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1930 besucht der Autor nach 36 Jahren wieder seine Heimatinsel Island. Viel hat sich in Island, aber auch im Leben des Erzählers geändert. Aus dem kleinen Jungen und jungen Priester ist ein der ganzen Welt bekannter Schriftsteller geworden, der zum 1000-jährigen Bestehen des isländischen Parlaments eingeladen wird. Für ihn gibt es in diesen Wochen viel Neues zu erleben, aber auch einst liebgewonnene Menschen und Orte wiederzutreffen.ZUM AUTOR:Jón Stefán Sveinsson (1857 – 1944) war durch seine Nonni-Bücher einer der in Deutschland bekanntesten isländischen Schriftsteller. Er veröffentlichte seine Werke weltweit unter dem Namen Jón Svensson. Im Jahr 1870 verließ er Island. In Frankreich – nach dem deutsch-französischen Krieg - nahm er den katholischen Glauben an und trat in den Jesuitenorden ein. Seit 1906 schrieb er die 12 "Nonni-Bücher" über seine Jugend auf Island und sein späteres Leben und Wirken in Europa, USA und Japan in deutscher Sprache. Sie wurden in mehr als 30 Sprachen übersetzt. -
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Seitenzahl: 344
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Saga
Man denke sich die freudige Überraschung, als ich eines schönen Tages — es war im Monat Februar 1930 — von der isländischen Regierung die Einladung erhielt, nach meinem Vaterland, dem fernen Island, zu kommen.
Also eine Islandreise! Die zweite seit sechzig Jahren!
Ich sollte Gast des Landes sein. Und damit ich dieser Einladung auch bestimmt folgen könne, hat mir das isländische Parlament, das altehrwürdige tausendjährige „Althing“, ein schönes Reisegeld geschickt.
Zwei Gründe waren es, die das Althing bewogen haben, mich nach Island einzuladen: Zuerst wollten meine Landsleute mir ihre Dankbarkeit erweisen wegen der sogenannten „Nonnibücher“, die ich über meine Jugenderlebnisse geschrieben habe. Man sagte mir, dass meine Erzählungen dazu beigetragen hätten, mein Vaterland draussen in der Welt bekannt zu machen. Dann aber wollte mein Heimatland haben, dass ich an der Tausendjahrfeier des isländischen Parlaments teilnehme, die im Sommer 1930 begangen werden sollte.
So unglaublich es auch klingen mag, das Parlament oder Althing des kleinen isländischen Volkes ist das älteste Parlament der Welt. Es ist vor tausend Jahren von normannischen Edlen gegründet worden. Diese ehrenvolle Tatsache wollte man nun mit allem Glanze feiern. Und an diesem seltenen Fest sollte auch ich teilnehmen.
Für die Tausendjahrfeier waren der 26., 27. und 28. Juni 1930 bestimmt.
Tausende von Menschen waren eingeladen — Vertreter der Regierungen Europas und Amerikas, Gelehrte, Dichter und Künstler und eine Menge andere Gäste. Ich würde also in guter Gesellschaft sein.
Aber zunächst kam die Reise selbst, auf die ich mich natürlich sehr freute: die Fahrt über den Ozean vom europäischen Festland bis nach Island. Und dann die Fahrten und Ausflüge auf der schönen Feuerinsel im Nordmeer!
Seit sechsunddreissig Jahren hatte ich meine liebe Heimat nicht mehr gesehen. Im Jahre 1894 war ich zum letzten Mal dort gewesen — aber nur ein paar Monate lang.
Ein zwölfjähriger Kopenhagener Junge, „der kleine Frederik“, Sohn des bekannten dänischen Geschichtschreibers Professor Troels Lund, war damals mit mir gereist.
Diese Reise verlief prächtig. Die Seefahrt von Kopenhagen nach Island hin und zurück war wundervoll. Und noch schöner war unser siebzehntägiger Ritt auf den allerliebsten kleinen isländischen Pferden quer durch die herrliche Insel.
Gleich nach der Rückkehr schrieb ich ein Buch, in welchem ich unsere Reiseabenteuer erzählte.
Das Buch hatte den Titel „Zwischen Eis und Feuer — Ein Ritt durch Island“.
Dies war also meine erste Rückkehr nach Island gewesen. Denn im Jahre 1870 hatte ich als zwölfjähriger Junge — jetzt vor zweiundsechzig Jahren — die Insel verlassen auf dem kleinen Segler „Valdemar von Rönne“, um in Frankreich meine Ausbildung zu erhalten.
Meine damalige Reise habe ich erzählt in dem Buche „Nonni — Erlebnisse eines jungen Isländers, von ihm selbst erzählt“.
Und jetzt sollte ich wiederum nach Island kommen! ... Welch ein Glück!
Ich hatte aber noch lange Zeit bis zum Aufbruch, im ganzen noch ungefähr vier Monate.
Ich befand mich damals in Wien, wohin ich eingeladen worden war, um jungen und alten Leuten Geschichten zu erzählen.
Von Wien aus sollte ich meine Vortragsreise ausdehnen nach Deutschland, Frankreich und der Schweiz.
In Gesprächen und auch in meinen Vorträgen erwähnte ich zuweilen meine bevorstehende Fahrt nach Island.
Da war es nun ganz eigenartig zu beobachten, welches Interesse meine Zuhörer überall für diese Reise bekundeten — besonders die jüngeren.
Eine Menge zwölf- bis dreizehnjährige Knaben waren eifrig bemüht, von ihren Eltern die Erlaubnis zu erlangen, mit mir nach Island zu fahren.
Ja sogar ein neunjähriger kleiner Wiener, kräftig und gesund, verriet mir im Vertrauen, dass seine Mutter dafür sei, sein Vater aber habe Angst.
„Was fürchtet dein Vater?“ fragte ich ihn.
„Er meint, ich sei zu jung, um die Strapazen auszuhalten.“
Ich suchte ihn zu trösten und fügte dann hinzu: „Etwas jung bist du schon, mein kleiner Freund!“
„Wie, jung!“ erwiderte der frische kleine Wiener eifrig. „Aber schauen Sie mich doch an! ... Bin ich denn so jung? Ich bin ja schon neun Jahre alt!“
Schliesslich aber siegten die Bedenken des Vaters, und der mutige kleine Wiener musste zu Hause bleiben.
Auch kräftige Schweizer Jungen, Luzerner und Züricher, Berner und Basler, wollten mit. Gerne hätte ich sie mitgenommen, aber immer kam etwas in den Weg — und warf alle Pläne über den Haufen.
Als ich von der Schweiz nach Paris kam, um dort meine Vorträge fortzusetzen, meldeten sich sofort zur Islandreise mehrere feurige kleine Franzosen.
