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Nur weil Fußball ein Sport ist, heißt das nicht, dass immer fair gespielt wird – schon gar nicht, wenn es um junge Nachwuchstalente und internationale Verbände geht. Trainer Scott Manson landet wieder mittendrin im Sumpf des korrupten Spitzensports. Scott Mansons Karriere als Fußballtrainer in der Premier League ist vorbei, bevor sie richtig begonnen hat. Nach einem Skandal bei London City und einem kurzen Intermezzo bei einem chinesischen Verein, dessen Eigentümer ein windiger Geschäftsmann ist, scheint Scotts Ruf endgültig ruiniert. Da erhält er einen Hilferuf vom FC Barcelona: Stürmerstar Jérôme Dumas ist nicht zum Training erschienen und wird seit einem Urlaub auf seiner Heimatinsel vermisst. Scott hat nur wenige Wochen Zeit, den Kicker zu finden. Auf seiner Spurensuche von Paris bis auf die Antillen begegnet Scott einem mörderischen System, das den Kampf um junge Talente auf ein anderes, tödliches Spielfeld verlegt hat.
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Seitenzahl: 428
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Tropen
www.tropen.de
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »False Nine«
im Verlag Head of Zeus, London
© 2015 by thynKER ltd
Für die deutsche Ausgabe
© 2016 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung
Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Cover: Herburg Weiland, München
unter Verwendung eines Fotos von © Jon Kennedy, Mavro Design
Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde
Printausgabe: ISBN 978-3-608-50219-0
E-Book: ISBN 978-3-608-10025-9
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Dieses Buch ist meinem guten Freund Jonathan Taylor gewidmet.
Der Begriff »Falsche Neun« bezeichnet einen Spieler, der eigentlich als einzige Spitze eingesetzt ist, sich im Kampf um den Ball aber auch weit zurückfallen lässt, um die gegnerischen Innenverteidiger aus ihrer Hälfte zu locken, damit seine Mannschaftskameraden hinter der Abwehr Raum finden und Torchancen nutzen können.
Kieran Robinson
Wenn ich ein bisschen Aufmunterung brauche, lese ich immer auf Twitter ein paar Tweets über mich selbst und bin jedes Mal zutiefst beeindruckt vom wahren Sportsgeist und der grundlegenden Fairness der britischen Öffentlichkeit.
Manson, du nichtsnutziger Drecksack! Deine beste Leistung bei City war deine Kündigung. #CityinderKrise
Hast du wirklich gekündigt, Manson? Oder wurdest du gefeuert wie die ganzen anderen überbezahlten Hackfressen von Trainern? #CityinderKrise
Du lässt uns hängen, Manson. Hättest du nicht hingeworfen, hätten wir jetzt nicht Kolchak am Hals und wären Viertletzter. #CityinderKrise
Komm zurück in die Crown of Thorns, Scott. Mourinho hat’s auch getan. Warum nicht du? Alles ist vergeben und vergessen. #CityinderKrise
Dein Gelaber bei @BBCMOTD über Chelsea hältst du wohl für besonders schlau, du schwarzer Klugscheißer. Colin Murray ist nichts gegen dich.
Bloß weil du auf dem Cover der GQ warst, heißt das noch lange nicht, dass du kein Hurensohn bist, Manson. Ein schwarzer Hurensohn im Maßanzug.
Komm zurück, Scott. Seit du weg bist, ist Fußball kacke. Kolchak ist einfach zu dämlich. #CityinderKrise
Wann verrätst du endlich, warum du City verlassen hast, Manson? Dein Schweigen schadet dem Verein. #CityinderKrise
Ich bin eigentlich nur bei Twitter, weil mein Verleger meint, dass das den Verkauf meines Buchs in der Vorweihnachtszeit ankurbelt. Es gibt eine neue Taschenbuchauflage mit einem Extrakapitel über mein kurzes Gastspiel bei London City. Nicht, dass viel drinstehen würde. Ich hatte dem Clubeigentümer, Viktor Sokolnikow, eine Geheimhaltungsverpflichtung unterschreiben müssen, also darf ich nicht enthüllen, warum ich den Verein verlassen habe, was hauptsächlich mit Bekim Develis Tod zusammenhing, soweit ich das sagen darf. Das neue Kapitel musste natürlich von Viktors Anwälten abgesegnet werden. Um ehrlich zu sein ist es nicht das Papier wert, auf dem es gedruckt ist, und kein Tweet der Welt kann daran etwas ändern.
Ich bin kein Fan von Social Media. Ich glaube, wir wären alle besser dran, wenn jeder Tweet fünf Pence kosten würde oder man vor dem Abschicken eine Briefmarke draufkleben müsste. Die Meinung der meisten Leute, einschließlich meiner, ist einen Scheiß wert. Und damit meine ich die der Vernünftigen. Klar gibt’s auch jede Menge Hass auf Twitter, und ein Großteil davon hat mit Fußball zu tun. In gewisser Weise überrascht mich das nicht. Früher, als eine Stadionzeitung nur ein Pfund gekostet hat und ein Ticket nicht mehr als zehn, waren die Leute im Fußball etwas nachsichtiger. Heute, wo man für ein Ticket bei einem Spitzenverein wie ManU sechs, sieben Mal so viel abdrücken muss, ist es verzeihlich, dass die Fans mehr von ihrer Mannschaft erwarten. Na ja, fast.
Das Komische ist, dass ich die netten Sachen, die die Leute über mich twittern, nie groß beachte, aber bei Beleidigungen und Beschimpfungen kann ich irgendwie nicht anders. Ich bemühe mich zwar, sie zu ignorieren, aber das ist schwer, okay? Da hat Twitter was von einer Flugreise; wenn alles gut läuft, macht man sich keine großen Gedanken, aber man kann gar nicht anders, als sich Gedanken zu machen, wenn irgendwas schiefgeht. Seltsam auch, dass ein kleiner Teil von mir findet, dass die negativen Tweets immer auch ein Körnchen Wahrheit enthalten. Wie dieser hier:
Hättest du es drauf, wärst du jetzt bei nem anderen Verein, Manson. Ohne Zarco würdest du immer noch Hütchen einsammeln.
Oder dieser:
Tief in dir drin wusstest du doch, dass das eine Nummer zu groß war für dich. Deshalb hast du verkackt, du Vollpfosten. #CityinderKrise
Und manchmal, wenn auch eher selten, liest man etwas, was für das Spiel selbst interessant ist. Wie der hier:
Du hast nie kapiert, dass es beim Passen nicht darum geht, den Ball von A nach B zu bewegen, sondern einen freien Mann zu finden.
Oder der:
Das Problem im englischen Fußball ist, dass jeder sich für Stanley Matthews hält. Nicht dribbeln, laufen! Lauft, um zu provozieren.
Für Fußballtrainer ist Arbeitslosigkeit eigentlich der Standard. Seinen Job zu verlieren – oder kündigen zu müssen, weil er unhaltbar geworden ist – ist so unvermeidlich, wie ein paar Eigentore zu schießen, wenn man ein guter Vierer ist. Wie Platon schon sagte: Shit happens. Es tut immer weh, eine Mannschaft zu verlieren, die man trainiert hat, aber der hohe Lohn bei Erfolgen bedeutet, dass es auch ein hohes Risiko gibt, zu scheitern. Es ist wie bei Kapitalanlagen; immer, wenn ich mit meinem Vermögensberater essen gehe, erinnert er mich an die fünf Typen von Risikobereitschaft: risikoscheu, sicherheitsorientiert, ausgeglichen, gewinnorientiert, risikofreudig. Ich würde mich als sicherheitsorientiert einstufen, mit Neigung zu Optionen, die ein geringes Risiko, aber gleichzeitig auch nur ein begrenztes Ertragspotential bergen. Im Fußball ist das anders. Da geht’s immer um alles oder nichts: Wer nicht risikofreudig ist, hat auf der Trainerbank nichts verloren. Jeder, der das bezweifelt, braucht sich nur Mourinhos Haarfarbe anzusehen oder die Falten in Arsène Wengers und Manuel Pellegrinis Gesicht. Ohne Scheiß, erst wenn man seinen Job mal verloren hat, kann man von sich behaupten, sich seine Sporen verdient zu haben. Und machen wir uns nichts vor, der Trainer-Buhmann von heute kann schon morgen der nächste Messias sein. Brian Clough ist das beste Beispiel für einen Trainer, der bei einem Verein spektakulär gescheitert ist und beim nächsten herausragende Erfolge erzielt hat. Es ist eine verführerische Vorstellung, dass Leeds United zwei Europapokale in Folge gewonnen hätte, wenn sie nicht das Vertrauen in Clough verloren hätten. Genau genommen bin ich mir sicher, dass es so gekommen wäre.
