welt, die von einem Denken beherrscht wird, das von der gegenständlichen, objektgebundenen Erfahrung (und der Objekterkenntnis, die sich daraus entwickelt) ausgeht, ein Element ein, das in den Konstruktionen dieses rationalen Denkens keinen Platz findet, es sei denn in negativer Form, als eine Bestimmung seiner Grenzen. Und in der Tat, was die mystische Erfahrung offenbart, ist eine Objektlosigkeit. Das Objekt fällt mit der Diskontinuität zusammen, und die mystische Erfahrung weckt in uns, soweit wir die Kraft haben, einen Bruch mit unserer Diskontinuität herbeizuführen, das Gefühl der Kontinuität. Sie weckt es mit anderen Mitteln als die Erotik der Körper oder die Erotik der Herzen. Genauer, sie verzichtet auf die Mittel, die nicht vom Willen abhängen. Die an die Realität gebundene erotische Erfahrung ist eine Erwartung des Ungewissen, das Warten auf ein bestimmtes Wesen und auf günstige Umstände. Die sakrale Erotik in der mystischen Erfahrung will nur, dass das Subjekt durch nichts gestört werde.

Im Prinzip (es ist keine Regel) berücksichtigt man in Indien die Aufeinanderfolge der verschiedenen Formen, von denen ich sprach, auf ungezwungene Weise. Die mystische Erfahrung ist dem reifen Alter vorbehalten, beim Herannahen des Todes, wenn die günstigen Bedingungen für die reale Erfahrung fehlen. Die an gewisse Gesichtspunkte der positiven Religionen gebundene mystische Erfahrung widersetzt sich manchmal jener Bejahung des Lebens bis in den Tod, in der ich generell den tiefen Sinn der Erotik erkenne.

Aber die Opposition ist nicht notwendig. Die Bejahung des Lebens bis in den Tod ist Herausforderung, sowohl in der Erotik der Herzen als auch in jener der Körper, es ist eine Herausforderung des Todes aus Gleichgültigkeit ihm gegenüber. Das Leben ist Zugang zum Sein: Wenn das Leben auch sterblich ist, die Kontinuität des Seins ist es nicht. Das Näherrücken der Kontinuität, der Rausch der Kontinuität beherrschen die Betrachtung des Todes. In erster Linie gewährt uns die unmittelbare erotische Verwirrung ein Gefühl, das alles übersteigt, sodass die düsteren Aussichten, die mit der Situation des diskontinuierlichen Wesens verbunden sind, in Vergessenheit geraten. Dann, jenseits der dem jugendlichen Leben offenstehenden Trunkenheit, erlangen wir die Macht, dem Tod ins Angesicht zu schauen und in ihm schließlich die Eröffnung der unbegreiflichen, unerkennbaren Kontinuität zu erblicken, die das Geheimnis der Erotik ist und deren Geheimnis nur die Erotik nahebringt.

Wer mir gefolgt ist, wird nun den Sinn des Satzes, den ich zu Anfang zitierte, im Licht der Einheit, die die verschiedenen Formen der Erotik bilden, erfassen:

»Es gibt kein besseres Mittel, sich mit dem Tod vertraut zu machen, als ihn mit dem Gedanken einer Ausschweifung zu verbinden.«

Was ich gesagt habe, erlaubt, in ihm die Einheit des erotischen Bereichs zu erkennen, der sich uns durch die Verweigerung der willentlichen Selbstbefangenheit eröffnet. Die Erotik öffnet für den Tod. Der Tod öffnet für die Negation der individuellen Fortdauer. Könnten wir ohne innere Gewalt eine Negation auf uns nehmen, die uns an die Grenze alles Möglichen führt?

Zum Schluss möchte ich Ihnen helfen, wirklich zu empfinden, dass an dem Ort, an den ich Sie führen wollte, so wenig vertraut er Ihnen manchmal erscheinen mochte, sich dennoch die Wege grundlegender Gewalten kreuzen.

