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ANTIQUERRA-SAGA: Fantasy-Romanreihe Begleiten Sie die Halbfee Lena und ihre Gefährten auf die gefährliche Reise durch die Schattenwelt und begegnen Sie göttlichen Königinnen, mutigen Feen, Lichtmagiern, Alraunen und Vampiren. Erleben Sie den Verlauf von Jahrzehnten und lassen Sie sich berühren von Mut, Freundschaft und Liebe. Band 1: Die ewigen Königinnen Alyssa und Tahereh regieren über Leben und Tod, das Licht und den Schatten. Aus Eifersucht will Tahereh alle lebenserhaltenden Kräfte zerstören. Nur die sechzehnjährige Lena kann sie aufhalten. Sie öffnet das Tor zwischen den Welten und begibt sich auf den gefährlichen Weg ins Schattenreich. Begleitet wird sie von einer bunt gemischten Gruppe aus Feenkriegern, Lichtmagiern und Alraunen. Als völlig unerwartet Vampire auftauchen, wird es kritisch, und zu allem Überfluss scheint Lenas Führer Niven ein dunkles Geheimnis zu hüten.
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Seitenzahl: 333
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Die »Antiquerra-Saga« ist eine mehrteilige Fantasy-Reihe. Jeder Band kann auch unabhängig vom Vorgängerband gelesen werden.
Bisher in der Reihe »Antiquerra-Saga« erschienen:
Band 1: DIE FARBE DER DUNKELHEIT
Band 2: FEENSCHWUR (ab Februar 2016)
Band 3: VAMPIRBLUT (ab März 2016)
Licht des Lebens
Dunkel des Todes
Mit goldener Flamme
Brennend verbunden
Ende bringt Anfang
Und Anfang Ende
Oben und Unten sind eins
Zwei Seiten des Ganzen
Vereint in der goldenen Flamme
Die ewig brennt
»Im Grunde ist unsere alte Erde Antiquerra nur eine Insel in einem zeitlosen Raum. Doch als Mutter aller Welten bewahrt sie das Geheimnis der Götter in ihrem Schoß.« — Luczin zu Kieran, während einem ihrer vielen Gespräche, die den Ereignissen folgten.
Prolog
Magische Worte
Alraunen
Der Turm
Blutsbande
Magische Turbulenzen
Wichtige Entscheidungen
Es ist Soweit
Fluss der Tränen
Blutdunst
Der Angriff
Die Klagfrauen
Der Drache Numir
Ein Feeny für den Fährmann
Hexenwald
Stampfende Massen
Bekenntnisse
Höhenflüge
Weg der Dornen
Tore der Plagen
Tor der Freiheit
Raum der Magischen Wirklichkeit
Abschied
Barfuß ging Königin Tahereh durch den Wald. Dämmrige Schatten zogen hinter ihr her, hüllten die Bäume ein, und ließen ihre Gestalt wie ein Schemen erscheinen. Sie folgte einem geheimen Pfad, weitab des ebenen Wegs. Überall wucherten Hecken, deren Dornen ihre nackten Füße zerkratzten. Königin Tahereh nahm es kaum wahr. Ein paar Stiche. Ein paar Tropfen Blut. Was war das schon im Vergleich zu dem wütenden Schmerz in ihrem Inneren. Aber bald war alles vorbei. Ein Lächeln spielte um den Mund der Königin, während sie in gleichmäßigem Tempo vorwärtsging. Ihr langes, schwarzes Haar wippte im Takt ihrer Schritte. Fast heiter. Sollten die Dornen sie doch verletzen. Es war nur ein hilfloser Versuch, sie auf ihrem Weg aufzuhalten. Füße und Hände, mehr von ihrem Körper erwischten die Stacheln nicht. Ihr nachtblaues Kleid mit der endlosen Schleppe schützte sie. Die Hecken durften es nicht berühren, zogen sich davor zurück. Die an der Schulter des Gewands angenähte Schleppe, mit der Tahereh des Nachts das Firmament verdunkelte, schwebte hinter ihr her, ohne von einem Baum oder einem Zweig berührt zu werden.
Als unerwartet ein Laut ertönte, blieb Tahereh stehen. Ein Kauz lockte mit seinem Ruf. »Ku-Witt. Ku-Witt. Komm mit. Komm mit!«
»Sei still! Ich kenne meinen Weg.« Taherehs Gesicht nahm einen misstrauischen Ausdruck an. Sie schaute auf die Strecke zurück, die sie gegangen war. Nirgends regte sich etwas. Nicht einmal ein Windhauch. Tahereh lachte leise auf und ging weiter. Wer sollte hierher kommen? Sie hatte Vorkehrung getroffen. Niemand außer ihr würde je diesem Pfad folgen.
Wieder und fordernd tönte der Ruf der Waldeule. Taherehs Schritt stockte erneut. Die Hecken streckten ihre dornigen Finger aus und stachen heftig auf ihre blutenden Füße ein. Der Angriff entlockte ihr ein müdes Lächeln. Es erstarb, als ihr Blick die Eule streifte. Mit großen Augen schaute das Tier aus den Ästen eines Baumes zu ihr herunter. Beim Anblick dieser Augen stieg so jäh der Zorn in Tahereh hoch, dass ihr Haar zu wehen begann. Die Augen der Eule sahen zu viel!
Tahereh reckte die Faust gegen den Kauz. »Wen willst du herlocken? Sei still, hab ich gesagt! Meine Entscheidung steht fest. Niemand wird mich aufhalten.«
Die Eule flatterte auf und ließ sich weiter vorne auf einem anderen Baum nieder. »Ku-Witt. Ku-Witt. Komm mit. Komm mit!«
Wütend starrte Tahereh dorthin. Was fiel dieser Kreatur ein? Gab sie diesem Wesen nicht Zuflucht, eine Heimat? Sie sorgte für dieses Tier wie für jeden, der zu ihr kam. Zum Dank wollte es ihren Plan vereiteln. Oh ja, diese Waldeule sehnte sich von hier weg, wie alle. Ein jeder in ihrem Reich wollte zurück zu den Farben des Lichts. Wenn sie sich lange genug bei ihr ausgeruht hatten, lagen sie ihr damit in den Ohren. Jammerten. Bettelten. Keiner wollte bleiben. Das tat weh. Aber wenn das Licht ihrer Schwester erlosch, war alles vorbei und es würde erlöschen. Taherehs Gesichtszüge verzerrten sich voller Hass. Ihr Haar wehte so heftig wie im Sturm. Diese Eule würde ihr Vorhaben nicht verhindern! Die Schleppe von Taherehs Kleid peitschte bedrohlich durch die Luft und hüllte den Wald in tiefe Finsternis. Die Königin streckte den Arm aus. Ein feuriger Ball zischte aus der Spitze ihres Zeigefingers und schoss auf den Waldkauz zu.
