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Eine waghalsige Expedition, die das Leben von fünf Frauen für immer verändern wird ... München 1903. Ludmilla Walter, Ehefrau eines angesehenen Geschäftsmannes, berichtet in einer Schwabinger Künstlerkneipe nach einigen Gläsern Likör einer jungen Frau namens Henny von einem vollkommen verrückten Traum: einer Alpenüberquerung im Winter. Begeistert von der Idee überredet Henny schließlich neben Ludmilla noch drei weitere Frauen zu einer Unternehmung, deren Tragweite keine der fünf wirklich einschätzen kann. In einer Zeit, in der Frauen noch um ihre Emanzipation kämpfen, begeben sie sich auf eine abenteuerliche Expedition in die verschneite Berglandschaft. Doch die Reise birgt nicht nur Gefahren, sondern bringt auch lange gehütete Geheimnisse ans Licht. Ein ergreifender Roman über Abenteuerlust, starke Frauen und den Mut, seinen eigenen Weg zu gehen.
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Seitenzahl: 336
Monika Bittl
Die Expedition
Roman
Knaur e-books
Für Stefan
Nach einer wahren Begebenheit
»Ach, ich bin gelaufen, gelaufen und hingefallen, wieder aufgestanden, umgeworfen, wieder aufgesammelt, bis ich da angekommen bin, wo mein Ziel anfängt.«
Franziska zu Reventlow
Zu einer Zeit, als das Wünschen manchmal noch geholfen hat, aber der rasende technische Fortschritt der Elektrizität, Eisenbahnen, Telefone, Automobile, Röntgenstrahlen und Fotoapparate die Leute schwindelig werden ließ, suchten viele den Weg zurück zur Natur und brachen zu immer unerhörteren Expeditionen auf. Verwegene Männer aus der ganzen Welt segelten zu unbekannten Südseeinseln, durchquerten Dschungel am anderen Ende der Welt und schlugen sich bis zum Nord- und Südpol durch. Und eine Handvoll Frauen wagte, was bis heute keinem Mann gelungen ist: eine Alpenüberquerung mit Schlittenhunden im Winter.
Dies ist die Geschichte meiner Urgroßmutter, die an dieser Expedition über die winterlichen Alpen teilnahm und deren im Eis konservierter Körper erst heute gefunden wurde.
Ich danke allen Kindern, Enkeln, Urenkeln, Verwandten und noch lebenden Bekannten der anderen Expeditionsteilnehmerinnen für ihre bereitwilligen Auskünfte und ausführlichen Schilderungen. Außerdem halfen mir die teilweise intimen Aufzeichnungen, die sie mir zur Verfügung stellten, sehr. Mein Dank gilt auch dem historischen Archiv des deutschen Alpenvereins, der mit mir die Route rekonstruierte. Der umweltpolitischen Katastrophe der schmelzenden Gletscher ist es schließlich zuzuschreiben, dass neben der Leiche meiner Urgroßmutter nun auch Filme der Expedition dem ewigen Eis entrissen wurden und so ein lebendiges Bild der Abenteuerinnen entstand, das ich hier so wahrhaftig wie möglich wiedergeben will.
»Konfetti-Gewichse!«, schimpfte Henny Triebel das Bild einer Alpenlandschaft, das sie im Traum sah. Wie ging ihr der affektlose, gänzlich unerotische, wichtigtuerische Pointillismus auf die Nerven! Noch während die Achtundzwanzigjährige über die ungleich faszinierenderen Ausdrucksmöglichkeiten der Schwabinger Künstlergruppe der Enormen nachdachte, begann sich ein fleischfarbener Punkt des Gemäldes zu bewegen. Je aufmerksamer Henny ihn verfolgte, desto genauer sah sie zu ihrem Entsetzen in dem Punkt eine nackte Frau mit dem Tod kämpfen. Die Sterbende versuchte dem eisigen Gebirgsschnee zu entkommen, prallte aber immer wieder am Rahmen ab, versuchte erneut in eine andere Richtung zu fliehen und fiel immer wieder hin, bis sie schließlich kraftlos im Schnee liegen blieb und die Augen schloss. Am nächsten Morgen maß Henny dem Traum keine Bedeutung bei.
Jessasmariaundjosef! Ich hab von den Bergen daheim geträumt, und da ist ein nackertes Weib im Schnee gelegen, und der Herrgott höchstpersönlich hat seine Hand vom Himmel heruntergestreckt und ihr die Letzte Ölung gespendet. Jessas, ist das ein grausiges Traumbild gewesen! Und ich hab dann gleich beim Aufwachen meinen Rosenkranz gesucht, damit ich für das arme Menschenkind beten kann. Den schmerzensvollen, glaub ich, hab ich gebetet, mit dem Rosenkranz von meiner Mama, weil das Traumbild so stark gewesen ist. Aber wie das halt so ist mit Erfahrungen, die man bloß im Kopf und nicht wirklich macht, sind solche Eindrücke zwar kurzzeitig recht stark, aber hernach doch ganz schnell verblasst. Das ist, wie ob ich in der Kirche oder für mich allein bete. An einen Gottesdienst erinner ich mich noch Wochen später, wer da war, was der Pfarrer gepredigt hat und ob er eine Inbrunst in mir ausgelöst hat. Wenn ich dagegen allein bete, dann hab ich das ganz schnell wieder vergessen.
Ja, und so ist das auch mit dem Traumbild gewesen. Ich glaub, am nächsten Tag hab ich es schon vergessen gehabt.
Geier zerfetzten im Traum der Adele von Stocker eine weibliche Leiche, was für ein Irrsinn, dachte die Archäologin, was für logische Klüfte, seit wann besiedelten Geier die Alpen, seit wann schmolzen plötzlich Gletscher in diesen Massen weg von den Gipfeln in die Täler hinab? War sie noch Archäologin? War sie noch 35 Jahre in diesem Leben? Oder lag das Geschehen in einer Zukunft, die zu ihrem Fach nicht gehörte? Adele verstand im Schlaf den Traum als Gesicht. Sie würde es Freud, der dies verachtete, nicht zu erklären verstehen und es für sich behalten, dachte Adele aufwachend, verscheuchte die bösen Vögel in ihrem Zimmer und maß alldem bald keine Bedeutung mehr bei.
