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Ängste, Alpträume, Alltag mit Kindern. Drei Familien fahren in den Urlaub. Die Grenzen zwischen Realität und Illusion verschwimmen. Jakob Pretterhofer erzählt die unangenehme und zugleich lustige Geschichte aus der Sicht eines Familienvaters, der seine Kinder unbedingt schützen will, dabei aber immer stärker mit den Abgründen seiner Erziehungsmethoden konfrontiert wird. "Die erste Attacke ist ein unterhaltsames, bösartig funkelndes Juwel, das wie nebenbei noch gleich ein neues Genre begründet: den Bobo-Psychothriller." Florian Gantner, Autor und Literaturvermittler
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Seitenzahl: 159
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Jakob Pretterhofer
ROMAN
Jakob PretterhoferDIE ERSTE ATTACKE
VERLAG
Elster & Salis GmbH, Wien
www.elstersaliswien.com
LEKTORAT
Anja Linhart
SCHLUSSREDAKTION
Senta Wagner
GESTALTUNG UND SATZ
Michael Balgavy, DWTC
1. Auflage 2024
© 2024, Elster & Salis Verlag GmbH, Wien
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-9505435-13
eISBN 978-3-9505435-13
1. JULI
2. JULI
3. JULI
4. JULI
5. JULI
6. JULI
21. JULI
DANK AN
ZUM AUTOR
„All I want to do is
save the children, not destroy them.
More than anything, I love children.
More than anything.“
Miss Giddens in The Innocents (1961)
Heute Nacht hatte ich einen Albtraum. Und ich fand ihn großartig. Er wirkt noch nach wie ein guter Horrorfilm. Ich kann natürlich niemandem davon erzählen und ich will auch nicht mehr daran denken, sonst setzen sich die Bilder der Bedrohung noch in meinem Kopf fest.
Klara hatte dafür seit zwei Monaten keinen Albtraum mehr. Oder erzählt sie es einfach nicht, so wie ich? Jedenfalls wacht sie nachts nicht mehr schreiend auf und schläft wieder in ihrem eigenen Zimmer.
Und obwohl ich an meinem Albtraum Gefallen gefunden habe oder gerade weil ich daran Gefallen gefunden habe, muss ich mich wieder besser selbst beobachten. Ich muss die Geschehnisse des Tages protokollieren, um, wenn sich der Traum wiederholt, besser vorbereitet zu sein und mich auf Spurensuche begeben zu können. Ich kann Klara und ihren Bruder nicht nach Grundsätzen erziehen, an die ich mich selbst nicht halte. Zuerst müsste ich mich aber einmal dringend erholen. Leider fahren wir morgen auf Urlaub.
Für Judith und mich kamen nicht viele Paare in Frage, mit denen wir auf Urlaub fahren konnten. Wir sind ja für vieles zu haben, auch andere Lebensentwürfe zum Beispiel, aber wir nehmen den Schlaf und die Träume unserer Kinder sehr ernst. Wir wissen, es gibt Leute, die finden das übertrieben. Manche Eltern praktizieren die liebevolle Verwahrlosung, von der lieblosen Verwahrlosung ganz zu schweigen. Aber wir können nur mit Paaren auf Urlaub fahren, die dem gesunden Kinderschlaf die Wichtigkeit beimessen, die ihm gebührt. Zum Glück rückt die Bedeutung dieses Themas von Jahr zu Jahr mehr ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit, zumindest von Eltern, und mittlerweile sind alle unsere Freunde im Prinzip unserer Meinung beziehungsweise sind die, die anderer Meinung sind, nicht mehr unsere Freunde. Das bedeutet nicht unbedingt, dass wir uns deswegen mit ihnen streiten, aber wir fahren auf jeden Fall nicht mehr gemeinsam auf Urlaub.
So fiel die Wahl auf die Bründlmayers und die Riedls. Wobei eigentlich haben die Bründlmayers uns und die Riedls ausgewählt, denn die Bründlmayers geben in unserer Runde definitiv den Ton an.