Ich habe von mystischer Erfahrung gesprochen und nicht von der Poesie. Ich hätte es nicht tun können, ohne noch weiter in ein intellektuelles Labyrinth einzudringen: Wir alle empfinden, was die Poesie ist. Sie ist unser Grund, aber wir können nicht von ihr sprechen. Ich werde jetzt nicht von ihr sprechen, doch glaube ich, die Idee der Kontinuität, die ich vorstellen wollte und die nicht ganz mit der Gottesvorstellung der Theologen identifiziert werden kann, sinnlicher zu machen, wenn ich an die folgenden Verse eines der gewaltigsten Dichter erinnere, nämlich Rimbaud.

Neugefunden, Sie.

Was? die Ewigkeit.

Das Meer ist’s, hinfort

Ist’s mit der Sonne.4

Die Poesie führt zu demselben Punkt, zu dem jede Form der Erotik führt – zur Ununterscheidbarkeit, zur Verschmelzung der unterschiedlichen Gegenstände. Sie führt uns zur Ewigkeit, sie führt uns zum Tod und durch den Tod zur Kontinuität: Die Poesie ist die Ewigkeit. Das Meer ist’s, hinfort ist’s mit der Sonne.

ERSTER TEIL

VERBOT UND ÜBERSCHREITUNG

Abbildung III

Opferung eines Hahns. Wodu-Kult.

»Das Opfer stirbt, und die Anwesenden haben an einem Element teil, das sein Tod offenbart. Dieses Element ist das, was man, mit den Religionshistorikern, das Sakrale nennen kann.« (S. 33)

I

EROTIK UND INNERE ERFAHRUNG

Die Erotik als »unmittelbarer« Aspekt der inneren Erfahrung, im Gegensatz zur animalischen Sexualität

Die Erotik ist einer der Aspekte des menschlichen Innenlebens. In dieser Hinsicht täuschen wir uns leicht, weil sie ununterbrochen im Äußeren nach einem Objekt ihres Begehrens sucht. Doch dieses Objekt entspricht der Innerlichkeit des Begehrens. Die Wahl eines Objekts hängt immer von den persönlichen Vorlieben des Subjekts ab: Selbst wenn sie auf eine Frau fällt, die die meisten gewählt hätten, ist es oft etwas Unwägbares, das entscheidet, und nicht eine objektive Eigenschaft dieser Frau, an der vielleicht nichts ist, was unsere Bevorzugung bewirken könnte, wenn sie nicht an unser inneres Sein rührte. Mit einem Wort, selbst wenn die Wahl des Menschen mit der der meisten übereinstimmt, unterscheidet sie sich noch von der des Tieres: Sie beansprucht jene unendlich komplexe innere Beweglichkeit, die den Menschen charakterisiert. Das Tier hat selbst ein subjektives Leben, aber dieses Leben, so scheint es, ist ihm ein für allemal gegeben, so wie die leblosen Gegenstände gegeben sind. Die Erotik des Menschen unterscheidet sich von der animalischen Sexualität gerade darin, dass sie das innere Leben in Frage stellt. Die Erotik ist im Bewusstsein des Menschen das, was das Sein in ihm in Frage stellt. Auch die animalische Sexualität bringt eine Gleichgewichtsstörung mit sich, und diese Störung des Gleichgewichts bedroht das Leben, aber das Tier weiß es nicht. Nichts öffnet sich in ihm, was einer Frage gliche.

Wie dem auch sei, wenn die Erotik die sexuelle Aktivität des Menschen ist, dann insoweit diese sich von der der Tiere unterscheidet. Die sexuelle Aktivität des Menschen ist nicht notwendigerweise erotisch. Doch ist sie es stets dann, wenn sie nicht rudimentär, wenn sie nicht einfach animalisch ist.