An einem Maitag des Jahres 1903 wachte Ludmilla Walter mit Kopfschmerzen aus einem Traum von einer winterlichen Alpenüberquerung auf. Ludmilla verscheuchte die fette Fliege auf ihrer Nase, ehe das Miststück, das sie geweckt hatte, zu ihrem schnarchenden Mann Richard auf dessen Schnurrbartschoner hinüberhüpfte, sich schüttelte und zum weißen Spitzendeckchen auf der dunklen Waschkommode flog. Die Fünfundvierzigjährige versuchte sich daran zu erinnern, wie sie gestern ins Bett gekommen war, die Fliege suchte an den weinroten Brokatvorhängen vergeblich einen Weg zur Sonne hinaus, stieß brummend an den dunklen Kleiderkasten und landete nach einem torkelnden Flug auf Richards Pantoffeln, die wie jede Nacht akkurat auf dem Fußboden vor seiner Bettseite auf ihren Herrn warteten. Ludmilla drehte sich von ihrem Gatten weg, schloss die Augen und versuchte die Erinnerungsfetzen zu einem stimmigen Ganzen zusammenzusetzen. Ja, sie hatte sich gestern noch einmal aus dem Bett geschlichen, Richard, die Töchter und das Hausmädchen hatten schon geschlafen, sie hatte Likör in der Küche getrunken, ehe sie zu ihrem im Nachthemd, langen Unterhosen und Schnurrbartschoner schnarchenden Mann zurückgekehrt und sofort eingeschlafen war. Aber hatte sie die Likörflasche auch wieder ins Versteck zurückgestellt?
Ludmillas Kopf pochte auch bei geschlossenen Augen, sie hörte von der Gasse unten Pferde wiehern und einen Kutscher mit der Peitsche knallen, das Gerattere eines Automobils, das ewige Geklingel der Velozipedisten und die schrille Stimme der Milchfrau, die sie auf die Uhrzeit schließen ließ, denn täglich um halb sieben rief das alte Weib ihre Ware in dieser Seitengasse neben dem Münchner Hofbräuhaus aus. Ludmilla würde nicht mehr einschlummern und ihre Kopfschmerzen wegschlafen können, sie hätte auf das Mistvieh von Fliege fluchen mögen, erhob sich aber dann langsam und leise aus den Federn und sagte sich, wie sonst so oft ihren Töchtern, dass alles im Leben auch eine zweite Seite hätte und ihr Vorteil nun darin bestünde, ihrem Mann und seiner morgendlichen Ansprache für heute entkommen zu können.
Ludmilla schlüpfte in ihr dunkles Kleid, grollte über ihre Speckrolle am Bauch, steckte die feinen, dunklen Haare zu einem kleinen Schopf zusammen, schlich auf Zehenspitzen zur Schlafzimmertür und sah sich noch einmal nach Richard um. Erst gestern hatte er wieder mit seinen Ansichten über Gott und die Welt bei ihr Beifall gesucht, über die Disziplinlosigkeit der Jugend geschimpft und immer wieder den Kopf geschüttelt über diese Schwabinger Künstler, die Wandervögel und die Jugend an sich, die allesamt die Nacht zum Tag machten, außerehelichen Geschlechtsverkehr geradezu kultivierten und München bald noch um seinen guten Ruf brächten, wenn sie es schon nicht bereits geschafft hätten. Und selbst die Akademiker mit ihren schlagenden Verbindungen verweichlichten immer mehr, Duelle verkämen zu einer reinen Farce und würden nach einem Tropfen Blut abgebrochen, immer mehr Studenten wendeten sich dem Fußball zu, diesem zuchtlosen Sport, der mit Disziplin aber auch gar nichts zu tun hätte, anstatt nach Turnvater Jahn den Körper wie Soldaten zu stählen. Und mit einem schier endlosen Kopfschütteln und »Nein, nein!« kommentierte Richard den Damenschwimmverein, dem Ludmilla und die Töchter gerne beitreten würden.
»Armes München, Bayern, Deutschland«, seufzte Richard dazu gerne, während Ludmilla nur darauf wartete, dass er seine umständliche Morgentoilette samt seiner ausschweifenden Rede zu Ende brächte. Richard schmierte sich Pomade in den Bart und zwirbelte ihn hoch, besah sich im Spiegel, zwirbelte erneut und setzte sich wieder aufs Bett zurück. Er zog die erste Socke an und schob die zweite auf akkurat die gleiche Fußhöhe, verglich den Sitz der Fußkleidung noch einmal, stand wieder auf, schlüpfte in die Hosen und griff nach dem Hemd, das Ludmilla jeden Abend an die gleiche Stelle am Kleiderkasten für den nächsten Morgen herzurichten hatte. Er legte einen Binder an, knöpfte das Wams besonders genau und zog sorgfältig die Manschettenknöpfe an, nicht ohne sie vorher noch einmal mit einem Tuch eigenhändig poliert zu haben. Schließlich wartete er auf den Turmschlag der nahen Frauenkirche, um die Taschenuhr genau danach zu justieren.
Wenn Ludmilla Glück hatte, dauerte es zwischen Manschettenknöpfen und den Turmuhrschlägen nur ein paar Minuten, hatte sie Pech, musste sie eine halbe Stunde warten und in dieser Zeit den weitschweifenden Äußerungen ihres Mannes beipflichten.