„Monsieur“, sagte einer zu mir, „ich möchte so gern mit Ihnen nach Island. Meine Mama aber meint, ich könnte von den Eisbären aufgefressen werden.“
„Das wäre ja schrecklich, kleiner Freund. Ich glaube nun aber doch, dass du in dieser Beziehung deine Mama beruhigen kannst, denn im Sommer gibt es, Gott sei Dank, keine Eisbären in Island. Nur im Winter kommen zuweilen Bären auf den schwimmenden Eisbergen dorthin, aber bloss als Gäste und für kurze Zeit.“
„Das werde ich meiner Mutter sagen.“ — Trotz der Beruhigung wegen der Eisbärengefahr musste aber auch der unternehmungslustige kleine Pariser zu Hause bleiben.
Nach meinem Aufenthalt in Paris fuhr ich nach Süddeutschland, um mich eine Zeit lang in der reizenden Stadt Freiburg im Breisgau aufzuhalten.
Ich wohnte dort als Gast im Hause des weltberühmten Verlegers Hermann Herder.
Während meines Aufenthaltes in Freiburg meldeten sich wieder mehrere junge Bewerber für die bevorstehende Islandreise.
Diesmal achtete ich weniger darauf. — Weil die vielen vorhergehenden Versuche alle umsonst gewesen waren, sagte ich mir, dass bei den süddeutschen Jungen wohl auch nicht mehr herauskommen würde.
Doch darin habe ich mich gründlich getäuscht, denn gerade in Freiburg erhielt ich völlig unerwartet einen prächtigen süddeutschen Jungen als treuen und in jeder Beziehung angenehmen Gefährten für meine Islandreise.
Ich will kurz erzählen, wie das geschah.
Schon mehr als einmal war ich bei früheren Gelegenheiten eingeladen worden, im Hause Herder vor den Angestellten der grossen Verlagsanstalt Vorträge zu halten. Eine solche Versammlung konnte dann leicht fünf- bis sechshundert Zuhörer zählen.
Da war es mir wiederholt aufgefallen, dass ausser den Erwachsenen eine kleine Zahl, etwa zwölf bis vierzehn, uniformierte Knaben anwesend waren. Da sie jedesmal durch ihre äussere Erscheinung und ihre vorzügliche Haltung einen ungewöhnlich guten Eindruck auf mich machten, erkundigte ich mich, was das für Jungen seien.
Es wurde mir gesagt, es seien talentvolle Knaben, die für das Geschäftshaus erzogen und ausgebildet würden.
Nun sollte mir eine grosse Überraschung gerade aus den Reihen dieser Zöglinge zuteil werden.
An einem der ersten Tage meines Aufenthaltes in seinem Hause kam Herr Herder, der Inhaber der Firma, zu mir und sagte:
„Werden Sie diesmal allein nach Island fahren, oder nehmen Sie, wie bei Ihrer letzten Islandreise, einen Begleiter mit?“
„Ich werde diesmal die Reise allein machen müssen“, erwiderte ich ihm, „denn obwohl mehrere junge Leute mitfahren wollten, ist es keinem von ihnen geglückt, diesen Wunsch zu verwirklichen.“
„Dann hätte ich Ihnen einen Vorschlag zu machen: Ich bin bereit, einen der Jungen, die hier im Verlage erzogen und ausgebildet werden, mit Ihnen reisen zu lassen. Wollen Sie einen solchen Begleiter haben?“
Ich war so erstaunt über dieses grosszügige Anerbieten, dass ich zuerst nicht recht wusste, was ich antworten sollte.
Herr Herder merkte es und fuhr fort: „Von unserer Seite ist die Sache leicht. Es hängt nur von Ihnen ab, ob der Plan zur Wirklichkeit wird oder nicht.“
„Es ist ja ein ausserordentlich liebenswürdiges Angebot von Ihnen“, antwortete ich. „Es kommt mir aber so unerwartet, dass ich für den Augenblick nicht weiss, ob ich ja oder nein sagen soll. Ich muss jedenfalls etwas darüber nachdenken, bevor ich eine bestimmte Antwort geben kann.“
„Gut“, sagte Herr Herder, „dann können wir ja nach ein paar Tagen darauf zurückkommen. — Ich habe Ihnen diesen Vorschlag gemacht, weil ich meine, dass es für Sie angenehm sein würde, einen geweckten, frischen jungen Gesellschafter bei sich zu haben, einen kräftigen Jungen, der Ihnen auf der Reise auch in vielen Fällen zu Diensten sein könnte.“
Nach einer kleinen Pause zog er seine Uhr und sagte:
„Gerade jetzt sind alle Zöglinge beim Studium in ihrem Heim versammelt. Wenn Sie wollen, können wir beide dorthin gehen zu einem kleinen Besuch.“
Eine halbe Stunde später waren wir in dem Zöglingsheim. Alle Jungen waren da, die grossen und die kleinen — eine prächtige Schar.
Nachdem Herr Herder mich ihnen vorgestellt hatte, plauderten wir zwanglos eine kleine Weile mit den munteren Jungen.
„Ich reise bald nach Island. Möchte einer von euch mit?“ fragte ich sie auf einmal alle zusammen wie zum Scherz.
Da hätte man die leuchtenden Augen sehen sollen! Alle wollten mit, und ich bedauerte es, dass man nicht allen die Freude einer Islandreise gestatten konnte.
Auf dem Heimweg griff Herr Herder wieder auf die Frage der Reisebegleitung zurück:
„Um nun auf Ihren zukünftigen Reisebegleiter zurückzukommen, möchte ich Ihnen folgenden Vorschlag machen: Ich selber werde einen der Zöglinge auswählen und ihn zu Ihrer Verfügung stellen, solange Sie mein Gast sind. Er wird Sie begleiten und sonst zu Diensten sein, so oft Sie ausgehen. Sie werden dann selber sehen, ob er Ihnen auch auf Ihrer Islandreise als Begleiter passen würde. Wenn nicht, so könnten wir es mit einem andern versuchen.“
Es schien mir unbescheiden zu sein, so etwas anzunehmen. Doch meine Einwände halfen mir nichts. Und so musste ich diese liebenswürdige Aufmerksamkeit meines Gastgebers über mich ergehen lassen.
Ich hatte nun die Freude, solange ich mich im Hause Herder aufhielt, einen gut erzogenen, geweckten, intelligenten und liebenswürdigen kleinen Adjutanten bei meinen Ausgängen mitnehmen zu dürfen.
Dieser Junge hiess Viktor und war aus Horb, einem idyllischen Städtchen in Schwaben — also ein echter süddeutscher Junge. Er war gerade 16 Jahre alt geworden.