Entscheidende Bedeutung des Übergangs vom Tier zum Menschen

Die grundlegende Bestimmung finden wir im Übergang vom Tier zum Menschen, von dem wir so wenig wissen. Alle Ereignisse dieses Übergangs sind uns verborgen; zweifellos endgültig. Doch sind wir weniger entwaffnet, als es zunächst scheint. Wir wissen, dass die Menschen Werkzeuge herstellten und sie im Blick auf ihre Lebenserhaltung verwendeten, aber auch, sicherlich bald, für überflüssige Bedürfnisse. Mit einem Wort, sie unterschieden sich von den Tieren durch die Arbeit. Gleichzeitig erlegten sie sich Beschränkungen auf, die wir unter dem Begriff Verbote kennen. Diese Verbote bezogen sich sicher im Wesentlichen auf das Verhalten den Toten gegenüber. Es ist wahrscheinlich, dass sie gleichzeitig – oder um dieselbe Zeit – die sexuelle Aktivität betrafen. Die frühe Datierung eines gewissen Verhaltens den Toten gegenüber ergibt sich aus zahlreichen Fundstellen von Gebeinen. Der Neandertaler jedenfalls, der noch nicht ganz Mensch war, der sich noch nicht ganz aufgerichtet hatte und dessen Schädel sich noch nicht so sehr wie der unsere von dem der Menschenaffen unterschied, begrub häufig seine Toten. Die sexuellen Verbote reichen gewiss nicht bis in diese fernen Zeiten zurück. Wir können sagen, dass sie überall da auftauchen, wo die Menschheit auftauchte, dass aber, insofern wir uns an die prähistorischen Gegebenheiten halten müssen, nichts Handgreifliches sie beweist. Die Beerdigung der Toten hat Spuren hinterlassen, doch nichts blieb bestehen, was uns auch nur einen Hinweis auf die sexuellen Restriktionen der frühesten Menschen liefert.

Wir können nur annehmen, dass sie arbeiteten, denn wir haben ihre Werkzeuge. Da die Arbeit, wie es scheint, auf logische Weise die Reaktion hervorgerufen hat, die die Haltung dem Tod gegenüber bestimmte, ist es legitim anzunehmen, dass das Verbot, das die Sexualität regelte und einschränkte, ebenfalls als Gegenwirkung von ihr ausging und dass die Gesamtheit der grundlegenden menschlichen Verhaltensweisen – Arbeit, Todesbewusstsein, gezügelte Sexualität – in dieselbe ferne Periode zurückreicht.

Die Spuren der Arbeit sind vom älteren Paläolithikum an festzustellen, und das älteste Grab, das wir kennen, geht auf das mittlere Paläolithikum zurück. In Wirklichkeit handelt es sich um Epochen, die nach den gegenwärtigen Berechnungen Hunderte von Jahrtausenden dauerten: Diese endlosen Jahrtausende entsprechen der Häutung, in der sich der Mensch aus der ursprünglichen Animalität löste. Er ging aus ihr hervor, indem er arbeitete, indem er begriff, dass er sterben muss, und indem er von der Sexualität ohne Scham zur schamhaften Sexualität überging, aus der die Erotik entsprang. Der Mensch im eigentlichen Sinne, den wir unseresgleichen nennen und der in der Zeit der Höhlenmalerei auftaucht (es ist das jüngere Paläolithikum), ist von all diesen Wandlungen geprägt, die auf der religiösen Ebene liegen und die er zweifellos samt und sonders hinter sich hatte.

Die Erotik, ihre innere Erfahrung und ihre Kommunikation, gebunden an objektive Elemente und an die historische Perspektive, in der diese Elemente uns erscheinen

In dieser Weise von der Erotik zu sprechen, hat einen Nachteil. Wenn ich aus ihr die dem Menschen eigene entwicklungsgeschichtliche Aktivität mache, definiere ich die Erotik objektiv. So groß mein Interesse für die objektive Untersuchung der Erotik aber auch sein mag, kommt sie für mich doch erst an zweiter Stelle. Meine Absicht ist es im Gegenteil, in der Erotik einen Aspekt des inneren Lebens, des religiösen Lebens, wenn man so will, des Menschen ins Auge zu fassen.

