Zwischen Eis und Feuer - Jón Svensson - E-Book

Zwischen Eis und Feuer E-Book

Jón Svensson

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Beschreibung

24 Jahre nachdem der Erzähler als 12-Jähriger seine geliebte Heimat Island in Richtung Kopenhagen verlassen musste, bekommt er die Chance, im Sommer 1894 dieses von ihm so heiß geliebte Land und seine Menschen wiederzutreffen. Auf dem Rücken eines Pferdes durchstreift er die Insel im Atlantik mit all ihren Schönheiten und Herausforderungen.-

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Jón Svensson

Zwischen Eis und Feuer

Ein Ritt durch Island

Im Verein mit dem Verfasserbesorgte Neubearbeitung der autorisierten Übersetzungvon Johannes Mayrhofer

Saga

1. Winkende Ferien Mit Schiff Richtung Island

Im Juli 1894, gegen Ende eines anstrengenden Schuljahres, erhielt ich eines schönen Morgens die Nachricht, ich solle mich eilends bereit machen für eine Reise nach Island, um dort meine Sommerferien zu verbringen.

Das war für mich eine ausserordentlich freudige Botschaft.

Ich war damals Lehrer an einer Lateinschule bei Kopenhagen. Meine Ferien dauerten volle zwei Monate, da konnte man schon eine grössere Reise unternehmen.

Aber was noch viel mehr war: die Reise sollte nach Island gehen, nach dem zaubervollen Wunderland droben im Atlantischen Meer, mit seiner erinnerungsreichen stolzen Vorzeit und seiner grossartigen, herrlichen Natur, nach dem Land mit den brausenden Quellen, die ihre kochendheissen Wasser hoch in die Luft hinaufwerfen, nach dem Land mit den riesengrossen Wasserfällen, mit den zweitausend Feuerschlünden, von denen der grösste gross genug wäre, dass ganz Kopenhagen, die Hauptstadt Dänemarks, bequem auf seinem Grunde Platz hätte, während der kleinste nur einem kleinen, harmlosen Brünnlein gleicht, das aber in dem harten Basaltgestein unendlich tief in die Erde hinabreicht.

Dieses wunderbare, so eigentümlich schöne Land und seine ruhmvolle Geschichte liebte ich mit einer leidenschaftlichen Liebe.

Aber nicht nur das Land, auch seine Bevölkerung bewunderte und liebte ich: diese hochbegabten, feinfühligen, etwas stolzen und streitbaren, aber zugleich herzensguten und unvergleichlich gastfreien Menschen, dieses kleine isländische Volk, das nun über tausend Jahre schon da oben am Polarkreis mit rührender Treue über die alten Erinnerungen des skandinavischen Nordens wacht, das noch heute die so klangreiche, kräftige, poetische und feinentwickelte Sprache der alten Normannen redet: die Sprache der Edda und der Sagas, dieselbe Sprache noch, die einst Harald Schönhaar, Knut der Grosse und all die alten Helden gesprochen haben, deren männliche Taten das kleine isländische Volk vor dem Vergessen bewahrt hat.

Ja, dieses Land und Volk, sie waren mir gleich lieb, und ich freute mich unsäglich darauf, dorthin reisen zu dürfen.— Ich sollte Island, mein Heimatland, das ich als zwölfjähriger Knabe im Jahre 1870 verlassen hatte, zum ersten Mal jetzt wiedersehen!

Das Glück, das ich in meinem Herzen darüber empfand, kann ich unmöglich beschreiben. Ich will deshalb gleich anfangen zu erzählen, wie die Reise vor sich gehen sollte.

Die Fahrt über das Meer zwischen Dänemark und Island hatte ich schon früher einmal gemacht, aber nur in der Richtung von Island nach Dänemark. Es war im Jahre 1870, als ich, wie gesagt, noch ein kleiner zwölfjähriger Junge war.

Das Schiff, auf dem ich damals reiste, war der kleine dänische Segler „Valdemar von Rönne“.

Jene Reise dauerte fünf volle Wochen. Eisberge und wütende Herbststürme waren schuld daran, dass es so langsam ging. Die ganze abenteuerliche Fahrt habe ich in dem Buche „Nonni“ geschildert.