Während sich Ludmilla in drei Minuten das Gesicht wusch und sich anzog, brauchte Richard dafür zehnmal so lange, obwohl er sonst, in seinen beruflichen Angelegenheiten als Kaufmann, mit Schwung und Raffinesse Geschäfte einfädelte und in seinem Tuch- und Teppichhaus mit flinken Augen Kunden und Angestellte überwachte. Alles Mögliche hatte Ludmilla schon versucht, um der Anwesenheit bei der Toilette ihres Gatten zu entkommen: Sie müsse mit Rosa den Einkauf besprechen, die Töchter griechische Vokabeln abfragen oder am Markt den nur zu so früher Stunde zu ergatternden Käse besorgen – nichts, aber auch nichts ließ ihr Gatte gelten, um dafür diese »schöne Morgenstunde unter den Eheleuten« zu opfern, dieses schöne Ritual, den Tag gemeinsam zu beginnen, ob es denn Ludmilla nichts bedeuten würde, hatte er gefragt, um gleich darauf über den feschen Nachbarsjungen Max zu schimpfen, der nach Schwabing gezogen und ein Wandervogel geworden war, wahrscheinlich weil seine Eltern, die Schattenhofers, seit Jahr und Tag nicht mehr miteinander gesprochen hatten, so eine unglückliche Ehe wirke sich auf die Kinder aus, und jetzt sähe man, was aus dem Max geworden sei, statt den väterlichen Betrieb weiterzuführen, schlage er sich die Nächte mit zwielichtigen Charakteren in Schwabing um die Ohren, male anstößige Bilder und treibe weiß Gott was!
Kürzlich hatte Ludmilla gewagt, ihrem Mann zu widersprechen, und Max einen doch »recht patenten Burschen« genannt und Richard vorgehalten, dass es sich mit zwei Töchtern in Erziehungsfragen doch leicht rede. Ihr Mann war mit nur einer aufgezwirbelten Schnurrbarthälfte aufgesprungen und hatte sie zornig gefragt, ob sie seine väterliche Autorität in Frage stellen wolle? Und weil der Ehekrach nun ohnehin schon heraufbeschworen war, hatte Ludmilla auch noch frech »ja« geantwortet. Eine Woche lang hatte Richard sie daraufhin mit Schweigen gestraft, so dass sie sich schließlich sogar die morgendlichen Ansprachen wieder gewünscht hatte.
Ludmilla drückte leise die Klinke der Schlafzimmertür nach unten und fragte sich, warum ihr Mann seit einiger Zeit Max überhaupt nicht mehr erwähnte und sich stattdessen bei den morgendlichen Reden meist darüber beschwerte, wie ungerecht die Welt doch sei, genauer der Münchner Magistrat, der ihn immer noch nicht zum Herrn Kommerzienrat ernannt hatte, weil im Grunde genommen die ganzen Herrschaften doch kein Fünferl weit über ihren Tellerrand hinaus denken konnten, einfach nicht die Vorstellungskraft dafür hatten, dass ein Geschäft mit englischen Tüchern München aus der provinziellen Enge hob, vielleicht sogar einen wichtigen Beitrag zu diplomatischen Beziehungen liefern könnte, gerade und insbesondere in Zeiten der militärischen Aufrüstung, wo doch überall Stoffe gebraucht wurden, um Uniformen zu schneidern. Ludmilla vermied es, ihren Mann auf Schwachpunkte seiner Gedankenkette aufmerksam zu machen, denn bei Einmischungen in geschäftlichen Angelegenheiten war er höchst empfindlich, insbesondere wenn es um den Titel Kommerzienrat ging, von dem er schon seit ihrer Hochzeit träumte.
Mit einem Lächeln schloss Ludmilla die Schlafzimmertür, obwohl ihr Kopf vor Schmerz hämmerte. Ein Blick aus dem Fenster zeigte ihr die typisch schleierhaften Wolken bei Föhn. »Ja«, dachte Ludmilla, das passt. Sie würde ihre heutige Unpässlichkeit einfach auf die einzigartige Münchner Wetterlage schieben, die doch so oft grausame Kopfschmerzen verursachte. Zuvor aber musste sie unbedingt noch die Likörflasche verstecken, denn sie war sich mittlerweile sicher, sie gestern nicht mehr in die Speisekammer zurückgebracht zu haben. Richard durfte von ihren nächtlichen »Freizeiten« nichts erfahren, Rosa und den Töchtern könnte sie vielleicht wieder von einem unverhofften nächtlichen Besuch erzählen.
In der Küche klapperte das Hausmädchen Rosa mit Geschirr, sie richtete das Frühstück auf ein Tablett, wie immer, wenn die Morgenmahlzeit in der Guten Stube eingenommen werden sollte. Aus dem Mädchenzimmer hörte Ludmilla ihre Töchter sich griechische Vokabeln abfragen. Hatten sie heute eine Prüfung? Und warum richtete Rosa das Frühstück heute für die Gute Stube und nicht in der Küche?
»Guten Morgen«, grüßte Rosa. »Soll ich heute Tafelspitz kochen?«
Ludmilla nickte und blickte sich in der Küche suchend nach der Likörflasche um. »Und warum gibt’s heute in der Guten Stube Frühstück?«
»Weil der Gnädige Herr das so angeschafft hat«, erwiderte Rosa. »Es ist nämlich so, dass heute …«
Ludmilla musste das Hausmädchen, das manchmal wie ein Wasserfall plapperte, unterbrechen und aus der Küche locken, um unbeobachtet weiter nach der Likörflasche sehen zu können.
»Rosa, könntest du heute bitte weniger ausführlich berichten? Und haben wir noch genügend Himbeermarmelade?«, fragte Ludmilla. »Schau bitte nach!«
»Jetzt, warum?«, fragte Rosa beleidigt. Sie setzte den Wasserkessel ab, mit dem sie einen Kaffee aufbrühte.
»Weil, weil … jetzt schau halt einfach!«
Rosa gehorchte und verließ die Küche, Ludmilla sah neben dem Ofen, im unteren Teil des Büfetts und unter dem Tisch nach, ob sie die Flasche dort stehen gelassen hatte, fand sie jedoch nicht.
Rosa kam zurück. »Fünf Gläser sind noch eingemacht, das langt doch!«
»Und Erdbeermarmelade?«, fragte Ludmilla.
