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"Ihr hier im Osten denkt, es geht alles so gemütlich weiter", sagt der Vollstreckungsbeamte zu Nora Simon, die Anfang der 90er Jahre ein kleines Souvenirgeschäft in Potsdam betreibt. Noras beschauliche Welt, die sie über die Wende hinweg gerettet hat, wird abrupt aus den Angeln gehoben. Statt zu trauern, nimmt sie das neue Leben an und empfängt es mit offenen Armen. Sie begreift die drohende Schließung nicht wirklich als Katastrophe. Statt sich wegen der Schulden und einer rein platonischen Beziehung zum einzigartigen Freund Toni zu grämen, beginnt für Nora die abenteuerliche Reise in eine neue Welt auf der Suche nach dem Glück.
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Seitenzahl: 194
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Renate Wullstein
Die Faulheit der Frauen
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Vollstreckung
In der Euphorie der Wende
Das Finanzamt
Toni
Aua Auto
Das Amt
Stadtmagazin
Toskana
Neubeginn
Obdachlos
Plan 2000
Impressum neobooks
Es war im August 1993, als der Vollstreckungsbeamte kam. Ich hatte keine Ahnung, welche Folgen sein Besuch haben würde. Ich wusste nicht einmal, was ein Vollstreckungsbeamter ist.
Im Zentrum der Stadt betrieb ich einen kleinen Laden. Einen sehr kleinen Laden. Ich saß am Schreibtisch, trank Kaffee, hörte Radio und las ein Interview mit Henry Maske. Das Interview erstreckte sich über drei große Zeitungsseiten, und ich las es bereits zum zweiten Mal. Ich interessierte mich für berühmte Menschen, egal ob Sportler, Wissenschaftler oder Künstler. Ich glaubte, wenn ich nur genügend Aussagen von diesen Leuten sammelte, würde ich eines Tages selbst berühmt sein. Ein heißer Sommer war vorbei. Noch immer strahlte die Sonne ungebrochen auf das Pflaster des Holländischen Viertels. Kein Baum in dieser Straße, der Schatten spenden könnte. Jahrelang waren die Häuser verfallen. Sie sollten abgerissen werden, dann doch wieder nicht.
Selten durchquerten Potsdamer das Gebiet, denn dafür gab es keinen Grund. Kaum Geschäfte oder Büros. Zugenagelte Häuser und Ruinen schreckten Spaziergänger eher ab.
Touristen aus dem Westen kamen am Wochenende, zeigten sich gegenseitig, was sie sahen, redeten laut und filmten die Häuser mit der Kamera. Einige Leute wohnten noch im Viertel, einzelne Häuser waren saniert. Neues Leben regte sich. Es gab zwei Kneipen, eine Arztpraxis, einen Notar, einen Porzellanladen. Und mich. Das Ambiente. Mit einem Angebot von Kunst bis Trödel.
Kurz und gut, es kam der Vollstrecker. Die Tür stand offen und als der Mann eintrat, erkannte ich sofort, dass er Unheil bedeutete. Ein großer Mann mit Glatze. Er trug einen schwarzen Aktenkoffer, dick wie eine Nähmaschine, und blieb auf der Türschwelle stehen. Mit einem Lächeln auf dem Gesicht hätte ich ihn für einen Vertreter halten können. Aber der Mann war kein Vertreter. Er blickte streng:
”Sind Sie Nora Simon?”
”Ja”, sagte ich prompt.
”Sind Sie die Inhaberin des Geschäfts?”
Ich nickte knapp. Der Mann ergriff die Klinke.
”Ludwig, Finanzamt Potsdam, ich bin Vollstreckungsbeamter, schließen Sie bitte die Tür ab.”
Ich stand auf, schloss die Tür und drehte den Schlüssel herum. ”Ich muss Sie leider pfänden”, sagte der Mann.
”Ach?”
Der Fremde musterte unverwandt und aufmerksam die Regale, Schränke und Vitrinen. Er hob seinen Koffer etwas an, fand aber keinen Platz, ihn abzustellen. Ich betrachtete mein Geschäft nun ebenfalls, als sähe ich es zum ersten Mal. Es war ein lang gestreckter Raum, höchstens fünfzehn Quadratmeter in der Fläche, aber drei Meter hoch. Die Regale reichten bis unter die Decke, waren angefüllt mit Kunstgegenständen und Kunsthandwerk aller Gattungen und Zeiten, altes Porzellan, neue Keramik, handgefertigte Notizbücher, gewebte Stoffe, Stickereien. Bücher. An den Wänden hingen Bilder, kunstverzierte Spiegel, Mosaiken aus Glas. Der Schmuck war in den Vitrinen. Die wenigen Antiquitäten, ein Sekretär, eine Kaminuhr und eine Kommode waren unverkäuflich, sie dienten als Dekoration. Auf den Dielen standen alte Tontöpfe. Man konnte kaum treten.