Mein nächstes Reiseziel war damals Kopenhagen, wo ich ein Jahr lang bleiben musste. Diesen Aufenthalt habe ich in meinem Buch „Die Stadt am Meer“ beschrieben.

Am 6. Juli 1894 nun sollte ich mit dem Dampfer „Botnia“ von Kopenhagen nach Reykjavik, der Hauptstadt Islands, fahren, von dort dann quer über die ganze vulkanische Insel reiten, von Südwest nach Norden, bis hinauf zu dem herrlichen Eyjafjördur, und von da sollte mich Anfang September der dänische Dampfer „Thyra“ wieder nach Kopenhagen zurückbringen.

Besonders der Ritt durch das Innere von Island erschien mir als der Glanzpunkt der ganzen Reise. Ein solcher Ritt über ausgedehnte, mir noch ganz unbekannte Strecken Landes musste reich werden an Erlebnissen und Abenteuern, die ich immer am meisten liebte, zumal da es ursprünglich meine Absicht gewesen war, allein, ohne Führer und Begleiter, zu reisen.

Aber ein gutes Geschick wollte es anders: es besorgte mir einen liebenswürdigen kleinen Reisekameraden.

Sobald nämlich meine Schüler davon erfuhren, dass ich nach dem fernen Island reisen sollte, kamen sie in der Pause draussen auf dem Spielplatz der genannten Schule alle zu mir herangestürmt und überschütteten mich, so wie nur die lebhaften dänischen Kinder es können, mit einer Menge Fragen.

Zuerst wollten sie sicher wissen, ob das mit der Islandfahrt überhaupt wahr sei. Als ich es bejahte, ging das Fragen los:

„Sie wollen also dahin reisen, wo aus den heissen Quellen das kochende Wasser hoch in die Luft hinaufspritzt?“

„Ja, dahin will ich reisen.“

„Und wo es die Schafe mit vier Hörnern gibt?“ rief ein anderer.

„Ganz richtig, die gibt es dort“, bestätigte ich.

„Und man reitet dort auf kleinen Pferden und setzt auf ihrem Rücken über die Flüsse?“

„Ja, das tut man.“

„Und es gibt dort Höhlen und unterirdische Gänge, in denen Geächtete leben?“

Hierauf antwortete ich:

„Ob es die jetzt noch gibt, weiss ich nicht. Früher allerdings hat es sie wohl gegeben.“

„Aber das Eis soll in Island so lange gefrieren, dass es zuletzt ganz trocken wird und als Brennholz gebraucht werden kann?“ bemerkte darauf ganz ernsthaft ein Kleiner.

Als ich ihn fragte, ob das ein Witz sein solle, erwiderte er:

„Nein, nein, mein Papa hat gesagt, das steht in einem alten Geschichtsbuch.“

Ich erklärte ihm darauf, dass dies wohl richtig sei, aber jener alte Schriftsteller (es war der Geschichtschreiber Adam von Bremen im 11. Jahrhundert) habe sich da geirrt. —

Nach dieser kurzen geschichtlichen Abschweifung ging das Fragen lustig weiter:

„In Island werden Sie gewiss auch die Hekla sehen?“ rief jetzt wieder einer.

„Ja, natürlich werde ich sie sehen!“

„Und werden Sie in den heissen Quellen auch Essen kochen?“

„Selbstverständlich, das werde ich bestimmt tun!“

„Und wie weit werden Sie überhaupt in das Land hineinreiten?“

„Ich werde quer durch die ganze Insel reisen“, sagte ich; „da werde ich über Berg und Tal, über Stock und Stein und über reissende Flüsse setzen müssen.“

„Und wann kommen Sie wieder zurück?“

„In etwa zwei Monaten.“ —

Auf einer solchen Reise wollten natürlich die Jungen am liebsten gleich alle mit dabei sein, und einer um den andern rief mir zu:

„Könnten Sie mich da nicht auch mitnehmen?“

„O ja, wenn eure Eltern es erlauben“, sagte ich.

Die meisten glaubten, dass sie diese Erlaubnis ohne weiteres bekommen würden.

Da läutete auf einmal die Schulglocke und brach unsere Unterredung ab. Der ganze Bubenschwarm stürmte auseinander und in die Schulzimmer zurück.