Trotzdem ist es hart, kein Trainer mehr zu sein. Im Sommer war es leichter, aber jetzt, wo die Saison in vollem Gange ist, will ich einfach nur mit einer Mannschaft auf dem Platz sein – und wenn ich nur die Hütchen einsammle. Das Spiel fehlt mir, die Jungs von London City sogar noch mehr. Manchmal so sehr, dass es mich ganz krank macht. Im Moment komme ich mir als Person unvollständig vor. Ziellos. Etioliert. Das ist ein gutes Wort für einen arbeitslosen Trainer: Es bedeutet, seinen Elan und seine Substanz zu verlieren oder wegen Lichtmangels blass und verkümmert zu sein. Genauso fühle ich mich: etioliert. Aber so ein Wort darf man nicht bei Match of the Day benutzen, sonst laden sie einen kein zweites Mal ein. Ich sehe die Tweets schon vor mir.
Tatsache ist, man ist nur dann ein Trainer, wenn man jemanden trainiert, wie Harry Redknapp sagen würde. Wenn nicht – wenn man nur als Experte bei Match of the Day oder als Kandidat bei A Question of Sport auftritt –, was ist man dann eigentlich noch? Keine Ahnung, was genau ich überhaupt noch bin. Es gibt einen Tweet, der das ganz gut zusammenfasst, wie ich finde:
Jetzt, wo du nicht mehr bei City bist, Manson, wirst du merken: Im Fußball bist du nur ein Wichser unter vielen.
Jawoll, das trifft’s. Im Fußball bin ich nur ein Wichser unter vielen. Das ist weit schlimmer, als ein kellnernder Schauspieler zu sein, da ahnt ja schließlich niemand, dass man »eigentlich« Schauspieler ist. Aber ist man ein arbeitsloser Fußballtrainer, wissen gleich Gott und die Welt Bescheid. Wie der Typ neben mir heute Vormittag im Flieger nach Edinburgh.
»Sie finden sicher bald was Neues«, sagte er tröstend. »Als David Moyes von United gefeuert wurde, hab ich gleich gesagt, der trainiert bald wieder einen Spitzenverein. Bei Ihnen wird es genauso sein, jede Wette.«
»Ich wurde nicht gefeuert. Ich hab gekündigt.«
»Ist doch jedes Jahr dasselbe, Reise nach Jerusalem. Wissen Sie, Scott, ich glaube, wenn ein Verein Probleme hat, sollten die Leute im Hinterkopf behalten, dass ein Trainer Zeit braucht, um das Ruder herumzureißen. Gibt man ihm die, wird er es seinen Kritikern schon zeigen. In der Wirtschaft ist es ganz ähnlich. Nehmen Sie Marks & Spencer. Wie viele Geschäftsführer hatte Marks & Spencer, seit Sir Richard Greenbury 1999 seinen Hut genommen hat?«
»Keine Ahnung.«
»Schuld ist nicht der Geschäftsführer, sondern das ganze Einzelhandelskonzept. Tatsache ist, die Leute wollen ihre Klamotten nicht am selben Ort kaufen wie ihre Sandwiches. Stimmt’s oder hab ich recht?«
Mit Blick auf die Kleidung meines Sitznachbarn war ich mir da nicht so sicher. In dem braunen Anzug zum lachsfarbenen Hemd hatte er etwas von einem Krabbensandwich, aber ich nickte nur höflich und wartete ungeduldig auf den Moment, in dem ich mich wieder in Roy Keanes fesselndes Buch vertiefen konnte. Er kam nie, und als ich von Bord ging, wünschte ich mir, ich hätte Kappe und Sonnenbrille getragen wie Ian Wright. Ich mag zwar weder Sonnenbrillen noch Kappen, aber noch weniger mag ich Fußball-Smalltalk mit Fremden. Da seh ich lieber selbst aus wie ein Vollpfosten, als mich den gesamten Flug über mit einem zu unterhalten.
Es war seltsam, nach so vielen Jahren wieder nach Edinburgh zurückzukommen. Eigentlich hätte ich mich hier mehr zu Hause fühlen müssen – immerhin hatte ich einen Großteil meiner Jugend hier verbracht –, aber ich tat es nicht. Stattdessen hätte ich mir nicht fremder oder mehr fehl am Platz vorkommen können. Und es lag nicht nur an der Vergangenheit, dass mir Schottland wie Ausland vorkam, oder an dem Referendum, das vor kurzem stattgefunden hatte. Ich hatte den Hass der Schotten auf die Engländer schon als Junge nicht geteilt, und heute teilte ich ihn noch viel weniger, besonders, seit ich meine Zelte in London aufgeschlagen hatte. Nein, ich fühlte mich aus einem viel persönlicheren Grund isoliert. Denn ehrlich gesagt hatte ich mich wegen meiner Hautfarbe nie so recht als echter Schotte fühlen können. Alle Kinder in meiner Klasse waren sommersprossige, grünäugige Kelten, ich dagegen ein halber Schwarzer – oder, wie die Schotten mich früher nannten, »ein Halbblut« –, weshalb man mir den Spitznamen Negerkuss gab. Selbst meine Lehrer in Edinburgh haben mich so genannt, und obwohl ich es nie gezeigt hätte, tat es weh. Ziemlich sogar. Und ich habe es immer als bittere Ironie des Schicksals empfunden, dass ich, sobald ich auf eine Schule in England wechselte – mit einem schottischen Akzent, den ich seitdem längst abgestreift habe – den Spitznamen Jock bekam. Nicht, dass die Jungs der Northampton School for Boys nicht rassistisch gewesen wären, aber sie waren es zumindest weit weniger als ihre schottischen Pendants.
Ich hatte das Glück, dass notfalls ein Platz im Vorstand der Firma meines Vaters auf mich wartete, aber das hielt mich natürlich nicht davon ab, mich umzusehen, was es da draußen sonst noch so gab. Tempest O’Brien, meine Agentin, war der festen Überzeugung, es sei wichtig für mich, mich mit so vielen Leuten wie möglich zu treffen.
»Nicht nur deine Leistungen machen dich zu einem guten Fang«, sagte sie zu mir, »sondern du als Ganzes, das GQ-Gesamtpaket. Du bist einer der eloquentesten und intelligentesten Männer, die ich kenne, Scott. Scheiße, fast hätte ich gesagt, im Fußball, aber das heißt nicht viel, stimmt’s? Außerdem halte ich es für absolut notwendig, dass die Leute sehen, dass du dich nicht einfach nur zurücklehnst und von deinen – laut den Zeitungen beträchtlichen – Einkünften als einer der Direktoren von Pedila Sports lebst. Also ist es wichtig, dass du das runterspielst. Wenn die Leute glauben, dass du nicht arbeiten musst, werden sie versuchen, dich billig einzukaufen. Darum schicke ich dich zuerst nach Edinburgh. Bei den Hibs ist eine Stelle frei. Niemand wird versuchen, dich billiger einzukaufen als ein Club der Scottish Championship. Ich weiß, dein Vater ist eingefleischter Hearts-Fan, aber rede doch mal mit denen, das wäre ein guter Anfang. Besser, du machst da ein paar Fehler und feilst an deinen Vorstellungsgespräch-Techniken, wo es noch keine Rolle spielt, als irgendwo, wo es wichtig ist, wie in Nizza oder Shanghai.«
»Shanghai? Was zum Teufel soll ich in Shanghai?«
»Hast du Skyfall nicht gesehen, den Bond-Film? Shanghai ist eine der futuristischsten Städte der Welt und schwimmt in Geld. Da zu arbeiten wäre eine gute Erfahrung. Besonders, wenn die Chinesen anfangen, Fußballvereine in Europa aufzukaufen. Und laut Gerüchteküche haben sie genau das vor. Die Chinesen sind ein zupackendes Volk, Scott, und zupacken werden sie. Wenn die Russen die Schnauze voll von ihren Vereinen haben oder wenn sie nach dem Zusammenbruch des Rubels irgendwann gezwungen sind, sie zu verramschen, an wen werden sie dann verkaufen? An die Chinesen natürlich. In zwanzig Jahren sind die Chinesen die Nummer eins der Wirtschaftssupermächte. Und wenn China die Welt regiert, ist Shanghai die Hauptstadt dieser Welt. Sie haben da im Dezember 2007 angefangen, eine neue Straßenbahn zu bauen, und weniger als zwei Jahre später war sie fertig. Vergleich das mal mit Edinburgh. Wie lange haben die da an ihrer Bahn rumgebastelt? Sieben Jahre? Eine Milliarde Pfund hat die gekostet, und die Schotten nörgeln immer noch rum wegen der Unabhängigkeit.«
Die Straßenbahn – die vom Edinburgh Airport direkt in die Straße meines Hotels fahren sollte – war an diesem Vormittag gerade außer Betrieb; ein Stromausfall, wie man mir sagte. Also nahm ich den Bus. Kein sehr verheißungsvoller Anfang. Und Tempest hatte noch in einem weiteren Punkt recht: Die Schotten nörgelten tatsächlich immer noch wegen der Unabhängigkeit rum.