Ludwig verkündete, dass ich dreitausendneunhundert Mark Schulden beim Finanzamt hätte, die sich aus der Schätzung des Umsatzes ergäben.
Ich bewegte mich zur hinteren Wand. Dort stand ein ovaler Tisch aus Metall, olivgrün, einige Male überstrichen, etwas eingebeult und zerkratzt. Jugendstil. Ich räumte ihn soweit frei, dass der Beamte seinen Koffer abstellen konnte. Dabei registrierte ich das RAF-Zeichen, das jemand eingeritzt hatte, als der Tisch noch zum Inventar des Hofcafés gehörte. Ich wollte es zudecken, aber das tat bereits der Vollstrecker, indem er sich auf einen Stuhl zwängte, den Koffer auf das Symbol der Organisation stellte und ihn öffnete. Ich ging zum Schreibtisch und blieb dort angelehnt stehen.
Er brachte eine Mappe zum Vorschein.
”Dreitausendneunhundertdreiundsiebzig Mark und fünfzig Pfennig genau”, verkündete er.
”Viertausend?” sagte ich.
”Ja, wie gesagt, ich muss Sie pfänden.”
Er sah sich erneut im Raum um.
”Kann ich alles nicht gebrauchen”, murmelte er. ”Das hat alles keinen Wert.”
Ich nickte irritiert.
”Frau Simon, wie sieht es in Ihrer Wohnung aus?”
”Ist offen”, sagte ich, wandte mich zum Fenster und nickte über die Straße hinweg. ”Sie können hochgehen, ich besitze nichts.”
Während der Beamte mit einem Kopfschütteln das Angebot ausschlug, dachte ich blitzschnell darüber nach, ob ich ganz ehrlich war.
”Ach doch, einen Fernseher und einen Videorecorder habe ich.”
”Das hat alles keinen Wert”, sagte Ludwig und schüttelte betrübt den Kopf.
”Wie sieht es in Ihrer Kasse aus?”
Etwas benommen ob der Bewertung meines Eigentums drehte ich mich um und zog die Schublade des Schreibtisches auf. Hatte er die Antiquitäten nicht gesehen oder nicht als solche erkannt oder hatten sie tatsächlich keinen Wert mehr? Die einzigen Stücke, die ich aus der Ehe mitgenommen hatte. Wie auch immer. Der Schreibtisch war ein einfaches, schwarz gestrichenes Modell aus Holz, das Mona mitgebracht hatte, als wir den Laden noch gemeinsam betrieben hatten. Er stand direkt vor dem Fenster. Ein grüner Drahtkasten beherbergte die Einnahmen. Herr Ludwig erhob sich etwas zu hastig, wobei der Stuhl an einen Spiegel stieß, der lose durch Angelsehnen befestigt war. Mit einer Hand brachte er ihn wieder in Ruhestellung, und wir blickten gemeinsam in die Schublade. Ich klappte den Deckel der Kasse auf und zählte die Scheine vor. Es waren neunzig Mark.
”Gut. Geben Sie mir sechzig, dreißig muss ich Ihnen lassen.”
Er nahm das Geld, und während er in seinen Unterlagen blätterte, schob ich die Lade mit dem Hintern wieder zu.
”Warum haben Sie sich denn nie bei uns gemeldet? Das hätte sich doch vermeiden lassen können.”
”Ich weiß nicht, ich dachte, ich hätte nichts zu bezahlen.”
”Aber Sie wissen doch, dass Sie trotzdem die Steuerformulare auszufüllen haben?”
Ich blickte ihn aufmerksam an.
”Die haben Sie doch bekommen?”
”Nein, keine Ahnung.”
Er schüttelte den Kopf.
”Ihr hier im Osten denkt, es geht alles so gemütlich weiter.”
Er fingerte wieder in seinen Unterlagen. ”Ich gebe Ihnen eine Quittung über die sechzig Mark”, sagte er.
”Wohin sind die denn geschickt worden, die Formulare?” fragte ich.