Die Erotik, ich sagte es schon, ist in meinen Augen die Störung des Gleichgewichts, in der sich das Wesen selbst in Frage stellt, und zwar bewusst. In einem gewissen Sinne verliert sich das Wesen objektiv, doch dann identifiziert sich das Subjekt mit dem Objekt, das sich verliert. Notfalls kann ich im Hinblick auf die Erotik sagen: ICH verliere mich. Gewiss ist das nicht gerade eine privilegierte Situation. Aber das zur Erotik gehörende freiwillige Sichverlieren ist flagrant: Niemand kann daran zweifeln. Wenn ich jetzt von der Erotik spreche, habe ich die Absicht, mich ohne Umschweife im Namen des Subjekts auszudrücken, selbst wenn ich für den Anfang objektive Betrachtungen einflechte. Und wenn ich von den Regungen der Erotik objektiv spreche, dann, und ich muss das zuerst betonen, weil die innere Erfahrung niemals unabhängig von objektiven Gesichtspunkten gegeben ist; wir finden sie immer an einen bestimmten, unleugbar objektiven Aspekt gebunden.

Die Bestimmung der Erotik ist ursprünglich eine religiöse, und meine Arbeit steht der »Theologie« näher als der wissenschaftlichen Religionsgeschichte

Ich bestehe darauf: Wenn ich manchmal die Sprache eines Wissenschaftlers spreche, so immer nur dem Anschein nach. Der Wissenschaftler spricht von außen, wie ein Anatom vom Gehirn. (Das ist nicht ganz richtig: Die Religionsgeschichte kann die innere Erfahrung, die er von der Religion hat oder hatte, nicht auflösen … Aber es macht nichts aus, wenn er sie, soweit es ihm möglich ist, vergisst.) Ich spreche meinerseits vom Innern der Religion aus, wie ein Theologe von der Theologie.

Der Theologe spricht zwar von einer christlichen Theologie, während die Religion, von der ich spreche, nicht wie das Christentum eine Religion ist. Es handelt sich zweifellos um die Religion, aber sie wird gerade dadurch bestimmt, dass sie von Anfang an keine besondere Religion ist. Ich spreche weder von Riten noch von Dogmen noch von einer gegebenen Gemeinschaft, sondern nur von dem Problem, das sich jede Religion gestellt hat: Ich nehme dieses Problem auf mich, wie der Theologe die Theologie. Aber ohne die christliche Religion. Wäre es nicht so, dass das Christentum trotz allem eine Religion ist, fühlte ich mich ihm sogar fern. Und das stimmt insoweit, als das Buch, an dessen Anfang ich diese Position definiere, die Erotik zum Gegenstand hat. Es versteht sich, dass die Entwicklung der Erotik in keiner Hinsicht aus dem Bereich der Religion herausfällt, doch hat gerade das Christentum, indem es sich der Erotik widersetzte, die meisten Religionen verurteilt. In einem gewissen Sinne ist vielleicht die christliche Religion die am wenigsten religiöse.

Was meine Haltung betrifft, möchte ich genau verstanden sein. Zuallererst strebte ich eine Voraussetzungslosigkeit an, wie ich sie mir vollkommener nicht vorstellen konnte. Nichts bindet mich an irgendeine besondere Tradition. So musste ich unfehlbar im Okkultismus oder in der Esoterik eine Voraussetzung erblicken, die mich insofern interessiert, als sie der religiösen Sehnsucht entspricht, von der ich mich aber trotz allem entferne, da sie einen vorgegebenen Glauben einschließt. Ich füge hinzu, dass, abgesehen von den christlichen, die Voraussetzungen des Okkultismus in meinen Augen die hinderlichsten sind, insofern sie in einer Welt behauptet werden, in der sich die Prinzipien der Wissenschaft aufdrängen, sie aber diese mit Vorsatz außer Acht lassen. Wer sie sich zu eigen macht, gleicht einem Menschen, der wie alle anderen weiß, dass es eine Arithmetik gibt, sich aber weigert, seine Additionsfehler zu korrigieren. Die Wissenschaft macht mich nicht blind (geblendet könnte ich nur schlecht ihren Anforderungen entsprechen), so wenig wie mich das Rechnen verwirrt. Ich bin einverstanden, wenn man mir sagt »zwei plus zwei ist fünf«, aber wenn jemand um eines bestimmten Ergebnisses willen mit mir Rechnungen ausführt, vergesse ich die angebliche Identität von fünf und zwei plus zwei. In meinen Augen kann niemand das Problem der Religion stellen, wenn er von willkürlichen Lösungen ausgeht, die der gegenwärtige Geist der Genauigkeit nicht zulässt. Insofern ich von innerer Erfahrung und nicht von Objekten spreche, bin ich kein Mann der Wissenschaft, aber in dem Augenblick, in dem ich von Objekten spreche, tue ich es wie die Wissenschaftler mit der unvermeidlichen Strenge.