Was mich betraf, so hätte ich gern alle diese lustigen, lebhaften Jungen nach dem schönen Island mitgenommen; jedoch ich war überzeugt, dass ihre Eltern keinem die Einwilligung zu einer so langen und gefährlichen Reise geben würden. —

Darin irrte ich mich aber. Einer der Schüler, ein frischer, zwölfjähriger Junge aus Kopenhagen, der Sohn einer angesehenen Familie, brachte es fertig, dass er mitreisen durfte. Er hatte bei der Preisverteilung am Schluss des Schuljahres den ersten Preis in seiner Klasse erhalten, und zum Lohn dafür gaben ihm seine Eltern die so heiss begehrte Erlaubnis.

Der Name des Jungen war Frederik (auf deutsch Friedrich). —

Wir trafen nun sogleich beide mit dem grössten Eifer unsere Vorbereitungen, denn wie gesagt, schon am 6. Juli, vormittags 9 Uhr, sollte unser Schiff, der prächtig ausgestattete kleine Dampfer „Botnia“ von der „Vereinigten Dampfschiffahrtsgesellschaft“, von Kopenhagen abfahren und uns über Schottland und die Färöer-Inseln nach Island bringen.

Friedrich jubelte vor Freude und Begeisterung.

Als der Tag der Abreise gekommen war, begaben wir uns schon eine halbe Stunde vor der Abfahrt an Bord des Schiffes. Aber welche Überraschung! Auf dem Deck befanden sich bereits so viele Menschen, dass es fast buchstäblich einem Ameisenhaufen glich. Es war zunächst unmöglich, in diesem Gewimmel vorwärtszukommen.

Schliesslich glückte es mir aber, bis in die Nähe des Rauchsalons zu gelangen, freilich nicht ohne Hindernisse: bald stiess ich, ganz gegen meinen Willen, einen Herrn in den Rücken, bald einen in die Seite, einen dritten vor die Brust und meinen armen kleinen Reisegefährten sogar mitten ins Gesicht. Voll Reue, und um nicht noch mehr Unheil anzurichten, gab ich es zuletzt auf, mich weiter voranzudrängen, besonders da ich bald merkte, dass es in der Kajüte und im Rauchsalon ebenso voll war wie auf Deck.

„Wenn nur die Hälfte dieser Menschen mit nach Island soll“, sagte ein deutscher Herr, der hinter mir in dem Gedränge gleichfalls feststeckte, „dann haben wir in ein paar Tagen Hungersnot auf dem Schiff!“

Ich wollte gerade antworten, da läutete die grosse Schiffsglocke, und auf einmal begann die ganze Menschenmenge hinunter zu den Landungsbrücken zu stürmen. Friedrich und ich wurden beinahe umgerissen in der plötzlichen Bewegung. Bald jedoch nahm das Gedränge ab, und in kurzer Zeit war das Schiff fast menschenleer. Nur etwa vierzig bis fünfzig Personen blieben zurück.

Das waren die wirklichen Islandfahrer. Alle andern waren Freunde und Bekannte von ihnen gewesen!

Der genannte deutsche Herr kam nun auf mich zu und sagte lächelnd:

„Jetzt haben wir bessere Aussichten!“ —

Nach wenigen Minuten war das Schiff dann abfahrtbereit und setzte sich langsam in Bewegung. Wir glitten durch den Hafen zur „Langen Linie“ hinaus, während Hunderte von Taschentüchern uns vom Lande her ein letztes Lebewohl zuwinkten.

Unser nächstes Reiseziel war Edinburg, die Hauptstadt Schottlands, wo wir in zwei Tagen eintreffen sollten.

Das Schiff dampfte bereits immer schneller in nördlicher Richtung durch den Sund. Wir alle aber blickten noch lange auf Kopenhagen zurück, das die meisten von uns erst in einem oder zwei Monaten wiedersehen sollten. —

Plötzlich machte der Kellner dem Gedanken hieran ein Ende; er gab das Zeichen zum Frühstück, und kurz nachher sassen wir alle an einem reichgedeckten Tisch im Speisesaal.

Friedrich und ich bekamen unsern Platz einer stattlichen Dame gegenüber, die einen neunjährigen, frischen, munteren Knaben neben sich hatte. Von einem Nachbarn hörten wir, dass es die Frau des isländischen Landeshauptmanns Magnus Stephensen sei, die mit ihrem kleinen Sohn Magnus nach Reykjavik zurückkehrte.