Ich checkte im Balmoral Hotel ein, aß im nahegelegenen Café Royal Austern und ging dann den Leith Walk runter zur Easter Road, um mir das Spiel von Hibernian Edinburgh gegen Queen of the South anzusehen. Stadion und Spielfeld waren besser, als ich sie in Erinnerung hatte, und offenbar waren nur zwischen zwölf- und fünfzehntausend Leute da – ein himmelweiter Unterschied zur Rekordbesucherzahl von 1950, als beim Spiel der Hibs gegen ihren Lokalrivalen, die Hearts, fünfundsechzigtausend Menschen zuschauten. Es war ein kalter, sonniger Nachmittag, ideal für eine Partie Fußball, und obwohl die Gastgeber fast das gesamte Spiel dominierten, konnten sie ihre Torchancen nicht nutzen. Paul Hanlon und Scott Allan hatten die Tore schon auf dem Fuß, doch die Hibs verpassten die Gelegenheit, mit einer Mannschaft punktgleich zu ziehen, die sie locker hätten schlagen müssen. Die Queens sahen hochzufrieden aus, mit dem torlosen Unentschieden einen Punkt abzustauben, was den Fans in Edinburgh gar nicht schmeckte. Jason Cummings war so ziemlich der Einzige, der mich beeindrucken konnte, als sein Schuss aus knapp dreißig Metern Entfernung vom Keeper der Queens, Zander Clark, gehalten wurde. Aber es war nicht gerade ein unvergessliches Spiel, und nach allem, was ich gesehen hatte, würde den Hibs, die mehr als zehn Punkte hinter dem Tabellenführer zurücklagen, ein weiteres Jahr der Aufstieg in die schottische Premiership verwehrt bleiben.
Ich ging ins Hotel zurück, bestellte mir einen Tee, der nie gebracht wurde, nahm ein heißes Bad, verdöste die Fußballergebnisse und Strictly for Morons und ging danach um die Ecke in ein Restaurant namens Ondine, wo ich mich mit Midge Meiklejohn treffen wollte, einem der Sportdirektoren. Er war ein umgänglicher Mann mit roter Mähne und grünen Augen. Das Hibernian-Edinburgh-Wappen an seinem Revers erinnerte mich daran, wie alt der Club war: 1875. Und natürlich war diese stolze Tradition eins der Hauptprobleme dieses Vereins. Beziehungsweise jedes altehrwürdigen Vereins.
Wir sprachen eine Weile über Fußball im Allgemeinen und teilten uns eine ausgezeichnete Flasche Sancerre, bevor er mich nach meiner Meinung über das Spiel, und noch wichtiger, die Hibs selbst fragte.
»Nehmen Sie es mir nicht übel«, sagte ich, »aber Ihre Probleme liegen nicht auf dem Platz, sondern im Vorstand. Sie hatten jetzt wie viele Trainer – sieben in zehn Jahren? –, die wahrscheinlich alle ihr Bestes gegeben haben, soweit das unter den Umständen möglich war. Ihr aktueller Trainer leistet fantastische Arbeit, und es wird nicht besser, bis Sie das Grundproblem beseitigt haben: Fußballvereine sind wie Regionalzeitungen. Es gibt einfach zu viele. Die Preise steigen, das Publikum schrumpft. Zu viele Zeitungen, die um zu wenige Leser buhlen. Dasselbe gilt für den Fußball. Es gibt zu viele Vereine, die nicht nur untereinander konkurrieren, sondern auch mit dem Fernsehen. Sie haben heute vielleicht zwölftausend Pfund an Eintrittsgeldern kassiert, aber einige Ihrer Spieler kriegen zwei, drei Riesen die Woche, vielleicht sogar mehr. Ihre Lohnkosten fressen zwei Drittel der Eintrittsgelder. Bleiben noch die laufenden Kosten und die Bank. Ihr Unternehmen blutet aus. Vollzeitfußball ist für Sie einfach keine tragfähige Option mehr, was, mit zwei Ausnahmen, für alle schottischen Clubs gilt.«
»Was wollen Sie damit sagen? Dass wir die Flinte ins Korn werfen sollen?«
»Überhaupt nicht. Aber so, wie ich das sehe, bleiben Ihnen nur zwei Möglichkeiten, als Club zu überleben. Entweder Sie machen es wie die Schweden – Vereine wie Göteborg –, und die meisten Spieler arbeiten in Teilzeit als Anstreicher oder Dekorateure. Oder es gibt noch das, was ein französischer Philosoph ›la détestable solution‹ nennt. Eine Lösung, die geschäftlich vollkommen Sinn ergibt, aber die Fans nach Ihrem Kopf brüllen lassen wird, Midge, und auch nach dem aller anderen Vorstandsvorsitzenden.«
»Und welche?«
»Eine Fusion. Mit den Hearts. Um einen neuen Edinburgher Verein zu gründen. Edinburgh Wanderers. Midlothian United.«
»Das kann nicht Ihr Ernst sein. Außerdem wurde das schon überlegt. Und verworfen.«
»Ich weiß. Aber das heißt noch lange nicht, dass es die falsche Lösung ist. Edinburgh ist nicht Manchester, Mitch. Es kann kaum ein gutes Team ernähren, von zwei ganz zu schweigen. Mit den Aktiva des einen Vereins könnten Sie die Schulden abbezahlen und für beide eine Zukunft aufbauen. So läuft das in der Wirtschaft. Das einzige Problem sind die Anhänger. Die Hibs und die Hearts haben zwei der ältesten Fangemeinden Schottlands. Aber bei Inverness Caley Thistle hat es auch funktioniert. In weniger als zwei Jahrzehnten haben sich zwei erfolglose Vereine zusammengeschlossen und sind aus der schottischen Regionalliga bis auf den zweiten Platz der Premiership aufgestiegen. Die Vorteile einer Fusion überwiegen eindeutig. Sie wissen es. Ich weiß es. Selbst die Fans wissen es, rein verstandesmäßig zumindest. Das einzige Problem ist, dass sie nicht mit dem Kopf denken, sondern mit dem Herzen. Wenn Sie mir den Ausdruck verzeihen.«
»Das sind keine normalen Leute«, sagte Midge. »Sie kennen sich mit Hass aus, aber vor allem mit Gewalt. Ich bräuchte wahrscheinlich Polizeischutz. Müsste die Stadt verlassen. Wir alle müssten das.«
»Anders haben Sie aber keine Chance. Das gilt auch für die meisten Vereine Nordenglands. Auch die lassen sich von Geschichte und Tradition das Leben schwer machen. Da gibt es dieses schwarze Loch namens Premier League, das alles im englischen Fußball ansaugt, deformiert und verschlingt, was sich ihr nähert. Die großen Vereine werden immer erfolgreicher, und die armen verschwinden. Wer will schon zwanzig Pfund dafür hinblättern, sich anzusehen, wie Northampton Town vom Platz gefegt wird, wenn man Arsenal auch vom behaglichen Eigenheim aus anfeuern kann? Das ist die Physik des Fußballs, Midge. Gegen Naturgesetze kommt man nicht an.«
»Es ist doch nur ein Spiel«, sagte Midge. »Das vergessen diese Spinner manchmal. Nur ein Spiel.«
»Bloß ist es für die das einzige Spiel überhaupt.«