Der Mann gab mir den Beleg in die Hand und sah in seinem Ordner nach.
”Reiterweg eins", sagte er.
”Ach, da wohnt mein Mann, da wohne ich schon lange nicht mehr.”
Ich betrachtete die Quittung.
”Kann ich die von der Steuer absetzen?”
Ludwig lachte kurz und trocken, machte aber sofort wieder auf steinerne Miene.
”Ich gebe Ihnen einen Rat”, sprach er, während er seine Papiere sortierte, den Koffer schloss; und ich auf dem Schreibtisch saß und ihm dabei zusah.
”Wenn Sie morgen früh, gleich ganz früh zum Finanzamt kommen, vielleicht lässt sich dann noch etwas machen. Melden Sie sich bei Frau Engels, pünktlich um acht Uhr. Aber Sie müssen wirklich kommen.”
Ich nickte, und Ludwig betrachtete kritisch, mehr oder weniger abschließend den Laden.
”Hoch kann der Umsatz ja hier nicht sein”, sagte er. „So was verkauft sich doch heutzutage überhaupt nicht.“
”Schwacher Umsatz”, bestätigte ich. ”Ich glaube, ich sehe mir erst mal meine Bücher an, bevor ich zu Ihnen komme.”
”Machen Sie das.”
Er ging zur Tür; und ich folgte ihm, um aufzuschließen.
”Auf Wiedersehen, Frau Simon, und kommen Sie wirklich.”
Als wir uns auf der Straße verabschiedeten, zögerte er, hob den Finger und sagte:
”Ich gebe Ihnen noch eine Empfehlung.” Er blickte mir direkt in die Augen.
”Ich glaube, der Laden hier bringt nichts, geben Sie ihn auf, beantragen Sie Sozialhilfe und werden Sie nie wieder selbständig, einverstanden? Also, auf Wiedersehen.”
Er drehte sich um und ging.
Sprachlos blieb ich an der Tür stehen und sah ihm nach.
Schließlich kehrte ich zurück zum Schreibtisch, öffnete die Schublade, nahm die vier Einhundertmarkscheine, die unter der Kasse lagen und steckte sie in die Brusttasche meiner Latzhose.
Ich schloss den Laden von innen ab, setzte mich an den Tisch und starrte aus dem Fenster. Ich hatte einen Schock.
In diesem Sommer war ich kaum aus dem Viertel gekommen. Hier war alles, was ich brauchte. Die Wohnung, das Stammlokal und die Arbeit. Wenngleich der Begriff Arbeit in die Irre führt, denn ich saß den ganzen Tag herum, wartete auf Kundschaft und war verstrickt in die aufreibende geistige Tätigkeit, die meinen künftigen Ruhm betraf. Oder meinte ich Reichtum? Von der Hitze wie festgenagelt, gab ich mich andererseits der Illusion hin, in einem südlichen Land zu sein, wo man an einem schattigen Platz vor sich hin döst und nur wenig braucht, um am Leben zu bleiben. Beide Optionen waren denkbar und in meinen Augen vollkommen gleichwertig. Was für ein Dilemma. Könnte es sich als hilfreich erweisen, einen unlösbaren Widerspruch zum Prinzip zu erheben? Um mich herum Menschen, die genau wussten, was zu tun war. Loretta, die ihre Glaskunst vorantrieb, Toni, der ein Barockhaus sanierte, Mona, die wieder Bilder malte. Maske, der sogar begründen konnte, welche Bedeutung der Boxkampf hatte. Man lebte, und ich war nicht einmal zum See gegangen wie früher. Spazieren, wandern, baden. Der Laden war eine Falle, Mona hatte das erkannt.
Ich las Bücher und Zeitschriften und dachte sogar längere Zeit über die sieben freien Künste des Altertums nach, unter denen sich seltsamerweise die Grammatik und die Logik befanden, aber weder Malerei noch Literatur. Kurz und gut, ich war rundum beschäftigt mit sinnlosen Ideen und hatte keine Ahnung, worauf es hier ankam, bis der Vollstrecker mir die Augen öffnete und sich alles ändern sollte.
In der Euphorie der Wende und unter dem Motto, dass nun alles möglich sei, hatten wir den Laden aufgemacht. Loretta, die Glasmalerin, besaß dieses Haus im Holländischen Viertel, hatte es mühselig saniert und tätigte schon seit Mitte der achtziger Jahre einen Atelierverkauf einmal in der Woche.