Wir haben nicht sehr viel gemeinsam, außer unsere Überzeugungen im Hinblick auf die Kindererziehung. Und dann ist da noch die gemeinsame Schulzeit von Eva Bründlmayer, Christine Riedl und Judith, die schon zwei Jahrzehnte zurückliegt. Diese Freundschaft hat sich dann auseinanderentwickelt, weil, so glaube ich zumindest, die drei durch ihre Studien in andere Kreise geraten sind: Die Bründlmayers zählen zu den Karrieristen mit Jus- und BWL-Studium, die Riedls zu den Leistungsstipendiums-Studierenden in Bibliothekslerngruppen, und Judith und ich zu den dauerfeiernden Hipstern.
Unsere Erstgeborenen sind fast gleich alt. Deshalb haben sich Judith, Eva und Christine wieder angenähert und ich habe Paul Bründlmayer und Sebastian Riedl kennengelernt, die ich sonst niemals kennengelernt hätte.
Heute Morgen sind wir abgefahren. Jetzt sitze ich in einer Ecke des riesigen Aufenthaltsraums unserer Hütte und versuche, meinen Vorsatz in die Tat umzusetzen und die Geschehnisse des Tages so ehrlich wie möglich aufzuschreiben.
Die letzten Wochen vor der Abreise hatte ich mich müde und ausgelaugt gefühlt und sehr auf den Urlaub gefreut. Aber als ich dann im Auto das Geraunze von der Rückbank hörte, fragte ich mich, ob es nicht besser gewesen wäre, die Kinder zu Judiths Eltern zu bringen und zu zweit in eine Therme zu fahren. Denn obwohl Judith immer schon mehr Energie hatte als ich, ging es ihr wohl genauso. Zumindest vermutete ich es, in letzter Zeit waren wir abseits von organisatorischen Fragen kaum dazu gekommen, uns zu unterhalten.
Ich versuchte mich auf die kurvige Bergstraße zu konzentrieren, während Judith auf ihrem Smartphone herumdrückte und Klara und Elias sich um das Tablet stritten. Sie wussten, die Autofahrt würde für die nächsten Tage die letzte Möglichkeit sein, sich ein Youtube-Video anzuschauen oder „Candy Crush“ zu spielen. Auch ich hatte mir vorgenommen, mein Smartphone im Urlaub nur im Notfall zu benutzen und vor allem mich nicht mit den Nachrichten zu beschäftigen. Ich hatte genug von Kriegen, aussterbenden Tierarten, ertrinkenden Flüchtlingen und Überflutungen.
Ich hoffte, dass ich mich nach den letzten Monaten Judith und meinen Kindern wieder annähern könnte. Speziell Klara hatte sich von mir distanziert. Kein Wunder, nach allem, was passiert war. Aber ich hatte kein schlechtes Gewissen, denn sie hatte ja keine Albträume mehr. Gleichzeitig sehnte ich mich nach den ungezwungenen Blödeleien, den Fantasienamen, die wir uns früher an den Kopf geworfen hatten, und ich vermisste es, dass sie sich auf dem Sofa eng an mich drückte, während ich las oder Musik hörte – nach Meinung der Verwandtschaft zu laut, vor allem für Kinder, aber das war mir egal, denn Klara schien es sogar zu beruhigen.
Ich freute mich auf die Wanderungen und Lagerfeuer mit Steckerlbrot, wenn das Wetter es zuließ, und ich mochte auch den Schullandwochen-Charme unserer Unterkunft. Die erzwungene Ruhe in teuren Wellnesshotels machte mich sowieso eher nervös, als dass sie mich entspannte. Ich hatte dann das Bedürfnis nach lächerlichen kleinen rebellischen Gesten, wie zum Beispiel besonders laut mit meinem Besteck zu hantieren oder mich vor dem Schwimmen im Pool nicht abzuduschen.
Trotzdem musste ich mir eingestehen, dass die Idee, mit zwei Pärchen und fünf Kindern gemeinsam Zeit in einer Selbstversorgerhütte zu verbringen, vor zwei Monaten, als wir es beschlossen hatten, verheißungsvoller geklungen hatte als im Moment der Abfahrt. Ich hatte mir eingeredet, die Kinder würden sich miteinander beschäftigen, etwas, was ich mir schon oft eingeredet hatte und was so gut wie noch nie eingetreten war. Vielleicht täuschte ich mich auch, sie kannten sich ja von gemeinsamen Freibadbesuchen und Wochenendausflügen, aber der erste Urlaubstag heute hatte mich in dieser Hinsicht nicht besonders optimistisch gestimmt.
