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Hinter den Nebeln von Antiquerra, im Türkisland, geschehen beängstigende Dinge. Alles deutet darauf hin, dass die Große Schlange erwacht, ein Wesen, das die magische Welt der Olims zerstören kann. Auf der Suche nach deren verschwundenen Wächtern gerät die junge Magierin Lili völlig unvorbereitet in ein lebensgefährliches Abenteuer, dessen Ausgang auch für Antiquerra Folgen haben könnte. In Gestalt eines Raben versucht Niven, Lili und ihre Gefährten vor den grausamen Angriffen ihrer Feinde zu beschützen, dennoch steht sie am Ende allein vor einem Kampf, der aussichtsloser nicht sein könnte. WÄCHTER DER SCHLANGE ist der 4. Band der Fantasy-Romanreihe: Antiquerra-Saga. Antiquerra-Saga Eine spannende Fantasy-Romanreihe, die in einer geheimen, magischen Welt spielt und von ungewöhnlichen Freundschaften sowie dem Kampf gegen die Schatten der Dunkelheit erzählt. Band 1: Die Farbe der Dunkelheit Band 2: Feenschwur Band 3: Vampirblut Band 4: Wächter der Schlange
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Seitenzahl: 491
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Dieser Roman gehört zu einer mehrteiligen Saga. Jedes Buch beinhaltet eine eigenständige Geschichte, und kann unabhängig vom Vorgängerband gelesen werden.
Bisher erschienen:
Band 1: DIE FARBE DER DUNKELHEIT
Band 2: FEENSCHWUR
Band 3: VAMPIRBLUT
Band 4: WÄCHTER DER SCHLANGE
Schnittstelle zwischen Vergangenheit und Zukunft.
Summe vergangener Entscheidungen
und Skizze künftiger Realität.
Zeit der Bewegung, gewollt oder nicht.
Entscheidend für die Zukunft.
»Im Grunde ist unsere alte Erde Antiquerra nur eine Insel in einem zeitlosen Raum, welcher der Magie Velams entspringt. Doch sie ist die geheime Wirkstätte der Götter, die uns brauchen, um gewisse Dinge in Ordnung zu bringen.« - Luczin zu Briann, während einer ihrer vielen Diskussionen in der Zeit nach Nivens Besuch.
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Nivens Dilemma ...
In seiner Rabengestalt flog Niven über die Meerenge. Die Insel Antiquerra lag weit hinter ihm, aber seinen schmerzenden Muskeln nach zu urteilen, müsste eigentlich bald wieder Land aufkommen. Angestrengt schaute er hinunter auf das im Mondlicht glänzende Wasser. Konnte es sein, dass die Meereswellen nicht mehr der Windrichtung folgten, sondern schon parallel liefen? Ja, denn dort vorne glommen schwache Lichter. Das musste die Bucht sein! Niven stieß sich nach unten und wenig später landete er am Strand von Karmand.
Leise krächzend breitete er seine Flügel aus. Funkelnde, dunkle Schwaden stiegen um ihn herum auf, hüllten seinen Rabenkörper in wirbelnde Schatten, dann hatte er seine Gestalt als Mann zurück. Schwer atmend beugte er sich nach vorne. Sein Blick fiel dabei auf den Saum seines schwarzen Umhangs. Dieser war feucht und voller Sand, aber für einen Reinigungszauber fehlte ihm jetzt die Kraft. Er klopfte nur den Stoff ein wenig aus. Dann richtete er sich auf, fuhr mit beiden Händen durch sein dunkles, halblanges Haar, das, wie er wusste, stets ein wenig stubbelig aussah. Aber das gehörte zu ihm wie seine Mundharmonika. Die Mundharmonika ... Er tastete in den tiefen Taschen seines Umhangs und holte das silberglänzende Musikinstrument heraus. Noch vor ein paar Stunden hatte er darauf gespielt, als er im Südosten Antiquerras auf dem Weg durch das Birkenwäldchen zum Turm gegangen war, um die Freunde zu treffen. Niven seufzte. Jahrzehntelang hatte das Schicksal sie voneinander getrennt und vermutlich würde er jetzt erneut längere Zeit fort sein. Heute hatte er es ihnen gesagt.
Niven steckte seine Mundharmonika in die Tasche zurück und sah sich um. Ein Stück weit links von ihm lagen Boote am Strand, mit Laternen am spitz nach oben zulaufenden Bug, die in der Dunkelheit leuchteten. Die Wasserfahrzeuge gehörten den Meerfrauen, die sie für ihren Handel mit Seetang und Seeschwämmen nutzten. Niven ging hinüber, zog seinen Umhang aus und setzte sich im Schein der Laternen in den Sand, den Rücken an eine Bootswand gelehnt. Einen kurzen Moment lang schloss er die Augen und lauschte dem Rauschen des Ozeans. Doch er konnte sich nicht entspannen. Sein ganzer Körper schmerzte, weil er ohne Pause geflogen war.
Während Niven seinen Nacken knetete, schaute er auf das Meer, das, zum Teil verdeckt von dünnen Nebelschwaden, im Schein des Mondes glitzerte. Automatisch wanderten seine Gedanken zurück zu den Gefährten, von denen er sich vor wenigen Stunden verabschiedet hatte. Sie wollten ihm helfen. Er lächelte. Dabei hatte er vor dem ersten Treffen noch Sorge gehabt, dass die lange Zeit seiner Abwesenheit ihrer Freundschaft vielleicht geschadet hätte, aber das war völlig unbegründet gewesen. Sehr schnell hatte sich die alte Vertrautheit wieder eingestellt und die angeregten Diskussionen, die sie seither miteinander geführt hatten, erinnerten ihn an die alten Zeiten. Deshalb wunderte es ihn auch nicht, dass seine Freunde spürten, wie sehr ihn die Rätsel, die ihm sein Leben als Rabenfürst schwer machten, belasteten.
Nivens Blick schweifte zum Himmel, an dem unzählige Sterne funkelten, gerade so als ob sie ihm das Hauptproblem zeigen wollten. Denn der Himmel in seinem Zuhause, der Steinwelt Junctares, blieb sternenlos. Er hatte den Gefährten erklärt, dass er dies als Zeichen dafür ansah, dass sein Volk ausstarb. Denn anders als er selbst oder seine Rabenfürstin Lena waren die Juncta nicht unsterblich. Sie waren periodische Wiederkehrer, deren Körper nach einer gewissen Lebenszeit zum Schemen wurden und sich auflösten, um die Seelensterne freizugeben, die des Nachts am Himmel der Steinwelt leuchteten. Als Sternschnuppen kehrten sie wieder und materialisierten sich im Fürstenpalst im Raum der Staubwirbel. So war es zumindest früher gewesen. Der Grund dafür, dass es nun keine Seelensterne mehr gab und dass schon seit Langem kein Juncta mehr zurückkehrte, schien nicht eindeutig. Es konnte damit zusammenhängen, dass in Antiquerra das Tor zur Steinwelt verschlossen und der Eingang nicht mehr auffindbar war. Vielleicht fehlte den Juncta deshalb die Kraft zur Wiederkehr, denn Antiquerra speiste die Steinwelt Junctares mit Energie. Für diese Theorie sprach auch die Tatsache, dass die einzigen zwei noch vorhandenen Öffnungen zu seiner Welt, die sich hinter den Nebeln im Türkisland sowie im Dunklen Land befanden, immer kleiner wurden.
»Ja, aber …«, klang es plötzlich in Nivens Ohr, in Erinnerung an Brianns Einwand, »… warum wendest du dich nicht an die Schattenkönigin? Sie könnte euch doch sicher leicht ein neues Tor schaffen! Immerhin hat sie ja auch dafür gesorgt, dass Lena und du eure Rabengestalt wiederbekommen habt.«
Als ob sein Freund noch neben ihm säße, schüttelte Niven den Kopf. Nein … Die Schattenkönigin hatte schon versucht, ihnen ein neues Tor zu öffnen. Aber sie war auf eine magische Sperre gestoßen, die selbst sie nicht aufheben konnte. Und nun stellte sich die Frage, ob der Fluch, der Lena vor sechstausend Jahren getroffen hatte, noch immer nicht ganz gebrochen war.
Der Wind frischte auf, wühlte sich durch Nivens Haar und zerrte an seinen Hemdsärmeln. »Ich geh ja schon«, flüsterte er, stand auf und zog seinen Umhang an. Nach einem letzten Blick über das Nebelmeer, über dem der Himmel bereits heller wurde, lief er über den Sand, hoch zu den bewaldeten Hügeln. Zügig wanderte er von dort aus immer höher hinauf. Als er den dichten grauen Dunst erkannte, welcher den Berg an der höchsten Stelle teilte, blieb Niven stehen. Er beugte sich nach vorne und stützte die Hände auf den Knien auf. Während er ausschnaufte, starrte er auf die dunkle, fast unbewegliche Nebelmasse. Keiner, der dort hineinging, kam je wieder irgendwo heraus. Auch er selbst konnte nicht hindurchgehen, zumindest nicht in seiner augenblicklichen Gestalt. In der alten Zeit war das anders gewesen. Aber wenigstens konnte er noch als Rabe einen Korridor öffnen, durch den er auf die andere Seite gelangte. Dafür musste er dankbar sein. Niven atmete noch einmal durch, richtete sich auf und breitete die Arme aus. Dann sprach er lautlos den Zauber der Verwandlung. Wind kam auf, hüllte seine Gestalt in funkelnde Wirbel, die seinen Körper verzerrten und veränderten. Wenig später hockte er als Rabe am Boden.