„Jetzt ist Westen“, hatte Mona zu ihr gesagt. „Jetzt musst du dein Atelier täglich öffnen, so geht Marktwirtschaft.“
Loretta wusste es, hielt aber gern an alten Gewohnheiten fest.
„Ihr habt genug Zeit“, sagte sie. „Macht ihr doch den Verkauf. Ich…Ich habe keine Zeit dafür.“
Wir besprachen die Idee und ich erinnerte mich daran, wie wir im Spätsommer Neunundachtzig bei Loretta auf dem Hof unter der Pergola die flüchtenden DDR-Bürger mit Sekt gefeiert hatten. Die Wohnungsknappheit würde ein Ende haben. Die Vision einer leeren Stadt, nur wir würden hier bleiben mit all den Außenseitern, Randfiguren, verbotenen Künstlern, unsere Pläne verwirklichen, Kneipen und Läden eröffnen. Wo man hinkam, lautete die Frage, soll man die Gelegenheit nutzen und über Ungarn in den Westen fliehen, bevor es zu spät ist?
„Ich will nicht in den Westen“, hatte Mona gesagt. „Ich will, dass der Westen zu mir kommt.“
Und das tat er dann ja.
Loretta sagte: „Bitteschön. Verkauft meine Spiegel und Glasbilder und eure Sachen auch.“
Nach und nach kamen die anderen vorbei. Die Schmuckgestalterin, der Trödelhändler, einige Grafiker und Maler. Das Geschäft quoll über. Wir waren bald gezwungen, eine strenge Qualitätsauswahl vorzunehmen. Aber nur im ersten Jahr lief es gut, als wir unsere besten Produkte zu Schleuderpreisen anboten. Mona hörte auf zu malen, ich fertigte keine Keramik mehr. Wir hatten einen Laden.
Angezogen von der Attraktion holländischer Backsteinhäuser im historischen Stadtkern nutzten die Touristen zunehmend unser Geschäft, um Informationen über die Entstehung des Viertels zu erlangen oder Statements über den verkommenen Osten abzugeben. Nachdem wir anfangs beleidigt und bockig jede Auskunft verweigert hatten, natürlich auch deshalb, weil uns über die Geschichte des Viertels jegliches Wissen fehlte, verließ Mona bald das gemeinsame Unterfangen und widmete sich wieder ausschließlich der Malerei. Ich eignete mir die notwendigsten Kenntnisse über das Holländische Viertel an. Trotzdem verwechselte ich lange Zeit den Soldatenkönig mit Friedrich dem Großen und sagte schlicht: "Dem König haben die holländischen Handwerker imponiert, er wollte sie nach Potsdam locken."
Wenn ich schlecht gelaunt war, wies ich wortlos auf den gegenüberliegenden Giebel, an welchem die Jahreszahl 1742 prangte.
Die meiste Zeit jedoch saß ich am Schreibtisch und liebte über alles den Blick, den ich durch das Fenster auf den tiefblauen Himmel über den roten Häusern hatte.
Anfangs stand der Schreibtisch anders, quer in der Mitte des Ladens am schmalen Wandstück zwischen den Fenstern, so dass jeder Kunde, der hereinkam, zunächst in das erwartungsvolle Gesicht der Inhaberin blickte. Unangenehm für beide Seiten, fand ich. Deshalb stellte ich den Tisch vor das hintere Fenster, saß fortan seitlich zur Kundschaft und hatte außerdem den Vorteil, die Straße beobachten zu können.
Das undurchdringliche Blau des Himmels über den roten Dächern faszinierte mich. Das Blau war absolut. Ich erdete mich an diesem Schreibtisch, und niemand konnte mir weismachen, woanders sei es schöner. Nun war es jedoch vorbei mit dem schattigen Platz.
Ich stand auf, als hätte ich inzwischen mehrere Zentner zugelegt und ging nach hinten. Ich musste unbedingt sofort Loretta erzählen, was passiert war.
Durch den Flur und das Lager gelangte ich in ihre Werkstatt. Niemand da. Ich rief im Treppenhaus nach ihr. Keine Antwort. Ich griff zum Telefon, um Toni anzurufen.
In seinem Büro lief der Anrufbeantworter. Ich hatte noch nie auf so einen Apparat gesprochen, holte tief Luft und redete schnell nach dem Piepton: ”Hier ist Nora, ich möchte Toni sprechen, bitte ruf' an, es ist wichtig.”