Ich würde sogar sagen, mit der religiösen Haltung verbindet sich meistens eine so große Gier nach übereilten Antworten, dass Religion den Sinn von geistiger Leichtfertigkeit angenommen hat; meine ersten Worte könnten daher beim unvorbereiteten Leser den Gedanken aufkommen lassen, es handle sich um ein intellektuelles Abenteuer und nicht um ein stetiges Vorgehen, das den Geist, wenn nötig, nach jenseits versetzt, aber auf dem Wege der Philosophie und der Wissenschaften, auf der Suche nach all dem Möglichen, das er sich zu eröffnen vermag.

Wie auch immer, jeder wird anerkennen, dass weder die Philosophie noch die Wissenschaften das Problem so erfassen können, wie es das religiöse Bestreben gestellt hat. Aber jeder wird auch anerkennen, dass sich das religiöse Bestreben unter den angetroffenen Bedingungen bisher nur in entstellten Formen zum Ausdruck bringen konnte. Die Menschheit konnte dem, was die Religion seit eh und je sucht, immer nur nachgehen in einer Welt, in der ihre Suche abhing von zweifelhaften Anliegen, die, wenn schon nicht von materiellen Wünschen, so doch von zufälligen Leidenschaften bestimmt wurden: Sie konnte diese Wünsche und diese Leidenschaften bekämpfen, sie konnte ihnen auch dienen, aber sie konnte ihnen nicht gleichgültig gegenüberstehen. Die Suche, welche die Religion begann – und fortsetzte –, muss genauso wie die der Wissenschaft von den historischen Wechselfällen befreit werden. Nicht, dass der Mensch von diesen Wechselfällen nicht vollkommen abhängig gewesen wäre; aber das gilt nur für die Vergangenheit. Es kommt der gewiss prekäre Augenblick, in dem wir, wenn wir Glück haben, nicht mehr auf die Entscheidung der anderen (in der Form des Dogmas) warten müssen, bevor wir die angestrebte Erfahrung machen. Bis jetzt können wir frei das Resultat dieser Erfahrung mitteilen.

Ich kann mich in diesem Sinne mit der Religion beschäftigen, nicht wie der Professor, der ihre Geschichte schreibt, der unter anderem vom Brahmanen spricht, sondern wie der Brahmane selbst. Dennoch bin ich weder Brahmane noch sonst etwas, ich muss eine einsame Erfahrung verfolgen, ohne Tradition, ohne Ritus, und ohne etwas, das mich leitet, auch ohne etwas, das mich behindert. Ich drücke in meinem Buch eine Erfahrung aus, ohne mich auf irgendetwas Besonderes zu berufen, da ich im Wesentlichen die innere Erfahrung – das heißt, in meinen Augen, die religiöse Erfahrung – außerhalb der bestimmten Religionen vermitteln möchte.