Wir kamen während meines Freiburger Aufenthaltes so gut miteinander aus, dass ich mir kaum einen geeigneteren Begleiter auf meiner Islandreise denken konnte.
Ich meldete also bald meinem Gastgeber, dass ich mit Viktor als zukünftigem Reisegefährten sehr zufrieden sein würde.
So wurde bestimmt, dass Viktor mich auf meiner grossen Reise nach Island begleiten sollte, wenn er selber nichts dagegen habe.
Als er dann kurz darauf in aller Form von Herrn Herder gefragt wurde, ob er mit dieser Abmachung einverstanden sei, konnte er seine überschäumende Freude kaum verbergen.
Auch Viktors Eltern gaben freudig ihre Zustimmung.
So war nun alles in Ordnung, die Fahrt Viktors in die nordische Zauberwelt war eine abgemachte Sache.
Die Begeisterung des Jungen wird man leicht verstehen: er war noch nie ausserhalb seines engeren Vaterlandes gewesen, und nun wird ihm auf einmal eine Reise angeboten, die man fast eine Weltreise nennen könnte.
Viktor suchte mich bald in meinem Zimmer auf und bat mich, ihm den Verlauf der Reise in grossen Zügen auseinandersetzen zu wollen.
„Zuerst“, sagte ich ihm, „wirst du allein, ohne mich, dein eigenes Vaterland, das grosse Deutschland, durchqueren müssen, vom äussersten Süden bis hinauf zum äussersten Norden. Das allein schon wird für dich eine bedeutende und interessante Reise werden. Sie wird ungefähr zwei Tage in Anspruch nehmen. Am ersten Abend wirst du am besten in Köln übernachten, und am folgenden Tag fährst du von Köln weiter nach Norden bis zur holländischen Grenze. Dort werde ich auf dich warten.“
„Wo soll ich aussteigen, wenn ich zur holländischen Grenze komme?“
„In Emmerich, am Niederrhein. — Wir fahren dann im Auto nach dem nahen holländischen Städtchen ’s Heerenberg. Dort bleiben wir ein paar Tage zusammen, und von dort aus beginnt dann die eigentliche Reise.
Zunächst fahren wir nach Rotterdam, quer durch ganz Holland.“
„Und von Rotterdam?“
„Von Rotterdam geht es weiter bis Hoek van Holland.“
„Das liegt doch schon am Meer?“
„Ganz richtig.“
„Da werde ich also zum ersten Mal in meinem Leben das Meer sehen! ... Wird das ein Erlebnis sein!“
„In Hoek van Holland gehen wir an Bord eines englischen Dampfers und fahren über den Kanal nach Harwich an der englischen Küste.“
„Die erste Seereise in meinem Leben!“
„Von Harwich geht es dann mit der Eisenbahn nach London.“
„Ich soll auch London sehen!“ rief Viktor jubelnd aus. ... „Wie lange bleiben wir in London?“
„Jetzt auf der Hinreise nur ein paar Tage. Wenn wir aber von Island zurückkehren, können wir uns noch einmal in London aufhalten, wohl länger als jetzt. Von London aus können wir dann Ausflüge machen, nach Oxford, Cambridge, und wohin wir sonst noch wollen.“
„Wohin fahren wir auf der Hinreise von London aus?“
„Wir fahren mit dem sogenannten ‚Flying Scotchman‘, das heisst, dem ‚Fliegenden Schottländer‘, einem englischen Blitzzug, nach Edinburg.“
„Edinburg! Das soll sehr schön sein!“
„Das will ich meinen! Ich bin schon zweimal dort gewesen und war jedesmal voll Bewunderung über die Schönheit dieser Stadt. Wir bleiben nur einen Tag in Edinburg. Dort besteigen wir einen hochmodernen isländischen Dampfer, der uns direkt nach Island bringen wird!“
„Wir fahren also hinaus auf den Atlantischen Ozean? — Dann aber kommen wohl die Beschwerden und Strapazen?“
„O nein, Viktor, nicht die Spur! Unser Dampfer heisst ‚Brúarfoss‘. Er ist bequem und pickfein in jeder Beziehung eingerichtet. Wir werden es während der Überfahrt von England nach Island sehr wahrscheinlich ebenso bequem und ruhig haben wie hier in diesem Zimmer.“
„Und die Stürme? Oder gibt es keine auf dem Atlantischen Meere zwischen England und Island?“
„Es kann dort furchtbare Stürme geben. Das hängt aber von der Jahreszeit ab. Unsere Seereise findet im Juni statt. Während dieser Jahreszeit ist das Meer dort gewöhnlich ruhig und blank wie ein Spiegel.“
„Wie wird es aber werden, wenn wir im Herbst zurückkehren?“
„Wenn wir im Herbst von Island zurückkehren, können wir allerdings möglicherweise starke Stürme erleben....“
„Und wie wickelt sich die Reise nun weiter ab?“
„Wir fahren also nach Island. Die Überfahrt wird etwa vier oder fünf Tage dauern. Wir legen dann zuerst in einigen der isländischen Fjorde an und besuchen auf kurze Zeit einige isländische Küstenstädte — jedesmal nur einige Stunden — und kommen schliesslich nach Reykjavik, der Hauptstadt der Insel.“
„Und dann?“
„Dann wird es so Vieles und Schönes geben, dass wir unmöglich jetzt alles voraussehen können. Wir werden wohl in diesem Wunderlande der Eddas und der Sagas, des Feuers und des Eises, zwei bis drei Monate bleiben. ... Und was werden wir dort nicht alles erleben in dieser Zeit! Zunächst die Althings-Jahrtausendfestlichkeiten, die mehrere Tage dauern werden. Nachher zahllose hochinteressante Fahrten und Ausflüge durch die feuergeborene Wunderinsel mit ihren rauchenden Vulkanen und lustig springenden kochenden Quellen, durch herrliche, grosszügige, wegen ihrer Schönheit weltberühmte Landschaften, bald zu Pferd, bald mit Auto, bald im Flugzeug....“
Viktor freute sich nach all dem Gehörten unbändig auf die wundervolle Reise....
Und in der Tat, welche goldene, bezaubernde Aussichten für einen 16jährigen Jungen!
Wir sassen noch eine gute Weile auf meinem Zimmer im Hause Herder und plauderten über die bevorstehenden Abenteuer der Fahrt nach der „Ultima Thule“, der geheimnisvollen Sagainsel im hohen Norden.
Ich genoss noch einige Tage weiter die vornehme Gastfreundschaft des Herrn Herder.