Tahereh schrie. »Stirb!« Ihr Fluch durchbohrte den Körper des Vogels und prallte auf den Baum dahinter. Funken sprühten. Die Eule schüttelte sich und flog davon. Tahereh sah ihr nach. Der Zorn in ihrem Blick erlosch. Ihr Haar und die Schleppe ihres Kleides beruhigten sich und im Wald wurde es heller. Taherehs Lippen fingen an zu zittern. »Ich vergaß! Du bist ja tot. Tot, wie alles hier. Verblassende Erinnerung, selbst deine Farben.« Sie sank vornüber und flüsterte. »Nie sah ich die Farben so leuchtend, wie meine Schwester sie sah. Sie trägt das Licht. Ich muss Schatten tragen.« Tränen quollen aus Taherehs Augen. Sie rannen an ihren Wangen herab und fielen als schimmernde Perlen zu Boden. Tahereh schluchzte auf, so sehr, dass ihr ganzer Körper bebte. Plötzlich wurde sie still. Ihre Hand streifte über den Boden und hob ein paar Perlen auf. Vermischt mit Erde lagen sie in ihrer Hand. »Ja, meine Tränenperlen wollt ihr haben«, flüsterte sie. »Aber von dem Leid und der Einsamkeit, die mich weinen machen, wollt ihr nichts wissen.« Sie straffte die Schultern. »Bald ist es vorbei! Endgültig!« Sie ging weiter. Ihre Schritte wurden schneller. Ihr Blick fiel auf die goldene Scheibe, die am Horizont aufstieg und zwischen den Bäumen ein mattes Licht verbreitete. Tahereh presste die Lippen zusammen. Ihr Haar geriet wieder in Aufruhr und die Schleppe wogte herausfordernd durch die Luft. »Ja, wehre dich! Es hilft dir nichts.«
Nach einer Weile tauchten die Umrisse eines Tores vor ihr auf. Ein großer, massiger Dämon schob davor Wache. Er saß auf einem Felsblock. Sein Gesicht glich einer Warzenmelone, die Haare hingen ihm zottelig über die Augen. Tahereh atmete tief durch. Wenigstens auf die Dämonen konnte sie sich verlassen. Sie schätzten die Schatten und fürchteten ihren Zorn. Dienten ihr als Krieger und Wächter.
Als der Dämon seine Königin kommen sah, stand er auf und verbeugte sich. Tahereh ging jetzt gemessenen Schrittes, würdevoll. Ihr schwarzes Haar beruhigte sich. Anmutig fiel es über ihre Schultern. Die Schleppe ihres Kleides schaukelte elegant hinter ihr her.
»Hast du meinen Auftrag erfüllt?«, fragte sie.
Der Wächter des Tores verbeugte sich tief. »Ja, meine Königin.« Dann sah er Tahereh an. »Man wird deine Schwester Alyssa suchen!«
»Aber nicht finden.«
Er nickte. In seinem hässlichen Gesicht zeigte sich die Andeutung von Angst. »Es geht das Gerücht, dass ein Fata geboren wurde.«
Tahereh lächelte. »Mein Drache Numir hat sich längst um ihn gekümmert. Er ist keine Gefahr mehr.«
Der Dämon nickte wieder. »Die Feen lieben die Welt der Menschen. Sie gehen dorthin und lassen sich mit ihnen ein. Du musst verhindern, dass wieder ein Fata geboren wird.«
»Du machst dir Sorgen um mich?« Tahereh strich über seine hubbelige Wange. »Die Weltentore sind bereits geschlossen. Kein Wesen aus Antiquerra kann zu den Menschen gelangen und diejenigen, die dort sind, können nicht mehr zurück. In der Welt der Menschen kann selbst ein Fata nichts gegen mich ausrichten. Es spielt also keine Rolle.« Ihr Blick wurde streng. »Öffne jetzt das Tor!«
Der Wächter streckte seine Hand aus. »Mein Wegzoll! Auch die Königin muss ihn bezahlen. So verlangt es das Gesetz deiner Schattenwelt.« Tahereh streifte einen großen Ring aus Lapislazuli von ihrem Finger und ließ ihn in seine Hand fallen. Der Wächter verneigte sich und deutete auf das Tor. »Bitte, Schattenkönigin. Der Weg ist frei.«
Während sich das Tor unter lautem Ächzen öffnete, blieb der Wächter in demütig gebückter Haltung stehen. Tahereh schritt durch das Tor und befand sich gleich darauf in einer Lichtung. Alles hier hüllte sich in diffuses, dämmriges Licht. Nebel stiegen vom Boden auf. Verlorene Seelen griffen nach ihr. Tahereh stieß die Geister von sich weg. Als in der Luft ein Heulen und Jammern anhob, hielt sie sich die Ohren zu und rannte zur Mauer am anderen Ende der Lichtung. Auch dort gab es ein Tor. Die Eule saß darauf. Sie lockte nicht mehr, sondern beobachtete nur. Als hinter dem Tor leise Musik erklang, flog das Tier davon.
Die Schattenkönigin blieb vor dem hölzernen Portal stehen. Sie lauschte der zärtlichen Musik und nickte grimmig. Ja, Mortadam, das klingende Gefängnis der Schattenwelt, war eine gute Idee gewesen. Mortadam, der am besten bewachte Ort in ihrem Reich. Geheimnis in einem Geheimnis. Wer sollte ihn je finden? Wer sollte je dort herauskommen? Ihr Blick ruhte auf dem eisernen Riegel, der die beiden Torhälften verschloss. Er wurde gehalten von zwei großen Figuren mit weiblichem Oberkörper, die ab der Taille in einen Schlangenkörper wechselten. Taherehs Hand hob sich und strich über eine der Figuren.
»Schlangenprinzessin, Hüterin des Lebens«, flüsterte sie und lachte bitter auf. »Ein zweischneidiges Schwert ist das Leben. Auf einer Seite Licht und auf anderer Seite Dunkelheit. Ist das gerecht? Freude, Leid. Licht, Schatten. Das passt niemals zusammen.« Als sie die Hand von der Figur wegnahm, hob sich der Riegel lautlos an. Die Flügeltüren öffneten sich und Tahereh ging hindurch, hinein nach Mortadam, hinein in ihr gehütetes Geheimnis. Über Tahereh wölbte sich nun ein rosafarbener Himmel. Die Kieselsteine des Wegs schimmerten in seinem Schein.