Ich ging zurück in den Laden, sah mich um, ging in die Werkstatt und wieder nach vorn. Erst mal Kaffee kochen, beschloss ich, und dann hinsetzen und nachdenken.
Auch ohne einen Blick in die Bücher war klar, dass der Vollstrecker Recht hatte; ich sollte den Laden aufgeben. Meine Geschäftsbücher waren kleine Hefte, in denen jedes verkaufte Stück aufgelistet war, jedoch nicht für das Finanzamt, sondern als Beleg für die Klientel, die ihre Ware zu mir in Kommission gab. Der Umsatz würde kaum steigen, denn obwohl ich nichts investierte, erhöhten sich die Schulden ständig. Wieso vermehrten sich die Schulden, wenn der Umsatz zwar schwach, aber konstant war? Wofür gab ich Geld aus? Das schien ein unbekanntes Naturgesetz zu sein. Ich tätigte keine Einkäufe, keine Möbel, keine Geräte, kein Hausrat, keine Kleidung. Ich zahlte zweihundert Mark Miete an Loretta, bei ihr war ich bereits seit drei Monaten im Rückstand, was mich allmählich kümmerte. Ich nahm meine Mahlzeiten im Café ein, die mich nichts kosteten, weil ich dort drei Abende in der Woche in der Küche aushalf. Manchmal fuhr ich mit Toni nach Berlin in ein Restaurant und ins Kino. Wir zahlten abwechselnd. Aber auch mit der Wohnungsmiete war ich in Rückstand geraten. Ich schob die „Geschäftsbücher“ beiseite und wusste, dieses Unternehmen muss beendet werden. Schluss, aus, vorbei, so schnell wie möglich.
Toni hatte mich oft kritisiert. „Du betreibst einen Laden“, sagte er. „Aber du machst nichts draus. Du gibst dir keine Mühe.“
Er hatte Recht. Geschäftsinhaber waren rührig, sie kümmerten sich, sie feilschten mit den Lieferanten, machten Sonderangebote, ließen sich ständig etwas einfallen, machten Werbung, versuchten aufzufallen und suchten Partner. So ging Marktwirtschaft. Ich wusste es, aber was hatte das mit mir zu tun? Ich war hier nur zufällig.
Ich hoffte noch eine Weile auf Tonis Rückruf und beschloss, den Abend abzuwarten. Ich hängte ein Schild in die Glastür
mit der Aufschrift: ”Geschlossen”, und machte den Laden zu.
Es gibt nichts Gutes, außer man tut es. Den späten Nachmittag verbrachte ich mit einem Spaziergang. Das erste Mal in diesem Jahr lief ich zum Schlosspark.
Ich fühlte mich plötzlich unwohl beim Anblick des verpassten Sommers. Der wunderbare See, sauber und klar, nach Schilf duftend und frischem Wind; er blinkte in vereinzelten Lichtpunkten ohne den geringsten Vorwurf.
Der Sommer war vorbei, ich saß hier und hatte alles versäumt. Die Sonne, das Wasser und den Liebhaber. Ich war pleite und musste von vorn anfangen. Ich kehrte zurück in die Stadt.
Im Hofcafé bestellte ich ein Glas Rotwein, nahm eine Wochenzeitung aus dem Halter, setzte mich allein an einen Tisch und wartete auf Toni. Die meisten Stammkunden waren da, und wie jeden Abend war die Kneipe voll. Stammgäste und Fremde machten den Aufenthalt interessant, auch wenn man allein war. Ich wechselte ein paar Worte mit dem Wirt und überlegte, ob ich statt drei mal, jeden Abend kochen sollte. Ich saß am Tresen, um mich in Ruhe auf meinen platonischen Freund vorzubereiten. Aber er kam nicht. Ich las die Zeitung von hinten nach vorn. Ich bestellte ein Omelett und einen französischen Salat, trank noch ein Glas Wein und wurde müde. Ich musste nur vier Treppen ersteigen, um in die kleine Wohnung zu gelangen. Es war seit Monaten der erste Abend, den ich ohne Toni verbracht hatte. Welch rätselhaftes Zusammentreffen.
Pünktlich acht Uhr morgens war ich beim Finanzamt und konstatierte überrascht, wie freundlich die Mitarbeiter auf den Gängen grüßten, und wie überaus nett Frau Engels mich empfing.