Ich ging zurück ins Hotel, um mir Match of the Day anzusehen, obwohl es sich kaum lohnte, weil es nur um schottische Spiele ging. Nicht, dass es bei all den internationalen Verpflichtungen irgendwelche englischen Premier-League-Spiele gegeben hätte, also musste ich mir wenigstens nicht ansehen, wie Arsenal eine Drei-zu-null-Führung vergeigt, wie neulich in der Champions League gegen Anderlecht. Das hatte mich allerdings weit weniger getroffen, als es hätte sollen. Seit ich Fußball wieder mit den Augen eines gewöhnlichen Fans sah, hatte ich etwas wirklich Wunderbares an diesem wunderbaren Sport zu schätzen gelernt. Und zwar: Verlieren lernen ist ein unverzichtbarer Bestandteil des Fandaseins. Verlieren lehrt einen, in den Worten von Mick Jagger: You Can’t Always Get What You Want. Das ist eine der wichtigsten Lektionen für einen Menschen – vielleicht die wichtigste von allen. Lernen, mit Enttäuschungen klarzukommen, gehört zur Charakterbildung. Rudyard Kipling hat das mal ganz passend ausgedrückt. Es hilft im Leben, wenn man Triumph und Desaster mit der gleichen Gelassenheit betrachten kann. Die alten Griechen wussten, wie wichtig es den Göttern war, dass Menschen Schicksalsschläge klaglos hinnehmen konnten. Sie hatten sogar ein Wort dafür, wenn man es nicht kann: Hybris. Niederlagen schlucken und die Fresse halten macht einen anständigen Menschen aus einem. Nur Faschisten versuchen, einem etwas anderes einzureden. Ich dagegen halte das für die wahre Bedeutung von Bill Shanklys oft zitierter Bemerkung, beim Fußball gehe es nicht um Leben und Tod, es sei viel ernster als das. Ich glaube, eigentlich meinte er Folgendes: Charakter und Courage zählen mehr als Sieg oder Niederlage. Natürlich darf man das als Trainer nicht laut sagen. Die Spieler in der Umkleide vertragen nur ein begrenztes Maß an Philosophie. Der Scheiß zieht vielleicht auf dem Centre Court in Wimbledon, aber im Anfield oder Old Trafford kommt man damit nicht weit. Es ist so schon schwer genug, elf Männer dazu zu bringen, wie eine Einheit zu spielen, da muss man ihnen nicht auch noch erzählen, dass es völlig okay ist, auch mal zu verlieren.
Tempest O’Brien war eine von drei Fußballagentinnen in der Branche. Rachel Anderson war die Erste gewesen, die bekanntlich – erfolgreich – die Professional Footballers’ Association verklagt hat, als man ihr 1997 verbieten wollte, am PFA-Dinner teilzunehmen, obwohl sie eine bei der FIFA registrierte Fußballagentin ist. Rachel hat Frauen wie Tempest den Weg geebnet, die ich als meine Agentin verpflichtet hatte, bevor ich bei Zarco und London City anfing. Ehe sie Fußballagentin wurde, hat sie für Brunswick PR und die International Management Group gearbeitet. Sie war clever, sah toll aus und gab jedem, mit dem sie zu tun hatte, das Gefühl, genauso schlau zu sein wie sie. Im Fußball ging es vielleicht weniger rassistisch zu als früher, aber Typen wie Andy Gray und Richard Keys waren auch 2011 noch lebende Beweise dafür, dass Fußball eine Bastion des Sexismus ist. Ich muss es wissen, ich bin manchmal selbst ein bisschen sexistisch, aber als schwarzer Fußballtrainer hielt ich es für meine Pflicht, wenigstens ein paar Barrieren auszuräumen, also habe ich Tempest die Chance gegeben, mich zu vertreten. Ich habe es nur einmal bereut. Vor ein paar Jahren, als wir zusammen bei der Verleihung des Ballon d’Or in Zürich waren und beide im Baur au Lac Hotel wohnten, wären wir fast im Bett gelandet. Sie wollte, ich wollte, aber irgendwie hat die Vernunft gesiegt, und wir haben es geschafft, den Abend allein in unseren jeweiligen Zimmern zu verbringen. Sie sieht ein bisschen aus wie Cameron Diaz, also verstehen Sie sicher, warum ich es – zumindest zum damaligen Zeitpunkt – bereute, nicht mit ihr ins Bett gegangen zu sein, so, wie es jeder Mann getan hätte. Tempests zweiter Vorschlag war, dass ich einen Job beim OGC Nizza annehmen sollte.
»Eigentlich weiß ich nicht mal genau, ob es überhaupt einen Job gibt«, gab sie zu, »und ich glaube, sie sind sich selbst nicht ganz sicher. Typisch Franzosen, die lassen sich nicht gern in die Karten schauen. Außerdem ist mein Französisch nicht so gut, dass ich zwischen den Zeilen lesen könnte. Du sprichst es doch fließend, und ich vermute mal, du kriegst schon raus, wie der Hase läuft. Aber es ist Nizza, die spielen in der Ligue 1, also kann es nicht schaden, wenn du dich mit denen triffst und sie merken, dass du genau der richtige für den Job bist. Wenn nicht jetzt, dann vielleicht irgendwann in Zukunft. Ich kann mir keinen schöneren Arbeitsplatz vorstellen. Sie haben ein Treffen in Paris vorgeschlagen, wo sie diesen Samstag gegen PSG spielen. Dürfte ein gutes Spiel werden. Nimm Louise doch mit. Sucht euch ein schickes Hotel und habt Sex bis zum Abwinken.«
Lauter gute Ratschläge, und meine Freundin, Louise Considine, ließ sich nicht lange bitten. Sie ist Detective Inspector bei der Metropolitan Police und hatte noch jede Menge Überstunden abzufeiern, und so bestiegen wir an einem frühen Samstagmorgen im November den Eurostar nach Paris.
»Du brauchst nicht mit zum Spiel zu kommen«, sagte ich zu ihr. »An deiner Stelle würde ich in den Galeries Lafayette shoppen gehen oder das wiedereröffnete Picasso-Museum besuchen.«
»Na, wenigstens hast du nicht gesagt, kauf dir teure Reizwäsche«, sagte sie und verdrehte die Augen. »Oder geh zum Friseur, lass dir die Haare machen. Da kann ich mich wohl glücklich schätzen.«
»Hab ich was Falsches gesagt?«
»Was für eine Freundin wäre ich denn, wenn ich dich an diesem Wochenende auch nur eine Sekunde allein lassen würde? Ich will, dass wir zusammen schlafen, zusammen baden und zusammen zum Fußball gehen. Ich habe nur eine Bedingung, und zwar, dass du deinen grässlichen Pyjama zu Hause lässt.«
»Aber der ist aus Seide«, wandte ich ein.
»Ist mir egal, ob er früher dem Sonnenkönig gehört hat. Im Bett will ich deine nackte Haut spüren. Klar?«
»Jawohl, Frau Inspector.«
Im Zug wimmelte es vor Leuten, die zu Vorweihnachtseinkäufen unterwegs waren, darunter auch ein paar grölende Fußballfans, die mich in der Abfertigungshalle für internationale Züge entdeckten und im Chor sangen:
»Du hast dich verpisst, denn du bist scheiße, Scott, du hast dich verpisst, denn du bist scheeiiiiße.«
Alles in allem halb so wild. Ich habe mir schon weit Schlimmeres anhören müssen. Und im Gegensatz zu denen war ich mit einer wunderschönen Blondine am Arm zur Gare du Nord unterwegs, auch wenn sie ein Bulle war.