In diesem Magnus, der äusserst heiter und liebenswürdig war, fand Friedrich schnell den besten Freund und Spielkameraden. Sie stiessen in eleganter, kindlicher Weise sogleich miteinander an und waren von da an unzertrennlich. —

Als wir nach dem Frühstück wieder auf Deck kamen, war Kopenhagen beinahe verschwunden, und die Türme von Kronborg erschienen am nördlichen Horizont.

Die Passagiere der ersten Schiffsklasse, in der wir reisten, bildeten eine recht bunte Gesellschaft aus allen Ländern der Welt; es befanden sich unter ihnen Engländer, Deutsche, Franzosen, Dänen, Amerikaner, Isländer, Leute von den Färöern, ja selbst Russen waren vertreten. Beständig hörte man um sich die Sprachen aller dieser Länder.

Bald wurden auch Bekanntschaften gemacht, und schon nach einer Stunde waren wir alle eine einzige, friedliche Familie, deren Einigkeit und Herzlichkeit täglich zunahm.

2. Begegnung mit den „weinenden Jungfrauen“

Je weiter wir uns vom Lande entfernten, desto unruhiger wurde das Meer. Ich ging deshalb zu einem alten Matrosen und fragte ihn, welche Aussichten wir wohl mit Wind und Wetter hätten.

„Es wird schon eine bewegte See geben“, antwortete er mit einem Kennerblick auf Himmel und Meer. „Sehen Sie die weissen Schaumspitzen auf den Wogen?“

Ich schaute über das Meer hin und betrachtete das Spiel der Wellen. Rings um das Schiff und weit im Umkreis wogten und schäumten sie. Es war gleichsam, als wenn eine unzählige Schar kleiner, schneeweisser Lämmer beständig darauf hin und her hüpften. Sie sprangen ohne Unterlass bald in die Luft empor, bald seitwärts hierhin und dorthin, und es schien, dass ihrer stets mehr und mehr wurden.

Die alte Edda, an die ich hier erinnert wurde, vergleicht allerdings die Wogen und ihre Schaumkronen nicht mit weissen Lämmern; in ihr sind es der Göttin Kolga unruhige Schwestern, Ägirs und Rans starke Töchter. Diese Jungfrauen, heisst es da, „weinen aus Herzenslust und werfen ihre Schleier hoch hinauf zum Himmel“. Sie umringen das Schiff, drängen sich heran, fassen es, schütteln es mit ihren starken Armen, heben es mutwillig empor mit ihren breiten Schultern und ziehen es dann wieder hinab in die Tiefe.

Ja, der alte Matrose hatte recht: es gab eine bewegte See, und mit der Edda konnten wir sagen, dass wir wirklich den „weinenden Jungfrauen“ begegnet waren. Wir hörten ihr unablässiges Schluchzen und merkten nur allzu gut, wie kräftig sie unser Schiff gepackt hatten.

Als wir uns dem unruhigen Kattegatt näherten, wurde das Schütteln des Schiffes geradezu unheimlich. Die meisten Passagiere verschwanden in ihren Kabinen: zuerst die Damen mit ihren Kindern, schweigend und bekümmerten Angesichts; dann die Herren, einer nach dem andern, jedoch ganz ruhig, so wie zufällig, als wollten sie bloss irgend etwas heraufholen.

Aber keiner kam wieder auf Deck!

Der Grund dieses Verschwindens war nicht schwer zu erraten, besonders wenn man die leichenblassen Gesichter betrachtete. — Ja, das Spiel der „weinenden Jungfrauen“ wirkt eben nicht auf jedermann gleich und vor allem nicht angenehm. — So unglaublich es klingen mag: als zum Mittagessen geläutet wurde, waren wir insgesamt nur noch vier Reisende auf Deck! —

Etwa fünf Minuten später warf ich einen flüchtigen Blick in den Speisesaal, um zu sehen, wieviele wohl an der Tafel sässen. — Ich machte auch hier die gleiche Beobachtung: zwei Herren und mein kleiner, munterer Reisekamerad, der mit seinem jugendlichen Appetit sich offenbar jedem Essen gewachsen zeigen wollte, bildeten die ganze Mittagstischgesellschaft. Alle übrigen hatten bei der immer stärker werdenden Bewegung des Schiffes an völlig andere Dinge zu denken! —

Als ich wieder auf das Deck hinaufgegangen war, kam der Kellner auf mich zu und fragte mich freundlich, ob ich nicht zu Mittag speisen wollte.

„Gern“, erwiderte ich, „wenn ich das hier oben kann.“

„Gewiss“, sagte der dienstbereite Mann, „ich werde Ihnen bringen, was Sie wünschen.“

Man spricht von so vielen Mitteln gegen die Seekrankheit. Da will ich einmal auch das meinige angeben:

Ich kenne für mich kein bewährteres Mittel, als so lange wie möglich oben in der frischen Luft auszuhalten und am besten ruhig in der Mitte des Schiffes, wo die üble schwankende Bewegung nicht so gross ist, auf und ab zu gehen und dabei tüchtig die Gedanken und die Aufmerksamkeit von der unbehaglichen Krankheit abzulenken.

Das hat mir immer am sichersten geholfen, während dagegen die eigentümliche Luft unten in den Kabinen, selbst bei ruhigem Wetter, schon oft und in kürzester Zeit alle Schrecken der Seekrankheit über mich gebracht hat. Allerdings muss man gut für zwei Dinge sorgen: erstens muss man sich warm halten, und zweitens darf man trotz aller Übelkeit die gewöhnlichen Mahlzeiten nicht unterlassen; doch heisst es dabei sehr mässig sein.

Dieser Erfahrung folgend, speiste ich oben auf Deck zu Mittag und bewegte mich die übrige Zeit, fast ganz allein, angetan mit Regenmantel und hohen, wasserdichten Gamaschen, langsam in der frischen Luft hin und her. Ab und zu plauderte ich mit dem einen oder andern Matrosen. —

Die Wogen gingen allmählich höher und höher, das Schiff schwankte unablässig auf und nieder, es wurde gerüttelt und geworfen. Das Wasser spritzte und klatschte wie im Takt über das Deck hin. Auf besseres Wetter war keine Aussicht. —

Am Abend brachte mir der wackere Kellner mein Essen wieder auf Deck, und ich nahm es abermals unter freiem Himmel ein. Der kleine Friedrich dagegen, der nichts von Seekrankheit spürte, ass unten im Speisesaal.

Ich befand mich verhältnismässig wohl.

Als es anfing, dunkel zu werden, sah man da und dort im Umkreis rote und grüne Punkte zwischen den Wogen aufleuchten. Das waren die Laternen der vielen Schiffe, die immer in diesen Gewässern verkehren.

Für mich entstand jetzt die Frage: Wo soll ich die Nacht zubringen?

Bei meinem Spaziergang auf Deck kam ich nämlich gerade an der Treppe zu den Kabinen vorbei, da schlug mir eine üble warme Luft entgegen. Ich sagte mir sofort: Nein, dahinunter gehe ich nicht! Lieber bleibe ich jede Nacht oben im Freien, als dass ich ein solches Gift einatme!

Ich besorgte mir nach einigem Überlegen ein paar wollene Decken und richtete mir im gut gelüfteten Rauchsalon ein Lager her.

Mein „Bett“ war durchaus behaglich geworden, so dass ich eine gute Nacht erwarten durfte. Ich legte mich bequem zurecht und schloss die Augen. —

Jetzt aber vernahm ich deutlich, was unten in den Schlafkabinen vor sich ging: Es waren Geräusche, die sich nicht lustig anhörten — ein „Konzert“ von etwas unheimlicher, beinahe herzzerreissender Art! ...

Ich hatte oft in Reiseschilderungen diesen Vergleich gefunden, und ich glaubte, er sei geschmacklos; aber hier, mitten in der Wirklichkeit, da fand ich, dass das Bild durchaus zutrifft. Während ich nämlich auf meinem Lager ruhte, drangen die wunderlichsten Laute wie von Gespenstern aus einem Grabe zu mir herauf:

Bald war es ein tiefes Basssolo, bald einige Sopranstimmen in hohen, schneidenden Trillern: wie mir schien, ein paar gesunde kräftige Jungen mit ihrer Mutter.