Ich erklärte die Situation, behauptete, dass ich keinerlei Steuerformulare erhalten hätte, dass sie wahrscheinlich an die falsche Adresse gegangen wären, an die meines Mannes, von dem ich geschieden sei, und der die Post nicht aushändigte. Die Beamtin nickte unbeeindruckt und überreichte mir einen dicken Packen gefalteter, ineinander gehäufter Formulare, genau solche, wie sie bei mir zu Hause lagen.
Ich kannte das Gesetz, das mich zur Abgabe einer
Steuererklärung verpflichtete, tatsächlich nicht.
Im Anschreiben hatte ich damals dankbar den Satz zur Kenntnis genommen: Falls Sie zur Abgabe der Einkommenssteuererklärung verpflichtet sind. Es gab also Leute, die es nicht waren, und das konnten ja nur diejenigen sein, die wie ich zu wenig Geld verdienten. Ganz nebenbei ging mir auf, dass ich hier nicht die Einkommenssteuer- sondern die Umsatzsteuererklärung in der Hand hatte, und dass dies zwei verschiedene Angelegenheiten waren.
Nun hatte man also meinen Umsatz geschätzt, und mir leuchtete jetzt ein, dass der Staat nicht wissen konnte, ob ich große oder kleine Einnahmen hatte. Logisch.
”Muss ich hier alle Seiten und Spalten ausfüllen?” sagte ich, während ich die Blätter flüchtig durchsah.
”Das kann ich Ihnen nicht sagen, das weiß ich nicht.” Die Frau tippte mit dem Finger auf das Blatt.
“Sie müssen hier oben in dieses Kästchen eine EINS eintragen, dann wissen wir, dass es sich um eine berichtigte Umsatzsteuererklärung handelt, damit wird die Schätzung hinfällig, und es kann ja sein, dass Sie gar keine Steuer bezahlen müssen. Das werden wir sehen. Bringen Sie das ausgefüllte Formular gleich morgen wieder her.”
Nervös blätterte ich in den Unterlagen und versuchte zu verstehen, welche Bedeutung all diese gedruckten Formulierungen haben könnten: Steuerpflichtige Umsätze. Eigenverbrauch. Entnahme von Gegenständen. Ich warf der Steuerfrau einen Blick zu.
”Sie meinen, ich bin in der Lage, das alles hier ohne Hilfe auszufüllen? Können das denn die anderen?”
Schulterzucken beim Gegenüber.
”Lesen Sie sich die Anleitung durch, die ist im Mittelteil.”
Diese Anleitung war noch einmal so dick und genauso unverständlich: Antrag auf Einkommenssteuerveranlagung…
"Ich glaube, bei Ihnen wurde bereits eine Kontopfändung eingeleitet.”
”Was?” rief ich erschrocken. Frau Engels lächelte mütterlich. ”Keine Panik, das können wir wieder rückgängig machen.”
”Dürfen Sie denn einfach mein Geld pfänden?” fragte ich.
”Wir dürfen alles”, lautete die Antwort.
"Ach."
”Ich mache Ihnen ein Schreiben für Ihre Bank fertig”, sagte Frau Engels. ”Wenn Sie damit sofort hingehen, können Sie die Pfändung vielleicht noch verhindern.”
”Das ist nett”, sagte ich. Frau Engels setzte sich unverzüglich an das alte Modell einer Schreibmaschine. Ich sah mich im Zimmer um, es war noch viel kleiner als mein Laden und viel ungemütlicher. Alles Büro und Akten.
Die Bank ließ also einfach das Konto pfänden. Ohne mich zu informieren. Ich hatte etwa dreihundert Mark drauf. Zusammen mit den vierhundert vor dem Vollstrecker gerettetem Geld, war dies mein gesamtes Vermögen. Gerade hatte ich darüber nachgedacht, davon einen Teil meiner Mietschulden zu tilgen. Ich verfolgte das Klappern der Schreibmaschine. Na gut, dachte ich, es ist offenbar nur ein Spiel. Erst wollen sie ein paar tausend Mark, dann muss ich nur Eins in ein Formular schreiben und alles ist wie vorher. In mir keimte die Gewissheit, wenn ich nur die Augen offen hielt, konnte man sie womöglich alle um den Finger wickeln.
”So.” Die Finanzfrau stand auf und legte das Schreiben in den Kopierer.
”Ein Schreiben behalten Sie, dieses hier geben Sie bei der Bank ab. Und morgen bringen Sie das Steuerformular, Sie können es aber auch mit der Post schicken.”