Zielstrebig wanderte Tahereh die Pfade entlang, vorbei an kraftvollen Ebenholzbäumen. Ihr Blick streifte über die Baumkronen. In den Ästen klemmten Sprossenleitern, die als Liegeflächen dienten. Festlich gekleidete Wesen ruhten darauf, vollkommen reglos. Ein zarter, blumiger Duft ging von ihnen aus und erfüllte die Luft. Die Königin verzog angewidert das Gesicht. »Nicht mehr lange, Lichtkrieger. Eure Kraft glüht aus mit ihr, und ihr könnt meiner Schwester nicht helfen.« Als Tahereh an der nächsten Abzweigung nach links bog, gelangte sie auf einen runden Platz, in dessen Mitte ein steinernes Postament stand. Darauf lag eine Frau. Ihr Gesicht glich dem von Tahereh. Ihr Haar jedoch war nicht schwarz, sondern blond. Tahereh beugte sich vor und betrachtete ihre Schwester Alyssa von Kopf bis Fuß. Die Strahlenkönigin trug ein goldenes Gewand und einen Blumenkranz im Haar. Ihre Lider waren geschlossen. Sanftes Licht wogte um ihren Körper herum, schien Tahereh streicheln zu wollen. Automatisch zuckte Tahereh zurück, obwohl eine grobe Kette aus Eisen ihre Schwester in völliger Unbeweglichkeit fesselte. Sie atmete nicht einmal mehr, schien wie tot. Tahereh überwand sich und streckte die Hand aus. Sie berührte den reglosen, lichtumfluteten Körper. Ja, bald! Zehn Jahre noch. Zwanzig vielleicht. Was bedeutete das schon im Antlitz der Ewigkeit. Ein Wimpernschlag, nicht mehr. In Taherehs Augen glomm ein böses Funkeln auf. »Wie schwach du bist, meine Schwester! Verstehst du es jetzt, Alyssa? Bald brennt dein Licht aus. Du kannst nichts dagegen tun. Meine Dunkelheit wird zunehmen, dich besiegen. Du wirst dein Leben in meiner Finsternis beschließen, denn ich, Tahereh, dein ungeliebter Zwilling, Schattenkönigin von Anbeginn der Zeit, bestimme unser aller Ende.«
»Kommst du nun mit oder nicht, Lena?« Die Stimme aus dem Telefonhörer klang genervt.
»Vielleicht.« Die Lust mit ins Schwimmbad zu kommen hielt sich bei Lena in Grenzen. Sie traute der Clique nicht. Mit dem Telefon am Ohr wanderte sie den Flur entlang und blieb vor dem Spiegel stehen. Ein ätherisch anmutendes, blasses Gesicht leuchtete ihr daraus entgegen, eingerahmt von flachsblonden Locken. »Vampirgesichtiger Rauschgoldengel« wurde sie in der Schule genannt. Hauptsächlich von den Jungs. Es ärgerte Lena so sehr, dass sie sich seit einiger Zeit von allen Aktivitäten zurückzog, um sich Begegnungen mit den Klassenkameraden zu ersparen.
»Hast wohl Angst vor der Sonne.«
Lena rollte die Augen. Emily kapierte es auch nicht. Lenas Haut wurde nicht braun, egal wie lange sie in der Hitze schmorte. Sie sah Sommers wie Winters gleich aus.
»Lieber blass, als mit ausgetrocknetem Hirn herumlaufen.« Die Worte sprudelten heftiger aus ihrem Mund als beabsichtigt.
»Dann eben nicht!«, tönte es kühl aus dem Hörer zurück. Lena hörte ein leises Knacken. Emily hatte aufgelegt.
Wieso hatte Emily überhaupt angerufen? Suchte sie wieder jemandem, den sie bloßstellen konnte? So etwas schien ihr Spaß zu machen. Das Mädchen ging mit Lena in die gleiche Klasse am Gymnasium. Aber sie waren keine Freundinnen. Auch Nina, Benno, Max oder Torben zählten nicht zu Lenas Freunden. Mit denen hockte Emily nicht nur in der Schule, sondern auch in der Freizeit zusammen. Sie spotteten über Lena, über ihre helle Haut, ihre Art sich zu kleiden und überhaupt. Sie fanden immer etwas. Genau genommen hatte Lena überhaupt keine Freunde. Nicht so, wie sie es sich gewünscht hätte.
Sie seufzte auf und strich automatisch ihr Kleid glatt. Lena hatte es letzte Woche von ihrem Vater zum sechzehnten Geburtstag bekommen. Heute Morgen hatten die Jungs darüber gelästert und gefragt, aus welcher Speichertruhe sie das ausgegraben hätte. Lena schüttelte verständnislos den Kopf. Die hatten doch keine Ahnung von schöner Kleidung. Jeans und fantasielose T-Shirts konnte jeder tragen. Aber ein Seidenkleid wie dieses? Es schien wie für sie gemacht, betonte ihre schmale Taille und der weite Tellerrock tanzte bei jedem Schritt um ihre Waden. Die dunkelrote Farbe gab ihrem Gesicht einen geheimnisvollen Schimmer.
Nein, echte Freunde hatte Lena nicht. Aber das machte ihr nicht soviel aus wie der Verlust ihrer Mutter, die vor drei Jahren bei einem Unfall gestorben war. Der Gedanke an sie tat noch immer weh. Unwillkürlich kullerte eine Träne aus ihrem Auge. Lena wischte sie weg und sah wieder in den Spiegel. Der kleine silberne Schlüssel, der an einer Kette um ihren Hals hing, glänzte. Sie griff danach. Ihre Mutter hatte ihn ihr geschenkt. Das war lange her. Ein echter Schlüssel mit einer schön verzierten Reide. Lena trug ihn als Schmuck. Nie nahm sie ihn ab, weder beim Schlafen, noch beim Duschen.
Lena sah ihrem Spiegelbild in die Augen. »Nein, ich gehe nicht mit ins Schwimmbad!«
Sie wollte allein sein, nachdenken. Der Stadtpark und die Eiche fielen ihr ein. Dort war sie lange nicht mehr gewesen.