Dann hörte man deutlich den Text: „Mutter, Mutter, lass mich ans Land! lass mich ans Land! — Ich will nicht! ich will nicht!“

Auf einmal wurden die Sopranstimmen von einem hellen Tenor unterbrochen, der jetzt für einige Zeit alles andere übertönte; und endlich fiel der ganze Chor ein mit einem erschütternden Fortissimo. —

So blieb es mit allen möglichen Änderungen der Stimmen und Töne, während „Ägirs starke Töchter“ rings um uns immer wilder und wilder wurden.

Zuletzt aber fiel ich doch in Schlaf, trotz allem Jammern und Stöhnen unten im Schiff und trotz dem rasenden Lärm der Wogen draussen auf dem Meere.

Die Geister des Sturmes hörten nicht auf, uns zu „wiegen“. Sie packten immer von neuem unser Schiff und wendeten und drehten es fortgesetzt. Bald lag ich auf der linken Seite, bald auf der rechten; bald stand ich nahezu auf dem Kopf, bald wieder auf den Füssen. Nie hatte ich Rast oder Ruhe.

Dennoch schlief ich, oder besser gesagt, schlummerte ich ganz gut in meiner sturmumbrausten Einsiedelei über dem „Konzertsaal“. —

Als es hell wurde, stand ich hurtig auf und freute mich des neuen Tages.

3. In Edinburg und auf den Färöern

Die beiden folgenden Reisetage verliefen ungefähr gleich wie der erste, ich kann sie daher in meiner Schilderung übergehen.

Am Abend des dritten Tages, als es bereits vollständig finster geworden war, näherten wir uns der schottischen Küste und fuhren planmässig auf die prächtige Hauptstadt Edinburg zu. Die zahllosen, vielfarbigen Lichter am Lande machten einen solchen Eindruck, dass die meisten Passagiere aus ihren Kojen krochen und sich auf Deck schleppten, um den zaubervollen Anblick zu geniessen.

Unser Deck war nur spärlich beleuchtet. Bleich und müd standen unsere „Sänger der Nacht“ im Chore da, und man sprach ihnen, freundlich und teilnehmend, die besten Glückwünsche aus für ihre schönen Leistungen, obwohl fast keiner — aus Bescheidenheit natürlich — zugeben wollte, dass er bei den nächtlichen Darbietungen mitgewirkt habe. Ganz besonders wurden die kleinen Soprankünstler getröstet, denn es ging jetzt ja bald ihr Wunsch nach dem Lande in Erfüllung.

So kehrte nach und nach die alte Munterkeit und Geselligkeit auf dem Schiff zurück.

Der Aufenthalt in Edinburg sollte gut vierundzwanzig Stunden dauern. Alle sehnten sich danach, an Land zu kommen. Die Gründe waren verschieden. Einer davon war sicher die Schönheit der Stadt, die mit Recht als eine der schönsten in ganz Europa gilt. Man wird nie müde, diese Stadt anzusehen.

Nachdem das Schiff in Granton, einem von Edinburgs Häfen, eingelaufen war, gingen wir alle gleich zu Bett, denn man konnte jetzt doch endlich in Ruhe schlafen.

Am folgenden Morgen verliess ich mit Friedrich zeitig das Schiff, und wir begaben uns nach der kleinen Eisenbahnstation, von wo bald ein Zug nach Edinburg gehen sollte. Granton liegt nämlich eine Strecke weit von der Stadt entfernt.

Ich trat an den Schalter, um die Fahrkarten zu lösen. Da bemerkte ich, dass ich nur dänisches Geld bei mir hatte.

Ich hatte vergessen, mich auf dem Schiff mit englischem. Geld zu versehen.

Vergebens mache ich nun den Versuch, mit einer dänischen Krone zu bezahlen. Der Beamte verweigerte die Annahme:

„Bedaure“, sagte er, „ich kann nur englisches Geld nehmen.“

Während ich so dastehe und nachdenke, wie ich mir helfen soll, tritt ein anderer Eisenbahnbeamter neben mich, nimmt ein paar Geldstücke aus der Tasche und löst zwei Fahrkarten nach Edinburg; die eine reicht er mir, die andere Friedrich — alles mit einem freundlichen, ruhigen Lächeln, ohne ein Wort zu sagen.

Er hatte meine Verlegenheit bemerkt, er hatte die Antwort des Schalterbeamten gehört und griff dann, ein wahrer Menschenfreund, in der angegebenen Weise helfend ein.