»Stört dich das nicht?«, fragte sie.
»Ach was.«
»Gut. Weil ich heutzutage nur noch Leute bei Twitter hopsnehmen darf. Richtige Verbrecher und Kriminelle einzubuchten ist offenbar eine Verschwendung von Polizeiressourcen.«
»Das glaube ich dir sogar fast.«
»Es stimmt.«
In Paris checkten wir in unser Hotel ein und gingen mittagessen. Selbst in Paris geht das Essen manchmal vor, auch wenn Louise das etwas anders sah.
»Wenn man zu einem Spiel geht, muss man soupe à l’oignon in sich haben«, sagte ich. »Von cassoulet und einer Flasche Riesling ganz zu schweigen.«
»Ich brauche eigentlich was ganz anderes«, sagte Louise. »Sobald wir fertig sind, gehen wir zurück aufs Zimmer und du vögelst mir das Hirn raus.«
Nach einem exzellenten Essen gingen wir zurück ins Hotel, wo ich gerade noch Zeit hatte, ihr das Hirn rauszuvögeln, bevor wir die Métro von Alma Marceau nach Porte de St-Cloud nehmen mussten.
Ich fuhr gern mit der Métro zu Fußballspielen. Hier erkannte mich niemand, und es war, als wäre ich wieder ein ganz normaler Fan – selbst in Edinburgh musste ich mir auf dem Weg vom Leith Walk zur Easter Road ein paar blöde Sprüche anhören. Die Paris-Saint-Germain-Fans in der Métro rochen jedenfalls verdammt echt; es war wie in einer Bar. Aber alle benahmen sich, und ich konnte keine Spur der Hooligans entdecken, die es bei PSG geben sollte, was im Jahr 2006 dazu geführt hatte, dass ein Fan nach einem rassistischen Übergriff auf einen Hapoel-Tel-Aviv-Anhänger von der Pariser Polizei erschossen wurde. Den Leuten vom FC Millwall gibt es vielleicht einen Kick, dass keiner sie ausstehen kann, aber niemand hasst sie so sehr, dass er sie umnietet. Bis jetzt zumindest.
Vor dem Parc des Princes gab es mehr Bullen auf der Straße als Liebesschlösser an der Pont des Arts, und sie sahen aus, als würden sie es verdammt ernst meinen. Die meisten waren bis an die Zähne bewaffnet und für einen Aufstand gerüstet, was aber sehr wahrscheinlich unnötig war: Nicht Nizza, sondern Marseille – zu dem Zeitpunkt Tabellenführer – waren die Erzrivalen von PSG.
»Die gehen echt auf Nummer sicher, was?«, sagte Louise.
»Jedes Mal, wenn ich nach Paris komme, hab ich das Gefühl, es sind mehr Bullen unterwegs. Schätze, wenn man in Frankreich einen Job braucht, geht man am besten zuerst zur Gendarmerie. Anscheinend traut die französische Regierung ihrem Volk nicht.«
»Kannst du es ihr verdenken?« Es sah Louise ähnlich, die Polizei eines anderen Landes zu verteidigen. »Zwischen 1789 und 1871 gab es in dieser Stadt fünf Revolutionen. Manchmal kommt’s mir so vor, als würde fast jedes Wochenende gestreikt. Die Franzosen sind schon ein renitentes Volk.«
»Die Welt spricht Englisch, da haben die hier guten Grund, renitent zu sein. Ich bewundere ihre Entschlossenheit, an dem festzuhalten, was sie zu Franzosen macht. Davon könnten wir uns in England eine Scheibe abschneiden. Oder von den Schotten. Wir könnten ein Referendum abhalten, ob wir sie aus Großbritannien rausschmeißen. So was in der Art.«
»Hast du mal überlegt, UKIP-Mitglied zu werden?«, fragte sie.
Der Olympique Gymnaste Club de Nice Côte d’Azur belegte den elften Platz von zwanzig der Ligue 1, und Paris Saint-Germain den zweiten. Nizza, gegründet 1904, war sieben Jahrzehnte älter und schlug sich weit besser, als man es nach dem Spieler-Ausverkauf im Sommer erwartet hätte. Paris hatte seit Saisonbeginn nicht ein Spiel verloren, und obwohl ich mich darauf freute, Thiago Silva, David Luiz und Zlatan Ibrahimović für PSG in Aktion zu erleben, war es die Pariser Nummer neun, Jérôme Dumas, die mich am meisten beeindruckte. Er war schnell wie ein geölter Blitz und genauso unvorhersehbar, außerdem einer der stärksten Linksfüßer, die ich je gesehen habe; am ehesten erinnerte er mich an Lionel Messi. Seltsam, dass es Gerüchte gab, dass er zum Verkauf stand. Er war ständig in Bewegung und hätte sicher ein Tor geschossen, wenn er und Edinson Cavani, der wegen seines extravaganten Auftretens auf dem Platz den Spitznamen »der Matador« trug, besser kommuniziert hätten. Zlatan hatte zwar das einzige Tor – einen Strafstoß – erzielen können, doch die Pariser konnten nicht überzeugen, und nach ihrem Tor in der siebzehnten Minute nahm PSG unerklärlicherweise den Fuß vom Gas und überließ den Niçois das Spiel, die das Pech hatten, ohne einen Punkt nach Hause zu gehen.
Zurück im Plaza duschten wir kurz und gingen dann essen.
Am folgenden Morgen ließ ich Louise im Bett zurück und ging nach unten, um mit Gérard Danton zu frühstücken, einem der Direktoren des OSG Nizza. Er war ein gut aussehender, gut angezogener Mann um die vierzig, und ich war froh, dass ich auf Louise gehört hatte und einen blauen Blazer, ein Hemd und eine neue Krawatte von Charvet trug, die sie mir am Vortag gekauft hatte. Wir unterhielten uns auf Französisch, das ich sehr gerne spreche, wenn auch nicht so flüssig wie Spanisch oder Deutsch.
»Nettes Hotel«, sagte Danton. »Hier bin ich noch nie abgestiegen. Normalerweise wohne ich im Le Meurice. Aber ich glaube, dieses gefällt mir noch besser.«
»Meine Freundin würde Ihnen vermutlich zustimmen. Und es ist natürlich praktisch, nur einen Katzensprung von der Métro entfernt.«
Er runzelte die Stirn, als würde er nicht ganz verstehen, warum jemand, der im Plaza wohnt, die Métro in irgendeiner Form für wichtig halten könnte.
»Ich bin damit zum Spiel gefahren«, fügte ich hinzu.
»Sie haben die Métro zum Parc des Princes genommen?« Er klang überrascht, als wäre ihm selbst das nie in den Sinn gekommen.