Die alte Eiche erhob sich mit ihrer weit ausladenden Krone auf einer Wiese im Park, nahe eines Sees. Drei Männer hätte es gebraucht, um den Stamm zu umfassen. Im Sonnenlicht leuchteten die Blätter in einem satten Grün. Auf den unteren Ästen wuchs Moos. Lena legte ihre Hand auf die raue Rinde des Stammes, so wie früher. Es tat gut. Sie konnte die Kraft des Baumes spüren. Fast zärtlich tastete Lena über die rissige, graubraune Borke bis hinunter zu den dicken Wurzeln. Wie tief reichten sie wohl in die Erde hinab, dass diese Eiche seit mehr als fünfhundert Jahren so standfest blieb?
Nach einer Weile setzte Lena sich auf den Boden und lehnte ihren Rücken an den Stamm. Sie sah bis zum See hinüber. Zwei Schwäne zogen majestätisch ihre Runden zwischen den Seerosen. Ein paar Enten dösten am Ufer. Lena schloss die Augen. Hinter sich hörte sie von der nahen Hauptstraße das Geräusch der fahrenden Autos. In den Ästen über ihr stritten die Spatzen. Eine Fliege setzte sich immer wieder auf ihre Arme. Es kitzelte. Lena scheuchte sie weg, ohne die Augen zu öffnen. Der Geruch der aufgeheizten Erde vermischte sich mit dem holzigen Duft der Eiche und stieg ihr angenehm in die Nase. Sie driftete weg in die Zeit, als ihre Mutter noch lebte. Sie hatte diesen Baum »das Tor« genannt und Lenas Kinderhand auf den Stamm gelegt. Du musst die Worte flüstern …
Lena öffnete die Augen. Was war das? Sie hatte die Stimme ihrer Mutter gehört, ihre Hand gefühlt. Das konnte nicht sein, aber es war so real. Um sie herum hatte sich nichts verändert. Nur die Sonne stand ein klein wenig tiefer. Vermutlich war Lena eingeschlafen und hatte geträumt.
Sie stand auf und schüttelte die Beine. Dann drehte sie sich um und legte ihre Hand auf die Baumrinde der Eiche. Welche Worte, dachte sie. Es fiel ihr nicht ein.
Lena setzte sich wieder hin, schloss noch einmal die Augen und versuchte, sich zu erinnern. Fata! Als sie klein war, nannte ihre Mutter sie manchmal »Fata«. Es hatte stolz geklungen — und ängstlich. Nie fand Lena heraus, was eine Fata war. Wenn sie fragte, nahm die Mutter nur ihr Gesicht in die Hände und bedeckte es mit Küssen. Du bist etwas Besonderes, Lena. Das bedeutet es …
Als Lena älter wurde, hatte die Mutter sie nie mehr so genannt. Sie waren auch seltener hierher gekommen. Der Baum machte die Mutter plötzlich traurig. Sie legte ihre Hand auf den Stamm und manchmal weinte sie. Wenn Lena sie fragte, warum, so wusste sie es nicht. Sie schüttelte nur den Kopf.
Lena verscheuchte den Gedanken. Sie klammerte sich an die Erinnerung ihrer Mutter, wie sie tanzte und lachte. Auch um diesen Baum war sie herumgetanzt, zusammen mit ihr. Lena war damals vielleicht drei oder vier Jahre alt gewesen. Beide hatten Blumen im Haar gehabt. Wenigstens einmal im Jahr musst du es versuchen. Versprich es mir …
Plötzlich fiel es Lena ein. Sie riss die Augen auf und sprang auf. Sie legte ihre Hand auf den Baumstamm – und nahm sie wieder weg. Kinderglaube, das konnte nichts anderes als ein Märchen sein. Ihre Mutter hatte viel Fantasie gehabt, Geschichten erzählt von einer alten Erde, fern von hier, die man nur durch ein magisches Tor betreten konnte. Man musste die Worte wissen, die das Tor öffneten. Lena erinnerte sich, wie sie damals im Beisein der Mutter ihre Hand auf den Stamm der Eiche gelegt hatte und die Worte sprach. Aber das Tor hatte sich nicht geöffnet. Wenn du älter bist …
»Hast du wirklich daran geglaubt?« Lena flüsterte.
Sie erinnerte sich, dass sie ihrer Mutter versprochen hatte, es immer wieder zu versuchen. Geschworen hatte sie es. Da war sie noch klein. Die Mutter hatte zufrieden gelächelt und Lena über das Haar gestrichen. Später kam nie mehr die Rede darauf. Vielleicht hatte die Mutter es vergessen. Vielleicht war alles nur ein Spiel gewesen.
Lena ging ein paar Schritte von der Eiche weg und sah sich um. Niemand war hier. Sollte sie es ausprobieren? Sie ging zurück und starrte den Stamm an. Ihre Hand zuckte. Doch sie scheute sich, den Baum zu berühren. Noch einmal sah sie sich um. Dann fasste sie sich ein Herz. Es sah keiner zu. Niemand konnte sie verspotten, wenn sie etwas tat, das sie als kleines Mädchen versprochen hatte. Lena streckte den Arm aus und legte ihre Hand auf die Rinde der Eiche. Sie schloss die Augen. Ein Gefühl, als ob der Baum atmete. Die Geräusche ringsum klangen nur noch wie durch Watte zu ihr. Lenas Herz klopfte schneller. Sie zögerte noch einen winzigen Moment. Dann sprach sie es aus: »Terra Antiquerra!«
Zwei, drei Sekunden lang geschah nichts. Lena wollte schon ihre Hand zurückziehen. Doch plötzlich kam Wind auf. Er fühlte sich auf ihrer Haut zuerst warm und sanft an, steigerte sich aber schnell zu einem heftigen Sturm. Ein Licht brach aus dem Baum hervor und hüllte Lena ein. Die Erde vor ihren Augen drehte sich, löste sich auf, und sie wurde in einem rasanten Wirbel hochgerissen. Lena schrie. Dunkelheit umfing sie. Kurz darauf spürte sie wieder Boden unter ihren Füßen. Vor sich sah sie ihren ausgestreckten Arm. Ihre Hand lag nicht mehr auf der Eiche, sondern auf einem Felsen.
»Beruhige dich, das ist ein Traum!«, sagte sie zu sich selbst.
Aber es war kein Traum.