”Danke”, sagte ich und verabschiedete mich.
Ich betrat die Volksbank wie jemand, der jetzt alles begriffen hatte.
Zunächst wollte ich die Kontoauszüge sehen, aber der Automat streikte.
Die Angestellte hinter dem Schalter sah mich streng und ansatzweise sogar beleidigt an. Sie nahm die Bankkarte, tippte etwas in den Computer und verkündete: ”Sie haben bei uns kein Konto.”
Ich reichte ihr das Schreiben vom Finanzamt.
”Sie wissen doch ganz genau, dass ich hier ein Konto habe.”
Die Frau schüttelte unwillig den Kopf und schob das Schreiben zurück.
”Ihr Konto ist aufgelöst, die Bankkarte behalte ich ein.”
”Ja, ich weiß”, sagte ich. ”Mein Konto ist gepfändet worden, aber in diesem Schreiben steht, dass die Pfändung ein Irrtum war.”
Die Bankfrau schloss kurz die Augen. ”Ich muss Ihnen keine Auskunft geben”, sagte sie.
Ich wurde wütend, wusste aber nicht, wie ich es ausdrücken sollte. Vielleicht Schreien?
”Ich soll Ihnen dieses Schreiben geben”, sagte ich mit äußerst gepresster Stimme.
”Das Schreiben ist nur für Sie”, beharrte die Schalterfrau, deren Fettleibigkeit mir jetzt ins Auge stach.
”Es ist für die Bank”, sagte ich. “Für mich habe ich eins extra.”
Widerwillig nahm die Bankfrau das Blatt an sich, legte es aber zur Seite, ohne einen Blick drauf zu werfen. Ich bekam einen Kloß im Hals. Gleich würde ich weinen. Wenn ich nur die geringsten Schwierigkeiten an Schaltern oder bei Behörden hatte, drohten Tränen.
”Volksbank!” sagte ich grimmig, jedoch mit versagender Stimme. Ich kehrte um und verließ das Gebäude.
Es war zehn Uhr. Ich ging in den Laden, schloss von innen ab und holte aus Lorettas Werkstatt Kaffeewasser. Loretta erschrak.
”Was machst du denn hier?“
Gewöhnlich öffnete ich den Laden erst am Nachmittag.
”Ich habe einen Schock”, sagte ich.
”Was ist passiert?”
„Es ist aus, ich bin am Ende.“
Loretta starrte mich an. Diese Situation gedachte ich auszukosten.
”Ich mache Kaffee”, sagte ich. ”Dann komme ich zu dir, es gibt schlechte Nachrichten.“
Loretta legte das Werkzeug aus der Hand. Auf den Tischen und in den Regalen lagen buntes Glas, Werkzeug und Mal-Utensilien. Eine Staffelei. Im Lager stapelten sich neben fertigen Arbeiten bunte riesige Scheiben, die sie zerschnitt und zerbrach. Loretta war ihrem Wesen nach dem Glas ähnlich, bunt schillernd und spröde. Sie trug einen schmutzigen Arbeitsanzug, dazu knallrot geschminkte Lippen. Sonst nichts, kein Make-up, keine Wimperntusche, nur die Lippen. Sie bemalte das Glas gern mit scharfkantigen Figuren. Spitze Dreiecke waren weibliche Brüste. Verdrehte oder abgeknickte Körper, fuchtelnde Gliedmaßen aus der Welt der Geometrie. Böse Augenstriche. Aber alles schön bunt. Die Kunst stapelte sich in ihrem Haus seit der Wende, und Loretta verkündete immer wieder tapfer: „Arbeiten kann nicht verkehrt sein.“
Ein Leitspruch, dem nichts hinzuzufügen war. Loretta hatte ein Haus, einen Mann und zwei Kinder. Keine Ahnung warum, aber ein solches Dasein erschien mir langweilig, stupide und für meine Person vollkommen unangemessen.
Mit starrem Blick hörte Loretta nun die Nachricht vom Vollstrecker.
Ich berichtete ausführlich und sagte schließlich:
”Die Strafe muss ich wahrscheinlich gar nicht zahlen, aber der Laden ist vollkommen unrentabel, so geht es nicht weiter.“
Loretta grübelte ein paar Minuten wortlos vor sich hin.
„Kannst du dir nicht was einfallen lassen, womit man besseren Umsatz macht?“ sagte sie.