Sofort flog Niven hoch über die Baumwipfel und nahm Kurs auf die bis in den Himmel reichende Nebelwand. Ra ka eha … Niven spürte, wie der Zauber aus ihm herausströmte und oben in dem grauen Dunst einen tunnelförmigen Durchgang bildete. Er flog hindurch und landete bald darauf auf der anderen Seite in den Zweigen eines Baumes.
Während die magischen Nebel sich wieder schlossen, blieb Niven lauschend auf seinem Ast sitzen. Er hörte keine seltsam schwirrenden Geräusche, so wie früher. Also war wohl auch die Sache mit dem Herrn der Zeit noch nicht wieder in Ordnung gekommen. Verdammt! … Als ob es nicht schon genug Probleme gab.
Aber das Rätsel um den Herrn der Zeit stand nicht an der ersten Stelle seiner Problemliste und es genügte, wenn er bei Gelegenheit der Schattenkönigin von seinen Wahrnehmungen berichtete. Zur Bekräftigung krächzte er leise, dann schweifte sein Blick zwischen den Bäumen hindurch zu einem gewundenen Pfad. Dieser führte hinunter zur Küste, die durch eine tödliche Brandung namens »Göttersturm« vor unerwünschten Besuchern geschützt wurde. Niven nahm jetzt allerdings einen anderen Weg, denn ab hier konnte er sich von Bäumen weitertransportieren lassen. Er heftete daher seinen Blick auf den Stamm des Baumes, in dessen Ästen er saß, und beschwor ihn. Ins Türkisland, zum Merkurberg … Ka kaaaa esch …
Nach wenigen Augenblicken brach ein Licht aus dem Stamm heraus und saugte ihn ein. Kurz darauf flog Niven bereits aus einem anderen Baumstamm wieder heraus und direkt auf den Merkurberg zu. Fest behielt er den winzigen Lichtpunkt im Blick, der im Gestein aufschimmerte, dann flog er auch schon durch den Fels hindurch in seine Heimatwelt Junctares.
Niven landete auf dem Fußboden der großen Eingangshalle des Fürstenpalastes und wechselte sofort seine Gestalt. Er blickte sich um, aber niemand war hier. Die Stille im Raum wirkte so bedrückend wie die Halle selbst. Früher hatte es hier prachtvoll ausgesehen, aber nun überwogen die Spuren des Verfalls. Verdorrte Kletterpflanzen durchzogen die verwitterten Wände, und das Holz der großen Treppe, die zu den Privatgemächern führte, hatte schon mehrere morsche Stellen. Seine Magie half nicht, das zu ändern, solange die Verbindung zu Antiquerra nicht wiederhergestellt war.
Erste zögerliche Sonnenstrahlen fielen durch die beiden kleinen Öffnungen in der Wand hinter ihm — im Türkisland und im Dunklen Land zog der Tag herauf. Niven betrachtete die zwei Fenster. Vielleicht noch fünf oder zehn Jahre, dann würden auch diese zugewachsen sein. Er wandte sich seufzend ab und schaute zu der portalförmigen Nische an der linken Wand, wo sich das Rabenauge befand — eine schwarze Scheibe, die sich, eingehüllt in nebelartige Schwaden, lebhaft in alle Richtungen neigte und Bilder von Plätzen anderer Welten an die Wand warf. Wenn Niven seine Hand auf die Scheibe gelegt hätte, dann hätte er die Blumen, die das Auge gerade zeigte, berühren und sogar pflücken können. Seltsam, dachte er. Das Rabenauge schien nicht von dem Fluch betroffen zu sein, es tat seine Arbeit wie eh und je. War das ein Hoffnungsschimmer?
Gegenüber den Weltenfenstern befand sich ein hohes Portal, das in den fürstlichen Park hinausführte, von dem aus die vorgelagerte Küstenstadt und das Meer zu sehen war. Niven wollte gerade darauf zugehen, da hörte er im oberen Stockwerk leise eine Tür schlagen. Er blieb stehen und schaute zur Treppe. Wie erwartet kam die Rabenfürstin wenig später zu ihm herunter. Sie trug bereits ihr tiefrotes Tageskleid.
Niven ging ihr lächelnd entgegen. »Lena …«, flüstete er und presste sie an sich, »du bist das Licht meines Tages.« Niven drückte einen Kuss in ihr blondgelocktes Haar und hielt Lena dann ein Stückchen von sich weg, um ihr ins Gesicht zu sehen. »Hab ich dich etwa geweckt?«
»Nein. Ich bin schon vor einer Weile aufgestanden, weil ich fühlte, dass du kommst.« Lena zog ihn mit sich. » Komm, setzen wir uns dort drüben ans Fenster, ich hab uns Frühstück vorbereitet.«
In dem kleinen Erker neben dem großen Portal stand vor dem Fenster ein für zwei Personen reichgedeckter Tisch.
Während Niven sich setzte, schweifte sein Blick über die Schale voll frischem Obst und die Schüsseln mit Getreidebrei und Beerensoße. »Wie schön, kein Vogelfutter zu sehen…«
Lena grinste. »Ich hab noch einen Vorrat an Regenwürmern. Magst du?«
Niven verzog vor Abscheu das Gesicht. »Nein, danke.«
Lena sah ihm zu, wie er Getreidebrei und Beerensoße auf seinen Teller häufte und zu essen begann. »Wie war dein Treffen mit unseren Gefährten?«
»Sie kennen jetzt die ganze Wahrheit über unser Dilemma«, antwortete er und schob sich einen weiteren Löffel voll Brei in den Mund. Er kaute und schluckte. »Mhm, schmeckt das gut … Sie wollen uns helfen und das Steinwelttor suchen.«
Lena schüttelte den Kopf. »Sie werden es nicht finden, solange der Fluch nicht gebrochen ist. Wir müssen zuerst den Schwarzmagier aufspüren und unschädlich machen.«
»Aber der ist längst tot.«
Wieder schüttelte Lena den Kopf. »Dann wäre der Fluch aufgehoben.« Sie beugte sich zu Niven vor. »Ich hab etwas überlegt. Als Thamar mich damals tötete, da könnte doch meine Unsterblichkeit auf ihn übergegangen sein. Es würde den überaus grellen Lichtstrahl erklären, in den ich ihn eingehüllt sah.«
Niven zuckte mit den Schultern. »Wenn du wenigstens sonst noch Erinnerungen hättest …«
Lena schöpfte sich Brei auf den Teller. »Die habe ich — ich starb im Körper eines Käfers, den dieser Unhold zertrat!«
Niven legte schnell seine Hand auf ihren Arm. »Ich weiß, Liebes, aber jetzt bist du wieder diejenige, die du immer warst, und wir werden auch unser Volk retten.«
Lena nickte. »Heute Nacht war ich an der magischen Grenzmauer, die zwischen dem Türkisland und dem Dunklen Land steht.« Als Niven erschrocken Luft holte, winkte sie ab. »Ja … die Energie dort ist so übel wie vor sechstausend Jahren, fühlt sich wegen der Mauer, die zwischenzeitlich errichtet wurde, sogar fast noch schlimmer an. Aber wie auch immer — ich habe die Stelle aufgesucht, an der es damals passiert ist. Meiner Erinnerung hat es leider nicht auf die Sprünge geholfen, alles sieht so anders aus als damals, aber ich habe unten an dem Mauerabschnitt eine Wurzel entdeckt, die einen kleinen Hohlraum geschaffen hat, durch den wir in den Grenzwald hineinkommen können. Vielleicht finden wir dort Hinweise …«
»Du gehst keinesfalls allein hinüber!« Niven schaute Lena streng an.
»Versprochen.«
Sie aßen schweigend weiter. Dann schob Niven seinen leeren Teller zurück. »Ich muss schon bald wieder fort, bei Lili meine Seelenhüter-Pflichten erfüllen. Wie du weißt, habe ich versprochen, sie bei ihrer Heimkehr zu begrüßen.« Er atmete hart aus. »Im Türkisland stehen die Zeichen bereits auf Sturm, und bald werden alle die große Gefahr erkennen. Wenn Lili dann tatsächlich diejenige ist, die das Blatt wieder wenden soll, dann frage ich mich, was ich ihr als Rabe überhaupt nützen kann. Es ist grausam, dass wir nur noch in Antiquerra und einem Teil Karmands oder hier auf Junctares unsere Gestalt wechseln können.«
Lena stand auf, ging zu Niven und griff nach seinen Händen. Sie zog ihn hoch, um ihn in den Arm zu nehmen. »Ich weiß, dass du deinen Schützling lieber mit Pfeil und Bogen verteidigen würdest. Aber wenn es zum Kampf kommt, dann ist es ihrer, nicht deiner. Du kannst Lili jedoch raten, sie vor Gefahren warnen, wo du welche erkennst, und sie wird auf dich hören, weil sie deine Botschaften versteht.«
»Ah … aus dir redet die Schattenkönigin.« Niven gab Lena einen Kuss auf die Stirn. »Wirst du mich jetzt auch noch einmal daran erinnern, dass wir über Lili der Lösung unseres eigenen Problems näherkommen können?«
»Wenn du das willst …«
Niven schüttelte den Kopf. »Nein, die Schattenkönigin hat es oft genug erwähnt, da muss ich wohl darauf vertrauen.«
»Gut … Barbarossa.«
Niven grinste. »Stimmt. Bei Lili heiße ich ja Barbarossa beziehungsweise der Kürze wegen: Barb.« Er wickelte sich eine Strähne von Lenas langen Locken um den Finger. »Ich sollte wohl zu ihr gehen, bevor ich den Namen wieder vergesse …« Niven ließ Lena jedoch nicht los. »Ich will dich nie mehr verlieren«, flüsterte er.