Daher unterscheidet sich meine Untersuchung, die vor allem in der inneren Erfahrung gründet, in ihrem Ursprung von der Arbeit des Religionsgeschichtlers, des Ethnografen oder des Soziologen. Zweifellos stellt sich die Frage, ob es für sie möglich war, sich unabhängig von einer inneren Erfahrung durch die Gegebenheiten, die sie bearbeiteten, hindurchzufinden – einer inneren Erfahrung, die sie einerseits mit ihren Zeitgenossen gemein hatten und die andererseits auch bis zu einem gewissen Grad ihre persönliche Erfahrung war, abgewandelt durch den Kontakt mit der Welt, die den Gegenstand ihrer Studien bildete. Aber in ihrem Fall können wir fast den Grundsatz aufstellen: Je weniger ihre Erfahrung mitspielt (je diskreter sie ist), desto mehr gewinnt ihre Arbeit an Zuverlässigkeit. Ich sage nicht: je geringer ihre Erfahrung ist, sondern je weniger sie mitspielt. Denn ich bin davon überzeugt, dass ein Historiker mit einer reichen Erfahrung im Vorteil ist, aber falls er sie hat und da er sie hat, ist es das Beste, wenn er sich bemüht, sie zu vergessen und die Tatsachen von außen zu betrachten. Er kann sie nicht ganz und gar vergessen, er kann seine Tatsachenerkenntnis nicht ganz auf die beschränken, die ihm von außen gegeben ist – und so ist es besser –, doch das Ideal ist, dass diese Erfahrung gegen seinen Willen wirkt, insofern diese Quelle der Erkenntnis nicht auszuschalten ist und ein Sprechen über Religion ohne innere Beziehung zur erlebten Erfahrung leblose Arbeiten hervorbringen würde, angefüllt mit totem, in einer undurchschaubaren Unordnung zutage gefördertem Material.

Andererseits, wenn ich die Tatsachen persönlich im Licht der Erfahrung, die ich damit gemacht habe, betrachte, weiß ich, was ich preisgebe, wenn ich die Objektivität der Wissenschaft preisgebe. Zuallererst, ich sagte es schon, kann ich mir nicht willkürlich die Erkenntnis versagen, die mir die unpersönliche Methode liefert: Meine Erfahrung setzt immer die Erkenntnis der Objekte voraus, die sie einbezieht (das sind in der Erotik zumindest die Körper, in der Religion die festgelegten Formen, ohne die eine gemeinsame religiöse Praxis nicht möglich wäre). Die Körper können wir nur so sehen, wie sie geschichtlich ihre Bedeutung gewonnen haben (ihren erotischen Wert). Wir können die Erfahrung, die wir von ihnen haben, weder von den objektiven Formen und ihrem äußeren Aspekt noch von ihrer historischen Erscheinung trennen. Auf der Ebene der Erotik sind die Verwandlungen des eigenen Körpers, die den uns innerlich erregenden Antrieben entsprechen, an die verführerischen und überraschenden Aspekte der geschlechtlichen Körper gebunden.

Diese bestimmten Gegebenheiten, die uns von allen Seiten zukommen, widersprechen keineswegs der inneren Erfahrung, die auf sie antwortet, sondern helfen ihr vielmehr, dem Zufälligen zu entgehen, das dem Individuum eigentümlich ist. Noch wenn die Erfahrung an der Objektivität der realen Welt festgemacht wird, bringt sie unvermeidlich Willkür mit sich, und wiese sie nicht den universalen Charakter des Objekts auf, an das ihre Wiederkehr gebunden ist, könnten wir von ihr überhaupt nicht sprechen. Wie wir auch ohne Erfahrung weder von Erotik noch von Religion sprechen könnten.

Die Bedingungen einer unpersönlichen inneren Erfahrung: die widersprüchliche Erfahrung des Verbots und der Überschreitung

Wie dem auch sei, es ist notwendig, eine Untersuchung, die sich so wenig wie möglich auf die Erfahrung richtet, deutlich derjenigen gegenüberzustellen, die entschlossen auf sie zugeht. Freilich, wenn die erste nicht vorausgegangen wäre, bliebe die zweite der uns geläufigen Willkürlichkeit ausgeliefert. Mittlerweile ist uns klar, dass eine Grundlage, so wie sie uns heute hinreichend scheint, erst seit Kurzem gegeben ist.

Ob es sich um Erotik oder allgemein um Religion handelt, eine klarsichtige innere Erfahrung davon war unmöglich in einer Zeit, in der das Gleichgewichtsspiel von Verbot und Überschreitung, das die Erotik und die Religion möglich macht, nicht offen zutage lag. Doch genügt es nicht zu wissen, dass es dieses Spiel gibt. Die Erkenntnis der Erotik oder der Religion erfordert eine persönliche gleichmäßige und widersprüchliche Erfahrung des Verbots und der Überschreitung.