Dann verliess ich Freiburg, um mich nach Bad Nauheim bei Frankfurt am Main zu begeben. Ich wollte dort die wenigen Wochen vor meiner Abreise nach Island verbringen.
In Nauheim lernte ich einen liebenswürdigen irischen Geistlichen kennen. Er hiess Jeremiah Ahern.
Wir wurden bald so gute Freunde, dass er mich dringend bat, ihn auf meiner Rückreise von Island in seinem schönen Vaterlande zu besuchen.
Da ich mit dem Versprechen etwas zögerte, wurde er eifrig.
„Sind Sie schon einmal in Irland gewesen?“ fragte er.
„Nein, noch nie.“
„Ja, aber dann müssen Sie doch unbedingt hingehen, denn von allen Ländern Europas ist Irland eins der schönsten. Die ‚Grüne Erin‘ müssen Sie unbedingt sehen.“
Da ich trotz dieses Lobes mich immer noch nicht entschliessen konnte, ein bestimmtes Versprechen zu geben, fuhr mein neuer Freund fort:
„Sie kommen und wohnen bei mir, und ich werde dafür sorgen, dass Sie Ihren Besuch in Irland nicht bereuen werden.“
„In welchem Teil des Landes wohnen Sie?“ fragte ich ihn.
„Nicht weit von Cork, in der schönen Gegend von Ballinspittel, nahe bei Kinsale, wo die berühmte Schlacht zwischen Engländern und Irländern stattfand.“
Und dann fügte er noch hinzu: „Das alles werden Sie sehen. Und dann führe ich Sie im Auto herum und zeige Ihnen die schönsten Gegenden des Landes.“
Es war schwer, diesem keltisch-feurigen Drängen zu widerstehen.
Der freundliche Ire setzte mir so kräftig zu, dass ich ihm schliesslich versprach, ihn auf der Rückreise von Island zu besuchen, wenn die Umstände es erlauben würden.
Bald darauf verliess ich Bad Nauheim und fuhr über Emmerich nach Holland, wo ich in ’s Heerenberg die letzten Vorbereitungen zur Islandreise treffen wollte.
Dieses nette holländische Städtchen liegt unfern Emmerich in unmittelbarer Nähe der deutsch-holländischen Grenze, wie schon bemerkt. Von dort aus wollten wir unsere Nordlandfahrt antreten.
Einige Tage später kam mein Reisegefährte denn auch zur festgesetzten Zeit an. Er war selbstverständlich immer noch in begeisterter Stimmung.
Ein paar Tage blieben wir noch in ’s Heerenberg. Am 14. Juni aber brachen wir auf.
Spät am Abend stiegen wir in Emmerich in einen prächtigen deutschen Zug ein, der uns während der Nacht quer durch ganz Holland führen sollte.
Es gelang uns, nach einigem Suchen in der langen Wagenreihe ein unbesetztes Abteil für uns allein zu erhaschen. „Ein gutes Zeichen für einen angenehmen Verlauf der Reise!“ meinte Viktor.
Gleich darauf wurde dem frischen Jungen zu seiner grossen Freude eine Überraschung zuteil, welche er als ein noch besseres glückverheissendes Zeichen ansehen wollte. Als wir nämlich in dem engen, aber prächtig ausgestatteten Raum Platz genommen hatten, schaute sich Viktor in der kleinen Behausung ein wenig um. Da wurde er zuerst auf einige schöne, grosse Photographien aufmerksam, welche an den Wänden zu sehen waren.
„O, sind das schöne Bilder“, bemerkte er, „die da an den Wänden hängen! Die muss ich mir ansehen!“
Er stand auf und wollte anfangen, die Unterschriften der Bilder zu lesen. Kaum aber hatte er sich dem Bilde zugewandt, das gerade seinem Platz gegenüber angebracht war, da stiess er einen Freudenschrei aus und starrte mit einer Miene, die starke innere Erregung erkennen liess, auf das Bild hin.
Ich schaute ihn verwundert an. „Aber was ist denn los, Viktor?“ rief ich ihm endlich zu.
Als Antwort streckte er den Arm nach dem Bilde aus und sagte mir nur das eine Wort: „Horb!“
„Wie! Horb? Ist es Horb?“ rief auch ich nun aus, indem ich aufsprang. „Vielleicht hast du dich getäuscht.“
Nun sah aber auch ich die Unterschrift des Bildes. Da stand wirklich deutlich gedruckt das Wort: „Horb am Neckar“, das süddeutsche Heimatstädtchen des jungen Viktor!
Wir betrachteten nun beide das reizende Bild: ein niedliches süddeutsches Städtchen an einem Berg hinauf gebaut.
„Ja, das ist Horb ...“, belehrte mich Viktor, „da wohne ich. Und hier ist unser Haus. ... Sie können es sehen. Da steht es....“
Ich betrachtete das Bild eine gute Weile genau.
„Wir wollen hoffen, dass auch das ein glückverheissendes Vorzeichen ist“, erwiderte ich.
Allmählich kam Viktor wieder zur Ruhe.
Unterdessen sauste der lange D-Zug mit unheimlicher Schnelligkeit durch die holländische Landschaft, die, obwohl flach wie eine Tischplatte, doch in ihren grossen Linien und mit ihrer Staffage eigenartig schön aussah. Saftiggrüne Wiesen, von zahllosen Kanälen durchschnitten, — und darauf bewegten sich wie dunkle Schatten unzählige Kühe von dem berühmten holländischen Schlage und belebten die Landschaft, andere hatten sich gelegt und ruhten aus von den Anstrengungen des Tages.
Doch es wurde nach und nach so dunkel, dass man sich kein klares Bild mehr von der Landschaft machen konnte, die sich vor unsern gespannten Blicken wie ein Riesenteppich aufrollte. Es dauerte nicht lange, da hatten sich die undurchdringlichen Schatten der Nacht über die ganze Natur herabgesenkt, und wenn wir durch die Fenster schauten, sahen wir nichts als die dunkle geheimnisvolle Nacht....
Der Zug aber raste wie ein langgestrecktes leuchtendes Ungeheuer unermüdlich und sicher durch die Finsternis — seinem fernen Ziele zu.
So ging es mehrere Stunden lang. Endlich, kurz vor Mitternacht, bemerkten wir einen schwachen goldenen Schein, der von aussen durch die Fenster zu uns hereindrang.
Ich stand auf, öffnete ein Fenster und schaute nach vorn.
Der ganze Horizont vor uns erschien hell erleuchtet.
Ich hörte Schritte im Wagengang. Es war ein Schaffner, der sich durch den Gang bewegte.
„Was ist das für ein Schein dort vorne?“ rief ich ihn an.
