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Rosi steht völlig im Schatten ihres selbstherrlichen Ehemanns. Doch dann zieht im Haus gegenüber eine geheimnisvolle Frau ein, und alles verändert sich.
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Seitenzahl: 37
Die Augen der Rosen - eine Kurzgeschichte aus der Reihe: Fantastik Shortstories.
Die Krawatte von Richter Richard Jakobi saß ungewöhnlich schief. Sein Gesicht lief hochrot an und auf seiner Stirn trat eine Ader hervor, die heftig pulsierte. Schon wieder schob er die Fenstergardinen zur Seite, um das Haus gegenüber zu beobachten.
»Behalt mir ja alles im Auge, Rosi!« Er warf seiner Frau einen strengen Blick zu.
»Sei doch froh, dass dort wieder Leben einzieht, Richard.« Rosalie schaute nicht auf, sie fädelte gerade ein paar neue Schnürsenkel in seine Schuhe. An den alten hatte er vorhin zu heftig gezogen.
Er schnappte nach Luft. »Froh? Rosi, du weißt nicht, was du redest!«
Rosalie biss sich auf die Lippen und starrte auf die Schuhe in ihrem Schoß. Eine blonde Haarsträhne rutschte langsam über ihr Gesicht. Sie strich sie zurück.
»Du kommst zu spät.« Ihre Stimme klang resigniert.
Richard sah auf die Uhr und gab einen quietschenden Pfeiflaut von sich. Wenn er sich nicht beeilte, würde er nicht rechtzeitig ins Amtsgericht kommen. Nicht auszudenken, so was. Trotzdem drehte er sich in der Tür noch einmal um und hob den Zeigefinger, um seine Frau zu ermahnen, das Haus gegenüber nicht aus den Augen zu lassen. Doch Rosi hatte ihm schon den Rücken zugewandt. Sie lief in die Küche. Richard gab einen knurrenden Laut von sich und knallte die Tür hinter sich zu. Einen Augenblick lang blieb Rosi reglos stehen und lauschte auf die Schritte, die sich vom Haus entfernten. Als sie den Motor von Richards Wagen starten hörte, entspannte sich ihre Haltung. Sie räumte das Geschirr in die Spüle, warf einen kurzen Blick in den Spiegel und eilte über die Straße, hinüber zu Nummer 64, dem Haus ihrer Freundin Hedwig. Es lag direkt neben dem Beobachtungsobjekt Nummer 66. Noch bevor sie klingeln konnte, wurde die Türe geöffnet.
»Geh schon ins Esszimmer. Ich hole uns nur noch den Kaffee.«
Hedwig schloss hastig die Eingangstür hinter ihr. Sie schien nervös. Ihre Hände zitterten, als sie wenig später die Kaffeekanne auf den Esstisch am Fenster stellte und sich setzte.
»Hast du etwa auch Angst, wie mein Richard?« Rosi griff sich ein Stück von Hedwigs selbst gebackenem Hefekuchen.
Die Freundin schnaufte hart aus. Ihr Blick flog kurz zum Fenster, das freie Sicht auf das Nachbarhaus bot. Als sie Rosi wieder anschaute, wirkte ihr Gesicht alt und verbraucht, obwohl sie noch keine Fünfzig war. »Es kommt alles wieder hoch von damals. Ich weiß noch das Datum, dreizehnter Juni, wie heute. Das hat etwas zu bedeuten! Richard muss dir doch davon erzählt haben?«
»Nicht wirklich.« Rosis Mundwinkel verzogen sich nach unten. »Er sagte nur, das Haus sei ein Fluch für alle ehrbaren Leute, und mehr brauche ich darüber nicht zu wissen.«
Hedwig seufzte auf, als ob ihr solche Verhaltensweise nicht unbekannt wäre. »Rosi, ich hab bis jetzt nie etwas gesagt, aber wenn du bei ihm bleibst, wirst du so unzufrieden und armselig wie all die Frauen hier in der Straße, mich eingeschlossen. Willst du das?«
Es war das erste Mal, dass sie so deutlich wurde. Rosi schaute die Freundin überrascht an, doch das Thema bereitete ihr Unbehagen. Sie zog ihre Hand zurück, nippte an ihrer Kaffeetasse und sah dann durchs Fenster nach draußen, auf das Gebäude nebenan. Die Begrenzung des Anwesens durch einen Bretterzaun ließ es wie gefesselt erscheinen. Wirklich kein schöner Anblick.
»Was war damals?«, fragte sie, um von sich abzulenken.
Hedwig seufzte noch einmal und fing dann an, zu erzählen. »Vor Jahren wohnten dort drüben zwei Männer mit einer Frau zusammen. Ich weiß noch wie sie hießen: Victor Tarras, Gabriela Witten und Roman Bach. Man munkelte von einer Dreiecksbeziehung und dass im Haus des Nachts ausschweifende Orgien gefeiert wurden. Die Leute hier mit ihren festgefügten Moralvorstellungen zerrissen sich jedenfalls das Maul über sie. Den Dreien machte das scheinbar nichts aus, denn eines Tages luden sie alle aus der Straße zu einem Gartenfest ein.« Hedwig trank eine Schluck Kaffee und zuckte dann mit den Schultern. »Alle nahmen die Einladung an, mein seliger Willi und ich auch. Du weißt ja, wie es ist bei uns: Die Form muss gewahrt bleiben, also geht man aus Höflichkeit hin. Aber vermutlich wollten die meisten nur die liederliche Lebensweise der drei bestätigt sehen - um sich hinterher noch mehr das Maul zerreißen zu können ...«