Ich war gerührt von dieser feinen, liebenswürdigen Zuvorkommenheit und wusste im Augenblick gar nicht, wie ich das vergelten könnte. Nur mit Mühe gelang es mir, den guten Mann zu bewegen, dass er eine Entschädigung in dänischem Gelde annahm.

Friedrich und ich stiegen darauf in den bereitstehenden Zug, und fort ging’s nach der schönen Stadt.

Am Bahnhof in Edinburg nahmen wir einen Wagen und fuhren zu lieben Freunden in der Lauriston-Street, die wir im Jahre vorher auf einer Reise nach den Färöern kennen gelernt hatten. Wir wurden vom Rektor des Hauses, dem Bruder des englischen Admirals White, aufs herzlichste begrüsst, blieben den Tag über bei ihm und hatten Zeit, uns mit Lebensmitteln für die kommende Reise durch Island zu versehen.

Rektor White selbst kaufte für uns im grössten Geschäft in der Princes-Street einen ganzen Kasten voll feine Sachen, meist blanke Metalldosen, auf denen zu lesen war: Beef, Boiled Mutton, Chicken and Ham, Liebig Meat-Extract (das heisst: Rindfleisch, gekochtes Hammelfleisch, Huhn und Schinken, Liebigs Fleischextrakt), usw. usw. Da wir uns nämlich grösstenteils in den unbewohnten Gegenden Islands aufhalten wollten, mussten wir dort ja alles bei uns haben, was man zum Lebensunterhalt brauchte.

Bei der Abfahrt in Edinburg wurde unsere Reisegesellschaft durch eine Anzahl vornehmer Engländer vergrössert, die sich einige Wochen in der kräftigen, freien isländischen Natur ausruhen wollten, weit weg vom Lärm und Geräusch der grossen Welt. Die Zahl der Passagiere erster Klasse stieg damit auf 53.

Die Fahrt zwischen Schottland und den Färöern, die wir neu gestärkt durch den schönen Aufenthalt in der Stadt Edinburg antraten, verlief zunächst recht angenehm. Als wir jedoch in die Nähe von Suderö, der südlichsten der Färöer-Inseln, kamen, da erhob sich ein starker Sturm, begleitet von dichtem Nebel. Wir fuhren jetzt daher so nahe wie möglich an den senkrecht aufragenden Felsen hin, um Trangisvaag zu finden, den Fjord, wo das Schiff zuerst anlaufen sollte. Allein die Schwierigkeit war gross; der Nebel verhüllte alles, man konnte nur die nächsten Felswände unterscheiden, die sich drohend zur Linken erhoben.

Endlich sahen wir einen Fjord. Das Schiff drehte und fuhr hinein. Aber schon nach einer kurzen Strecke zeigte es sich, dass wir uns geirrt hatten: wir waren in den gefährlichen Vaagsfjord geraten, der bekannt ist wegen seiner vielen Riffe.

Begreiflicherweise wurden jetzt verschiedene Passagiere ängstlich. Auch wurde der Fjord plötzlich so eng, dass das Schiff nicht mehr wenden konnte; wir mussten Anker werfen und warten, bis der Sturm uns mit Hilfe des Ankers in die gewünschte Richtung brachte.

Inzwischen kamen vom Lande her mehrere wohlbemannte Boote, um zu sehen, was da los war. Sie fuhren ein paarmal um das Schiff herum und entfernten sich dann wieder, als sie merkten, dass wir ihre Hilfe nicht nötig hatten.

Es dauerte aber beinahe eine Stunde, ehe wir aus dem Fjord wieder hinauskamen. —

Nach diesem unfreiwilligen „Abstecher“ dampften wir eine Zeit lang von neuem die Küste entlang, um endlich das richtige Trangisvaag zu erreichen. Diesmal gelang es, und die vorher so ängstlich gewordenen Passagiere konnten sich nun von ihrem Schrecken erholen.

Eigentümlich sahen sich hier von unserem Schiff aus die Wohnungen der Färinger an: sie glichen einer Reihe Vogelnester am Bergeshang.

Von Trangisvaag fuhren wir dann etwa vier Stunden lang weiter nach Thorshavn, der kleinen Hauptstadt der Färöer. Da die See sehr aufgeregt war, fehlte es auf dem ganzen Wege nicht an Sturzbädern auf Deck, wo die Seetüchtigsten von uns, darunter natürlich auch Friedrich, sich aufhielten.