„Rotterdam ...“, erwiderte er mit einer kräftigen Bassstimme, indem er weiterschritt.
Der Schein wurde immer heller. Wir kamen seinem Ursprung immer näher.
Auf einmal flutete blendend weisses Licht durch alle Fenster. ... Unser Zug rollte schnaubend in den taghell beleuchteten Bahnhof von Rotterdam.
Doch der Aufenthalt hier war sehr kurz. Wieder setzten sich die Wagen in Bewegung, und wieder ging es in die dunkle Nacht hinaus.
Bald rasten und sausten wir vorwärts wie vorher ..., aber diesmal nur eine kurze Zeit, denn Hoek van Holland war nicht weit entfernt. Dort aber war die Küste, und draussen das grosse Meer. ... Und am Kai wartete ein gewaltiger englischer Dampfer auf die Ankömmlinge.
Unser Zug war stark besetzt, und alle die vielen Menschen, die drinnen waren, wollten nach England.
Viktor war ein wenig schlaftrunken, freute sich aber doch mächtig und war voller Spannung auf die Dinge, die jetzt kommen würden.
Das Meer, der grosse Dampfer, die nächtliche Fahrt auf den schaukelnden Wellen, die Trennung vom Festland und die baldige Ankunft in England: alles das beschäftigte seine Phantasie.
Wir wussten, dass wir nach sechs Stunden, also am folgenden Morgen um 6 Uhr herum, die englische Küste erreicht haben würden.
Wieder ein goldener Schimmer im Ausblick vor uns.
Wir machen uns zum Aussteigen bereit, holen unsere Koffer vom Netz herunter und suchen in den Gang hinauszukommen, der schon mit Reisenden angefüllt ist.
Plötzlich ein schriller Pfiff der Lokomotive. ... Wir sind in Hoek van Holland.
Wir bewegen uns am Bahnhof mit dem Menschenstrom nach vorwärts. ... Der Weg ist genau bestimmt. Wir müssen durch verschiedene Gänge, Räume, amtliche Geschäftszimmer hindurch.
Es werden uns schweigend Zettel und Kärtchen in die Hand gedrückt. Die sollen wir wohl im Schiff abgeben, denn die Nummer unserer Kabine steht darauf.
Es wird hier überhaupt wenig gesprochen — und die wenigen Worte, die man hört, sind englisch.
Nun zum Bahnhof hinaus in die dunkle Nacht. ... Doch nein! Blendende elektrische Lichter machen die Nacht zum Tag.
In kurzem Abstand von uns sehen wir Masten hoch in die Luft aufragen. ... Wir sind also schon am Kai. ... Eine ungeheure dunkle Masse liegt gerade vor uns. Es ist das englische Schiff, das uns erwartet. Mehrere parallele Reihen von strahlenden runden Fensterchen laufen der Schiffseite entlang. Da werden wir unsere Kabine finden, denken wir.
Noch einige Schritte, und wir betreten die Landungsbrücke. Nach einigen Augenblicken stehen wir auf dem Deck des englischen Dampfers. Viktor zum ersten Mal im Leben auf einem Seedampfer!
Eine grosse Schar von Matrosen, Kellnern und dienenden Schiffsfräuleins oder Stewardessen stehen zum Empfang der Reisenden schweigend auf dem Schiffsdeck — alle in Uniform.
Eine Stewardess nimmt uns, immer schweigend, unsere Karten ab, wirft rasch einen Blick auf die Nummer und macht uns dann ein Zeichen, mitzukommen.
Wir folgen. ... Sie führt uns nach einer steil abfallenden Treppe.
Sie geht voraus, wendet sich auf der ersten Stufe um und sagt zu uns: „Down, please!“ („Hier herunter, bitte!“)
Also gehen wir hinter ihr die Treppe hinunter.
Unten wendet sich unsere Führerin wieder um, macht uns wieder ein Zeichen, ihr zu folgen, und sagt noch einmal: „Down!“
Gleichzeitig steigt sie eine zweite Treppe hinunter — wir ihr nach.
Wir wundern uns beide, dass wir so tief unten im Schiff die Nacht zubringen sollen.
Doch da ist nichts zu machen: wir steigen tapfer — unserer Führerin nach — in die Tiefe.
„Jetzt sind wir schon ein gutes Stück unter dem Wasserspiegel des Meeres“, bemerkte ich da zu Viktor. „Wie werden wir hier Luft bekommen?“
„Das interessiert mich auch“, sagte mein Begleiter.
Doch unsere Verwunderung sollte noch grösser werden....
Als wir mit der zweiten Treppe fertig waren, befanden wir uns in einem hellbeleuchteten, mit Teppichen belegten Gang. Eine endlose Reihe weisser Türen waren zu beiden Seiten des Ganges zu sehen. Also waren hier eine grosse Anzahl Passagierkabinen.
„Hier wird wohl auch unsere Kabine sein“, meinte Viktor.
„Das glaube ich auch“, antwortete ich.
Wie staunten wir aber, als das Fräulein nach einer dritten Treppe ging, sich wieder auf der ersten Stufe zu mir umdrehte mit der alten Weisung: „Please, Gentlemen, here down!“ („Seien Sie so gut, meine Herren, hier herunter!“)
Ohne ein Wort zu sagen, ergaben wir uns in unser Schicksal und stiegen hinter dem Fräulein in die geheimnisvolle Unterwelt hinunter.
Wieder kamen wir in einen hellbeleuchteten Gang mit Türen an beiden Seiten.
„Hier werden wir ja ersticken“, meinte Viktor, „denn in diese Tiefe kann doch unmöglich frische Luft dringen....“
„Ich weiss auch nicht, wie das gehen wird“, entgegnete ich.
Unterdessen führte das Fräulein uns durch den Gang nach einer Tür, machte sie auf, forderte uns mit einem höflichen „Please, Gentlemen!“ auf, einzutreten, und verabschiedete sich dann. Die Kabine war geräumig und schön ausgestattet. Zwei Betten waren dort übereinander angebracht.
Dort also — tief unter dem Wasserspiegel — sollten wir bis 6 Uhr des folgenden Tages schlafen.
Und die Luft hier unten?
Ja, in dieser Hinsicht wurde uns eine angenehme Überraschung zuteil.
Als ich mich nämlich näher in unserem Schlafgemach umsah, entdeckte ich oben an der einen Seitenwand, wenig über unsern Köpfen, ein rundes Loch, so gross, dass man bequem die Faust hineinstecken konnte, und aus dem Loch strömte reine, frische Luft zu uns herein.
Wir mussten bekennen, dass nur wegen unserer Unkenntnis der neueren Schiffsbautechnik unsere Befürchtungen möglich gewesen waren.