Diese doppelte Erfahrung ist selten. Die erotischen oder religiösen Bilder lösen bei den einen im Wesentlichen Verhaltensweisen im Sinne des Verbots aus, bei anderen die entgegengesetzten. Erstere sind traditionell. Letztere sind ihrerseits auch gewöhnlich, wenigstens in der Form einer angeblichen Rückkehr zur Natur, der sich das Verbot widersetzte. Aber die Überschreitung unterscheidet sich von der Rückkehr zur Natur: Sie hebt das Verbot auf, ohne es zu beseitigen.5 Hier verbirgt sich die Triebfeder der Erotik, hier findet man zugleich die Triebfeder der Religionen. Ich würde das Weitere meiner Untersuchung vorwegnehmen, wenn ich mich schon jetzt über das tiefe Einverständnis zwischen dem Gesetz und der Verletzung des Gesetzes aussprechen wollte. Aber wenn es wahr ist, dass das Misstrauen (die unaufhörliche Unruhe des Zweifels) nötig ist, wenn jemand die Erfahrung, von der ich spreche, beschreiben will, so muss sie im Besonderen den Ansprüchen genügen, die ich jetzt formulieren kann.

Zunächst müssen wir von unseren Gefühlen sagen, dass sie die Tendenz haben, unseren Ansichten eine persönliche Wendung zu geben. Aber diese Schwierigkeit ist allgemein; ich glaube, es ist verhältnismäßig einfach auszumachen, worin meine innere Erfahrung zusammenfällt mit derjenigen der anderen, und worin ich durch sie mit den anderen kommuniziere. Das wird gewöhnlich nicht zugestanden, aber ich möchte wegen des unbestimmten und allgemeinen Charakters meiner Aussage nicht darauf beharren. Ich lasse das beiseite; die Hindernisse, die einer Kommunikation der Erfahrung entgegenstehen, scheinen mir anderer Art zu sein: Sie hängen am Verbot, das sie begründet, und an der Duplizität, von der ich spreche, die versöhnt, was im Prinzip unversöhnbar ist, die Achtung vor dem Gesetz und seine Verletzung, das Verbot und die Überschreitung.

Entweder oder: Entweder das Verbot wirkt, dann findet die Erfahrung nicht statt, oder sie findet nur verstohlen statt, bleibt außerhalb des Bewusstseinsfeldes; oder es wirkt nicht: Das ist der ungünstigere der beiden Fälle. Für die Wissenschaft ist das Verbot meistens nicht gerechtfertigt, es ist pathologisch, verdankt sich einer Neurose. Man kennt es also von außen: Selbst wenn wir von ihm eine persönliche Erfahrung haben, sehen wir in ihm, soweit es uns als krankhaft erscheint, einen äußeren Mechanismus, der in unser Bewusstsein eingedrungen ist. Diese Sicht beseitigt zwar die Erfahrung nicht, mindert aber ihre Bedeutung. Aus diesem Grund werden Verbot und Überschreitung, wenn überhaupt, nur als Objekte beschrieben, und zwar vom Historiker – oder vom Psychiater (bzw. dem Psychoanalytiker).