In den oberen Stockwerken schlugen vereinzelt Türen und Schritte klangen. Die wenigen Juctas, die jetzt noch im Fürstenpalast dienten, begannen ihr Tagwerk. Bald würden sie das große Portal öffnen und dann kam nach und nach der Rest der noch lebenden Juncta hier zusammen, um der Rabenfürstin nahe zu sein. Für Niven war dies das Signal, sich nun doch endlich zu lösen.
»Wünsch uns allen Glück«, bat er zum Abschied.
Noch während er von Lena fortging, verwandelte er sich in den Raben, flog auf und verschwand in der Öffnung, die ins Türkisland führte.
Es beginnt …
Wie wirbelnde Schatten huschten Wido und Pasko die Straße hinauf, die zu der alten Burg am Ende des Küstenplateaus führte. Beide hatten die Kapuzen ihrer schmutzigen Umhänge tief ins Gesicht gezogen. Nur ab und zu, wenn einer der Männer den Mund aufriss, um Luft zu holen, blitzte das furchterregende Gebiss auf, das sie als Schattenrosswandler auswies. Kurz vor dem Burgtor blieben sie schlitternd stehen. Neben der offen stehenden, reich verzierten doppelflügeligen Tür prangte ein einfaches Schild mit der Aufschrift: Burg Nebeltor, Meisterheilerzentrum.
Pasko ging dicht an die Außenwand der Burg heran, wurde immer dünner, sodass er fast mit der Fassade verschmolz und nur noch einem Schatten glich. Dann kroch er nach oben, um in die vielen Fenster zu schauen, sogar in diejenigen unter dem Turm mit dem Leuchtfeuer. Wenig später stand er wieder neben Wido und schüttelte seine Glieder. »Ist das richtige Zentrum. Lili packt noch.«
Wido schnaubte verächtlich. »Hab doch gesagt, dass sie an der Trauerküste ist!« Er warf einen Blick zum Himmel und sah die aufgehende Sonne. »Los jetzt! Die reist bestimmt bald ab, müssen an ihr dranbleiben!«
Die beiden Schattenrosswandler sausten in den Torgang hinein und von dort geradeaus durch bis zum Burghof. Wieder drückten sie sich rechts neben dem Durchgang wie Schatten an die Wand, um nicht gesehen zu werden. Aber es war niemand hier. Nirgendwo regte sich etwas, außer dem Wind, der durch die Zweige der dicken Buche strich, die mitten im Hof wuchs.
Eine Weile standen die beiden reglos. Als jedoch im Torgang die seitliche Tür ins Schloss fiel und Schritte klangen, die näher kamen, rutschten sie wie auf Kommando mit eingezogenen Köpfen an der Wand entlang nach unten, sodass ihre schattenhafte Gestalt völlig mit der Umgebung verschmolz.
»Das ist sie!« Pasko deutete auf die junge, dunkelhaarige Frau, die mit einem kleinen Koffer in der Hand in den Hof kam. »Hast du gesehen, die hat wirklich so dunkle Augen wie ein Rabe.«
Beide beobachteten, wie Lili auf die Buche zuging, ihre Hand auf den Stamm legte und magische Worte flüsterte. Kurz darauf strahlte ein Licht im Baumstamm auf, das sich zu einem Tor vergrößerte, in welches Lili hineinging.
»Darf uns nicht entkommen!«, presste Wiedo zwischen den Zähnen hervor und sprintete los.
Pasko rannte ihm hinterher, und die beiden schafften es gerade noch im letzten Augenblick in das sich bereits schließende magische Tor hinein. Ein Wind schob sie vorwärts und wenig später befanden sie sich in der magischen Welt Velam.
Kurz nach Lili traten die beiden Schattenrosswandler am Waldrand von Megara aus einer Fichte heraus. Sofort versteckten sie sich hinter dem Stamm. Zwar blickte Lili zurück, um dem Baum, wie es bei den Olims üblich war, für den Transport zu danken, aber Wido war sich sicher, dass sie ihn und Pasko nicht gesehen hatte. Er schob sein Schatten-Gesicht langsam um den Stamm herum nach vorne — und schreckte zurück. Lili stand reglos da und lauschte. Hatte sie doch etwas bemerkt? Aber dann begriff er, dass sie wegen der Fichte stutzte, die einen gequälten Laut von sich gab, der wie ein Husten klang. Wido deutete auf den Baum und sah grinsend zu Pasko. »Hat schon begonnen ...«
Sein Kumpan, der fast stocksteif zwischen den Zweigen am Stamm klebte und angestrengt horchte, nickte. Als er dann hörte, wie Lili sich von ihnen entfernte, riskierte auch er einen Blick zum Weg hin. Er wisperte: »Die geht zu dem Haus dort ...«
Sofort schaute Wido auch wieder hinter dem Baustamm hervor. Er beobachtete, wie Lili zum letzten Haus des Tannenwegs lief. Dort blieb die junge Frau vor dem mit üppig blühenden Rosen umrankten Gartentor stehen und atmete tief den Duft ein. Als sie das Tor öffnete, um zu dem alten weißen Häuschen zu gehen, gab Wido Pasko ein Zeichen und zusammen rannten sie Lili hinterher, gingen aber beim Gartentor erst einmal erneut in Deckung.
»Hat uns nicht bemerkt.« Pasko grinste zufrieden.
»War doch klar!« Wido reckte den Kopf, um besser zu sehen. »Guckt nicht mal hinter sich!«
»Schön dumm«, antwortete Pasko und sah sich schnell nach allen Seiten um. Danach reckte er den Kopf hoch, um das Namensschild am Gartentor zu studieren. »Son ... ja ... und ... Li ... li ... Dix … Ah, die wohnt hier.«
»Ja. Ahnungslose Lili, so einfältig, so dumm. Sitzt bald in der Falle!« Wido fing an zu zucken, seine Pferdezähne schlugen aufeinander und es sah aus, als ob er etwas packen und beißen wollte. Er sprang dabei von einem Fuß auf den anderen und kratzte mit seinen Fingernägeln über das hölzerne Gartentor. Es hinterließ hässliche Spuren.
»Leise, darf uns niemand hören!« Pasko warf seinem Kumpel einen Blick zu und erschrak. Mit aller Kraft umschlang er Wido, um zu verhindern, dass dieser sich vor lauter Ungeduld in seine dämonische Pferdegestalt verwandelte und in den Garten einbrach. »Nicht jetzt!«, zischte er. »Müssen Bericht erstatten.«
Wido beruhigte sich nur langsam, doch dann stand er still. »Lass mich los«, sagte er eisig.
Pasko zögerte. Aber als er merkte, dass Wido wieder denselben kalten Blick auf ihn richtete wie immer, tat er es doch. Er winkte ihn mit sich. »Komm jetzt, der Herr wartet nicht gern.« Er drehte sich um, um zum Waldrand zurückzurennen, wo sie ohne Aufsehen verschwinden konnten. Als aber plötzlich in der Luft der durchdringende Schrei eines Raben klang, schaute er erschrocken hoch.
»Lilis Rabenvieh!« zischte Wido.
Wie auf Kommando richteten die beiden Schattenrosswandler ihren rechten Arm auf den Boden. Ein schwefelgelbe Wolke stieg auf, und gleich darauf waren beide verschwunden.
Lili ging durch den lang gestreckten Vorgarten zum Häuschen ihrer Großmutter. Immer wieder blieb sie stehen, um die Blumen zu bewundern, die jetzt im Spätsommer noch einmal ihre ganze Farbenpracht entfalteten. Wie sie diesen Garten vermisst hatte in den letzten drei Monden! Aber jetzt konnte sie niemand mehr irgendwo hin beordern, wo sie nicht hin wollte. Sie hatte ihre Pflicht erfüllt, ihre Heilerfähigkeit wie vorgeschrieben in der Praxis unter Beweis gestellt und durfte sich nun offiziell zu den Erwachsenen rechnen. Ein bisschen spät, wie sie fand, schließlich war sie bereits zwanzig Jahre alt. Es gab andere, die schon im Alter von siebzehn Jahren geprüft worden waren, wie die Schwester ihrer Freundin Kela. Das System der Platz-Vergabe hatte sie allerdings nie wirklich interessiert, aber dass sie dann ausgerechnet an die Trauerküste zur Meisterheilerin Lunera geschickt worden war, beschäftigte sie noch immer. Diese war so streng wie anspruchsvoll und hatte ihr alles abverlangt, sodass sie nach jeder Heiler-Schicht wie tot ins Bett gefallen war.