„Jetzt hast du zum ersten Mal in deinem Leben das Meer gesehen“, sagte ich zu Viktor.
„Das Meer?“ rief er ablehnend aus, „ich habe auch nicht die Spur vom Meer gesehen. Es war ja stockfinster, als wir an Bord gingen, und die Lichter auf dem Deck haben mich nur geblendet“
„Es ist richtig, Viktor, ich dachte nicht daran. — Wenn du es aber jetzt nicht sehen kannst, so wirst du sehr bald zu fühlen bekommen, dass wir darauf sind, denn die Matrosen sind schon daran, unser Schiff freizumachen. Wenn sie damit fertig sind, fahren wir sofort ab trotz der stockfinstern Nacht. Sobald wir uns ein wenig von der Küste entfernt haben, werden die Meereswellen anfangen, uns zu schaukeln.“
„Das wird aber ein Spass sein“, erwiderte er. „Wenn es nur ordentlich Wellen gibt!“
„Ordentliche Wellen werden schon bald da sein“, sagte ich ihm entgegenkommend, „denn gewöhnlich ist das Meer zwischen dem Kontinent und England etwas unruhig. Und zudem ist es jetzt windig, wenn auch nicht stark.“
„Ja, richtig, man merkt schon, dass es droben ein wenig windig ist. — Aber, was wollen wir nun jetzt tun? Wir gehen doch nicht gleich zu Bett?“
„Das brauchen wir natürlich nicht. Doch wenn ich nicht irre, bist du vorher im Zug allmählich sehr schläfrig gewesen.“
„Ja, im Zug! Aber jetzt bin ich weder müde noch schläfrig. Ans Schlafen kann ich jetzt nicht denken. Im Gegenteil, ich muss unbedingt hinauf, um mir das Schiff ein wenig anzusehen, und das Manövrieren bei der Abfahrt. Das ist etwas Neues für mich!“
Ich gab Viktor recht und freute mich an dem lebhaften Interesse, das er für all das Neue bekundete, was uns umgab. Und so gingen wir denn beide die drei hohen Treppen hinauf.
Die Landungsbrücke war schon eingezogen, und die Matrosen waren mit dem Losmachen des grossen Schiffes beschäftigt.
Auf dem Schiff selbst war es blendend hell. Wenn wir aber weiterschauen wollten, sahen wir nur die undurchdringliche, pechschwarze Nacht.
Wir lehnten uns über die Schiffsbrüstung, um das Meer zu entdecken — aber vergebens.
An den Kommandorufen des Kapitäns merkte ich, dass das Schiff schon vom Kai losgelöst war und nun anfing, den Vordersteven, das heisst die Spitze oder den Vorderteil des Schiffskörpers, langsam nach dem hohen Meer zu wenden.
Als es sich endlich in der richtigen Lage befand, fingen die Schiffsmaschinen an, kräftiger und mit stärkerem Geräusch zu arbeiten.
Das ganze Schiff zitterte und bebte; ein unheimliches Krachen wurde von überallher vernehmbar — und nun setzte sich endlich der Koloss in Bewegung, vorwärts nach dem hohen Meere hin, in die unheimliche Nacht hinaus...
Unsere Seereise hatte begonnen.
Die Vorwärtsbewegung des Schiffes wurde immer schneller, die Lichter am Kai kleiner und schwächer. Endlich entschwanden sie ganz unsern Blicken, und gleichzeitig fühlten wir deutlich, dass das Schiff sich nicht nur vorwärts bewegte, sondern auch bald anfing, uns sanft in die Höhe zu heben, um uns gleich danach ebenso sanft in die Tiefe zu ziehen.
Und nicht genug damit: wir wurden auch immer mehr und mehr nach den Seiten hin geschaukelt, bald nach links, bald nach rechts.
Es war ein richtiges, immer zunehmendes Schlingern, ein Aufundab- und Seitwärtsschwanken des Schiffes mit einer Unruhe, die uns für den Rest der Nacht fast bange werden liess.
Es war zudem alles so neu und so ungewohnt und daher auch so spannend und fesselnd, besonders für meinen jungen Gefährten, dass wir beide noch lange oben auf Deck verblieben....
Auf einmal neigte sich das Schiff so stark nach der einen Seite, dass wir uns an einem Geländer festhalten mussten, um nicht umzufallen.
„Fabelhaft!“ rief Viktor begeistert aus. „Jetzt bin ich keine Landratte mehr ...!“
„Und von Seekrankheit merkst du nichts?“
„Nicht das Geringste. ... Ich möchte nur, dass wir ein wenig Sturm bekämen.“
„Ich möchte dir ein kleines Abenteuer gönnen! Du bist ja ‚seestark‘, wie die Seeleute sagen.“ —
Wir schauten zurück nach der Küste. Aber von der Küste oder vom Lande überhaupt war nichts mehr zu sehen.
Auf dem Meere dagegen, das uns immer noch pechschwarz zu sein schien, entdeckten wir rund um uns wunderschöne, buntleuchtende Lichtlein: rot, grün und golden.
Es waren Schiffe, grosse und kleine, die ja immer in der Finsternis ein jedes mit drei verschiedenen Lichtern in den genannten Farben versehen sein müssen.
So standen wir da oben auf dem Deck des rasch voranstürmenden Schiffes und genossen noch eine Zeit lang den eigenartigen, stimmungsvollen Zauber der nächtlichen Meeresfahrt.
Doch je weiter wir aufs Meer hinauskamen, desto grösser und unruhiger wurden die Wellen, und desto nachdrücklicher wurde das Schlingern und Schwanken des Schiffes. Das Bedürfnis nach Ruhe und Schlaf meldete sich bei uns immer dringender.
„Jetzt gehe ich schlafen“, sagte ich da endlich zu Viktor, indem ich ihm gute Nacht wünschte.
„Ich bleibe noch etwas auf und komme später hinunter“, erwiderte er.
So trennten wir uns, und kurz darauf lag ich wohlversorgt in meiner Koje.
Ich schlief gleich ein und merkte fortan nichts mehr, weder von Wind und Wellen, noch von den Bewegungen des Schiffes, noch von Viktor, als er etwas später hinunterkam und sich zur Ruhe legte.
Wir erfreuten uns dann beide ungestört eines tiefen, gesunden Schlafes, bis gegen 6 Uhr morgens ein lautes Geräusch vom Deck her und das schwere Ächzen und schrille Kreischen der Schiffsmaschine plötzlich uns aus unserer Ruhe herausrissen....
Der Dampfer war eben in Harwich an der englischen Küste angelangt und wurde nun an der Landungsstelle festgelegt.