Ein donnerndes Geräusch dröhnte ringsum. Wassertropfen spritzten auf ihre Hand. Lena sah am Felsen entlang nach oben und ließ von da den Blick nach links schweifen. Ein Wasserfall rauschte seitlich in die Tiefe und speiste ein Becken, das in einen fröhlich dahinplätschernden Bach mündete. Etwas kitzelte ihre Wade. Sie sah an sich herunter. Eine Margerite reckte ihren Blütenkopf seitlich neben ihrem linken Fuß in die Höhe. Rechts von ihr, direkt am Fels wuchsen Unmengen einer wilden Spinatart, die Lena unter dem Namen »Guter Heinrich« kannte.
Sie löste ihre Hand vom Stein und drehte sich um. Eine sommerbunte Wiese, wie sie es noch nie gesehen hatte, lag vor ihr. Lena schnupperte. Ein würziger Duft von Wildkräutern lag in der Luft. Die bescheidenen Blüten dieser Pflanzen mischten sich mit den leuchtenden Farben der Feldblumen, die das hohe Gras mit roten, blauen, gelben und weißen Farbtupfen auflockerten.
Lena wandte sich wieder um und ging ein paar Schritte nach links. An der Böschung vor dem Wasserfall wuchsen dicht beisammen drei Birken. Sie hielt sich an einer fest und streckte die Hand an dem Felsmassiv vorbei unter den Wasserstrahl. Gierig trank sie das kühle Nass aus der hohlen Hand. Es schmeckte herrlich erfrischend.
Als Lena ihren Durst gestillt hatte, blickte sie sich um. Die Wiese stieg leicht bergan. Sie erstreckte sich über Hunderte von Schritten, und danach kam eine freie Fläche mit Baumstümpfen und kleineren Büschen. Hier schien Wald gerodet worden zu sein. Dahinter lag eine Ebene. Auf der rechten Seite stand dort ein Turmgebäude, das von hohen Tannen umgeben war. Hinter der Lichtung, bergan steigend, schloss sich noch ein Birkenwäldchen an. Vom Felsen aus, vor dem sie stand, zog sich links am Rand der Wiese ein Gebirge hoch, während es auf der rechten Seite hinunter in ein Tal ging, in das Dörfer mit hübschen weißen Häusern eingebettet waren.
Der Weg zur nächstliegenden Häuseransammlung in diesem Tal schien für einen kurzen Ausflug zu weit. Lena wollte bald zurück. Außerdem war der Himmel hinter den Dörfern verdunkelt, als wenn ein Gewitter aufziehen würde. Der Turm vor dem Birkenwäldchen lag näher. Vielleicht fand sie dort einen Hinweis darauf, wo sie sich befand.
Zielstrebig ging Lena die Wiese hinauf. Sie brauchte länger als erwartet, bis sie die gerodete Fläche erreichte. Kahl und karg sah es hier aus. Zwischen wenigen jungen Sträuchern und kleineren Felsbrocken verteilten sich die Baumstümpfe. Ihre Wurzeln hingen über der Erde. Die Stammreste wurden von Efeu, Moosen und Pilzen überwuchert. Nicht üppig. Aber immerhin. Wenigstens konnten die Aushöhlungen des Erdreiches unter diesen Wurzeln den Waldtieren eine geschützte Behausung bieten. Sofern diese nicht abgewandert waren. Lena sah nur wenige Tiere. Ein paar Käfer. Eine junge Maus, die unter einen Blätterhaufen huschte. Dann stutzte Lena plötzlich. Bei einigen Steinbrocken fand sie künstlerische Ornamente eingemeißelt. Unter den Baumwurzeln, die wie ein kleines Dach mehr als einen Meter über dem Boden ragten, führten Treppen ins Innere der Erde.
Vor lauter Schauen wäre Lena beinahe über einen Zweig gestürzt. Sie ruderte um ihr Gleichgewicht. Ihr linker Fuß sackte ab und trat auf etwas Weiches. Es verhinderte, dass sie weiter abrutschte.
»Au, kannst du nicht aufpassen«, schrie eine zornige Stimme. »Ruinierst mir mein Hausdach und zerquetschst mit deinem Trampelfuß meine arme Nase.«
Lena erschrak. Fast wäre sie doch noch gestürzt, als sie hastig ein Stück beiseite trat. Unter der Baumwurzel stand ein Wesen, dessen Gesicht einer zerfurchten Rübe glich. Der Kleine hielt sich mit einer Hand die knollige Nase. Sein Bart zitterte vor Empörung.
»Entschuldige bitte.« Lena hockte sich vor der Behausung des seltsamen Wesens nieder. »Es tut mir sehr leid. Da war plötzlich ein Zweig und hat mich aus dem Gleichgewicht gebracht.«
»Ausrede!« Das Rübengesicht versteckte schnell den Ast hinter seinem Rücken, den es in der Hand hielt.
Lena sah es. »Du! Du hast mir ein Bein gestellt!«
»Na und? Das ist meine Natur. Kein Grund mir die Nase platt zu treten.« Das kleine Wesen warf den Ast beiseite und trat mit ein paar gelenkigen Bewegungen nach vorne. Es war kaum so groß wie ein vierjähriges Kind. Der Kleine plusterte sich vor Lena auf und stemmte die Ärmchen in die Seite. Die knollenartige Nase leuchtete rot in seinem blassgelben, von braunen Furchen durchzogenen Gesicht. Er betrachtete Lena missmutig von Kopf bis Fuß. »Ich kenne dich nicht!«
»Nein. Du bist ein Alraun, nicht wahr?«
»Wie scharfsinnig sie ist«, spottete das Wesen. »Was soll ich denn sonst sein, hä? Eine Ameise vielleicht?«
»Bitte entschuldige, aber ich habe jemanden wie dich noch nie gesehen. Ich kenne Wesen wie dich nur aus den Erzählungen meiner Mutter.«
»Entschuldige, entschuldige … hat jemand wie mich noch nie gesehen … kannst du auch noch was anderes? Was willst du überhaupt hier?«
Lena deutete auf das Birkenwäldchen. »Ich will zum Turm.«
»Warum?«
»Na ja, ich hoffte … aber sicher kannst du mir auch sagen, wo ich hier bin.« Lena sah den Alraun an und erschrak über den finsteren Ausdruck in seinem Gesicht.
»Will zum Turm, hä? Und weiß nicht, wo sie ist, hä? Erzähle das, wem du willst! Geh und sag deiner machtgierigen Herrin, dass Meister Kieran niemals aufgeben wird und wenn sie ganz Antiquerra in Dunkelheit hüllt.«
Der Alraun stieß Lena heftig von sich weg. Aus den umliegenden Baumstümpfen krochen weitere Wesen seiner Art und bewegten sich drohend auf Lena zu. Sie sah Steinschleudern in ihren Händen. Die Alraunen zielten auf sie. Erschrocken stolperte Lena rückwärts von ihnen weg, drehte sich um und rannte zurück in die Wiese. Sie schluchzte auf. Warum waren die Alraunen so garstig zu ihr? Sie hatte ihnen doch nichts getan, wollte nur wissen wie dieses magische Land hier hieß, das noch immer im Sonnenlicht seinen Zauber verströmte.
Lena rannte so schnell sie konnte über die Wiese und schaute dabei immer wieder über ihre Schulter zurück. Die Alraunen blieben am Rand der Rodung stehen und beobachteten sie. Einer von ihnen stieg zur Lichtung hinauf. Er nahm den Weg zum Turm. Was wollte der Alraun dort? Die Bewohner gegen sie aufhetzen? Das kleine Wesen kam schneller vorwärts als sie selbst. Lena kämpfte ihre Angst nieder und konzentrierte sich auf das Rauschen des Wasserfalls, das immer lauter wurde. Ihre Füße flogen nur so über den Boden. Gleich hatte sie es geschafft und dann konnte sie von hier weg.
Lenas Atem ging keuchend und sie bekam so heftiges Seitenstechen, dass sie es nicht mehr aushielt. Vornüber gebeugt blieb sie einen Augenblick stehen und rieb sich die Taille. Wenigstens machte keiner der Alraunen Anstalten ihr zu folgen. Sie standen noch oben bei ihren Behausungen. Nur noch etwa fünfhundert Meter, dann hatte sie das Felsmassiv erreicht. Während Lena versuchte, den Schmerz zu beruhigen und zu Atem zu kommen, wanderte ihr Blick über das Tal. Sie erschrak. Der dunkle Streifen am fernen Himmel, den sie bei ihrer Ankunft hier wahrgenommen hatte, wuchs bedrohlich. Hier ging bald etwas Schlimmeres als ein Gewitter nieder. Noch schien die Abendsonne, doch es konnte nicht mehr lange dauern, bis sie von der wütenden Wolkenformation verschluckt wurde. Lena zwang sich weiterzugehen und hielt nicht inne, bis sie den Fels erreicht hatte.
Sie legte ihre Hand auf den Stein. »Terra Antiquerra!«
Nichts geschah.
»Terra Antiquerra!«, rief sie noch einmal.
Es rührte sich nichts. Immer wieder sprach sie die Worte, doch es öffnete sich kein Tor.
Die Dunkelheit lag bereits wie eine schwere Decke über dem Tal mit den weißen Häusern. Die dunkelgrauen Wolken kamen rasch näher und verschluckten das Sonnenlicht fast vollständig. Es machte Lena solche Angst, dass ihr Herz rasend schnell klopfte. Verzweifelt hämmerte sie auf den Felsen, sprach die Worte, beschwor den Stein sie von hier wegzubringen, zurück in ihre Welt, zurück zu ihrem Vater. Ohne Erfolg. Kein Wind trug sie fort. Lena saß hier fest. Mutlos sank sie auf dem Boden nieder.
Wäre sie doch nur nicht in den Stadtpark gegangen. Hätte sie sich nur nicht an die Worte erinnert. Jetzt war Lena in einer fremden Welt gefangen, in der man sie nicht dulden wollte. Noch einmal raffte sie sich auf und berührte den Felsen an allen möglichen Stellen. Sie sprach die Worte, flehte, bettelte, forderte. Das Tor öffnete sich nicht.
Die Nacht brach noch schneller herein, als Lena es erwartete. Sie legte sich tief über das Land. Doch wenigstens der Gewittersturm blieb aus und die Alraunen schienen sich zurückgezogen zu haben. Sie hoffte, dass deren Augen zumindest auch nicht weiter in die Dunkelheit blicken konnten als ihre eigenen.
Ein leise nagendes Empfinden in ihrem Magen erinnerte Lena daran, dass sie schon lange nichts mehr gegessen hatte. Ihr Hunger verstärkte das Gefühl der Einsamkeit. Sie war allein, ohne Freunde, auch hier. Lenas Augen brannten, als sie daran dachte, und ihr Mund wurde trocken. Sie ging so nahe sie es wagen konnte an den Wasserfall heran, beugte sich vorsichtig über den Abgrund und trank. Dann suchte sie sich einen geschützten Platz zwischen den Büschen am Felsmassiv, wo sie die Nacht verbringen konnte. Schlafen! Vielleicht war der Albtraum dann morgen vorbei.
Als der Morgen dämmerte, erwachte Lena. Ihre Glieder taten weh. Sie rieb sich über Arme und Beine, um die spitzen Steinchen loszuwerden, die sich in ihre Haut gedrückt hatten. Wieso lag sie hier zwischen Felsen und Sträuchern? Nur allzu schnell fiel ihr alles wieder ein. Ein Druck, schwer wie Blei, legte sich über ihre Brust. Sie versuchte, ihre Kraft zu sammeln. Vielleicht hatte sie gestern in ihrer Aufregung etwas verkehrt gemacht. Sie musste gleich noch einmal zu der Stelle am Fels gehen und die Worte sagen, die sie nach Hause brachten.
Lena wollte sich gerade vom Boden erheben, da hörte sie plötzlich in der Nähe flüsternde Stimmen. Erschrocken duckte sie sich unter die Büsche. Eine der Stimmen schien ihr bekannt. Sie klang seltsam knirschend, als wenn Sand zwischen den Zähnen wäre. Der Alraun, der sie gestern verjagt hatte! Lena wurde es ganz heiß. Er durfte sie nicht entdecken. Vorsichtig tastete Lena über den Boden und griff mit klopfendem Herzen nach einer Handvoll Schotter. Die Stimmen kamen näher. Schritte raschelten im Gras. Der schwankende Lichtschein einer Laterne huschte über Lenas Gesicht. Gleich darauf beugte sich ein weißbärtiger Mann zu ihr herunter. Die Kapuze seines knöchellangen Umhangs verhüllte seinen Kopf. Außer dem Bart sah sie kaum etwas von seinem Gesicht.