Lilis Gedanken an die pingelige Lunera verblassten, als sie vor der Haustüre stand. Aber gerade als sie an der Türglocke ziehen wollte, hörte sie den Ruf ihres Raben. Ihr Herz machte einen freudigen Hüpfer. Schnell stellte sie ihren Koffer ab, trat ein paar Schritte zurück und blickte zum Himmel. »Barb«, flüsterte sie, »du bist gekommen.«
Hab es doch versprochen! Die männlich klingende Stimme umwehte Lili wie ein Hauch. Als sie den Arm ausstreckte, damit Barbarossa bequem landen konnte, sah sie aus den Augenwinkeln, wie vor dem Gartentor eine schmutzig-gelbe Wolke aufstieg. Sie schaute dorthin, aber in dem Moment spürte sie, wie der Rabe auf ihren Fingern aufsetzte.
Sofort wandte sie ihm ihre Aufmerksamkeit zu. »Hallo Barb!«
Barbarossa schaute Lili unverwandt an. Alles gut … aber muss die Umgebung im Auge behalten ...
Lili lächelte. Barbarossa klang oft so, als ob er auf sie aufpassen würde. Sie schaute ihm nach, wie er zum Gartentor flog, sich kurz nach allen Seiten äugend auf dem Pfosten niederließ und dann in Richtung Wald fortflog.
Als Lili das Haus betrat, wurde sie von Großmutter Sonja gleich herzlich umarmt. Während diese dann in die Küche vorauseilte, blieb Lili noch einen Augenblick im Flur stehen. Ihr Blick schweifte zu der Tür unter der Treppe, hinter der eine kleine Abstellkammer mit einer Wendeltreppe lag, die in den Keller führte. Sie schnupperte, weil eine bunte Mischung von Gerüchen ihre Nase streifte, aber der Duft kam nicht von dort, sondern von der Stube links vom Hauseingang. Sonja lagerte in dem Zimmer ihre selbst hergestellten Kräuterzubereitungen. Lili sog den würzigen Duft tief ein.
»Der Tee ist fertig«, rief die Großmutter.
Lili eilte in die Küche, aber auf der Türschwelle blieb sie wieder stehen. Wie gemütlich es hier war, wie vertraut! Ihr Blick erfasste die zierliche Frau, die den Tisch deckte. Mit sicheren Bewegungen tat Sonja die notwendigen Handgriffe und überprüfte mit wachen Augen, ob etwas fehlte. Ihr kastanienbraunes Haar hatte sie zu einem langen Zopf geflochten, den sie am Hinterkopf zu einer Schnecke aufgesteckt trug.
Lili lächelte, während sie alles im Raum betrachtete. Sonja und ihre Küche, hier würde sich nie etwas verändern. Links der kleine Ofen, daneben der Herd. Daran anschließend der Arbeitstisch aus mittlerweile rötlich nachgedunkeltem Kirschbaumholz. Die imposante, steinerne Spüle stand direkt vor dem Fenster. Der Esstisch hatte seinen Platz rechts, seitlich der Tür zum Gemüse- und Kräutergarten, vor den beiden Eckfenstern. Sonja saß dort bereits und goss den Tee in die Tassen. Lili ging auf sie zu, blieb aber vor dem Herd erneut stehen. Dieser sah wie ein eckiger, gemauerter Pizzaofen aus, mit einer halbrunden Eisentüre. Obenauf lag eine Steinplatte mit vier unterschiedlich großen Löchern darin. Sie hatten die Form einer strahlenden Sonne. Darunter waren Gefäße eingearbeitet und darin lag jeweils ein großer Brocken Lava. Lili hob ihre Hand über einen der Steine und er fing an zu glühen. Gleich darauf züngelten Flammen daraus empor. Die Lava wurde flüssig und verteilte eine gleichmäßige Hitze. Als Lili ihre Hand nach oben führte, folgten die Flammen und wurden größer. Eine Bewegung abwärts senkte die Hitze wieder ab. Der Backofen darunter folgte dem gleichen Prinzip. Auch da drinnen lag Lava. Mit einer wischenden Handbewegung löschte Lili das Feuer, sodass der Stein ausglühen konnte, und setzte sich dann zu Sonja an den Tisch. »In der Burg Nebeltor durften wir die Küche nicht einmal betreten. Vermutlich, weil sie dort auch geheime, magische Arzneien gekocht haben …«
Während sie nun ihren Tee tranken und von dem Begrüßungskuchen aßen, den Sonja gebacken hatte, erzählte Lili von ihren Erlebnissen mit der Meisterheilerin Lunera. »Von der Trauerküste habe ich so gut wie nichts gesehen. Wir Praktikanten — so nannte uns Lunera — durften die Burg nicht verlassen. Die Steilküste sei für Ortsfremde zu gefährlich, hieß es. Aber ich hatte wenigstens ein Zimmer mit Blick auf das Meer.«
»Wie viele wart ihr denn?«, warf Sonja ein.
»Dreißig. Es sind scheinbar immer dreißig, die der Meisterheilerin zur Hand gehen sollen. Wenn welche von uns heimgingen, kamen immer genauso viele Neulinge hinzu. Kaum einem von uns fiel die Zeit dort leicht. Wir mussten auf alles gefasst sein. Einmal kam ein verletzter Riese und der trat so hart auf, dass wir Angst hatten, die Burg stürzt über uns ein. Wir mussten ihn im Freien behandeln. Aber das Schlimmste, das ich dort erlebt habe, war eine Magierin, deren Mund vollständig zugewachsen war. Nichts half, bis Lunera kurzerhand den Mund aufschnitt. Ich musste danach die blutenden Wunden heilen, aber das hat lange gedauert.«
»Du lieber Himmel! Wer hatte die Frau denn so zugerichtet?«
»Sie sagte: ein Goblin. Aber ich tippe eher auf ein misslungenes magisches Experiment …«
Sonja nickte. »Ob so oder so, bestimmt ist die Frau jetzt vorsichtiger.« Sie biss sich auf die Lippen, dann schaute sie Lili an. »Ich habe auch Neuigkeiten, eine gute und eine schlechte. Welche willst du zuerst hören?«
Lili nahm vorsichtshalber noch einen Schluck Tee. »Die Schlechte …«
Sonja wirkte auf einmal sehr bedrückt. »Unser Wald … Das Kraftdreick verliert aus unerklärlichen Gründen Energie und das Schlimmste: Die Waldelfen sind verschwunden. Seit zwei Wochen hat sie niemand mehr gesehen.«
Lili Herz machte vor Schreck einen Hüpfer. Schon vor ihrer Abreise hatte sie gespürt, dass mit dem Wald etwas nicht stimmte, aber dass sich jetzt auch noch die Elfen nicht mehr blicken ließen ... Sie fasste einen Entschluss. »Ich benachrichtige meine Freunde und dann gehen wir der Sache nach.« Lili schwieg einen kurzen Moment. »Und die gute Neuigkeit?«
Sonja atmete durch, dann lächelte sie. »Wir haben einen neuen Mitbewohner. Du wirst ihn bald kennenlernen. Ob er heute noch auftaucht, weiß ich nicht, aber morgen bestimmt. Länger hält er es sicher nicht aus. Er ist so neugierig auf dich.«
Lili schüttelte den Kopf. »Ich verstehe kein Wort …«
Sonja lächelte noch immer. »Ich habe den kleinen Kerl richtig lieb, auch wenn er sehr anstrengend sein kann. Er hat nämlich eine Neigung, allerlei Sachen zu stibitzen. Pass also auf, was du herumliegen lässt. Sonst musst du dir den Mund fusselig reden, um es wiederzubekommen.«
Lili holte überrascht Luft. »Du willst sagen, dass wir einen Kobold …«
»Ja!« Sonja gluckste vor Heiterkeit.
Lili beugte sich gespannt vor. »Wie heißt er denn?«
»Goswin«, erwiderte Sonja. »Vor zwei Monden stand er plötzlich vor mir, stemmte die Arme in die Hüften und sagte: Du bist jetzt meine Familie. Ab da war nichts mehr wie vorher.«
Lili brannte jetzt darauf, Goswin so schnell wie möglich kennenzulernen. »Meinst du, er mag mich?«
»Bestimmt! Wie ich ihn kenne, hat er bereits einen Blick auf dich geworfen und überlegt nur noch, wie er am besten an dich herankommt. Nur noch ein bisschen Geduld … und jetzt solltest du deinen Koffer nach oben bringen.«
Lili nickte und stand auf. Als sie durch den Flur lief, bemerkte sie, wie die Tür zur Abstellkammer leise geschlossen wurde. Ob das Goswin war?
Lilis Koffer stand noch vor der offenen Haustüre. Sie hob ihn herein und blickte dann über den Garten hinweg ins Tal mit den satten Wiesen und den darin verstreuten Bauernhöfen. Sogar das Meer sah sie von hier aus in der Sonne glitzern. Wenn sie zu den zerklüfteten Klippen ging, konnte sie bei gutem Wetter hinüberblicken bis nach Astral, jener wundervollen Stadt der vier Tore. Lili schnupperte mit geschlossenen Augen. Der salzige Geruch des Meeres umwehte ihre Nase hier nicht so stark wie an der Trauerküste. Er wurde überlagert vom köstlichen Duft der Tannen und Fichten des kleinen Gebirges, das sich seitlich und hinter dem Haus hochzog. Sie lächelte. Gab es einen schöneren Ort als diesen?
Lili riss sich von dem Anblick los und ging mit dem Gepäck die Treppe hoch. Kurz darauf stand sie in ihrem Zimmer und warf den Koffer mit Schwung auf das große Bett mit dem rosa durchscheinenden Baldachin. Dann öffnete sie ihren Schrank. Ihr Blick fiel sofort auf die abgwetzte Hutschachtel, die sich auf der oberen Ablage über der Kleiderstange befand. Sie nahm sie herunter und statt ihre Kleider einzuräumen, setzte sie sich damit auf den Boden. Die Schachtel war randvoll mit Erinnerungen gefüllt. Lili zog einen abgegriffenen kleinen Teddybären heraus, dem ein Auge fehlte und dessen Bauch mit Mottenlöchern übersät war. Zärtlich streichelte sie über den alten Freund. Dann kramte sie weiter. Ganz unten auf dem Boden der Hutschachtel lag ein Foto. Die Risse, die das Bild durchzogen, verrieten, dass Lili es nicht zum ersten Mal in der Hand hielt. Es zeigte eine junge Frau mit rotbraunen Haaren, die lachend über einer Wiese schwebte, die Arme ausgebreitet wie die Flügel eines Vogels. Es war Viola Dix, ihre Mutter, die bei einem tragischen Unfall gestorben war. Lili war damals erst sieben Wochen alt gewesen. Bis heute konnte niemand erklären, weshalb Viola abgestürzt war. Die Umstände blieben mysteriös, vor allem da sie eine exzellente Fliegerin gewesen war, die bei Wettbewerben viele Preise gewonnen hatte. Lili hauchte einen Kuss auf die Fotografie, legte sie beiseite und kramte weiter. Kurz darauf hielt sie einen kreisrunden Fetzen Stoff von Violas Flugumhang, der bei dem Unfall damals völlig zerrissen worden war, in der Hand. Es hing noch ein wenig von der glücklichen Energie darin, die ihre Mutter während des Fluges verspürt haben musste. Als Lili das Stück Stoff an ihre Wange drückte, kam es ihr so vor, als würde sie ein helles Lachen hören.
Nach einer Weile legte Lili die herausgenommenen Gegenstände wieder in die Hutschachtel und stellte diese in den Schrank zurück. Weil es so warm im Zimmer war, ging sie auf die andere Seite, um die beiden Fenster zu öffnen. Ihr Blick schweifte über die Tannen des nahen Waldes. Das leichte Rauschen der Bäume hörte sich wundervoll an und sie merkte, dass sie auch das vermisst hatte.
An der Wand, seitlich vor dem ersten der beiden Fenster, stand Lilis Sekretär. Die Morgensonne hüllte den zierlichen Schreibtisch in ein warmes, rotbraunes Leuchten, erfasste die Elfenfiguren und küsste sie wach. Die kleinen Wesen nahmen sich bei den Händen und tanzten lautlos durch den oberen Bogenrand des Möbels. Lili sah ihnen eine Weile lächelnd zu. Dann fiel ihr ein, dass sie ihrer Freundin Kela ja eine Nachricht senden wollte. Aber wo war ihr Briefstab? Zu Lunera hatte sie den magischen Helfer nicht mitgenommen, dort hatte sie die hauseigenen Stäbe benutzt. Ach, er würde sicher auftauchen, wenn sie nach ihm verlangte.
»Briefstab … Nachricht senden«, rief sie.
Die obere, rechte Schublade ihres Sekretäts rauschte heraus und ein bleistiftdünner Stab sauste von da aus in die Luft. Er drehte sich mehrfach um die eigene Achse. Dabei formte er an seinem oberen Ende einen großen Mund, Augen, und an den Seiten zwei dünne Ärmchen. Dann holte er tief Luft und spuckte mit gespitztem Mund ein gerolltes Blatt Papier aus, dem Lili gerade noch ausweichen konnte.
Während sie zur Seite hüpfte, befahl sie: »An Kela Merlot!«
Der magische Helfer rollte das Papier auf. Wie ein dünnes Brett schwebte es in der Luft. Dann zog er sich einen Schreibstift aus dem Mund, schielte neugierig über die dicke, gewölbte Oberlippe und wartete auf Lilis weiteren Befehl.
»Liebe Kela, soeben habe ich erfahren, dass die Waldelfen verschwunden sind. Irgendetwas stimmt hier nicht! Helft ihr mir, die Elfen zu suchen? PS: Bin erst seit heute wieder zuhause.«, diktierte sie und fühlte sich plötzlich sehr niedergedrückt. Der Briefstab schwebte zu ihr hin und streichelte ihre Nase. Der Schreibstift in seiner Hand streifte dabei über ihre Wange. Lili musste aufpassen, dass er nicht ihr Gesicht bemalte. »Abschicken. Hadee adadee!«, befahl sie schnell.
Der Briefstab flog hoch, saugte Papier und Stift in seinen Mund, rülpste hinter vorgehaltener Hand und grinste sie an. Der Brief war jetzt unterwegs zu ihrer Freundin, und auf ihr Wort hin kehrte der magische Helfer in seine Schublade zurück.
Lili schnupperte, weil plötzlich ein Duft nach Pfannkuchen zu ihr heraufwehte. Sicher rief Sonja sie gleich zum Mittagessen. Lili verstaute schnell noch die Sachen aus dem Koffer und ging zu ihr hinunter.
In der Küche war der Tisch für drei Personen gedeckt, doch Goswin ließ sich nicht blicken.
»Vorhin kam er angeflitzt, schnappte sich zwei Pfannkuchen und sauste wieder hinaus«, erklärte Sonja lachend. »Mach dir nichts daraus, Lili. So sind Kobolde eben.«
Später räumten sie gemeinsam den Tisch ab und am Nachmittag erhielt Lili bereits Antwort von Kela, die ankündigte, dass sie übermorgen mit ihrer Schwester Sira und ihrem Freund Ferdan kommen würde, um mit Lili nach den Waldelfen zu suchen.
Am Abend ging Lili früh schlafen, aber mitten in der Nacht wachte sie auf. Durch die Decke ihres Zimmers hörte sie es im Speicher rumoren. Sie richtete sich halb in ihrem Bett auf, hielt den Atem an und lauschte. Was war das? Diese klackernden Geräusche hörten sich an, als ob etwas auf dem Dachboden hüpfte und rollte. Nach einer Weile wurde es still. Lili entspannte sich, doch schon im nächsten Moment fuhr sie wieder hoch. Es quietschte. Regelmäßig. Ein kurzes Stampfen auf der Decke über ihr, dann prasselte es. Schnelle, leise Schritte, noch einmal ein Prasseln. Immer wieder in gleicher Folge. Das war kein Tier. Vielleicht der Wind? Nein, das würde sich auch anders anhören. Plötzlich lachte Lili auf. Natürlich! Das konnte nur der Kobold sein. Sicher war Goswin dort oben. Was er da wohl trieb? Schade, dass sie ihn nicht sehen konnte.
Oben auf dem Speicher lag Goswin in Lilis alter Babywiege und ließ seine klapperdürren Beine rechts und links heraushängen. Mit seinem ganzen Körper vollführte er Bewegungen, die das Bettchen zum Schaukeln brachten. Der Kobold starrte dabei mit gerunzelter Stirn auf die Speicherbalken und verzog das Gesicht zu Grimassen, weil er so angestrengt nachdachte. Seine großen, abstehenden Fledermausohren rollten immer wieder ein und auf. Er hatte irgendwo einen Schlafanzug aufgetrieben, dessen Ober- und Unterteil jedoch nicht zusammenpassten. Die kurze, für seinen dünnen Körper viel zu weite Hose hielt er mit dem Gummiband eines Einmachglases an seinem Bauch fest. An dem Jäckchen, das er dazu trug, war ein Ärmel herausgerissen, den er sich als Schlafmütze über den Kopf gestülpt hatte. Darunter schauten seine feuerroten Haare hervor. Auf dem Boden verstreut lagen die Sachen, die Goswin tagsüber anhatte. Das grell karierte Hemd, das er immer nur mit einem Knopf schloss, und die zu kurze, mit Zapfen und Zweigen bedruckte Hose. Überall im Speicher lagen die Fichtenzapfen und Murmeln herum, mit denen er gespielt hatte.
Das Nachdenken führte zu einem Ergebnis. Goswin schlenkerte beide Beine nach rechts, sodass sich die Seite seines Bettchens zum Boden neigte, und sprang heraus. Dann schlich er zur Speichertür, öffnete sie und kletterte die Treppe hinunter. Vor Lilis Zimmer blieb er stehen, die großen Fledermausohren dicht an die Wand gepresst. Eine Weile verharrte der Kobold in dieser Stellung. Dann öffnete er einen Spaltbreit die Tür und blinzelte in den Raum hinein.
Als Lili bemerkte, dass ihre Zimmertür geöffnet wurde, stellte sie sich schlafend. Ihr Herz begann, schneller zu klopfen. Sie hörte, wie jemand näher schlich und sich dabei selbst ermahnte: »Leise sein, leise sein!« Die Stimme klang seltsam rau.
Nach einer Weile spürte sie, wie ein Finger über ihre Wange strich und dann sanft tastend ihren Mund nachzeichnete. Als Lili aufblickte, schaute sie direkt in die Augen des Kobolds, die fast so dunkel waren wie ihre eigenen. Er erschrak. Rückwärts wich er bis zum Schrank zurück.