Hier wartete ein Extrazug auf die Reisenden, die nach London wollten.
Rasch machten wir uns in unserer Kabine fertig — schlaftrunken, wie wir noch waren, und gingen auf Deck.
Da war grosse Bewegung. Die zahlreichen Reisenden drängten sich mit ihren Koffern und Päcken nach der Landungsbrücke, denn es galt jetzt, schnellstens durch die Zollrevision hindurchzukommen, um sich dann einen guten Platz in dem wartenden Londoner Zuge zu verschaffen.
Viktor und ich mischten uns in den Menschenstrom, der nach der Zollhalle flutete.
Vermutlich haben unsere ehrlichen Gesichter den Zollbeamten Vertrauen eingeflösst, denn sie liessen uns durch, ohne den Inhalt unserer Reisekoffer anzuschauen.
Kurz darauf sassen wir beide in einem freien Abteil des langen Londoner Zuges. Eine einfach gekleidete junge Engländerin kam noch zu uns herein und nahm uns gegenüber Platz. Das war unsere ganze Reisegesellschaft.
Der Zug setzte sich bald in Bewegung, und nach einigen Minuten sausten wir in interessanter Fahrt auf London zu.
Ich machte Viktor auf die schönen blühenden Weiden und Wiesen, auf die Äcker und Felder, die Blumen und Obstbäume aufmerksam.
Doch das alles zog ihn nicht sonderlich an.
„Es ist im Schwabenland doch schöner“, meinte er, „und die Natur viel üppiger. Allerdings sind wir dort auch viel südlicher.“
Nach einer Weile wandte sich das junge englische Fräulein an mich und fragte in überraschend gutem Deutsch:
„Wissen Sie, mein Herr, um wieviel Uhr unser Zug in London eintrifft?“
„Ich werde es Ihnen gleich sagen können, Fräulein“, erwiderte ich, indem ich in meinem Fahrplan nachschaute.
Sie dankte nach erhaltener Auskunft und fügte dann gleich die Frage hinzu: „Sie sind wohl beide Deutsche?“
„Der Junge ist aus Süddeutschland, ich aber bin Isländer.“
„Isländer! Sie sprechen aber Deutsch, gerade wie wenn Sie ein geborener Deutscher wären.“
„O, so gut nun gerade nicht. — Ihnen dagegen kann ich ohne Übertreibung dasselbe Lob spenden wie Sie mir, denn Sie sprechen ein tadelloses Deutsch, gerade wie wenn Sie eine Deutsche wären. Sie sind aber eine Engländerin, nicht wahr?“
„O nein, ich bin keine Engländerin. Ich bin aus Hamburg.“
„Da muss ich Sie um Verzeihung bitten. Ich habe Sie bestimmt für eine Engländerin gehalten. —Wahrscheinlich wohnen Sie aber in England?“
„Ja, ich bin in einem englischen Institut in London zu meiner Ausbildung.“
„So, so. Und Sie kommen gut mit den Engländern aus?“
„O ja, sehr gut. Ich fühle mich ungemein wohl und glücklich in England. Die englische Lebensweise gefällt mir. Und dazu kommt, dass die Engländer uns Deutsche ausserordentlich gern haben. Das hat schon zur Folge gehabt, dass ausser mir noch mehrere andere Hamburger junge Mädchen in dasselbe Institut gekommen sind. Wir sind jetzt ein halbes Dutzend deutsche Mädchen dort. Und alle fühlen sich sehr wohl bei den Engländern.“
Wir unterhielten uns über diese erfreuliche deutsch-englische Freundschaft, bis der Zug in der Londoner Liverpool-Station hielt. Dann ging die kleine Reisegesellschaft auseinander.
Viktor und ich begaben uns nun eiligst nach unserem Absteigequartier in Mount-Street, in nächster Nähe des berühmten Hydeparks.
Wir wurden daselbst von guten englischen Freunden herzlich empfangen und richteten uns dort für ein paar Tage ein.
Da ich schon öfters in London gewesen war und vieles dort gesehen hatte, und da ich ausserdem einige private Sachen besorgen musste, zog ich es vor, während unseres Aufenthalts in London zu Hause zu bleiben, statt Ausflüge durch die Stadt zu machen.
Anders aber verhielt es sich mit meinem jungen Freund. Er war natürlich sehr darauf gespannt, möglichst viel von der Riesenstadt zu sehen.
„Ich möchte am liebsten“, sagte er, „den ganzen Tag draussen sein und in der Stadt herumwandern und herumfahren.“
Da ich diesen Wunsch vernünftig und berechtigt fand, so entschloss ich mich sehr bald, auf das ruhige Zuhausebleiben zu verzichten und ihn selber durch die Stadt zu führen.
Auf einmal aber fand diese Frage unerwartet eine andere glückliche Lösung.
Kurz nach unserer Ankunft in Mount-Street, während ich in meinem Zimmer sass, wird plötzlich kräftig an die Türe geklopft.
Auf mein „Herein“ stürmt ein jüngerer Herr ins Zimmer. Ein freundlicher Deutscher, den ich sofort erkannte, obwohl ich ihn seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hatte.
Er hiess Bruno Bitter und war vor mehr als 20 Jahren unter meinen Schülern gewesen im dänischen St. Andreas-Gymnasium bei Kopenhagen, wo ich damals als Gymnasiallehrer tätig war.
„Aber, mein lieber Bruno!“ rief ich nach der ersten herzlichen Begrüssung aus, „wie kommt es, dass wir uns hier treffen?“
„Und wie kommt es, dass mein lieber alter Lehrer plötzlich nach London gekommen ist?“
Wir setzten uns und gaben einander gegenseitig die notwendigen Aufschlüsse. Als Bruno hörte, wie es mit meinem jungen Reisebegleiter stand, bot er sich gleich mit der grössten Freude an, ihn in seine Hut zu nehmen und während der zwei zur Verfügung stehenden Tage kreuz und quer durch ganz London herumzuführen.
Viktor, den ich auf der Stelle rufen liess, befreundete sich sofort mit seinem Landsmann und nahm mit Begeisterung den Vorschlag an.
Dann flogen die beiden nur so durch die mächtige Weltstadt, und Viktor bekam so viel Grossartiges und Schönes zu sehen, dass er am Abend kaum Zeit genug fand, um mir auch nur einen kleinen Teil vom Gesehenen und Erlebten zu erzählen.
Am dritten Tage mussten wir London wieder verlassen, um eilends Edinburg zu erreichen.
Beim Abschied baten uns unsere Freunde in Mount-Street dringend, auf der Rückreise von Island wieder nach London zu kommen und dann länger bei ihnen zu bleiben.