Er schwenkte die Lampe. »Hier ist sie!«
Lena hob einen Arm, um sich vor dem blendenden Licht der Lampe zu schützen und duckte sich noch mehr ins Gebüsch. Ihre Faust, auf der sie sich abstützte, umklammerte die Steinchen. »Lasst mich in Ruhe, ich habe euch nichts getan!«
»Steh auf!«
Lena zuckte zusammen. Die Worte des jungen Mannes neben dem Bärtigen zischten auf sie nieder wie ein Peitschenhieb. Sie konnte seine Gestalt im Licht der Laterne gut erkennen. Auch er war in einen Umhang gekleidet. Darunter blitzten ein helles Hemd und seine Kniehose hervor. Vermutlich war er nicht einmal viel älter als Lena. Sein Gesicht erschien ihr kantig. Aus blauen Augen schaute er finster auf sie herunter. Lenas Lippen begannen zu zittern.
»Verschwindet und lasst mich in Ruhe«, schrie sie so wild heraus, dass sie selbst erschrak. Der junge Mann machte einen Schritt auf sie zu, aber Lena streckte ihm abwehrend einen Arm entgegen. »Ich kann alleine aufstehen.«
»Ruhig Blut!« Der Mann mit der Laterne hielt den Jüngeren zurück.
Lena rappelte sich vom Boden auf. Den Schotter behielt sie in der Faust, verborgen hinter ihrem Rücken. Sie heftete den Blick fest auf die beiden Männer. Keiner durfte sehen, dass sie vor Angst fast umkam.
»Wie heißt du?«, fragte der Ältere.
»Achtung, die versteckt was hinter ihrem Rücken«, knirschte die Stimme des Alraun. Lena sah voll Abscheu zu ihm hinunter.
»Sag uns deinen Namen«, wiederholte der Bärtige noch einmal seine Frage. Den Alraun schien er im Augenblick gar nicht zu beachten.
»Lena Siever«, gab sie widerwillig Auskunft. Lena sah sein Gesicht jetzt besser. Der Ausdruck darin wirkte interessiert, aber nicht bedrohlich. Trotzdem blieb sie vorsichtig, zumal der Junge neben ihm nicht gerade milde schien. Er beobachtete Lena genau.
»Sie scheint zu den Korria zu gehören«, sagte er zu seinen Begleitern und wandte sich dann wieder heftig an Lena. »Wie kannst du es fertig bringen und dich Tahereh anschließen. Hat Alyssa nicht gerade euch Feen immer in ihrem Licht erstrahlen lassen?«
»Ich weiß gar nicht, wovon du sprichst«, erwiderte Lena genauso heftig und registrierte erst dann, dass er sie eine Fee genannt hatte.
Es verwirrte sie. War das als Spott gemeint, wie bei den Jungs aus ihrer Schule, die sie einen vampirgesichtigen Rauschgoldengel genannt hatten? Es klang so, als ob er annahm, dass Lena tatsächlich eine Fee sei. Eine, die sich etwas hatte zuschulden kommen lassen.
Es machte sie wütend. »Ich bin keine Fee, wie auch immer du das meinst, und was auch immer ihr mir unterstellen wollt, es ist nicht wahr! Also lasst mich in Ruhe, damit ich nach Hause kann. Wenn ich hier weg bin, werde ich garantiert keinen Fuß mehr hierher setzen. Ich will zur Eiche zurück und dann werde ich die Worte vergessen.«
»Eiche?« Der Ältere hob überrascht die Augenbrauen.
»Eiche, ha!«, sagte der Jüngere. »Die sind in den Nebeln verschwunden.«
Lena antwortete nicht. Sie war zu aufgewühlt, und weil sie immer noch nichts gegessen hatte, knickten ihr jetzt in einem Schwächeanfall die Beine weg. Der Schotter rieselte aus ihrer einen Hand, und als sie sich mit der anderen an den Büschen festhalten wollte, griff sie ins Leere. Lena bekam mit, wie der Junge sie auffing und das passte ihr gar nicht. Der Alraun mischte sich auch noch ein.
»Sie hatte Steine«, knarrte er triumphierend.
»Wir gehen mit ihr zum Turm.« Der ältere Mann sagte das in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. »Wir essen gemeinsam und dann reden wir in Ruhe.« Er wandte sich an Lena, die noch kraftlos in den Armen des jungen Mannes hing. »Ich bin übrigens Meister Kieran, der Junge da ist Finley und unser aufmerksamer Alraun hier heißt Gustav.«
»Die wollte uns erschlagen.«
»Gustav, mach deine Augen auf«, rügte Meister Kieran.
Lena mühte sich, ihre Schwäche zu überwinden und die Stütze des jungen Mannes loszuwerden. Er war ihr durch seine Hilfe nicht sympathischer geworden.
»Lass mich los«, sagte sie mit seltsam leerer Stimme.
Finley legte Zeige- und Mittelfinger auf Lenas Nasenwurzel und sie spürte einen Energiestrom durch ihren Körper fließen. Es stärkte sie, aber es machte sie auch erst recht misstrauisch. Dann ließ Finley sie so plötzlich los, dass sie fast wieder gestrauchelt wäre.
»Bitte«, sagte er.
Meister Kieran wandte sich ab, um anzudeuten, dass sie aufbrechen sollten.
Lena trat einen Schritt zurück. »Ich gehe nicht mit!«
»Wir tun dir nichts. Wir sind friedliche Leute«, sagte Kieran, »und du brauchst etwas zu essen.«
»Ich will nach Hause!«
»Hä, und wo ist dein Zuhause?«, schnarrte Gustav. Meister Kieran warf ihm einen warnenden Blick zu.
»Nicht hier.«
Finley sah Lena mit zusammengekniffenen Augen an. »Wo dann?«
Lena schüttelte den Kopf. »Ihr glaubt mir ja doch nicht.«
»Versuchs!«
Lena stieß einen Seufzer aus. Sie deutete mit dem Daumen auf den Fels und hoffte, dass ihre Stimme überzeugend klang. »Hier ist das Tor in meine Welt. Es wird sich öffnen, wenn ich die Worte sage.«
Finley lachte kalt. »Eine bessere Ausrede ist dir nicht eingefallen? Das Tor im Berg hat sich seit vielen Jahren nicht mehr geöffnet. Niemand kann hinein und niemand heraus. Sag lieber die Wahrheit.»
»Ich sage die Wahrheit. Ach, lass mich doch in Ruhe, ich geh jetzt nach Hause!« Lena stieß ihn weg und ging zu dem Felsen.
Finley lief ihr hinterher. »Das Tor öffnet sich nicht und wenn du tausendmal die Worte sagst. Glaubst du, wir würden nicht gerne in die Welt der Menschen gehen? Ich hab sie noch nie gesehen … und wenn ich und wir alle hier nicht durch das Tor kommen, dann kannst du es auch nicht. Keiner kann es, verdammt noch mal.«
Seiner Stimme war anzuhören, dass er wütend war. Nicht nur auf Lena, sondern auch darauf, dass ihm der Weg zur Welt der Menschen versperrt war.
