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Tagsüber ist der Gargoyle eine steinerne Statue an der Fassade des Doms, nachts ein Wesen aus Fleisch und Blut. Für die Menschen interessiert er sich wenig, bis eines Tages ein alter Mann eine Bitte an ihn richtet: Der Gargoyle soll ihm beistehen bei seinem Übergang ins Jenseits. - Schrift in Großdruck -
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Seitenzahl: 19
Bisher in der Großdruck-Reihe »Fantastik Shortstories« erschienen:
Band 1: Die Nacht des Gargoyles
In Planung:
Band 2: Der Prinz und die Ballerina
Band 3: Begegnung mit einem Vampir
Der Blick von hier oben reicht weit über meine Stadt hinaus. Bis zum Horizont sehe ich Ortschaft an Ortschaft gereiht, ab und zu aufgelockert durch Felder, Wiesen und Wälder. Überall in dieser Landschaft verbergen sich Geheimnisse. Nicht wenige davon scheuen selbst das sanfte Licht der Sterne. Ich könnte sie hervorzerren, doch wozu? Ich schaue darüber hinweg, lasse meine Augen lieber in die Ferne schweifen, hinaus in die Unendlichkeit. Dort befinden sich die wahren Mysterien. Meine Augen durchdringen die Sphären. Meine Nase wittert Wesen, die sich zwischen Himmel und Erde Zutritt in diese Welt verschaffen. Meine Ohren hören ihr Wispern und meine Zunge schmeckt die Absicht, mit der sie kommen. Die dunklen Geister meiden mich. Ich bin für sie gefährlich, denn durch meinen Körper fließen die Wasser der Schamajim, die sie in den Schlund ihrer Hölle zurückbefördern. Wenn sie können, gehen sie mir aus dem Weg. Mir ist das einerlei. Ich bin, was ich bin, ein Gargoyle, und ich erfülle meine Aufgabe als Wächter der Nacht.
Es ist nicht so, dass ich die Dunklen hasse. Ich befinde mich auch nicht im Krieg mit ihnen. Dazu müsste man mich auffordern. Das hat schon lange niemand mehr getan. Aber wenn die Himmel ihre Schleusen öffnen, dann spucke ich die Dunklen an. Es ist meine Pflicht. Ein alter Instinkt, der auch bei Tag funktioniert, wenn ich schlafe.
Ich schlafe nicht wirklich. Ich ruhe. Wenn die Sonne aufgeht, wird mein Körper schwer und unbeweglich. Die Kälte kriecht in mir hoch und alle Säfte kommen zum Stillstand. Ich höre auf zu atmen, werde zu festem Stein. Andere Kräfte wirken dann durch mich, ohne mein Zutun. Mein Denken und Fühlen bleibt jedoch wach und ich bin mir bewusst, dass man mich in diesem Zustand töten könnte. Ein Steinmeißel und ein Hammer würden genügen, um mir den Kopf abzuschlagen. Deshalb ist mein Ruheplatz oben unter den Dächern des Doms. Dort fühle ich mich sicher und von den Mächten behütet.