Mit grosser Freude nahmen wir die edelmütige Einladung an, dankten herzlich für die so angenehme Gastfreundschaft und fuhren dann mit unserem deutschen Freund Bruno Bitter nach Kingscross-Station.
In Kingscross-Station bestiegen wir den prachtvollen Edinburger Zug, der von den Engländern „The Flying Scotchman“ (der Fliegende Schottländer) genannt wird.
Wieder bewunderte ich es hier, mit welcher Einfachheit und Sicherheit die Engländer die gewöhnlichen Reiseangelegenheiten besorgen.
Ein Schaffner nahm uns beim Einsteigen, ohne ein Wort zu sagen, unsere grösseren Koffer ab und stellte sie in den Gepäckwagen hinein — und zwar ohne jede Formalität. Da wird nichts eingeschrieben. Von Zetteln, Scheinen, Papieren irgend welcher Art ist hierbei keine Rede. Am Ende der Reise bekommt jeder Fahrgast mit aller Sicherheit sein Reisegepäck zurück.
Mit grösster Schnelligkeit brachte uns der „Fliegende Schottländer“ in acht Stunden von London nach Edinburg.
Die Fahrt war sehr angenehm. Von 10 Uhr vormittags bis 6 Uhr nachmittags konnten wir von unserem Wagen aus die englische Landschaft in wechselnder Schönheit kennenlernen.
Wiesen, Felder und Wälder, grosse und kleine Bauernhöfe, Gärten und grosse Parke, Städtchen und Städte, alles eilte in nicht endenwollender Reihenfolge an unsern Blicken vorüber.
Stellenweise flog der „Fliegende Schottländer“ zur Abwechslung der Küste entlang. Da erfreute uns dann eine Zeit lang der Blick auf die spiegelglatte Meeresfläche, auf der unzählige Schiffe, grosse und kleine, herumfuhren — ein lebensvolles, ungewohntes Schauspiel.
Gegen Ende unserer Fahrt bekam die Landschaft ein neues Gepräge. Die Wiesen sahen anders aus, das Gras war nicht so hoch, schien aber viel dichter und saftiger zu sein, und die grüne Farbe war viel schärfer und schöner.
Links und rechts zeigten sich immer häufiger Hügel und Felsen. Und allmählich wurde die ganze Gegend eine Berglandschaft.
Ich machte Viktor eigens darauf aufmerksam. Einer der Mitreisenden, der meine Bemerkung gehört und, wie es schien, verstanden hatte, sagte zu mir auf englisch:
„Hier fangen die Berge an, denn hier sind wir nicht mehr in England, sondern in dem Lande der Pikten und Schotten.“
Wir waren also schon bis Schottland vorgedrungen.
Der Herr, der uns aufgeklärt hatte, machte einen freundlich-gemütlichen Eindruck und schien gern mit uns ein wenig plaudern zu wollen.
„You are foreigners, I suppose?“ („Sie sind Fremde? vermute ich“), sagte er.
„Ja. Wir sind erst vor ein paar Tagen vom Kontinent herübergekommen.“
„Darf ich fragen, welcher Nationalität Sie sind?“
„Ich bin aus Island. Der Junge aber ist ein Süddeutscher.“
„Sie sind von Island! Das interessiert mich sehr. Ich habe mich nämlich viel mit den isländischen Sagas befasst.“
„Dann haben Sie vielleicht die isländische Sprache gelernt?“
„Ich habe es versucht, aber bald damit wieder aufgehört. Sie war mir zu schwer.“
„Das begreife ich. Dann haben Sie wohl die Sagas in englischer Übersetzung gelesen?“
„Ja, einige davon.“
„Und welche von den isländischen Sagas gefallen Ihnen am besten?“
„Die Saga von Grettir dem Starken sowie die vom weisen Niál, von Gunnlaug Schlangenzunge und von Kjartan und Bolli. Diese habe ich sogar mehr als einmal gelesen. Sie sind meine Lieblingssagas.“
Nun fragte ich ihn, woher er sei.
„Ich bin Engländer“, sagte er, „und wohne in London. Wenn Sie einmal nach London kommen sollten, bitte ich Sie, mich zu besuchen.“ — „Hier ist meine Adresse“, fügte er noch hinzu, indem er mir seine Karte überreichte.
Während ich dem freundlichen Engländer für seine Einladung dankte, fing unsere Lokomotive an, durch langgezogenes, schrilles Pfeifen Signale zu geben.
„Edinburg!“ sagte unser neuer Freund, indem er aufstand und uns zum Abschied die Hand drückte.
Ein paar Minuten später hielt der Zug in dem stattlichen Edinburger Hauptbahnhof.
Wir stiegen aus und holten zunächst unsere Koffer am Gepäckwagen.
Unzählige Autos standen in nächster Nähe des Bahnsteiges bereit. Wir gaben einem der Chauffeure einen Wink. Augenblicklich sprang er zu uns heran und brachte die Koffer in seinem Wagen unter.
„Wohin?“ fragte er, sobald wir im Wagen Platz genommen hatten.
„Lauriston-Street“, erwiderte ich.
Im Nu verliess unser Wagen den Bahnhof und rollte in schneller Fahrt durch die weltberühmte Princes-Street unserem Ziele zu.
Viktor machte grosse Augen, als er diese prachtvolle Strasse sah, die von den Edinburgern — und übrigens auch von vielen andern — als die schönste Strasse der Welt angesehen wird.
Sie ist aber auch wirklich wunderbar schön. An der einen Seite erhebt sich eine ununterbrochene Reihe von prächtigen Monumentalbauten, an der andern dagegen ist merkwürdigerweise kein Haus zu sehen, sondern statt dessen eine Folge von immer tiefer und tiefer abfallenden Riesenterrassen mit den reichsten und schönsten Blumenanlagen.
Eine Strasse dieser Art habe ich bis jetzt noch nirgendwo in der Welt gesehen.
Während wir so durch die Princes-Street fuhren, wurde es mir plötzlich klar, dass die Fahrt ein Umweg sei. Ich kannte Edinburg genügend, um zu wissen, dass Lauriston-Street nicht vor uns, sondern hinter uns lag. Ich gab deshalb dem Chauffeur ein Zeichen und erinnerte ihn daran, dass wir nach der Lauriston-Street wollten.
„All right, Sir!“ rief er mir zu. „Der Umweg ist nicht gross. Die Princes-Street ist aber die schönste Strasse von Edinburg. Die müssen Sie sehen.“
Ich liess ihn gewähren und nahm ihm den Umweg nicht übel, da er es ja so gut mit uns meinte.
Warum aber fuhr ich gerade nach der Lauriston-Street? Der Grund war dieser: