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Die Entstehung der Geschichten und deren Schicksal sind im Roman "Das Blatt", (der online veröffentlicht ist), beschrieben. Bereits 1976 war ein Buch beim Verlag Neues Leben Berlin geplant, das aber erst 1991 unter dem Titel "Hotelnacht" erschien, also nach der Wende. Ich habe nie herausgefunden, warum, denn die Geschichten waren unpolitisch, meinte ich. Aus diesem Band sind einige Texte für "Olgas Essen" ausgewählt. Andere erschienen in Zeitschriften zu DDR-Zeiten. Jeweils am Ende der Geschichte stehen Entstehungsdatum, Veröffentlichung oder bisher unveröffentlicht. Im Klappentext von "Hotelnacht" heißt es: Treffsicher und schonungslos offen, frisch und mit ironischem Augenzwinkern erzählt die Autorin elf Geschichten von interessanten, riskanten und alltäglichen Liebesleben junger Leute.
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Seitenzahl: 101
Veröffentlichungsjahr: 2014
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Renate Wullstein
Olgas Essen
Kurzgeschichten
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Es klopft
Ein Mann für eine Nacht
Die Freundin
Trennungsschmerz
Schwarz Fahren
Die Nebenwohnung
Die Reise mit Ira
Judiths Geheimnis
Hotelnacht
Hotelnacht etcetera
Jazz-Fasching in Babelsberg
Haushaltsauflösung
Olgas Essen
Impressum neobooks
Wo heute die Sonne der Kleinwirtschaft scheint, war in den achtziger Jahren graue gespenstige Ruhe: Zugenagelte Schaufenster, alte Roll-Läden, mal eine Frau mit Schnapsflasche, mal ein Mann mit Schnapsflasche, mal ein junges Ehepaar mit Kinderwagen. Mal der Dichter Uwe Kolbe. Schliemannstrasse, Prenzlauer Berg, Ostberlin. Einmal bei mir die Staatssicherheit. Aber das war eine Verwechslung. Dachte sie, also ich, die auf dem Hinterhof wohnte. Keine Sonne, aber Kohlen klauen bei Schiele, immerhin. Die beladenen Hänger standen auf der Straße, ansonsten gähnende Leere, keine Privatautos. Eine lange Nachkriegszeit.
Unsere Sorte Mensch, die Randfiguren der Gesellschaft, wohnte im Hinterhaus oder Seitenflügel, in übersichtlichen Ein-Raum-Wohnungen mit Küche, Flur und Außenklo. Die Klingel war schon kaputt, als ich einzog – und überflüssig. Bitte klopfen!
Miete achtundzwanzig Mark, Honeckers soziale Idee: Die Miete darf nicht höher sein als 1923. Das Niveau auch nicht. Wenn die Starken außen und die Schwachen innen sind, ist das gut und kein Übergewicht. Hier ist das Umgekehrte der Fall. Was haben wir in den Jahren getrieben, als es nicht darum ging, den Wohlstand zu finanzieren. Wir haben geredet, gesungen, getrunken und gedichtet. Draußen war grau, drinnen war bunt. Bunte Bücher, Schallplatten, Tücher, Patchwork-Decken. Geschirr, Antiquitäten, Buntstifte und Ölfarben.
Ein bisschen Geld brauchte man trotzdem. Ich schlug mich durch und wartete manchmal auf einen Scheck, den mir die Eltern über einen Kanal im Außenministerium zukommen ließen. Sie arbeiteten in der Botschaft der DDR in Moskau. Der Scheck war angekündigt. An der Wohnungstür klopfte es. Vor mir stand ein Kollege des Vaters.
„Ach, grüß dich“, sagte ich, denn ich biederte mich gern den Genossen an.
Er stutzte. Gab mir die Hand und lächelte.
„Komm rein“, hörte ich mich sagen. Und hielt ihn für den Schuldirektor der Botschaftsschule in Moskau. Etwas jünger als der Vater, mittelgroß, Windschutzjacke, synthetische Anzughose. Günter sein Name.
Ich bot ihm einen Stuhl.
Sichtlich verwirrt saß er dort und begann ein privates Gespräch.
„Wie geht es? Was macht der Bauernhof in Paretz?“
„Ich ziehe gerade um“, sagte ich. „Ist viel zu tun.“
„Dein Sohn ist ja jetzt auch schon zwei, oder?“
Ich nickte. Was der alles wusste.
„Sag mal, du warst doch mit dem Presser befreundet?“
Ich blickte ihn an.
„Presser?“ Die erste Alarmglocke erschallte.
„Na ja, befreundet, ein Bekannter“, sagte ich.
Presser war kürzlich über die Ostsee in den Westen geflüchtet. Seine Frau, die als Kellnerin arbeitete, hatte mich eben instruiert, falls mich jemand fragen sollte, ich wüsste nichts, sollte mir aber Spitznamen für den Freundeskreis ausdenken.
Günter fragte weiter. Er fragte nach dem Freundeskreis. Was hatte das mit meinem Scheck zu tun? Parallel zur Nennung der Spitznamen, die mir zum Schein erst nach und nach einfielen, funkte mein Inneres: Stasi! Achtung!
Bekam ich den Scheck nur durch Zusammenarbeit? Quatsch.
Während der Plauderei fügte Günter ein, ich solle meine Wohnung auf gar keinen Fall aufgeben, die könne man gebrauchen. Sie übernähmen die Miete, und eine kleine Getränke-Bar sei auch drin. Bis dahin hatte ich die Existenz konspirativer Wohnungen für ein Gerücht gehalten. Ich saß in der Falle, nickte und wurde schweigsamer. Zum Abschied gab Günter mir seine Telefonnummer mit dem Hinweis, dass Günter natürlich nicht sein richtiger Name sei.
„Versteht sich“, sagte ich.
Kein Scheck. Dass mein Vater für die Stasi arbeitete, hatte er nicht verheimlichen können. Aber dass er auf mich einen Mitarbeiter ansetzte, war zuviel. Nach Günters Abgang geriet ich in Panik. Wenn die mich erpressen. Auf keinen Fall gehe ich ins Gefängnis, dachte ich, so lange mein Sohn ein Kind ist. Da konnte allein der Vater helfen. Ich rief an und beschimpfte ihn. Die Mutter nahm den Hörer und sagte: „Was ist denn daran so schlimm, für die Stasi zu arbeiten?“
Ich war sprachlos. Aber es stellte sich heraus, dass Günter selbständig gehandelt hatte. Mein Vater versprach, ihn zurückzupfeifen. Günter war niemals Schuldirektor, er sah ihm nur ähnlich. Mein Vater lachte laut wie selten. Himmel und Erde standen still.
Von Günter hörte ich nie wieder. Der Scheck lag im Außenministerium beim Pförtner. Er diente meiner nächsten Reise zu meinen Eltern.
2004, unveröffentlicht
Der Sommer war fast vorbei. Wir saßen im Café als einzige Gäste und schwiegen. Draußen auf dem Platz waren alle Tische besetzt, in der Erwartung, jeder Tag könnte der letzte sein. Der letzte Tag des Sommers.
„Es ist besser, wir trennen uns“, sagte er schließlich.
Ich war keineswegs überrascht, ich hatte es seit Tagen gespürt.
„Jedenfalls für eine gewisse Zeit sollten wir uns trennen“, setzte der Mann hinzu, der vergeblich auf eine Antwort von mir wartete. Ich nickte kurz und sah an ihm vorbei. Und dann nach oben. Und dann nach draußen. Er wurde unruhig.
„Möchtest du noch was trinken?“
„Nein“, sagte ich.
„Gibt es noch etwas zu sagen?“
„Nein.“
„Dann muss ich jetzt los. Soll ich dich noch irgendwohin fahren?“
Ich schüttelte den Kopf. Seine Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Seit einer guten Stunde hatte ich kaum ein Wort gesprochen, und als ich jetzt in sein gequältes Gesicht blickte, fasste ich den Entschluss, ihn zu erlösen.