In einer weit ausholenden Kurve lenkte ich den Wagen nach rechts in eine Einbuchtung am Bankett, bremste abrupt ab und sagte: „Der Motor brennt“, weil ich dachte, es sei der richtige Moment dafür.
Judith schaute wenig begeistert von ihrem Smartphone auf. Die Kinder reagierten gar nicht, sondern spielten weiter mit dem Tablet.
„Der Motor brennt“, wiederholte ich.
„Muss das sein?“, fragte Elias.
„Der Motor brennt!“, sagte ich ein weiteres Mal, diesmal mit Nachdruck.
„Zuerst das Fahrzeug an einem sicheren Ort zum Stehen bringen“, sagte Klara dann, „rolle noch ein bisschen von den Bäumen weg.“
Klara war wieder einmal die Verlässlichste. Und sie hatte recht. Ich platzierte auf ihre Anweisung hin das Auto so, dass ein Feuer eines potenziell brennenden Motors möglichst nicht auf die umliegenden Bäume übergreifen konnte.
Elias murmelte irgendetwas von einem Highscore, dann legte er aber das Tablet auf die Sitzbank neben sich, sagte: „Warnblinkanlage einschalten“, schnallte sich ab, beugte sich nach vorn und drückte die rote Taste am Armaturenbrett.
„Motor abschalten“, sagte Klara, ich betätigte den Knopf unter dem Lenkrad.
„Aussteigen und in Sicherheit bringen“, sagte Elias, „am besten mindestens 50 Meter Entfernung zum Auto herstellen.“
Wir verließen zügig das Auto und gingen am Bankett bergauf, der Schotter knirschte unter meinen Schuhen. Judith war zwar mit uns ausgestiegen, hatte aber den Blick weiterhin auf das Smartphone in ihrer Hand gerichtet.
„Die Feuerwehr anrufen“, sagte Klara, „unter der Nummer 112.“
„Auf das Eintreffen der Rettungskräfte warten“, sagte Elias. Ich lobte Klara und Elias und war stolz auf sie, denn sie hatten keinen Punkt im Ablauf vergessen.
„Ich weiß, es ist lästig, aber wenn einmal wirklich etwas passiert, werdet ihr mir dankbar sein“, sagte ich.
Judith nickte zu meiner Unterstützung, dann drängte sie mich zur Eile, sie wollte nicht nach der verabredeten Zeit bei der Hütte ankommen, ich wisse ja, wie die Bründlmayers seien. Ja, das wusste ich.
„Ja bitte, fahren wir weiter. Ich mag noch spielen“, sagte Elias, rannte zurück zum Auto und Klara folgte ihm. Sie nahmen die Übung überhaupt nicht ernst und hatten nur mitgemacht, weil ich es von ihnen verlangt hatte. Mein Stolz auf sie war verflogen.
Zurück hinter dem Lenkrad merkte ich erst, wie genervt ich war. Ich versuchte mein Bestes mit Klara und Elias, ich versuchte einfühlsam zu sein und klar zu kommunizieren, aber in letzter Zeit hatte ich immer öfter das Gefühl, es reichte nicht. Ich war nicht unglücklich, ich war in den vergangenen Jahren sogar so glücklich wie selten zuvor gewesen, weil mein Leben mit den Kindern einen Sinn hatte und auf etwas ausgerichtet war, aber gleichzeitig war ich zermürbt, ich war überfordert, ich war am Ende meiner Kräfte. Deswegen kam der Urlaub gerade richtig, und deswegen hatte ich auch meine Zweifel, ob der geplante Urlaub in dieser Form der richtige war. Der erste Tag hatte diese Zweifel zwar nicht vergrößert, aber auch nicht beseitigt.