»Geht schneller als mit dem Auto. Ich war ratzfatz da. Außerdem fahre ich gerne mit der U-Bahn zu Spielen. In London kann ich das nicht. Zumindest im Moment. Das wäre der reinste Spießrutenlauf.«
Er sah aus dem Fenster in den Hof des Hotels. »Was bauen die da draußen?«
»Anscheinend eine Eisbahn.«
Danton schauderte. »Paris ist mir zu kalt«, sagte er. »Ich mag den Süden lieber. Ich nehme an, Sie waren schon in Nizza?«
»Oft sogar. Ich liebe die Riviera. Besonders Nizza. Es ist der einzige Teil der Côte d’Azur, der sich anfühlt wie eine richtige Stadt.«
»Mit allen dazugehörigen Problemen.«
»Nicht allen. Sie haben das angenehmste Klima in ganz Europa. Spanien und Italien sind zu heiß. Nizza ist ideal. Genau richtig.«
»Sagen Sie mal, warum zum Teufel haben Sie London City verlassen? Sie waren doch so erfolgreich.«
»Es stimmt, ich liebe den Verein, und er fehlt mir mehr und mehr. Schätze, ich war zu idealistisch. Man könnte sagen, ich habe an eine bestimmte Form von Fußball geglaubt. Vielleicht war ich einfach nicht pragmatisch genug.«
»Eine sehr diplomatische Antwort.«
»Ich fürchte, es ist die einzige, die Sie kriegen werden. Es ist wirklich besser, wenn ich nicht mehr dazu sage. Seit Tony Blair und George Bush steht Diplomatie sowieso im Ruch der Lüge.«
»Na schön. Wie fanden Sie unser Spiel?«
»Die erste halbe Stunde war schwierig für Sie. Den Elfmeter hätten die nirgendwo sonst bekommen. Aber Claude Puel hat seine Spieler hervorragend aufgestellt, und Sie haben den Sturm ausgesessen, der zum Glück nicht lange gedauert hat. Genau genommen haben die Sie zurück ins Spiel gelassen, als sie den Riegel hätten vorschieben müssen. Wenn Sie mit dem gleichen Einsatz spielen, den Sie in der zweiten Hälfte gezeigt haben, dann haben Sie eine gute Saison vor sich, Mr. Danton. Wenn man bedenkt, dass Ihnen einige wichtige Leute gefehlt haben, finde ich, Sie haben ein gutes Spiel abgeliefert. PSG hatte Glück, mit drei Punkten vom Platz zu gehen.«
»Trotzdem, wir haben in den letzten vier Spielen nur einen Punkt geholt. Wie richten wir das Ganze wieder? Wie sollen wir in Nizza weitermachen? Was läuft falsch?«
»Meiner Ansicht nach nichts. Gar nichts. Es ist nur so, dass Sie nicht mit Geld aus Katar um sich werfen wie mit Konfetti und sich Leute wie Cavani, Ibrahimović, Luiz, Silva oder Dumas kaufen können. PSG hat sich den zweiten Platz erkauft, genau wie Manchester City. Wenn Sie einen dieser Spieler hätten, würde es für Sie vielleicht anders aussehen. Haben Sie eventuell noch irgendwo fünfunddreißig Millionen auf der hohen Kante liegen, um Jérôme Dumas einzukaufen? Wie ich höre, will PSG ihn im Januar abstoßen.«
Danton schüttelte den Kopf. »Wir hatten einen schwierigen Sommer, mussten unsere Gehaltskosten drastisch senken. Den könnten wir uns nie leisten.« Er zuckte die Schultern. »Niemand kann das, wenn er keinen arabischen oder russischen Daddy hat, der jedes Spielzeug kauft, das er will.«
»Ölgelder verzerren das Geschäft. Nicht nur im Fußball. Sehen Sie sich die Leute in diesem Hotel an. Die schmeißen mit Geld um sich wie nichts Gutes.«
»Stimmt. Aber im Le Meurice ist es genauso.«
Ich zuckte die Achseln. »Sie hatten einen starken Auftritt, Mr. Danton. Puel leistet gute Arbeit. Ich könnte es garantiert nicht besser. Nicht mit Ihren Ressourcen. Ihr Torhüter Mouez Hassen hat gut gehalten. Der hat Ihnen die Haut gerettet. Und wenn Eysseric getroffen hätte, würden wir vielleicht ein anderes Gespräch führen. In der ersten Halbzeit hat Ihnen der Ball anscheinend die Füße verbrannt. In der zweiten haben Sie richtig losgelegt. Ich sehe nicht viel, was man verändern müsste. Außer vielleicht, dass Sie Ihren Spielern sagen können, dass sie sich ein bisschen locker machen und das Spiel genießen sollen. Was mich zu der Frage bringt, wozu wir überhaupt hier sind.«
»Wir machen einen kleinen Schaufensterbummel. Wie jeder in Paris. Wer kann sich in dieser Stadt etwas anderes leisten? Mal abgesehen von den Russen und Arabern.«
»Vergessen Sie nicht die Chinesen. Die haben vielleicht noch nicht ganz so viel Geld, geben aber anscheinend mehr davon in Paris aus.«
»Nicht jeder wäre so ehrlich gewesen wie Sie, Mr. Manson. Besonders, wenn er arbeitslos ist. Diese Art von Ehrlichkeit spricht Bände über den Charakter, und aus demselben Grund bewundere ich einen Mann, der sich nicht zu fein ist, die Métro zu nehmen. Also hoffe ich, Sie erlauben mir, für Ihr Wochenende aufzukommen. Sie haben mir heute Morgen nämlich eine hübsche Stange Geld gespart. Und das ist doch wohl das Wichtigste. Ganz besonders in Paris.«
Den besten Blick auf Shanghai hat man nachts, wenn die riesige, neonbeleuchtete Stadt aussieht wie ein prächtiges, mit schwarzem Samt ausgeschlagenes Schmuckkästchen voll funkelnder roter Rubine, glitzernder Diamanten und strahlend blauer Saphire. Tempest hatte recht. Es war genau wie in Skyfall, nur dass ich nicht vorhatte, irgendwen abzuknallen. Auch wenn es vermutlich niemandem aufgefallen wäre. Ich hatte noch nie so viele Menschen auf einem Haufen gesehen. Shanghai hat über zwanzig Millionen Einwohner, kaum vorstellbar, dass der Einzelne da viel zählt. Außerdem ist oft schwer zu sagen, was gerade vor sich geht. Alles sieht aus wie in einer ganz normalen Großstadt, aber wenn man fast nichts lesen kann, fühlt man sich leicht verloren und überfordert. Erstens das, und zweitens konnte ich die Chinesen kaum auseinanderhalten, was nicht rassistisch ist, wenn man bedenkt, dass sie wahrscheinlich das gleiche Problem mit den Leuten aus dem Westen haben.
Mein Gastgeber war der chinesische Milliardär Jack Kong Jia, der mir von Tempest ein Angebot hatte zukommen lassen, seinen Fußballverein Shanghai Xuhui Nine Dragons zu trainieren, mit einem vorläufig auf sechs Monate befristeten Vertrag. JKJ, wie er allgemein genannt wurde, war der Besitzer der Nine Dragons Mining Company und angeblich sechs Milliarden Dollar schwer, was erklärte, warum ich im 88. Stock des Park Hyatt Hotel, einem der höchsten der Welt, in der Präsidentensuite untergebracht war, die achttausend Pfund pro Nacht kostete.
»Jack Kong Jia sieht sich angeblich nach einem englischen Fußballclub um«, hatte mir Tempest in London erklärt. »Er sucht nicht nur einen Trainer für Shanghai, sondern jemanden, der sich im englischen Fußball auskennt und ihn beraten kann, also kann es nicht schaden, wenn du dich gut mit ihm verstehst.«
»Und welchen Club? Irgendeine Vorstellung?«
»Reading. Leeds. Fulham. Such dir einen aus. Als Besitzer eines Fußballvereins darf man kein Feigling sein, so viel ist sicher. Da braucht man schon den Mut von neun Drachen.«
»Ich weiß nicht, ob ich Lust habe, schon wieder für einen ausländischen Milliardär zu arbeiten«, sagte ich. »Das hab ich schon gemacht, erinnerst du dich? Hat mir nicht gefallen.«
»Genau darum ist das mit dem Sechs-Monats-Vertrag eine gute Idee. So hast du Zeit zu entscheiden, ob ihr miteinander klarkommt oder nicht. Hör zu, Scott, dieser Typ könnte der nächste Roman Abramowitsch oder Scheich Mansour werden, und seien wir realistisch, es ist nicht so, als hättest du im Moment bessere Angebote.«
»Stimmt. Aber es ist auch nicht so, als würde ich das Geld brauchen. Ich kann es mir leisten, auf das richtige Angebot zu warten. Und ich bin mir nicht sicher, ob das das richtige ist. Ich kann ja nicht mal Chinesisch.«
»Ich habe zwar nur mit ihm telefoniert, aber Mr. Jia spricht perfekt Englisch, also ist das kein Problem. Und die Hälfte der Mannschaft kommt aus Europa.«
Ich schnaubte. »Ich denke ständig, es müsste doch irgendeinen Verein in Deutschland geben, den ich trainieren kann. Immerhin spreche ich fließend Deutsch. Und mir gefällt’s da.«
»Du warst noch nie in Shanghai, oder?«, fragte sie.