»Hallo, du bist bestimmt Goswin«, redete Lili ihn an.
Der Kobold nickte so heftig, dass ihm seine ungewöhnliche Schlafmütze vom Kopf fiel und die Haare sich nach allen Seiten aufrichteten. »Wollte nur Lili sehen.« Er zog den Kopf ein, als wenn er erwarten würde, ausgeschimpft zu werden.
»Schon gut«, sagte Lili. Sie reichte ihm den Apfel, den sie auf dem Nachtschrank liegen hatte. »Hier, magst du den?«
Der Kobold strahlte über das ganze Gesicht. »Oh, ein Geschenk! Lili gibt mir ein Geschenk, sie mag mich, sie mag mich«, hauchte er. Mit beiden Händen nahm Goswin das Obst entgegen. Übermütig hüpfte er damit im Zimmer herum und polierte den Apfel immer wieder mit seiner Schlafjacke, so lange, bis er im ins Zimmer hereinscheinenden Mondlicht glänzte. Dann rannte er ohne ein weiteres Wort zur Tür hinaus.
Oben auf dem Speicher krabbelte Goswin zurück in sein Bettchen. Den Apfel behielt er nach Koboldart bei sich, damit er ihn noch eine Weile anschauen konnte. Lili hatte ihm diesen geschenkt, und das war ein eindeutiges Zeichen der Freundschaft. Sie gehörte außerdem zu der Familie, die er sich selbst erwählt hatte. Mehr Glück konnte er sich nicht vorstellen.
Am nächsten Morgen schlüpfte Barb in aller Frühe durch das offene Fenster in die Küche. Als Lili zum Frühstück herunterkam, saß er auf einer der Stuhllehnen. Der Vogel sah zerzaust und erschöpft aus und Lili fragte sich, wo er wohl gewesen war.
Ihre Aufmerksamkeit wurde jedoch abgelenkt. Auf der Treppe polterte es und ein paar Kiefernzapfen rollten herunter. Gleich darauf tauchte Goswin in der Küche auf. Seine roten Haare standen nach allen Seiten vom Kopf ab.
Er rannte zu Sonja, die am Herd stand und Haferbrei kochte, zerrte an ihrer Schürze und versuchte daran hochzuklettern. »Mein Haferbrei. Gib mir meinen Haferbrei, hab so Hunger!«
»Dein Brei ist gleich soweit.« Sonja versuchte, Goswin abzuwehren, der unter ihren Armen hindurch den Topf vom Herd ziehen wollte. Dann wandte sie sich besorgt an Lili. »Was ist mit deinem Raben los? Als ich heute Morgen hereinkam, saß er schon so da.« Sonja schob den zappelnden Kobold zur Seite. »Ich bin ja schon fertig!« Sie rührte noch einmal im Topf um, goss den Haferbrei in eine Schale und reichte sie Goswin, der jetzt endlich ihre Schürze losließ und mit seinem Brei zum Tisch trabte. Auch Sonja setzte sich und gemeinsam aßen sie ihr Frühstück. Barbarossa pickte wie abwesend ein paar der Brotkrumen auf, die Lili ihm hingestellt hatte, und tauchte dann seinen Schnabel gierig in die Tasse mit Wasser. Sonja beobachtete ihn. »Hast du herausgefunden, was ihn so verstört hat?«
Lili schüttelte den Kopf. »Die Gedanken und Bilder, die Barb mir schickt, sind heute seltsam. Sie regt sich, das sagt er immer wieder, aber ich kann mir keinen Reim darauf machen.«
»Die Olims bringen das wieder in Ordnung.« Goswin sprach undeutlich, weil er den Mund voll Haferbrei hatte.
»Weißt du, wen Barb meint?«, fragte Sonja überrascht.
Goswin stellte seine großen, abstehenden Fledermausohren gerade und tat so, als ob er die Frage nicht gehört hätte. »Spielen! Spielen ist immer gut, vertreibt dunkle Gedanken«, murmelte er. Es klang, als ob er ein Reibeisen verschluckt hätte. Goswin rutschte von seinem Stuhl herunter, rannte zur Tür hinaus und die Treppe hoch. Kurze Zeit später warf er kichernd mit seinen Fichtenzapfen um sich herum.
Barb war wieder fortgeflogen, aber Lili spürte, dass er in der Nähe blieb. Seit dem Frühstück half sie ihrer Großmutter bei der Herstellung frischer Kräutersalben, die den Vorrat ergänzen sollten. Am späten Vormittag — sie waren gerade fertig geworden — wurden sie plötzlich von einer tiefen männlichen Stimme aufgeschreckt. »Hallo Sonja. Ich bringe die Milch heute selbst.«
An der Haustüre stand ein derber, älterer Mann. Es war Bauer Friedhelm, der breit grinsend die Milchkanne schwenkte. »Frisch gemolken … Sonja, ich bräuchte noch mal eines von den Mittelchen. Berta hat doch tatsächlich wieder was Falsches gefressen und jetzt hat sie Bauchgrimmen, das dämliche Vieh.«
Berta war eine von Friedhelms Mondkühen — eine besondere Rasse mit schwarzem Fell und einem einzigen weißen Fleck in Form einer Mondsichel auf der Stirn. Während Sonja in der Kräuterstube verschwand, grübelte Lili darüber nach, was hier vor sich ging. Kranke Kühe, hustende Bäume, die verschwundenen Waldelfen und dann heute früh Barbs Botschaft, das hing möglicherweise zusammen.
»Du solltest deine Wiese nach giftigen Kräutern absuchen. Deine Kühe haben derzeit oft Bauchgrimmen«, rief Sonja aus der Stube.
»Das mache ich«, brummte der Bauer.
Er gab Lili die volle Milchkanne in die Hand und nahm ihre leere Kanne entgegen. Währenddessen bekam sie mit, wie unter der Treppe die Tür einen Spaltbreit geöffnet wurde. Der Kopf des Kobolds lugte heraus und verschwand wieder. Kurz darauf kam Sonja mit der Arznei in der Hand zurück und reichte sie dem Bauern mit ein paar Erklärungen zur Anwendung. Zufrieden stapfte dieser davon.
Auf diesen Moment hatte Goswin gewartet. Der Genuss von Milch war das Größte für ihn und als Lili, begleitet von Sonja, die Milchkanne in die Küche brachte, stürmte er heran und hängte sich wie eine Klette an sie. Er vollführte einen regelrechten Aufstand. »Milch, ich will Milch, das ist Milch für Goswin, gib her!« Der Kobold hüpfte immer wieder hoch, um die Milchkanne zu erreichen und zerrte an der Kleidung von Lili und Sonja, um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen. Voller Vorfreude schleckte er über seine Lippen. »Leckere Milch, gib her!« Goswin begriff nicht, dass es umso länger dauerte, bis er seinen heiß geliebten Trank bekam, je mehr er an Lili und Sonja herumzerrte. Aber endlich stand die Kanne auf dem Tisch und Sonja goss von der weißen Flüssigkeit in eine kleine Henkeltasse. In einem Zug trank der Kobold die Milch aus. »Mehr!«, forderte er. Auch die zweite Tasse war ruckzuck leer getrunken. »Noch mehr!« Nach der dritten Tasse Milch ging nichts mehr in seinen kleinen Bauch hinein. Rücklings ließ sich Goswin auf den Boden fallen und schmatzte.
Sonja hob den kleinen Kerl hoch und trug ihn hinaus unter die Pergola, die seitlich des Hauseingangs war. Dort bettete sie ihn in die weichen Kissen des Schaukelstuhls. Goswin nahm das vermutlich kaum wahr. Er streichelte sich immer noch milchtrunken den Bauch.
Den Nachmittag verbrachten sie dann selbst draußen unter der Pergola, zusammen mit der Nachbarin Aylin, die zum Kaffee und Apfelkuchen herüberkam. Während sie sich unterhielten, sammelte Lili die Kuchenbrösel auf einem Extrateller und nach einer Weile ging sie damit zu den Elfensteinen im Garten. Als sie ihre Gabe verteilte, tanzten die kleinen Blumenelfen ausgelassen um sie herum. Lili lächelte. Wenigstens hier schien alles in Ordnung zu sein.
Danach setzte sie sich wieder zu Sonja und Aylin — Goswin war mit seinem Stück Apfelkuchen in sein Versteck geflitzt — und recht bald kam die Rede auch auf die mysteriösen Veränderungen in ihrer Umgebung. Aylin hatte es auch schon bemerkt. Der fröhliche Ausdruck in ihrem Gesicht verschwand. »Der Wald verdüstert sich.«
Lili nickte. So empfand sie das mittlerweile auch. Aber vielleicht fand sie morgen etwas heraus. Mit ihren Freunden Kela, Ferdan und Sira wollte sie nach den Waldelfen suchen. Sie mussten sie finden!
Elfentränen …
Am nächsten Morgen saß Lili schon in aller Frühe im Wohnzimmer, um die Ankunft der Freunde nicht zu verpassen. Ihr Blick flog immer wieder zu dem hohen Spiegel mit seinem in Silber gefassten Rahmen, der vom Boden bis fast zur Decke reichte und an der Wand zwischen den beiden Fenstern hing. In die obere Leiste des Spiegels waren magische Zeichen eingraviert. Wegen der vielen Schnörkel und Verzierungen des Rahmens fielen sie nicht allzu sehr auf, aber Lili wusste, was da geschrieben stand:
(Du weißt das Ziel und ich den Weg.)
Die Inschrift verriet dem Eingeweihten, dass hier kein gewöhnlicher Spiegel hing. Er hatte vor allem die Funktion einer geheimen Verbindungstür, durch die man an jeden gewünschten Ort gelangen konnte. Der Spiegel kannte alle Wege so gut wie die Bäume und wurde von Sonja und Lili gern für Einkaufsreisen und private Besuche benutzt. Bald würden Kela, Sira und Ferdan aus ihm herauskommen und ins Wohnzimmer treten.
Während sie wartete, spürte Lili, wie sie heimlich beobachtet wurde. Sie blickte zu dem weißen Klavier hinüber.
»Untersteh dich, schon am frühen Morgen meine Ohren zu strapazieren!« Das hölzerne Abbild des Konzertmeisters Serenus, das kunstvoll in das Instrument eingearbeitet war, wedelte mit dem Taktstock.
»Dazu fehlt mir leider die Zeit. Ich bedauere, Serenus, wo ich doch weiß, dass du sehnlich darauf wartest, mich spielen zu hören, nur damit du mich als talentlos beschimpfen kannst.«
»Ha!«, sagte Meister Serenus, der Lilis Klavierspiel in Wirklichkeit sehr mochte. Er blickte finster zu ihr herüber und schlug mit dem Taktstock gegen das Klavier.
»Entschuldige bitte, ich erwarte Besuch«, murmelte Lili und wandte sich von ihm ab.
Im Zimmer rauschte es, wie von einem fernen Ozean. Die silbrigen Reflexionen des Wandspiegels veränderten sich. Der übliche Glanz wurde milchig trüb, verdunkelte sich in abwechselnden Graustufen, bis aus dem zuletzt schieferfarbenen Nebel aus der Mitte heraus ein Licht hervorbrach. Kurz darauf wurden Gestalten sichtbar, erst schemenhaft, dann immer deutlicher und nacheinander traten Lilis Freunde durch die offene Verbindungstür des Spiegels ins Wohnzimmer. Das magische Portal schloss sich hinter ihnen und kurz darauf sah der Spiegel wieder ganz normal aus.
Kela drückte Lili an sich. »Du hast also die strenge Hexe Lunera tatsächlich überlebt …«
»Mit Müh und Not …«
»Beinahe hätte ich nicht mitkommen können. Es gab Probleme im Goldturm wegen unstimmigen Zahlen, aber es hat sich zum Glück gestern kurz vor Feierabend noch geklärt«, meldete sich Ferdan und blies sich eine widerspenstige, blonde Haarsträhne aus der Stirn.
Ferdan war Kelas Freund. Er arbeitete in dem turmartigen Gebäude in Astral, das die Ämter sowie die Bank- und Vermögensabteilungen des Türkislands beherbergte und das wegen seiner mit Gold verzierten Fassade Goldturm hieß. Obwohl erst vierundzwanzig Jahre alt, setzte ihn seine Abteilung bereits als Quästor zur Vermögensverwaltung der Stadt ein. Darauf war Ferdan sehr stolz.
Lili umarmte ihn. »Da bin ich froh, dass es doch geklappt hat. Wenn du nicht dabei bist, fehlt etwas.«
Sira, die jüngere Schwester von Kela strahlte. »Klasse, dass wir vier endlich wieder etwas zusammen unternehmen — auch wenn der Anlass dafür etwas beunruhigend ist.«
Kela war wie Lili zwanzig Jahre alt, und Sira hatte vor Kurzem ihren achtzehnten Geburtstag gefeiert. Die beiden Schwestern sahen sich sehr ähnlich. Beide hatten aschblondes Haar, das glatt herunterhing. Um es aufzupeppen, zauberten sie sich ständig andere Farbsträhnen hinein. Heute hatte Kela mehrere rubinrote Streifen gewählt und dann seitlich eine Strähne geknotet, die jetzt frech über dem übrigen Haar wippte. Sira hatte die Frisur für sich nachgemacht, allerdings mit silbrig-blauen Strähnen, die ihre blauen Augen zur Geltung brachten.
Sie gingen zusammen in die Küche, wo Sonja schon den Tisch für sie gedeckt hatte. Die Freunde umarmten auch die Großmutter herzlich, dann setzten sie sich und langten kräftig zu. Auch Goswin saß mit ihnen am Frühstückstisch und löffelte seinen Haferbrei. Er blieb still. Heimlich beobachtete er, mit über der Schüssel gebeugtem Kopf, was vor sich ging.
Kela kramte in der Tasche, die sie dabei hatte, und beförderte ein kleines Päckchen zum Vorschein. »Hier Goswin, das haben wir dir aus Astral mitgebracht.«
Goswin ließ den Löffel mit Haferbrei sinken. Sein Mund, in den er sein Essen gerade hatte hineinbefördern wollen, klappte im Zeitlupentempo zu. Seine Augen wurden groß und rund.
»Für mich?«, flüsterte er, nahm das Päckchen und wickelte es mit einer Behutsamkeit aus, die man ihm gar nicht zugetraut hätte. Ein Freudenschrei entfuhr ihm, als er die goldbraun glänzenden Eicheln sah, die man in dieser Art nur im Sichelmondwald finden konnte. Glücklich sah sich Goswin in der Runde um und bedankte sich, indem er mit einer Handbewegung eine schillernde Kugel in der Luft erscheinen ließ. Der Ballon platzte, ein wunderschöner singender Vogel stieg über dem Esstisch auf, der sich am Ende seines Lieds langsam wieder auflöste.
Während alle noch über Goswins Zauber staunten, flog Barb ans offene Fenster heran und ließ sich auf dem Sims nieder. Er wippte mit dem Kopf, als ob er sie zur Eile antreiben wollte. Lili stand auf und griff nach ihrem bereits gepackten Rucksack. Sonja versorgte derweil auch die Freunde noch schnell mit leckeren Broten, Getränken, Obst und hausgemachten Süßigkeiten.
Auf der Treppe draußen im Flur polterte es und Goswin kam angeflitzt, der zuvor unbemerkt verschwunden war. In der Hand trug er den alten bunten Kinderrucksack von Lili. »Ich will auch mitgehen!«
Nach einem fragenden Blick in die Runde richtete Sonja auch Goswin eine Wegzehrung. Als alle startklar waren, machten sie sich auf den Weg. Lilis Rabe flog zum Waldrand voraus und wartete dort, bis die Freunde in die Stille des Tanns eintauchten.
Die Luft trug den würzigen Duft der Nadelbäume und Moose, der Waldboden dämpfte den Klang der Schritte. Lili und ihre Freunde passten sich bald der ruhigen Atmosphäre an, sie sprachen leiser. Goswin rannte vor ihnen her. Barb kreiste über den Wipfeln der Tannen, blieb jedoch stets in der Nähe der kleinen Gruppe und signalisierte mit einzelnen Rufen, dass er da war.
Lili schilderte noch einmal, was sie beunruhigte. Sie erzählte von Friedhelm und seinen kranken Kühen; von dem Baum, der bei ihrer Ankunft gehustet hatte; von Barbs unverständlicher Botschaft und natürlich von den verschwundenen Waldelfen. Gerade letzteres gab ihr immer mehr zu denken.
Kela sah sie an. »Das ist wirklich mysteriös.«
Ferdan nickte und blieb stehen. »In Astral geht das Gerücht um, dass Schattenrosswandler in der Stadt seien. Es hieß, dass sie sich unter eine Händlerkarawane geschmuggelt hätten und so hereingekommen wären.«
»Habe ich auch gehört. Schrecklich hinterhältige und gemeine Biester sind das!« Sira schüttelte sich.
Ihre Schwester Kela bestätigte das. »Ja! Die sind gefährlich, ganz gleich, ob sie in ihrer gewöhnlichen Schattengestalt unterwegs sind oder als Pferdeschemen.«
»Ihr meint, dass die Schattenrosswandler etwas mit dem, was hier passiert, zu tun haben könnten?« Lili sah fragend von einem zum anderen.
Ferdan zuckte mit den Schultern. »Wenn die auftauchen gibt es oft mächtig Ärger und nicht nur da, wo sie gesehen werden.«
Lili blies den Atem aus. »Wir müssen herausfinden, was mit den Waldelfen ist!«
Als sie weitergingen blieb Lili jedes Mal, wenn es irgendwo raschelte, stehen und zog alle Blicke zu der Stelle. Aber vermutlich wurden die Geräusche nur von Tieren verursacht, von Waldmäusen oder Eichhörnchen. Keines der dunkelgrün gekleideten Wesen tauchte hinter den Bäumen auf, und enttäuscht setzte sie mit den Freunden ihre Wanderung fort. Aber sie waren bis jetzt nicht sehr weit gekommen und vielleicht hatten sich die Elfen nur tiefer in den Wald zurückgezogen.
Als sie zu der Stelle kamen, wo das Kraftdreieck lag, das laut Großmutter Sonja Energie verlor, sagte Lili erst einmal nichts. Die Septembersonne tauchte den Platz in ein warmes, goldenes Licht. Die Tannen, die das Wegdreieck umsäumten, rauschten im Wind und auf den ersten Blick sah alles normal aus.