„Du kannst gehen“, sagte ich. „Ich möchte noch ein bisschen hier bleiben und nachdenken.“
Mein Freund atmete tief durch. „Zahlst du meinen Kaffee?“
„Ja klar.“ Ich lächelte ihn an. „Wenn es dir wieder besser geht, weißt du ja, wo du mich findest.“
Er nickte erleichtert, stand auf, steckte die Zigaretten in seine Hemdtasche, hob nur kurz die Hand zum Gruß und entfernte sich.
Ich blickte ihm nach, beobachtete, wie er in sein Auto stieg und mit quietschenden Reifen davonfuhr. So hörte es sich an, wenn er besonders schlechte Laune hatte. Oder besonders gute.
Ich atmete einmal laut durch. Der Kellner kam und fragte, ob ich zahlen wolle.
„Einen Viertelliter Wein“, gab ich zur Antwort. Er nickte und grinste. Ich stand auf, um mir eine Tageszeitung zu holen, die ich aber nur durchblätterte. So jung war ich nicht mehr, um mich von der Launenhaftigkeit eines lediglich platonischen Freundes aus der Bahn werfen zu lassen. Ich trank den Wein, und es ging mir besser. Zugegeben, die Situation war unerfreulich, aber nicht hoffnungslos. Wir hatten schon einige Trennungen überlebt, und es war immerhin das erste Mal, dass er gesagt hatte, für eine gewisse Zeit. Bisher hatte er sich jedes Mal endgültig getrennt. Unwiderruflich. Bisher hatte mich regelmäßig nach der Trennung eine große Trauer ergriffen. Und Ratlosigkeit. Ohne ihn war ich einsam. Ich könnte mir zur Abwechslung einen Mann für eine Nacht suchen, dachte ich.
Zwar hatte ich vor langer Zeit beschlossen, nur mit einem Mann zu schlafen, den ich liebte. Aber das war hart, zu hart, fand ich nun. Und im Grunde war doch jeder Mann liebenswert, oder?
Als ich den Wein ausgetrunken hatte, war mein Entschluss gereift. Gleich heute Abend wollte ich mich umsehen.
Es wurde ein milder Abend. Ich hatte zuhause eine Stunde geschlafen und war noch benommen, als ich die Straße entlang ging und in den Torweg des Biergartens einbog. Mein Freund verschwand aus meinem Hirn, jedenfalls beinahe, denn ich ertappte mich dabei, in der Kneipe und auf dem Hof Ausschau nach ihm zu halten.
Beim ersten Rundblick entdeckte ich niemanden, dem ich mich hätte zugesellen können, um die ersten Minuten der Unsicherheit zu überbrücken. Lange Tische und Bänke standen auf dem Hof, und fast alles war besetzt. Die Menschen saßen in kleinen und größeren Gruppen zusammen. Dann sah ich in der Mitte des Hofes Jonny Lehmann, stehend im Gespräch mit zwei anderen Männern. Nachdem ich mir von der Theke einen Wein geholt hatte, ging ich zu ihnen. Es war der richtige Augenblick, denn die Jungs schienen sich zu langweilen.
„Was gibt’s Neues?“ fragte Jonny Lehmann.
„Das würde ich auch gern wissen“, antwortete ich. „Ich bin eigentlich nur hier, um mir einen Mann zu suchen.“
„Das ist okay“, sagte Jonny. „An was hast du denn gedacht?“
„Jemanden, den ich noch nicht kenne, ein Fremder, möglichst einer, der nie wieder hierher kommt.“
Der Kerl, der neben Jonny Lehmann stand, kicherte. Ich kannte ihn von der Straße, auf dem Weg von einem Buchladen zum nächsten. Man sagte, er sei Kunsthistoriker. Noch älter vielleicht als ich, weiße Haare, schnurgerader Pony, gelblicher Schnauzbart – und wahrscheinlich ohne Gebiss, denn er tat den Mund nie so weit auf, dass man etwas davon hätte sehen können. Den Dritten im Bunde, (ein kleiner Dicker mit schwarzer Lederweste), kannte ich gar nicht. Jonny stellte mir die beiden vor, aber ich vergaß die Namen im selben Augenblick. Jonny Lehmann kannte ich seit fast zehn Jahren, er besaß eine liebenswürdige, gesellige Leichtigkeit und gehörte wie ich zu jenem Stamm von Leuten, die einen guten Teil ihres Lebens in Kneipen verbringen.