»Nein.«
»Also, wenn du mich fragst, wäre es rückwärtsgewandt, wenn du die Gelegenheit ausschlägst.«
»Sprichst du aus Erfahrung?«
»Nein.«
»Das ist also nur eine Mutmaßung.«
»Nenn es Intuition. Hör zu, Scott, du hast mich doch unter anderem deshalb angestellt, weil du mir in einer ausschließlich von Männern dominierten Branche eine Chance geben wolltest. Das heißt, du musst akzeptieren, dass ich auch mal über den Tellerrand gucke. Außerdem muss ich von irgendwas leben, und wenn ich dich vertreten soll, muss ich dich daran erinnern, dass ich im Moment zehn Prozent von Nullkommanichts verdiene. Also bitte. Gib dem Ganzen eine Chance.« Sie hatte meine Hand genommen und sie liebevoll geküsst. »Und Kopf hoch. Lach mal. Es geht schon wieder aufwärts, da bin ich ganz sicher.«
»Okay. Wahrscheinlich hast du recht. Ich fliege hin.«
»Und wenn du da bist, rede dich nicht um den Job, wie du es in Paris getan hast. Sei nicht so fürchterlich ehrlich. Der jetzige Trainer, Nicola Salieri, hat schon gekündigt. Jia hat anscheinend eine sehr hohe Meinung von dir. Du brauchst nur zum Spiel zu gehen und dir anzuhören, was er zu sagen hat.«
Jia empfing mich in seiner luxuriösen Privatloge im dreißigtausend Zuschauer fassenden Yu Garden Stadion, in dem Shanghai Xuhui – im blau-roten Heimtrikot, das verdächtige Ähnlichkeit mit dem von Barcelona hatte – gegen Guangzhou Evergrande spielte. Er war ein gut aussehender Mann Anfang dreißig mit Michael-Caine-Brille, amerikanischem Akzent, einer diamantenverzierten Armbanduhr, die so groß war wie die Krone der Queen, und einer kleinen Chinafahne im Knopfloch. Wir wurden sehr aufmerksam von acht bildschönen Chinesinnen bedient, alle mit einem Lächeln im Gesicht, das breiter war als ihre schwarzen Minikleider. Sie brachten uns Drinks und etwas zu essen, zündeten Jia eine seiner ewigen Zigarren an und nahmen unentwegt seine großen In-Play-Wetten entgegen. Er trank Krug-Champagner – die ganze Zeit, wie es schien, und zwar nicht, weil er ihn mochte, sondern weil er der teuerste war, wie ich vermutete. Ich beschränkte mich auf chinesisches Tsingtao-Bier, erstens, weil ich es mochte, und zweitens, weil ich für das Geschäft und das Spiel vor meinen Augen einen einigermaßen klaren Kopf behalten wollte. Aber eigentlich saßen wir zu hoch über dem Platz, als dass man dem Spiel noch hätte folgen können. Die Namen auf den Trikots der Spieler waren gelb in chinesischen Schriftzeichen, und es gab zwar auch Rückennummern, aber da die Stadionzeitung ebenfalls auf Chinesisch war, hatte ich keine Ahnung, wer wer war.
»Gefällt es Ihnen in Shanghai?«, fragte er. »Ihr Hotelzimmer? Alles nach Ihrem Geschmack?«
»Ja, alles ist großartig, Mr. Jia.«
»Ich möchte, dass es Ihnen hier gefällt. Hier liegt die Zukunft, Mr. Manson. Wenn man hier ist, kann man das nur so sehen, finden Sie nicht?«
»War es nicht Konfuzius, der gesagt hat, dass Vorhersagen immer schwierig sind – ganz besonders Vorhersagen über die Zukunft?«
Jia lachte. »Sie kennen Konfuzius? Das ist gut. Nicht viele Trainer können Konfuzius zitieren. Nicht mal in China.«
Bescheiden zuckte ich die Schultern. Dieser Spruch wurde vielen großen Namen zugeschrieben, darunter auch Konfuzius, aber ich wollte Jia nicht beleidigen, indem ich andeutete, dies sei die Art Zitat, die man in jedem Knallbonbon findet.
»Ich bin ein großer Bewunderer von London City«, fuhr er fort.
»Ich auch. Immer noch.«
»Und von João Zarco und Ihnen. Ehrlich gesagt, wenn Mr. Zarco noch am Leben wäre, würde er jetzt hier sitzen.«
»Zarco war der beste Trainer ganz Europas«, sagte ich. »Wenn nicht der ganzen Welt.«
»Der Meinung bin ich auch«, sagte Jia. »Aber ich glaube, dass Sie der Zweitbeste sind. Wenn Sie bei London City geblieben wären, hätten Sie Großes vollbringen können. Natürlich könnte sich deren Verlust als mein Gewinn erweisen.«
Jia bedeutete einer der Hostessen, sein Glas nachzufüllen. Währenddessen schob er ihr die Hand unter den Rock und ließ sie ein paar Augenblicke dort, aber die Frau zuckte nicht mit der Wimper, und ihr Lächeln verrutschte keinen Zentimeter. Offensichtlich war sie diese Game-of-Thrones-artigen Sitten gewohnt. Ich hatte den Eindruck, dass sie auch dann nichts gesagt hätte, wenn ich sein Verhalten imitiert und dasselbe getan hätte. Doch meine Hände lagen weiter um mein Bierglas.
»Ich habe ein hartnäckiges Gerücht gehört, dass Ihr Ausstieg bei City etwas mit einem ausländischen Wettsyndikat zu tun hatte«, sagte er. »Dass Sie herausgefunden haben, dass der Tod Bekim Develis in Piräus mit einer In-Play-Wette in Russland zu tun hatte. Keine Sorge, ich werde Sie nicht bitten, das Gerücht zu bestätigen. Das ist hier in China allgemein bekannt. Ich wette selbst gern – alle Chinesen lieben Glücksspiele –, aber ich habe es mir zur Regel gemacht, nie auf meine eigene Mannschaft zu setzen. Die Wetten, die Sie mich machen sehen, betreffen andere Spiele, die heute Nachmittag stattfinden. Hauptsächlich das Spiel zwischen unseren größten Rivalen, Shanghai Shenhua und Beijing Guoan. Ich erzähle Ihnen das, damit Sie wissen, dass ich kein Betrüger bin. Aber ich bin sehr reich, und was soll man anderes mit Geld machen, als es auszugeben? Ich habe eine Million Yuán auf das Ergebnis des Spiels gesetzt; das sind etwa hunderttausend Pfund. Aber Sie hindert nichts daran, auf die Nine Dragons zu setzen, Mr. Manson. Oder auf die Hunde von Guangzhou Evergrande. Obwohl ich es nicht empfehlen würde. Sie haben ihren besten Spieler nicht dabei – Arturo. Der Brasilianer? Die Shanghai Xuhui Nine Dragons werden die Grünen heute Nachmittag höchstwahrscheinlich schlagen.«
»Warum neun Drachen?«, fragte ich, um das Thema zu wechseln. »Warum nicht sieben oder acht? Oder sogar zehn?«
»Unser Wort für ›neun‹ klingt genauso wie ein Wort, das ›unvergänglich‹ bedeutet, und gilt deshalb in China als Glückszahl«, erklärte er. Während er sprach, sah er weiter dem Spiel zu, das sich in seinen Brillengläsern spiegelte, sodass sie wie kleine Fernseher aussahen. »Viele chinesische Kaiser hatten eine Vorliebe für die Neun. Sie trugen Neun-Drachen-Kaiserroben, ließen Neun-Drachen-Palastmauern errichten. In der Verbotenen Stadt finden Sie die Zahl neun fast überall. Die Neun ist auch beim normalen Volk sehr beliebt. Am Valentinstag schenkt ein chinesischer Mann seiner Geliebten neunundneunzig rote Rosen, die ewige Liebe symbolisieren. Die Faszination, die die Zahl neun auf uns Chinesen ausübt, ist praktisch grenzenlos. Ich habe sogar eine Tätowierung von einer Neun auf dem Rücken. Damit meine Frau auch wirklich weiß, dass ich es bin. Als ich diesen Verein gekauft habe, wollte ich einen Namen, der Macht und Hoffnung für die Zukunft ausdrückt. Und hier kommen die Neun und Sie ins Spiel, Mr. Manson. Ich habe große Pläne für die Zukunft dieses Fußballclubs und die Chinese Super League.