Doch plötzlich breitete Ferdan die Arme aus, um sie alle am Weiterlaufen zu hindern. »Wartet … Hier stimmt etwas nicht!«
Kela nickte. »Ja. In meinen Füßen zupft es, als ob jemand von unten Energie von diesem Ort saugt.«
»Ich spüre es auch«, bestätigte Sira. »Es ist unheimlich! Aber der Platz scheint sich dagegen zu wehren. Seine ganze Kraft kehrt sich seltsam nach innen — wie ein Ball.«
»Fesseln! Ein gefesselter Ort, und es ist viel zu kalt, trotz der Sonne.« Kela zog fröstelnd die Schultern hoch.
»Genau!«, warf Lili ein. »Und man bekommt fast den Eindruck, als ob sich der Wald von dieser Stelle aus verdüstert.« Lili wehrte schnell ab, als Sira ein paar heilende Steine aus ihrer Jacke nahm, um sie in der Erde zu vergraben. »Nicht! Womöglich stärkt das die falsche Energie. Wir wissen noch nicht, was an diesem Ort hier zehrt.«
»Ja. Wir sollten unsere Beobachtung dem Neuner-Rat in Astral melden, ehe wir etwas unternehmen«, schlug Ferdan vor.
Lili und die anderen stimmten zu. Die obersten Rat der Olims mussten von diesem Phänomen erfahren.
Goswin, der weiter oben des Weges auf einem Stein saß, murmelte vor sich hin. »Das ist Sie. Nicht gut, gar nicht gut!«
Lili hörte den Kobold zwar reden, aber sie achtete nicht auf seine Worte. Zu sehr war sie mit ihren eigenen Überlegungen beschäftigt. »Ob die Waldelfen wissen, was hier los ist? Hoffentlich ist ihnen nichts passiert!«
Schweigend ging sie mit den anderen weiter. Der Waldweg wurde jetzt schmaler und steiler. Die Tannen standen dicht und ließen nicht mehr viel Sonnenlicht durch. Immer wieder raschelte es irgendwo, aber keiner der freundlichen Waldbewohner zeigte sich. Goswin, der wieder ein Stück vorausgelaufen war, rannte auf Lili zu und streckte die Ärmchen zu ihr hoch. Ferdan hielt ihm lachend eine Hand hin. Nach kurzem Zögern ergriff der Kobold sie. Geschickt kletterte er an dem jungen Mann hinauf. Er setzte sich auf Ferdans Schultern, schlang die dünnen Arme um seinen Hals und schmiegte sich an ihn.
Der Weg führte nun bergan. Lili konnte ihren Raben nicht sehen, aber das beunruhigte sie weniger. Vermutlich hatte Barb auch noch nichts entdeckt. Hoffentlich erreichten sie bald die Lichtung, an der sie Rast machen wollten. Vielleicht fanden sie dort eine Spur, immerhin war das der Lieblingsplatz der Elfen.
Nach einer Weile lichteten sich die Tannen und der Weg wurde wieder breiter. Von vorne raste etwas Dunkles auf Lili zu, wenig später landete Barbarossa auf ihrer Schulter. Sie waren dort! …
Lilis Atem setzte aus, als sie seine Botschaft auffing. Endlich! Ihr Rabe hatte etwas entdeckt. Trotzdem betrat sie die Lichtung mit gemischten Gefühlen. Was, wenn sich auch hier die Energie verändert hatte? Dann atmete sie erleichtert aus. Im Gegensatz zum Kraftdreieck glich dieser Platz einer friedlichen Oase. Das konnte nur mit den Elfen zusammenhängen, die diesen Ort mit ihrer Magie stets besonders schützten.
Goswin, der noch auf den Schultern von Ferdan saß, fing an zu zappeln. »Lass mich runter!«
Kaum dass der Kobold mit seinen Füßen den Boden berührte, lief er auf die Wiese und packte gleich sein Essen aus.
Auch Lili und ihre Freunde verspürten Hunger und so hielten sie jetzt erst einmal ihr Picknick ab. Lili nahm die zusammengefaltete Decke und die winzigen Kissen aus ihrem Rucksack, die in ihren Händen schnell größer wurden. Da der Boden sich jetzt zu Herbstbeginn bereits kühl anfühlte, heizte sie die Decke mit einem Wärmespruch auf, verteilte die Kissen darauf, und dann machten sie es sich zusammen darauf gemütlich.
Die mitgebrachten Brote und das Obst schmeckten vorzüglich. Bald waren alle satt und von der Anstrengung des Wanderns auch ein wenig schläfrig. Der Kobold rollte sich am Rand des Teppichs zusammen und kurz darauf schnarchte er leise. Barb schritt derweil mit wippendem Körper auf der Wiese umher. Es sah so aus, als ob er einer unsichtbaren Spur folgte.
Ferdan lag auf dem Teppich und stützte das Kinn in die Hände. »Die Elfen waren hier, vermutlich erst vor kurzer Zeit.«
Kela kraulte seinen Nacken. »Aber wo sind sie hingegangen?«
Ihr Freund runzelte die Stirn. »Das frage ich mich auch.«
»Wenn die Elfen in der Nähe wären, dann hätten wir sie längst entdeckt. Sie sind uns zugetan. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie uns auf einmal meiden. Welchen Grund sollten sie dafür haben?« Lili wurde ganz nervös bei dem Gedanken, dass zwischen den Olims und den Waldelfen etwas vorgefallen sein könnte, von dem sie nichts wussten.
Ferdan beruhigte sie. »Es gibt keinen Streit, davon hätte ich erfahren. Es muss etwas anderes sein, das sie aus ihrem Umfeld vertreibt.« Erst nachdem Ferdan es ausgesprochen hatte, wurde ihm bewusst, was er gesagt hatte. Er setzte sich kerzengerade auf. »Das ist es. Irgendetwas zwingt die Elfen zum Rückzug. Denkt an die schwindende Energie vom Kraftdreieck. Das hängt bestimmt damit zusammen. Mann, was ist hier nur los?«
Lili wünschte sich nichts sehnlicher, als wenigstens eines der feingliedrigen Wesen mit den sanften Augen zu sehen. »Aber hier ist doch noch alles in Ordnung? Oder etwa doch nicht?«
Kela hatte plötzlich eine Idee. »Die Magie der Elfen ist stark. An den Orten, wo sie gewesen sind, bleibt lange etwas davon zurück.«
»Das Kraftdreieck stand auch unter ihrem Schutz, soviel ich weiß. Wieso haben sie das aufgegeben?«, warf Sira ein.
Auch Lili konnte sich das nicht erklären. Die Elfen waren sehr mächtige Wesen, dazu friedliebend und hilfsbereit. Gab es jemanden oder etwas, das sich ihnen entgegenstellte?
»Wir müssen unbedingt herausfinden, was hier passiert«, forderte Ferdan und schaute zu Barb, der aufgeregt krächzend am Wiesenrand umherstelzte. »Vielleicht hat er etwas gefunden?«
Der Feenkreis, dachte Lili und ihr Herz begann, schneller zu klopfen. Goswin wachte auf, rieb sich die Augen und rannte zu dem Raben. Schnell lief ihm Lili mit den anderen hinterher.
Die Pilze, die dort in Form eines großen Kreises aus dem Boden wuchsen, schienen unversehrt. In der Mitte war das Gras jedoch teilweise niedergedrückt, als wenn vor einiger Zeit noch Personen darin gestanden hätten. Lili dachte nach. Dieser Feenkreis diente den Elfen in erster Linie als Tanzplatz. Im Kreisinneren, während des Tanzens, verbanden sie sich mit der Kraft von Velams Erde, die dort besonders stark zu spüren war. Bei diesen Ritualen schwebten ihre Füße stets etwas über dem Boden und sie berührten ihn nicht. Hier, in diesem Kreis waren allerdings Fußspuren im Gras. Deshalb kam nur die zweite Möglichkeit in Betracht: Der Feenkreis war als Tor zu einem anderen Ort gebraucht worden. Bäume wurden zumeist von Einzelreisenden benutzt. Die Feenkreise waren dagegen ideal für Gruppen, die gemeinsam reisen wollten. Die Spuren im Gras deuteten weniger auf Olims hin sondern erinnerten eher an zarte Elfenfüße. Die Waldwesen waren in ihrer Gestalt sehr zierlich, schmal und feingliedrig gebaut, auch fast einen Kopf kleiner als Olims, so dass sie das Gras, auf dem sie gingen, nicht sehr belasteten. Die Entdeckung, welche Lili gerade gemacht zu haben glaubten, warf neue Fragen auf. Die Waldelfen waren mit dieser Gegend verwurzelt und gingen nur selten auf Reisen. Die Spuren ließen aber erkennen, dass hier gleich eine ganze Gruppe von ihnen das Tor im Feenkreis benutzt hatte.
»Elfen gehen weg«, sagte Goswin traurig.
Lili dachte dasselbe. Angst stieg in ihr auf und griff mit kalter Hand nach ihrem Herzen. Dann machte sie noch eine Entdeckung. Auf zwei nebeneinanderstehenden Pilzen glitzerten silbrige Tropfen. Man konnte sie für Tau halten, aber bei genauerem Hinsehen wurde ihr klar, dass es Elfentränen waren.
Bedrückt packten Lili und ihre Freunde die Reste des Picknicks ein, um noch ein Stück weiter in den Wald hineinzugehen.