»Ja, soll ich jetzt noch einmal gehen? Wenn ich bloß noch nach der Marmelade schauen muss, dann wird das Frühstück nie fertig, als ob ich sonst nichts zu tun hätte!«, entgegnete Rosa mürrisch.
»Nein, nein!« Ludmilla hatte einen geschickten Übergang gefunden, um in der Speisekammer nach der Likörflasche zu suchen. »Das mach ich schon selbst! Und sei nicht bös wegen der Bemerkung grad, ich bin in der Früh immer noch so verschlafen, dass ich längeres Reden nicht so gut vertrag.«
»Ich weiß ja selbst, dass ich manchmal nicht mehr zum Bremsen bin und andauernd plappere«, dankte ihr Rosa die Entschuldigung.
Ludmilla schlich sich durch den Flur an der wuchtigen Garderobe und der Kammer der Mädchen vorbei in die kalte Speisekammer. Hier! Zwischen den eingelegten Gurken und Apfelsaft stand die Likörflasche! Sie hatte sie also doch noch zurückgestellt und sogar mit einer Flüssigkeit wieder aufgefüllt. Täuschend echt sah der Inhalt aus, Ludmilla wunderte sich über ihre eigene Phantasie und lächelte ein wenig. Für heute war sie aus dem Schneider, lief nicht Gefahr, von Rosa, den Mädchen oder gar Richard auf ihren Likörkonsum angesprochen zu werden. Und für heute hatte sie sogar noch im Föhn eine ausgezeichnete Ausrede für die Folgen ihrer nächtlichen Freizeit gefunden! Ludmilla atmete ruhiger und überlegte, während sie in die Gute Stube ging, warum es heute Kaffee gab, dieses bittere Getränk, das Richard über alles lobte, sie aber nicht mochte.
Eine Freundin aus Dresden schrieb ihr immer wieder, wie sie daran arbeitete, dem Kaffee den bitteren Geschmack zu nehmen. Jeden Tag probierte die Freundin etwas anderes aus, mal legte sie die Bohnen vor dem Mahlen in Seifenlauge ein, mal goss sie das Pulver aus den Bohnen auf, die sie zuvor monatelang in Lavendel gelagert hatte. Ludmilla hoffte, ihre Freundin würde bald etwas gegen den bitteren Geschmack erfinden, ausgerechnet mit diesen Kopfschmerzen und der leichten Übelkeit heute müsste sie dieses Getränk schlürfen. Oder sollte sie Rosa anschaffen, einen Tee zu kochen? Aber dann würde Richard wieder bedauern, wie weit sie sich von ihm entfernt hätte, wenn sie schon keinen Wert mehr darauf lege, zum Tagesbeginn das gleiche Getränk wie ihr Gatte zu sich zu nehmen. Ein Vortrag über den Wert der Familie würde folgen und mit ihm die Hochschätzung eines anpassungsfähigen Weibes, weswegen Richard seinen Töchtern allerlei Sperenzchen verbiete, damit sie am Ende nicht auch noch zu solchen rebellischen Frauenzimmern würden, die auf einer eigenen Meinung gegenüber dem Ehemann pochten oder gar noch ein Wahlrecht forderten.
Ludmilla schaute noch einmal zur Likörflasche, die ihr zu versprechen schien, dass ein Schluck aus ihr die Kopfschmerzen gleich wieder vertreiben würde. Warum ließ sie sich das eigentlich alles von Richard gefallen? Sie hörte zwar kaum noch hin, wenn er redete, aber sie war doch jeden Tag froh, wenn er sich endlich ins Geschäft verabschiedete. Als junge Frau hatten sie der dichte Schnurrbart, seine festen moralischen Ansichten und sein stattlicher Körperbau beeindruckt. Sie hatte es gar nicht erwarten können, von ihm in den Arm genommen zu werden und schließlich mit ihm im Bett zu enden. Heute hasste sie es, wenn sich sein Bein im Schlaf zu ihr herüberschob und schwer auf ihrem Körper lag.
Die Töchter stürmten in die Gute Stube und ließen ihr keine weitere Zeit zum Nachdenken mehr.
»Mama, morgen ist ein Saalradrennen, dürfen wir da hin?«, fragte die jüngere Amalie.
»Der Max fährt da auch mit! Bitte, Mama!«, fügte die ältere Auguste hinzu.
»Der Schattenhofer Max, der nach Schwabing gezogen ist, der mit den sechs Zehen!«, erklärte Amalie und legte den Arm um Ludmilla, die sich auf ihren Stuhl am Esstisch setzte.
»Das Saalradrennen? Was wollt ihr denn da?«, fragte Ludmilla abwesend. Sie dachte daran, dass ihre nächtlichen Freizeiten in letzter Zeit überhandgenommen hatten, sie sollte eine Zeitlang auf den Likör verzichten. Auch wenn heute noch einmal alles gut gegangen war und keiner Spuren entdeckt hatte – so gefiel sie sich selbst nicht mehr. Vernachlässigte sie nicht ihre Töchter deshalb, hatte sie nicht schon ein paar anstehende Prüfungen vergessen? Und auch der Dresdner Freundin hatte sie seit Monaten nicht mehr geschrieben, zwar ein paar Briefe begonnen, aber dann war sie immer zu betrunken gewesen, um sie noch leserlich fortzusetzen. Ludmilla schämte sich. So konnte es nicht mehr weitergehen. Ludmilla beschloss, ab heute für drei Wochen komplett auf ihre nächtlichen Freizeiten zu verzichten.
»Bitte, Mama, bitte!«, flehte die fünfzehnjährige Amalie erneut und riss sie aus ihren Gedanken.
»Der Max fährt da mit!«, wiederholte die siebzehnjährige Auguste. Ludmilla kannte den Max mit den sechs Zehen an jedem Fuß von klein auf. Der Nachbarsbub hatte oft genug in der Küche eine Suppe mit ihnen gegessen. Mittlerweile überragte er Ludmilla um zwei Köpfe.