Aber das ist noch nichts gegen die Pläne, die ich für den englischen Fußball habe. Ich habe die Absicht, in den nächsten zwölf Monaten einen berühmten Verein zu kaufen. Bedauerlicherweise kann ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht mehr sagen. Aber der Club war einmal Tabellenführer der alten Football League First Division, und ich will ihn wieder groß herausbringen. Dafür brauche ich die Hilfe eines Mannes wie Sie. Wir können Großes vollbringen, Sie und ich. Ich hoffe, wir kommen ins Geschäft, während Sie hier sind. Wenn ja, bekommen Sie zum Vertragsabschluss eine Million Pfund. Wir werden zwei Verträge abschließen – einen mit Shanghai Xuhui und einen mit der Nine Dragons Mining Company. Das nennt man einen Yin-Yang-Vertrag, so macht man in China Geschäfte. Der Vertrag mit Nine Dragons wird der lukrativere sein, aber insgesamt werden Ihnen beide Verträge zweihunderttausend Pfund pro Woche einbringen. Ich würde außerdem vorschlagen, dass Sie in zwei Wochen anfangen. Sie können auf meine persönlichen Kosten in der Präsidentensuite im Grand Hyatt wohnen. Sie kann Ihr Zuhause in Shanghai sein. Das wird ebenfalls in den Vertrag aufgenommen.«
»Zweihunderttausend die Woche ist eine Menge Geld«, sagte ich.
»Ja. Über zehn Millionen Pfund pro Jahr. Das würde Sie zum höchstbezahlten Trainer der Welt machen. Das ist auch eine Absichtserklärung von mir. Der beste Club der Welt sollte auch den bestbezahlten Trainer haben. Natürlich müssten Sie auf dieses Geld keine Steuern abführen. Der chinesische Steuersatz für Ausländer liegt bei fünfundvierzig Prozent. Aber da Ihr Land ein Doppelbesteuerungsabkommen mit China geschlossen hat, dürfen Sie 183 Tage hier arbeiten, bis Sie Steuern zahlen müssen. Was bedeutet, dass, wenn Sie bleiben, wir einen Vertrag für 182 Tage in diesem Land abschließen und dann für 182 Tage in Großbritannien. So werden gar keine Steuern fällig.«
»Es stört mich nicht, einen fairen Steuersatz zu bezahlen«, sagte ich.
»Ach, was ist schon fair?« Jia lachte, ein schweres Raucherlachen, das klang, als würde man einen Oldtimer anwerfen. »Das ist die Viereinhalb-Millionen-Pfund-Frage, nicht? Zumindest in diesem Fall. Natürlich gibt es kein Land der Welt, in dem nicht ein paar Leute glauben, dass sie einen zu hohen Steuersatz bezahlen.«
»Hören Sie, bevor wir solche Dinge besprechen, sollten wir uns nicht zuerst über Fußball unterhalten?«
»Was, noch mehr Gerede über Fußball? Oder hatten Sie eine neue Offenbarung, seit Sie zuletzt darüber gesprochen haben? In Match of the Day bei der BBC, richtig?«
»In der Sendung habe ich eine Menge geredet.«
»Ja, aber im Gegensatz zum üblichen Gefasel haben Sie mal etwas wirklich Interessantes erzählt.«
»Freut mich, dass Sie das so sehen.«
Jia setzte eine andere Brille auf, nahm ein rotes, ledergebundenes Smythson-Notizbuch heraus und blätterte durch die mit sehr kleiner, chinesischer Schrift beschriebenen Seiten.
»Worte des Vorsitzenden Mao Tsetung.« Er warf mir einen Blick zu. »Schon gut. War nur ein Witz. Nein, hier stehen ein paar der Dinge, die Sie gesagt haben, Mr. Manson. Wie etwa – Moment – ja, dass man manchmal auch zu viele Fußballer in einer Mannschaft haben kann. Dass alle versuchen, sich dem Trainer zu beweisen, einen auf dicke Hose machen. Dass zu viel Talent der Effizienz im Weg stehen kann. Das ist eine sehr chinesische Art, die Dinge zu betrachten.«
Ich nickte, und mir fiel wieder ein, dass das ganz und gar nicht das war, was die BBC von mir hatte hören wollen. Sie wollten darüber reden, warum es keine schwarzen Trainer in der Premier League gibt. Das war ein Thema, das mich nie sehr interessiert hat, aus dem einfachen Grund, dass ich mich weder als schwarz noch als weiß betrachte. Ich will kein Wortführer für ethnische Fragen im Fußball sein. Der BBC-Moderator hatte geschockt ausgesehen, als ich das andeutete, und mir wurde – ebenfalls mit Schock – klar, dass der wahre Rassismus in Großbritannien heute darin besteht, dass das kleinste bisschen Schwarz in der Herkunft einen zu einem ganz Schwarzen macht. Er sah mich nicht als jemanden, der zum Teil weiß, sondern als jemanden, der ganz schwarz war. Ein Hauch Schwarz befleckt jegliche Weißheit, die man eventuell in sich hat. Scheiß BBC. Denen geht’s immer nur um Politik, nie um Sport. Darum mag ich Sky.
»Außerdem haben Sie gesagt – was war es noch gleich –, Sie haben gesagt, Fußball sollte immer leicht sein, aber ihn leicht aussehen zu lassen ist das Schwerste am modernen Sport. Das trifft auf fast jede Kunst zu, Mr. Manson. Wenn man sich einen Film darüber anschaut, wie Picasso etwas auf ein Blatt Papier zeichnet, sieht es so einfach aus. Er erweckt den Eindruck, als könnte es jeder. Aber es leicht aussehen zu lassen ist die wahre Kunst. Damit hatten Sie völlig recht. Und genau das erwarte ich von Ihnen. Einfach attraktiven Fußball.«
»Wollen Sie meine Ideen über die Zukunft dieses Vereins gar nicht hören?«
»Ich habe Ihr Buch gelesen. Ich habe Ihr Interview im Fernsehen gesehen. Ich habe Sie auf YouTube gesehen. Ich habe Sie sogar auf TalkSport gehört. Immer, wenn ich in London bin, sehe ich mir Spiele von London City an. Ich kenne Ihre Ideen, Mr. Manson. Ich weiß alles über Sie. Dass Sie fälschlicherweise der Vergewaltigung beschuldigt wurden und ins Gefängnis gekommen sind. Dass Sie schließlich freigesprochen wurden. Dass Sie Ihren Trainerschein gemacht haben und kurz nach Ihrer Entlassung nach Barcelona gegangen sind. Dass Ihr Vater, ein ehemaliger Fußballprofi, jetzt ein erfolgreicher Sportbekleidungs-Unternehmer ist. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, Mr. Manson. Es ist offensichtlich, dass Sie ganz nach Ihrem Vater kommen. Anscheinend ist es Ihnen sehr wichtig, dass Sie Ihre eigenen Erfolge erzielen und sich nicht vom Vermögen Ihres Vaters abhängig machen, um Ihre Rechnungen zu bezahlen. Hab ich recht?«
»Sie haben nicht unrecht, Mr. Jia«, gab ich zu.
»Vielleicht erzähle ich Ihnen etwas über meine eigene Fußballphilosophie, die auch meine Geschäftsphilosophie ist. Darum mag ich Fußball. Da lernt man Lektionen fürs Leben, die auch in der Fabrik und in der Vorstandsetage anwendbar sind. Meine Philosophie lautet folgendermaßen, Mr. Manson: Wenn du keinen Profit machen kannst, sieh zu, dass du keinen Verlust machst. Das kleine Wirtschafts-Einmaleins. Auf dem Spielfeld drücken wir es etwas anders aus, aber im Grunde ist es dasselbe. Wenn du nicht gewinnen kannst, sieh zu, dass du nicht verlierst. Ein Unentschieden ist immer noch ein Unentschieden, ein Punkt ist immer noch ein Punkt, und am Ende der Saison, wenn es auf das letzte Spiel ankommt und man die Liga mit nur einem Punkt Vorsprung gewinnt – wie Manchester City 2014 –, gewinnt man immer noch die Liga.«