„Wonach gehst du bei der Auswahl des Mannes?“ erkundigte er sich.
„Gute Frage“, sagte ich, während ich die drei nacheinander ansah und dann meinen Blick über den Hof schweifen ließ. Ich fasste zwei Jungs ins Auge, die an einen Baum gelehnt auf der Erde saßen, Bier tranken und sich amüsierten.
Ich sah Jonny an. „Wollt ihr zusehen, wie ich mir einen Mann angle?“
Alle drei nickten. Der Kunsthistoriker kicherte wieder, wobei er den Kopf verschämt etwas zur Seite drehte.
„Also bis gleich“, verabschiedete ich mich und steuerte auf mein Ziel zu.
„Hallo“, sagte ich und hockte mich hin. „Ich habe ein Problem.“ Einer der beiden Jungs hielt mir sofort sein Feuerzeug hin. Ich schüttelte den Kopf. „Zigarette“, vermutete der andere.
„Falsch. Ich suche einen Mann für eine Nacht, könnt ihr mir weiterhelfen, ich meine....“
Die beiden blickten sich an, danach schauten sie zu mir, schüttelten den Kopf und lachten verlegen.
„In Ordnung.“ Ich stand auf, nickte ihnen freundlich zu und entfernte mich, ohne zu zögern. Ich wollte die Liste der Kandidaten abarbeiten als ginge es lediglich um eine Befragung. An der Theke stand ein mittelgroßer, schwul aussehender Mann, mit dem ich vor ein oder zwei Jahren an Silvester einen Flirt angefangen hatte. Er erkannte und begrüßte mich erfreut. Ohne Einleitung und seine homoerotische Ausstrahlung missachtend, sprach ich ihn an: „Du bist doch sicher ein Mann für eine Nacht, oder?“
Er sah mir in die Augen. „Ja“, hauchte er. „Aber nicht für heute Nacht.“
„Oh schade, aber macht nichts“, log ich. Immerhin, der Korb, den er mir gegeben hatte, war weniger drastisch als der erste. Ich blieb noch einen Moment stehen und betrachtete ihn. Seit jenem Silvester war er mir nicht mehr begegnet. Und damals hatten wir einige schöne Stunden miteinander verbracht, bis wir uns inmitten der Partygäste auf dem Fußboden gegenüber saßen, die Beine ineinander verschränkt, sehr ähnlich einer mir bis dahin unbekannten Paarungsstellung, auch im bekleideten Zustand eine aufregende Situation, besonders vielleicht wegen der Zuschauer. Schade eigentlich, dass er mir eine Absage erteilte.
Für einen Zwischenbericht kehrte ich zu meiner Heimatgruppe zurück. Sie erwarteten mich gespannt. Ich zuckte mit den Schultern. „Nichts.“
„Auf eine direkte Offerte würde ich auch nicht anspringen“, sagte Jonny. Der Hinweis gelangte in mein Unterbewusstsein.
„Einen Versuch mache ich noch“, sagte ich. „Dann muss ich mich erst mal erholen.“
Nach einer angemessenen Frist, die mir der Anstand diktierte, kehrte ich in die Kneipe zurück, während ich flüchtig konstatierte, dass es mir wohl leichter fiele, zwei Männer anzusprechen als einen einzelnen. Die beiden waren groß und kräftig, und ich sprach den an, der mir auf den ersten Blick besser gefiel. Ich stellte mich neben ihn, stieß ihn leicht an und flüsterte fast: „Bist du ein Mann für eine Nacht?“
Der Mann wich erschrocken zurück und sah mich verblüfft an: „Ich bin verheiratet“, sagte er.
„Ich auch“, antwortete ich im Scherz und zog die Augenbrauen hoch.
„Du bist ja blöd“, bemerkte sein Nebenmann.
„Da hätte ich wohl lieber dich fragen sollen?“
„Zu spät“, mischte der erste sich ein.
„Zu spät?“
Sein Nachbar bestätigte es. „Zu spät.“