Ich liebte Klara und Elias, und das machte es noch schwerer mit ihnen. Viele meiner männlichen Arbeitskollegen beschäftigten sich höchstens am Wochenende mit ihren Kindern und erzählten nach einem Papamonat, wie furchtbar anstrengend dieser für sie gewesen sei. Sie hingen noch immer einer altmodischen Idee der Vaterrolle nach, vermutlich, weil diese einfach bequemer war. Judith und ich versuchten, uns alles fifty-fifty aufzuteilen. Das war eine Selbstverständlichkeit für uns, auch wenn ich mich regelmäßig daran erinnern musste.
Bevor Judith Elias auf die Welt gebracht hatte, hatte ich kaum Kontakt zu Kindern gehabt. Die Verwandtschaft mit Nachwuchs lebte über das Land verteilt, und ich traf sie zu Weihnachten und eventuell zu Ostern zu einem gemeinsamen Essen, wobei sich die Kinder bald vom Tisch verabschiedeten und ich sitzen blieb. Und in meinem damals noch existenten Freundeskreis gab es auch keine Jungeltern.
Und so hatte mir schon die Vorstellung Schweißausbrüche verursacht, einen Säugling im Arm zu halten oder kleine Kinder auf dem Spielplatz zu beaufsichtigen. Elias’ erste Versuche in der Sandkiste hatten extremen Stress für mich bedeutet. Was sollte ich tun, wenn ein anderes Kind fies zu meinem Sohn war? Was sollte ich tun, wenn mein Sohn ein anderes Kind schlug? Was sollte ich tun, wenn ich die noch nicht fertig ausgebildete Kindersprache einfach nicht verstand? Wann sollte ich einschreiten, wenn er begann, sich Sand oder Kieselsteine in den Mund zu stopfen? Ich wollte nicht zu früh eingreifen, mein Sohn sollte ja lernen, dass Sand nicht zum Essen da war, aber ich wollte auch nicht zu spät eingreifen, er sollte ja nicht zu viel Sand verschlucken. Ich wollte kein unaufmerksamer Vater sein, aber auch keiner, der sein Kind nichts selber entdecken ließ. Zu meiner eigenen Verwunderung, und wohl auch zu Judiths, fand ich mich dann aber sehr gut in der Vaterrolle zurecht. Nur auf die Albträume war ich nicht vorbereitet gewesen.
Die Hütte lag an der Straße, etwas erhöht und hinter einem schmalen Waldstreifen, sodass man sie vom Auto aus bloß erahnen konnte, als Judith darauf zeigte.
„Das ist ja einfach nur ein Haus“, sagte Klara enttäuscht.
Und sie hatte recht. Sie hatte sich vermutlich ein uriges Holzhäuschen mit Fensterläden und Blumenkisten mit herunterhängenden Geranien erwartet, aber die Hütte war ein massives, zweistöckiges Haus, das vor allem auf Schulausflugsgruppen und Jungscharlager ausgelegt war, wie ich auf der altmodischen Website gelesen hatte. Es war offensichtlich rein funktionell geplant worden, für Alpincharme war da kein Platz gewesen. Judith nannte das Haus aus Gewohnheit Hütte, einfach schon weil es auf über eintausend Meter Seehöhe lag. Als Studentin war sie oft mit einer größeren Gruppe für ein paar Tage hierhergekommen, darunter auch Christine und Eva. Judiths Schilderungen der Hütte und die Fotos online versprachen eine einfache Unterkunft. Das hatten wir bewusst so ausgewählt. Die Kinder sollten ein wenig Abstand von ihrem digitalisierten Leben in der Stadt gewinnen und sich auch einmal in Bescheidenheit üben. Ich hatte als Kind nie verstanden, warum ich mich in einer Welt des Überflusses in Bescheidenheit üben sollte, aber als Vater hatte ich nun eine andere Sicht der Dinge.
Ich nahm den von der Hauptstraße abzweigenden geschotterten Feldweg, und nach einer Spitzkehre und dem per Nummerncode 4-2-3-9 zu öffnenden Tor waren wir da.
Das Haus war ein noch massiverer Block, als ich es mir vorgestellt hatte. Teilweise bröckelte der Putz von den Wänden und das Weiß war an einigen Stellen zu grauen Flecken nachgedunkelt, sonst machte die Unterkunft einen soliden Eindruck. Vor dem Gebäude lag eine ebene Wiese mit Lagerfeuerplatz, dahinter stieg der Hang steil an, rundherum alter Baumbestand.