Die Erotik, die vom Verstand wie ein Ding betrachtet wird, ist, ebenso wie die Religion, ein Ding, ein ungeheures Objekt. Die Erotik und die Religion bleiben uns verschlossen, wenn wir sie nicht entschieden auf die Ebene der inneren Erfahrung stellen. Wir stellen sie auf die Ebene der Dinge, die wir nur von außen kennen, wenn wir, und wäre es unbewusst, dem Verbot nachgeben. Das Verbot, das anders als mit Schrecken beachtet wird, hat nicht mehr den Gegenwert des Begehrens, das seinen tiefen Sinn ausmacht. Das schlimmste ist, dass die Wissenschaft, deren Vorgehen eine objektive Behandlung verlangt, vom Verbot ausgeht, es aber zugleich ablehnt, weil es nicht vernünftig ist! Nur die Erfahrung von innen aus bietet eine Gesamtsicht des Verbots, die Sicht, die es letzten Endes rechtfertigt. Wenn wir wissenschaftlich arbeiten, betrachten wir die Objekte als etwas dem Subjekt, das wir selbst sind, äußerlich Gegenüberstehendes: Der Wissenschaftler selbst wird in der Wissenschaft zu einem Objekt, das dem Subjekt äußerlich ist, das allein wissenschaftlich arbeitet (was unmöglich wäre, wenn es sich nicht zuerst als Subjekt negiert hätte). Alles ist in Ordnung, wenn die Erotik verurteilt wird, wenn wir sie von vornherein zurückgewiesen haben, wenn wir von ihr befreit sind – aber wenn die Wissenschaft (wie sie es oft macht) die Religion (die moralische Religion) verurteilt, die sich gerade dadurch als Grundlage der Wissenschaft erweist, können wir uns nicht mehr rechtmäßig der Erotik gegenüberstellen. Wenn wir uns aber der Erotik nicht mehr gegenüberstellen, müssen wir aufhören, aus ihr ein Ding, ein uns äußerliches Objekt zu machen.6 Wir müssen sie als Regung des Seins in uns selber betrachten.

Wenn das Verbot in vollem Maße wirkt, ist das schwierig. Das Verbot arbeitete der Wissenschaft vor: Es entfernte das Objekt, das es untersagte, aus unserem Bewusstsein, und es beraubte zugleich unser Bewusstsein – das klare Bewusstsein zumindest – des Schreckens, dessen Konsequenz das Verbot war. Aber die Verwerfung des verwirrenden Objekts, sowie der Verwirrung, war notwendig für die – durch nichts zu trübende – Klarheit der Welt der Aktivität, der objektiven Welt. Ohne das Verbot, ohne den Primat des Verbots hätte der Mensch nicht zum klaren und bestimmten Bewusstsein gelangen können, auf dem die Wissenschaft beruht. Das Verbot beseitigt die Gewalt, und unsere Regungen der Gewalt (darunter jene, die dem sexuellen Antrieb entsprechen) zerstören ins uns die ruhige Ordnung, ohne die das menschliche Bewusstsein undenkbar ist. Aber wenn das Bewusstsein sich gerade auf die wirren Regungen der Gewalt beziehen soll, so schließt das zunächst ein, dass es sich im Schutz der Verbote hat entwickeln können; das setzt weiter voraus, dass wir sein Licht auf diese Verbote selbst richten können, ohne die es nicht bestünde. Das Bewusstsein kann die Verbote also nicht als einen Irrtum betrachten, dessen Opfer wir wären, sondern als die Auswirkungen eines Grundgefühls, von dem die Menschlichkeit abhing. Die Wahrheit der Verbote ist der Schlüssel zu unserer menschlichen Haltung. Wir müssen, wir können zuverlässig wissen, dass uns die Verbote nicht von außen auferlegt wurden. Dieses Wissen gewinnen wir in der Angst, in dem Augenblick, da wir das Verbot überschreiten, und hauptsächlich im Moment der Schwebe, in dem es noch wirkt, aber wir trotzdem dem Antrieb nachgeben, dem es entgegenstand. Wenn wir das Verbot befolgen, wenn wir ihm unterworfen sind, haben wir kein Bewusstsein mehr davon. Aber im Augenblick des Überschreitens empfinden wir die Angst, ohne die es das Verbot nicht gäbe: Das ist die Erfahrung der Sünde. Die Erfahrung führt zur vollendeten Überschreitung, zur geglückten Überschreitung, die das Verbot aufrechterhält, um es zu genießen. Die innere Erfahrung der Erotik verlangt von dem, der sie macht, eine nicht weniger große Sensibilität für die Angst, die das Verbot begründet, als für das Begehren, das zu seiner Übertretung führt. Es ist die religiöse Sensibilität, die das Begehren und den Schrecken, die intensive Lust und die Angst stets eng miteinander verbindet.