»Ich bin durch das Tor gekommen. Ich habe die Worte gesagt, die es geöffnet haben.« Lena legte ihre Hand auf den Fels, genauso wie gestern und betete, dass es diesmal klappen möge. Die anderen beobachteten sie. »Terra Antiquerra!« Es passierte nichts. Kein Wind wehte, kein Licht strahlte auf. In Lenas Hals bildete sich ein Kloß. »Terra Antiquerra! … Terra Antiquerra!« Sie schrie die Worte fast.
Finley schüttelte den Kopf. »So wird das erst recht nix. Du bist ja schon hier. Wenn schon, dann …«
»Finley!« Die Stimme von Meister Kieran klang scharf. »Denk nach! Sie ist durch das Tor gekommen.«
Finleys Augen wurden auf einmal groß und rund. »Du meinst, sie ist …«
Kieran nickte. »Wer von uns würde sich vor den Berg stellen und diese Worte sagen?« Seine Stimme war plötzlich nur noch ein Flüstern.
Gustav, der Alraun, hob langsam beide Hände vor den Mund. Er stammelte. »Eine Fata, sie ist eine Fata!«
Lena starrte ihn an. Eine Schockwelle lief durch ihren Körper. Woher wussten die, wie ihre Mutter sie genannt hatte? Kieran trat unvermittelt hinter sie, umfasste ihre Schultern und zog sie vom Felsen weg.
»Komm Lena, wir gehen zum Turm. Dort können wir reden.«
»Nein! Ich will nach Hause.«
»Lena, wir glauben dir!« Kieran drehte Lena um, sodass er ihr in die Augen sehen konnte. »Du hast das Tor geöffnet. Aber du kannst nicht zurück. Tahereh würde es merken.«
Lena riss sich mit einer heftigen Drehung ihres Körpers los. »Niemals bleibe ich bei euch!«
»Die Worte, die du sagst, werden das Tor nicht öffnen. Also sei vernünftig und komm mit uns.«
Kieran griff ihre Hand, doch Lena stemmte die Füße in den Boden und streckte sich nach dem Felsen aus, um ihn zu berühren. »Terra Antiquerra! … Terra Antiquerra! … Hilfe!«
Lena wand sich in seinem Arm, wehrte sich mit aller Kraft. Er ließ sie los, doch Finley stand schon an seiner Stelle bereit. Er packte Lena, zerrte sie vom Felsen weg und schob sie die Wiese hinauf.
Lena sah nicht, wie die Sonne am Horizont aufstieg und die Landschaft wie durch einen Schleier hindurch zum Leuchten brachte.
Sie heftete ihren Blick nur auf den Felsen. Sie wollte in ihre Welt zurückkehren. Aber diese Leute ließen es nicht zu. Hass wallte in ihr auf. Auf diesen Meister Kieran, der sie dort weggezogen hatte und erst recht auf diesen aufbrausenden Finley und den boshaften Alraun Gustav, die sie nun gemeinschaftlich die Wiese hinaufbugsierten in Richtung Turm. Lena versuchte, immer wieder auszubrechen und zum Felsen zurückzukommen.
»Sei vernünftig. Meister Kieran hat doch gesagt …« Finley jappte schwer. Seine Worte klangen abgehackt.
Lena stemmte sich gegen ihn, schnaufte und tobte. »Lass mich los, du Grobian!« Ihre Stimme überschlug sich fast. »Lass mich los, sag ich! Ich will nicht bei euch bleiben und ich werde nicht bei euch bleiben … verdammt, lass mich jetzt los!«
»Sei doch leiser! Die Dunkle darf nicht wissen, dass du … GUSTAV, lauf mir doch nicht auch noch um die Füße!«
Aus den Augenwinkeln sah Lena, wie Kieran die Hände hob. Ein magischer Lichtstrahl brach daraus hervor. Augenblicklich sanken sie alle drei zu Boden.
Finleys Stimme klang plötzlich eigenartig schwer. »Kieran, du hast mich auch getroffen.«
»Mich … so müde«, stöhnte Gustav und rollte sich auf dem Boden zusammen.
Kieran trat zu ihnen und schnalzte mit den Fingern über den Köpfen der beiden. Sie schüttelten sich wie nasse Hunde und standen auf.
»Trag sie, Finley!« Der Meister stieg ungerührt weiter die Wiese hinauf. Lena beachtete er nicht.
»Auch das noch!«
Lena hört Finleys maulende Stimme wie durch Watte. Sie fühlte sich so unsagbar müde. Er packte sie und lud sie wie einen Sack Mehl über seine Schulter. Lena wollte sich wehren, aber sie hatte keine Kraft mehr. Die Augen fielen ihr zu.
Als Lena wieder zu sich kam, stapfte Finley mit ihr über eine Lichtung. Rechts vorne sah sie, eingerahmt von dunkelgrünen Tannenbäumen, einen hohen, gemauerten Turm. Hinter sich hörte sie die flüsternden Stimmen einer Gruppe Alraunen. Sie zogen sich in den gerodeten Wald zurück, den Finley mit ihr soeben durchquert hatte.
»Lass mich sofort herunter, Grobian!« Lena zappelte und boxte.
Finley schüttelte den Kopf. »Damit du wieder abhaust und ich dir nachrennen kann?«
Gustav trabte an seiner Seite und sah zu ihr hoch. »Bitte, du musst bei uns bleiben, wir brauchen dich.«
»Damit du mir Fallen stellen kannst und deine Kumpane auf mich hetzt?«
Der Alraun schlug die Augen nieder und brummte etwas Unverständliches vor sich hin.
Finley schleppte Lena bis zum Turm. Aus der offenen Tür duftete es verführerisch nach süßer Beerengrütze und Getreidebrei. Der roh gezimmerte Tisch neben dem Eingang war bereits gedeckt. Ein rothaariges Mädchen stand mit in den Seiten gestützten Armen daneben.
Aus graugrünen Augen funkelte sie Finley an. »Sie soll sich da hinsetzen.« Sie wies auf einen Stuhl. Dann drehte sie sich von ihm weg, sodass ihr langes Haar wie eine bewegte Meereswelle herumflog, und verschwand wieder im Turm. Finley seufzte und ließ Lena von seiner Schulter gleiten.