Der SUV der Bründlmayers stand bereits auf dem einzigen asphaltierten und vermutlich schattigsten Parkplatz direkt vor der Tür. Sie waren wohl als Erste angekommen und schon fertig mit dem Ausladen, obwohl wir uns für zehn verabredet hatten und es laut digitaler Anzeige neben dem Tachometer erst 9:57 Uhr war. Aber das war nicht anders zu erwarten gewesen. Die Bründlmayers wollten unbedingt die Wahl haben, welches ihr Zimmer sein sollte, sonst würden sie den ganzen Aufenthalt darüber diskutieren. Mein Vorsatz, Paul Bründlmayer nicht weiterhin als Volltrottel abzustempeln, wurde damit allerdings gleich zu Beginn erschwert.
„Hey, ihr seid ja auch schon da!“, begrüßte er uns im holzvertäfelten Aufenthaltsraum, der so groß war, dass leicht eine ganze Schulklasse mitsamt Aufsichtspersonen darin Platz fand. Es gab weder einen Fernseher noch einen Internet-Router, dafür einen Holzofen, schmuddelige Teppiche und einen Herrgottswinkel.
Ich setzte die Tasche und den Trolley auf dem Boden ab und versuchte, freundlich dreinzuschauen, als ich ihm die Hand hinstreckte. Er zog mich gleich zu sich, umarmte mich und klopfte mir dabei mit seiner Jaeger-LeCoultre-bestückten Hand jovial und zu fest auf die Schulter, damit ich auch verstand, dass die Umarmung eine männliche Umarmung war, dann Bussi links, Bussi rechts mit Eva, die ich mochte, nicht nur mehr mochte als ihren Mann, denn das war nicht schwer, sondern wirklich.
Unsere Kinder und die zwei Bründlmayer-Kinder, die neunjährige Lea und der sechsjährige Max, verhielten sich währenddessen gleich: Sie grüßten mit dünnen Stimmen, blieben dann in Deckung ihrer Eltern und musterten einander aus sicherer Entfernung.
„Fühlt sich in der Hütte genau wie früher an, oder?“, sagte Eva grinsend zu Judith.
Judith nickte, aber sie war sichtlich nicht begeistert. Sie hatte auf gewisse Renovierungsarbeiten gehofft, aber der Aufenthaltsraum sah nicht danach aus. Eva merkte das natürlich ebenso wie ich und fühlte sich verantwortlich, denn die Bründlmayers hatten sich um das Organisatorische des Urlaubs, also auch um die Buchung gekümmert.
„Keine Angst, das Matratzenlager für die Kinder ist neu bezogen worden und die Nassräume haben sie auch saniert“, sagte Eva ungewohnt defensiv.
„Das heißt, das Matratzenlager ist bereit für neue Speibflecken“, sagte Paul Bründlmayer.
Eva verzog bei diesem Kommentar ihres Mannes das Gesicht.
„Ihr habt da sehr viel gesoffen, so wie du mir das erzählt hast, also wird auch irgendwann einmal wer gekotzt haben, oder?“
Eva setzte einen schiefen Grinser auf, deutete aber mit dem Kopf zu den Kindern, das müsse man wohl wirklich nicht jetzt besprechen.
Ich bückte mich und hob meine Tasche hoch. „Wie machen wir das mit den Zimmern, habt ihr euch da schon was ausgemacht?“, fragte ich in die Runde.