Welche der beiden Töchter hatte sich wohl in ihn verliebt? Und wurde sie von ihm beachtet? Als Mutter fand Ludmilla beide Kinder mit den festen Brüsten und der schmalen Taille gleich hübsch, aber war Auguste nicht zu rebellisch, um einem Mann zu gefallen?
»Mama! Du hörst überhaupt nicht zu!« Amalie hatte recht, sie war schon wieder in Gedanken.
»Der Max hat die Startnummer 24, alle wetten, dass er gewinnt«, sagte Auguste.
Die schnellen Sätze der Töchter prasselten wie Kopfnüsse auf ihren angegriffenen Schädel nieder.
»Mich müsst ihr nicht überreden!«, fiel Ludmilla endlich ein. »Aber den Max erwähnt ihr beim Papa lieber nicht, wenn ihr zum Saalradrennen wollt. Ihr wisst doch, was er von ihm hält!«
Amalie grinste verstehend, sprang auf und bedankte sich für die Zustimmung und den Ratschlag bei der Mutter mit einem Kuss auf die Wange.
Auguste sah ihr hingegen grübelnd in die Augen.
»Warum lügst du eigentlich immer, Mama?«, fragte sie unvermittelt.
»Lügen? Das ist Diplomatie, in eurem Sinne! Wer will denn zum Saalradrennen, ihr oder ich?«
Wenigstens war das Dienstmädchen Rosa gerade in der Küche und hörte sie nicht. Rosa war mit ihren zwanzig Jahren zwar noch so jung, dass sie sich stets auf die Seite der Töchter schlug. Aber mit ihrer Bauernschläue durchschaute das Hausmädchen mehr, als Ludmilla lieb war.
»Warum? Die Mama lügt doch nicht, und wir auch nicht, wenn wir einfach nicht sagen, dass der Max da mitfährt«, fuhr Amalie zornig dazwischen.
»Und am schlimmsten ist es, wie du dich selbst belügst!«, setzte Auguste nach, Ludmilla unverwandt in die Augen blickend. »Warum hast du den Papa eigentlich geheiratet? Lügst du da nicht auch, in der Liebe?«
»Weil … weil … Auguste, so geht das nicht! So kannst du nicht mit deiner Mutter reden!« Ludmilla fürchtete zu erröten. Wie konnte ihre siebzehnjährige Tochter sie so in die Enge treiben?
»Der Opa wollte, dass der Papa unser Geschäft übernimmt, weil er so tüchtig ist. Und die Mama war in den Papa verliebt!«, fauchte Amalie ihre Schwester an. »Was spinnst jetzt so herum? Das ist doch jetzt wurscht! Oder soll es heute noch einen Krach geben? Dann kommen wir garantiert nicht zum Saalradrennen!«
Auguste unterschlug ihre Erwiderung, senkte den Kopf und schwieg. Ludmilla verstand, dass Auguste nur deshalb nicht weiterbohrte, um ihrer Schwester eine Begegnung mit Max zu ermöglichen, wäre es um Auguste selbst gegangen, hätte sie ihren Angriff fortgeführt. Ludmilla wollte gerade ansetzen, den Zusammenhalt der Schwestern ganz allgemein zu loben, als eine fette Fliege aufschreckte und zum Fenster brummte, sich von hinten ein Schatten auf dem Frühstückstisch abzeichnete und der Holzfußboden unter den näher kommenden Schritten Richards knarrte.
Mei, die Gnädige Frau Ludmilla meint halt immer, ich würd das alles nicht mitkriegen! Für wie deppert hält die mich eigentlich? Dabei geht das mindestens schon über zwei Jahre, auf jeden Fall so lang, wie ich hier in Stellung bin. Bloß am Anfang hab ich mich gewundert, wie oft da angeblich unangekündigte nächtliche Besuche kommen, von denen ich gar nichts gehört hab. Dabei hab ich einen ganz leichten Schlaf und Ohren wie ein Luchs, ich krieg ja fast alles mit. Auch wie der Gnädige Herr die Frau Ludmilla im Schlafzimmer immer heruntergeputzt hat. Der Gnädige Herr ist zwar ein sehr ehrenhafter Familienvater und Geschäftsmann, aber widersprechen darf man dem nicht, da wird der so was von patzig!
Und deshalb hat mich die Gnädige Frau auch gereut, und vor allem die Mädchen. Wirkliche nette Mädchen sind das, die Auguste und die Amalie. Siebzehn und fünfzehn, mei, so jung möchte ich gar nicht mehr sein! Ich bin froh, dass ich bald einundzwanzig werd, und froh, dass ich in der Stadt leb. Bei uns am Dorf ist doch der Hund verreckt. Und mit meinem Vater war es sowieso nicht einfach … aber das führt jetzt zu weit. Also mir gefällt es in München, und wenn ich frei hab, dann geh ich so gern durch die Stadt, da sieht man alles Mögliche, feine Händler und grobe Knechte, Tagelöhner und prächtig herausgeputzte Adelige, Bettler und sogar den Prinzregenten Luitpold hab ich hier schon gesehen, einfach so ist der auf der Straße daherspaziert, ohne Hofstaat und ohne Bedienstete! Sogar die Pfarrer sind in München anders als wie bei uns auf dem Land. Wo ich im Dorf bestimmt zehn Rosenkranz als Buße nach dem Beichten gekriegt hätt, da geben die in München bloß einen oder drei auf, oder höchstens fünf, aber auf keinen Fall mehr. Und ich war schon in den verschiedensten Kirchen mit den verschiedensten Pfarrern, vom Sankt Peter bis zur Stiftskirche des heiligen Kajetan, zu der die Münchner Theatinerkirche sagen. Auch im Dom hab ich für exakt die gleichen Sünden nicht mehr Strafe gekriegt, bloß im Dom sind die Beichtstunden immer so überlaufen. Aber jetzt bin ich vom Thema abgekommen, ich verratsch mich einfach manchmal zu gern.
Auf jeden Fall hab ich der Gnädigen Frau schon oft geholfen, und sie hat es gar nicht gemerkt. Denn einmal hat der Gnädige Herr mitbekommen, dass die Frau Ludmilla eine ganze Likörflasche ausgetrunken hat, während er schon geschlafen hat, und da hat er sich fürchterlich aufgeregt und die Gnädige Frau tagelang wie einen räudigen Hund behandelt. Vor den Mädchen! Die haben zwar nicht gewusst, warum der Vater plötzlich so grob und hundsgemein ist, aber zu spüren haben sie es auch bekommen, er hat ihnen jeden Ausgang verboten, noch nicht einmal zu den Nachbarn hat er sie gelassen. Und da hab ich mir einfach gedacht, das ist doch der Gnädigen Frau ihr Privatvergnügen, was sie nachts macht, und seitdem hab ich ihr immer geholfen. Manchmal hat sie eine Likörflasche mitten auf dem Küchentisch stehen lassen, dann hab ich sie einfach mit Springerl und Eigelb – das liegt ja bei der Farbe ganz nahe – aufgefüllt und wieder in die Speis in das Versteck geräumt. Deshalb hab ich dem Gnädigen Herrn ja auch so oft ein Eierfrühstück vorgeschlagen, damit es nicht auffällt, wie oft ich ein Ei für die Gnädige Frau Walter unterschlagen hab.
Und dann schau ich auch immer, dass ich gerade aushäusig bin, wenn der Likör- und Weinhändler vorbeikommt. Da kann die Gnädige Frau dann in Ruhe alles einkaufen. Mei, aber das Versteck, da hab ich ja fast lachen müssen, wie ich das zum ersten Mal gesehen hab. Hinter die Gurkengläser hat die Gnädige Frau die angebrochenen Likörflaschen gestellt und den Vorrat in die Kartoffelkiste, was wär ich denn für eine Magd, wenn mir das nicht auffallen würd! Die Kartoffelkiste ist unter dem Boden eingelassen und eigentlich für die Erdäpfel da. Aber die Frau Walter hat da ihre größeren Likör-Vorräte verstaut. Und zweimal hab ich in der Früh das Versteck sowieso offen gefunden. Ich hab dann einfach alles wieder an seinen Platz geräumt, nicht dass es doch noch der Gnädige Herr entdeckt. Die Frau Walter hat dazu nichts gesagt, noch nicht einmal einen fragenden Blick hab ich dazu bekommen. Wahrscheinlich war sie auch einfach zu betrunken gewesen in der Nacht davor, als dass sie sich noch daran erinnern hätt können.
Mein Vater hat auch oft behauptet, von bestimmten Vorfällen am nächsten Tag gar nichts mehr zu wissen. Aber das muss ich jetzt schon anfügen, dass die Gnädige Frau ja nie jemandem was getan hat. Und ich hab sie auch nie ausfällig gesehen, auch wenn der Rausch noch so groß war und sie kaum mehr stehen hat können. Und tagsüber hat sie jedenfalls nie einen sitzen gehabt, nur hinlegen hat sie sich oft müssen, tagsüber. Aber nicht dass ich ihr jetzt Unrecht tue. Das kann auch gut der Föhn oder die Migräne sein, da stöhnen doch so viele in München darüber. Wobei ich mir nie ganz sicher bin, für welche Ausreden der Föhn herhalten muss.
Mei, und ich denk mir halt, warum dürfen die Mannsbilder im Wirtshaus saufen, aber die Weiber daheim nicht? Und die Frauen schlagen wenigstens nicht zu, so wie die betrunkenen Mannsbilder. Mein Vater hat mich so oft grün und blau geschlagen, wenn er vom Wirtshaus gekommen ist, und die Mama hat er damit fast ins Grab gebracht. Aber das spielt in diesem Zusammenhang jetzt eigentlich auch keine Rolle.
Gewundert hab ich mich freilich trotzdem, warum die Frau Ludmilla sich das Abkanzeln vom Gnädigen Herrn so gefallen hat lassen. Die Geschäfte hat zwar nur er gemacht, aber das ganze Geld ist doch von ihr, beziehungsweise ihrem Vater, gekommen. Der Gnädige Herr hat von daheim nichts mitgebracht außer seiner Kaufmannsausbildung. Und, unter uns, es stimmt auch, dass der Vater der Gnädigen Frau, Gott hab ihn selig, an dem Richard einen Narren gefressen gehabt hat, und der Gnädige Herr hat es ganz geschickt verstanden, die Brüder der Gnädigen Frau auszubeißen. Dem Schwiegersohn Richard hat der alte Obermeier schließlich sein Tuch- und Teppichgeschäft vermacht und nicht den eigenen Söhnen! Das hat natürlich böses Blut gegeben, bis heute. Aber jedenfalls versteh ich nicht, wie bei so einer Abstammung, aus so einem feinen Haus, die Gnädige Frau nicht Paroli geboten hat, da hätt ich mir doch von keinem Mannsbild was gefallen lassen! Manchmal hab ich schon überlegt, ob er sie im Bett, ich mein bei der ehelichen Pflicht, ich meine, da soll es ja einiges geben, ob er da vielleicht besonders war. Aber das kann ich mir eigentlich auch nicht so recht vorstellen, meine Kammer liegt ja direkt neben ihrem Schlafzimmer, und da hab ich eigentlich nie etwas gehört, außer den ewig langen Vorträgen, die der Gnädige Herr jeden Tag in der Früh gehalten hat, wenn die Frau Ludmilla ihnen nicht auskommen ist, wie oft hat sie sich da auf Zehenspitzen aus dem Schlafzimmer gestohlen. Aber manchmal hat sie es auch nicht geschafft, vor dem Herrn Walter aufzustehen, weil sie ihren Rausch ausschlafen hat müssen.
Jetzt weiß ich gar nicht mehr, wie ich darauf gekommen bin, ich weiß schon, manchmal red ich einfach zu viel. Ach so, ja, übers Geld, weil gewundert hab ich mich schon, dass der Gnädige Herr von den Likörflaschen nichts an den Ausgaben gemerkt hat, die Frau Walter hat doch akkurat Buch führen müssen, und wehe, da hat einmal ein Salatkopf gefehlt, den ich beim Einkaufen vergessen hab, da hat der Gnädige Herr sich aber aufgeregt! Ja, also wie sie das mit den Ausgaben gemacht hat, die Gnädige Frau, das hab ich neulich erst erfahren, wie die Gnädige Frau eine erste Andeutung gemacht hat von ihrer g’spinnerten Idee. Da hat sie nämlich gesagt, dass sie ein Erbstück in petto hätt beziehungsweise das Geld, das sie dafür bekommen würd.
Das hab ich dann natürlich gleich der Theres erzählen müssen, denn die Theres, meine beste Freundin, kommt ja aus dem gleichen Dorf wie ich und ist mit mir nach München gegangen. Die Theres hat beim Grafen von Stocker und seiner Frau eine Anstellung gefunden, das war genauso ein Glück wie bei mir, in ihrem Fall war es so, dass der Graf sein Schloss nimmer hat halten können, sich eine Villa in Bogenhausen gekauft hat, sein Personal gar nicht mit dorthin ziehen wollte, außer dem Gärtner, und er also gerade ein Hausmädchen gesucht hat, wie wir nach München gekommen sind. Eine schöne Villa ist das da in Bogenhausen, mit einem großen Garten, ich bin ja oft bei der Theres, und die Leute sind wirklich fein, er ganz elegant und charmant und sie ganz vornehm im besten Sinn. Aber freilich auch schon ein wenig komisch, wie ich mein, da hat zum Beispiel jeder sein eigenes Schlafzimmer, und Kinder haben’s auch keine, und die Frau Gräfin in ihren Reiterhosen mit Pferdeschwanz, die sieht irgendwie aus wie ein Jüngling, aber mei, mir soll es recht sein, ich mein ja bloß, Hauptsache die Theres hat es dort gut, und das hat sie!
Aber das hätt ich jetzt fast vergessen, das ist ja das eigentlich Besondere an der Frau Gräfin, die hat nicht bloß als erstes Weib an der Universität studiert, Altertumskunde glaub ich, nein, nicht bloß studiert, die macht jetzt sogar den Doktortitel, und überall heißt es, dass sie damit noch eine Lawine lostritt, immer mehr Weiber noch eine Zulassung zum Studieren kriegen werden, oder am Ende sogar noch freien Zutritt zur Universität, und dann am Ende sogar noch ein Wahlrecht.
Also, ich weiß zwar auch nicht, warum Frauenzimmer jetzt unbedingt studieren müssen, und wie man an der Gräfin sieht, ist das auch nicht unbedingt … wie soll ich sagen … also ganz ehrlich, es macht die Weiber schon rein äußerlich zu Mannsbildern. Und für was brauchen wir ein Wahlrecht? Also mich interessiert Politik überhaupt nicht, ich hab genug zu arbeiten und kann da nicht stundenlang debattieren. Aber Jessasmariaundjosef, jetzt muss ich aber weiter, wie hab ich mich jetzt aber wieder verratscht!
Angekommen im Englischen Garten, raunte Adele dem Araber etwas ins Ohr, fuhr durch seine Mähne, saß mit Schwung auf ihn auf, trieb zum Galopp aus dem Stand, beugte ihren Oberkörper tiefer nach vorne, wich ab vom Weg in die Wiesen, drängte das Pferd mit »los, los« zu einem schnelleren Lauf und verschmolz mit dem Tier zu einem Ganzen, das über die Grünflächen fegte. Adeles Pferdeschwanz und der Schweif des Tieres flogen im gleichen Takt durch die Luft, Pferd und Reiterin schienen so schnell zu ziehen wie die schlierenartigen Wolken am Himmel, die der warme Föhnwind antrieb, zerriss, sich überholen und wieder vereinigen ließ, um sie erneut durch die Mailuft zu jagen, wieder von ihnen zu lassen, nach unten zu stürmen und sich im Park dem ungleich kleineren Paar entgegenzustemmen, sich zu drehen und schließlich mit der Frau und dem Pferd Richtung Norden zu stürmen, so dass sich die Gräfin noch mehr dem Tier anschmiegte und all den fein gekleideten Damen, betrunkenen Studenten und uniformierten Herren auf Brautschau davonflog.
Die Fünfunddreißigjährige überließ sich ganz dem sicheren Takt ihres Tieres und entfloh mit ihm und dem Wind und im galoppierenden Rasen ihrer aufkeimenden Not, der Dissonanz ihres Lebens. Mit geschlossenen Augen entfloh sie all diesen Träumen, Leiden und Fragen des Lebens, sie ließ sich blind vom Araber tragen, überschrieb dem Pferd die Zügel und überließ seinem Instinkt den Weg, wohin dieser auch führte. Das Wasser rückte näher, immer deutlicher witterte sie die früh blühenden Blumen, in immer bunteren Farben sog sie den Duft in sich auf, roch sie die lila Primeln, die weißen Maiglöckchen, die gelben Narzissen, die blauen Veilchen und das schlichte und doch so saftige Grün.
Adele wünschte, mit ihrem Tier fliegend in den See zu springen, unterzugehen und mit ihm auf einer Fontäne zum Himmel gehoben zu werden, dort oben all den staubigen Unrat des Hirns abzuwerfen, in einem klaren Bewusstsein zu baden und zu verstehen, warum sie denn lebte, warum Männer und Frauen die Erde bewohnten und warum sie und die Menschen dazu verdammt waren, um ein Gestern und Morgen zu wissen, warum ihr Geist zu diesem Denken, Grübeln und Deuten so schmerzhaft verflucht war. Nur einen Augenblick, dort oben auf der Fontäne, entrückt all der Fragen, der Seele, des Körpers, wünschte die Gräfin zu weilen, doch der Araber, das wissende Tier, bremste sich und sie kurz vor dem Ufer und wieherte fragend. Nein, nein, so entkam sie ihm nicht, diesem Leben, das sie so sehr zu lieben wünschte und das sie zerriss.
Adele öffnete wieder die Augen und strich dem Araber mit »brav, brav« durch die Mähne, erblickte von fern bekannte Gesichter, Magistrate, Professoren und ihre Damen, die in ihrer fraglosen Plumpheit durch den Garten spazierten, Adele wendete schnell, um nicht gesehen zu werden und sprechen zu müssen, nicht jetzt, dachte die Gräfin, nur nicht jetzt auch noch artig Konversation betreiben, stand doch morgen Abend ohnehin ein Empfang an, bei dem sie die lächelnde Gattin des Grafen gäbe, wie immer souverän die fetten Honoratioren begrüßend, die dummen Neureichen mit Bildungshappen speisend und die engstirnigen Bürger dezent auf andere Welten in London, Paris, Rom und New York verweisend. Auf vier Stunden »Gastspiel«, bis Mitternacht, hatte sie sich mit Georg geeinigt, danach würde sie eine Migräne entschuldigen und mit diesem Signal auch anderen Damen den Rückzug empfehlen, um so die Bahn freizugeben für die Weibergeschichten, um derentwillen die Herren Georgs Gesellschaft so suchten und die ihrem Mann Tür und Tor für Geschäfte öffneten, die sie vor dem Bankrott bewahrten. Adele nahm an, dass ihr Gatte die »Nymphen« in der Gartenlaube bezahlte, wie kam er eigentlich zu den Huren, wo heuerte er sie an? Doch nein, das ging sie nichts an, ebenso wenig wie die zahllosen Affären des Gatten, die sie mehr noch als das Eheabkommen vor seinem Körper schützten, obwohl sich ihre Seelen doch längst so innig verbanden, wie sie es nie zu hoffen gewagt hatte, ja, ihr Mann war ihr einziger, bester und teuerster Freund, sie liebte ihn mehr wie eine Schwester den Bruder.
Adele trieb den Araber wieder an, preschte mit ihm über einsamere Wege und Wiesen, Erinnerungsfetzen rauschten wie Bilder aus Filmtheatern durch ihren Kopf, die innige Umarmung mit Georg am Morgen wich dem Schloss ihrer Kindheit: wie die Eltern diese Verbindung mit Georg wünschten, wie Adele eines Nachts bei den Rosenhecken stehend unter Tränen beschloss, eher ihr ganzes wissenschaftliches Streben zu lassen und sich mittellos in einem anderen Land zu verdingen, als sich einem Mann hinzugeben. Wie sie Georg zum ersten Mal sah: Groß, elegant, mit schnippischem Lächeln und klugen Augen sprach er vor. Wie die Blicke der Eltern sie und ihn prüfend beim festlichen Mahl unter den besonders erhellten Kronleuchtern verfolgten, wie Georg um eine Unterredung mit der schönen Braut draußen unter vier Augen bat und, kaum als sie zu zweit bei den Rosenhecken standen, ihr versicherte, sie brauche sich nicht zu besorgen, mit ihm könne man alles verhandeln, und da er ihr ankenne, dass sie auf körperliche Vereinigung keinerlei Wert lege, empfehle es sich, ein Arrangement zu treffen, von dem auch er profitiere, indem er sich sorglos Affären hingeben könne, ohne mit ihrer Eifersucht rechnen zu müssen. Nur Adeles Verblüffung hatte Georg nicht sofort zu deuten gewusst, er legte ihre Sprachlosigkeit als eine weitere Forderung aus, was wünsche sie noch? Nur forschen wolle sie, entgegnete sie, sich der Wissenschaft hingeben, die Archäologie sei ihre Liebe, und sie wünsche sich nichts mehr auf der Welt, als sie an der Universität studieren zu können wie Männer. Georg lächelte, die Rosen schienen plötzlich in allen Farben zu duften, und sogar der Mond strahlte heller, so dass sie den neugierigen Blicken der Eltern von innen wieder ausgeliefert waren, und Georg flüsterte ihr, Liebesgesäusel vorschützend, den wohl wichtigsten Satz ihres Lebens ins Ohr: Er werde eine Ausnahmegenehmigung für ein Studium der Archäologie für sie erwirken, mehr noch, er werde ihre wissenschaftliche Karriere befördern, und, um gleich ihre nächste Frage zu beantworten, sein Vorteil in dieser Verbindung bestehe in dem Vermögen, das sie mit einbringe, und seiner Freiheit, die er nie bereit wäre, aufzugeben. Wenn sie mit diesem Vertrag einverstanden wäre, sollten sie jetzt, um die geheime Absprache vor den Eltern plausibel vertreten zu können, einen innigen Kuss vortäuschen und drinnen dann ihre »Liebe auf den ersten Blick« kundtun.
Adele misstraute der so faszinierend einfachen Lösung, doch Georg hielt sich an diese und alle späteren Absprachen, positionierte sich so mit dem Rücken zum Fenster, dass die Eltern nicht sahen, wie seine Lippen nur ihre Wangen und nicht den Mund erfassten, und eine Stunde darauf war die Hochzeit beschlossen und ein Termin anberaumt. Die Mutter glaubte Adele zwar den plötzlichen Wandel, so willig in eine Ehe zu gehen, keine Sekunde, doch sie stellte auch keine weiteren Fragen und wünschte ihr just in der absurdesten Verkleidung ihres Lebens, im Brautkleid, sie möchte auf ihre Art erfüllt durch die Zeit gehen, wie auch immer sie dieses Glück schmiede. »Glück! Glück!«, dachte Adele auf dem galoppierenden Araber, über Jahre war sie so glücklich gewesen mit Georg, der kein böses Ende nahm, wie lange befürchtet, nein, nie hatte er ganz im Sinne der Absprache eine eheliche Pflicht eingefordert, zwei Tage nach der Hochzeit hatte sie sich für Archäologie immatrikuliert, und während sie Tag und Nacht geforscht und über Büchern und Steinen gesessen hatte, pflegte Georg Geschäfte, ging umsichtig seinen Vergnügungen nach und tröstete zunehmend ihre von Vögeln zerrissene Seele.