„Wir haben das Zimmer oben genommen“, sagte Paul Bründlmayer, „ich hoffe, das ist okay.“
Ich nickte, Judith nickte. Es war mir wirklich egal, dass die Bründlmayers sich das größte Zimmer mit Balkon ausgesucht hatten, aber ein bisschen ärgerte ich mich trotzdem, dass mir eigentlich nichts anderes übrig blieb, als zu nicken, wenn ich nicht gleich einen Streit anfangen wollte. Das konnten die Bründlmayers schon sehr gut: anderen Leuten ihren Willen aufzwingen. Aber sie waren sehr geschickt darin, auch die größte Skrupellosigkeit als charmante Geste zu verpacken. Jedenfalls kamen sie meistens mit ihren Vorstellungen durch. Und oft fühlte man sich dann nicht einmal vor den Kopf gestoßen, sondern freute sich sogar, ihnen einen Gefallen getan zu haben. Paul Bründlmayer setzte diese Fähigkeit in seinem Geschäftsführer-Job wohl auch tagtäglich ein. Bei gemeinsamen Tagesausflügen hatte es deswegen schon öfters Streit zwischen Judith, Eva und Christine gegeben, also speziell zwischen Eva und Christine. Man musste den Führungsanspruch der Bründlmayers einfach akzeptieren, dann kam man bestens mit ihnen aus.
„Man hat mit den Kindern immer gleich so viel Zeug, oder?“, sagte Eva. „Wir helfen euch beim Rauftragen“, sagte Paul Bründlmayer und nahm Judiths Trolley in die Hand.
Ich bedankte mich und wiegelte die Hilfe ab, aber er war schon auf der Treppe, zwei Stufen gleichzeitig nehmend.
Die Riedls kamen ungefähr eine halbe Stunde zu spät. Ich umarmte Sebastian, aus ehrlicher Freude, ihn zu sehen und ohne dabei einen zynischen Gedanken zu haben, und ich küsste Christine mit Freude links und rechts auf die Wange. Sie war beeindruckend intelligent, außerdem roch sie gut. Konstantin, der neunjährige Sohn der Riedls, blieb während unserer Begrüßungsrunde im Auto auf der Wiese vor dem Haus sitzen. Er war wie immer sehr schüchtern. „Er braucht noch ein bisschen“, sagte Christine.
Ich mochte auch ihren kleinen, dunkelblonden Burschen mit seinen traurigen Augen sehr gern. Alleine mit den Bründlmayers wäre ich nie auf Urlaub gefahren. Es war gemein, aber ich fand sowohl die Bründlmayers als auch ihre Kinder in gewisser Weise hässlich, vor allem, wenn man sie mit den Riedls verglich. Der Wohlstand der Bründlmayers, das alte und das neue Geld hatten sich wie Schleim um sie gelegt. Selbst Max strahlte mehr Selbstsicherheit aus und kannte seinen Platz in der Gesellschaft besser als ich, und dafür verachtete ich ihn.
Gerade als Konstantin schüchtern die Tür des Autos öffnete und zu uns hinaustrat, als wir Erwachsenen in einer losen Gruppe zusammenstanden und über die Anreise und die geplanten Ausflüge der nächsten Tage plauderten, stürmte Elias wie ein wild gewordenes Tier brüllend auf uns zu und hielt sich dabei einen Gamsbockschädel mit Geweih vor das Gesicht.
Ich ärgerte mich. Elias wusste doch, wie sensibel Konstantin war, der auch sofort bleich wurde und zurückwich. Zum Glück lachten die anderen Eltern milde, und Klara, Lea und Max waren eher fasziniert als eingeschüchtert, wodurch sich auch Konstantin bald wieder zu fangen schien. Trotzdem schimpfte ich mit Elias und nahm ihm den Schädel weg, den er gleich neben dem Haus gefunden hatte.
Nachdem wir alle Fenster des Hauses geschlossen, die kabellose Reiseüberwachungskamera im Eingangsbereich installiert, die Tür abgesperrt und in unseren Autos die Lenkradkrallen angebracht hatten, starteten wir unsere erste kurze Wanderung. Klara und Elias trugen ihre neuen Wanderschuhe und die wetterfesten Jacken. Trotz ihres Protests hatte ich diese in Neongelb gekauft, damit die beiden bei einer etwaigen Straßenquerung für die Autofahrer auch gut zu sehen waren.
Elias wollte zuerst seine Sportschuhe anlassen und sagte, für einen Spaziergang brauche er keine Wanderschuhe. Ich erklärte ihm, dass er die Schuhe erst eingehen musste und der kurze Weg dafür bestens geeignet war. Ich hatte natürlich alles für die Behandlung von Blasen im Rucksack, hoffte aber, nichts davon einsetzen zu müssen.