In Thorshavn trafen wir gegen Abend ein.

Gut eine Stunde vom Hafen entfernt, in einem ganz kleinen Dorf, namens Hvidenaes, hatte ich einen wichtigen Auftrag zu besorgen. Ich musste mich deshalb beeilen, denn unser Schiff sollte womöglich noch in der Nacht wieder abfahren.

Eine Menge Boote hatte bald den Dampfer umringt, der weitab vom Lande hatte Anker werfen müssen; einige kräftige Färinger kamen zu uns an Bord. Ich wandte mich sofort an sie und bat sie, mich sogleich nach Hvidenaes zu rudern, das man in nördlicher Richtung erblicken konnte. Indes ich bekam von allen dieselbe Antwort:

„Unmöglich! Die Brandung an der Küste und auch die Strömung zwischen den Inseln ist zu stark!“

Das war leider richtig. Die Brandung war, wie man vom Schiffe aus sah, so gewaltig, dass die ganze Küste schimmernd weiss war vom Schaum der Wogen.

Es blieb mir also nichts anderes übrig, als in Thorshavn an Land zu gehen und für die Wanderung über den Berg, der zwischen Hvidenaes und der Stadt Thorshavn lag, einen Führer zu nehmen. Ich wollte mich auch durch die Nacht nicht davon abhalten lassen.

Als ich dies dem kleinen Friedrich mitteilte, machte er ein äusserst bedenkliches Gesicht:

„Aber Sie kommen doch um Gottes willen ja nicht zu spät zurück!“ rief er. „Was sollte aus mir werden, wenn wir ohne Sie nach Island fahren würden!“

„Du kannst ruhig sein“, tröstete ich ihn, „ich komme ganz bestimmt rechtzeitig wieder.“

Aber wie sehr ich ihm das auch versicherte, so gelang es mir doch nicht, ihn ganz zu beruhigen. Ich musste mit ihm zum Kapitän gehen, den er flehentlich bat, nicht weiterzufahren, bis ich zurückgekommen wäre.

Der Kapitän lächelte über die kindliche Furcht des Knaben und versprach, er wolle sich ganz nach seinem Wunsch und Begehr richten. Zu mir gewandt aber sagte er, er werde reichlich eine Stunde vor der Abfahrt einige kräftige Signale mit der grossen Dampfpfeife geben, die würde man bis draussen in Hvidenaes hören, und danach könnte ich mich dann ja einrichten, dass ich nicht zu spät käme.

Ich stieg also eilig vom Schiff in das Boot eines Färingers, der mich ans Land ruderte. Während wir pfeilgeschwind über die Wogen dahinsausten, konnte ich noch lange ein weisses Taschentuch sehen, mit dem eine kleine Hand unausgesetzt vom Steuerbord über die Reling winkte.

In Thorshavn, mit seinen winkligen Strassen, suchte ich unverzüglich nach einem Führer. Vor einem Haus traf ich einen kräftigen färöischen Jungen, der mich schon von ferne mit grossen Augen ansah. Diesen fragte ich:

„Kennst du den Weg nach Hvidenaes?“

„Ja, sehr gut“, erwiderte der Kleine mit einer Betonung, die ganz von der dänischen abwich.

„Kannst du mich vielleicht gleich dahin führen?“ fragte ich weiter.

„Ja, gerne“, sagte er freudestrahlend und verschwand mit einem Satz in der nächsten Tür.

Etwas verwundert über dies plötzliche Verschwinden meines kaum erst gefundenen Führers, blieb ich einen Augenblick stehen, ging dann aber zu der Tür, durch die er hineingeschlüpft war, und klopfte an. Nachdem ich etwas gehört, das nach meiner Meinung so ähnlich wie „Herein“ klang, öffnete ich die Tür und sah nun den Kleinen eifrig damit beschäftigt, ein paar leichte Schuhe, wie man sie auf den Färöern trägt, anzuziehen. Indessen kam mir auch schon seine Mutter freundlich entgegen. Sie schien recht erfreut, dass ihr Sohn einen solchen Vertrauensposten erhalten hatte, und wohl ebenso über den Verdienst, der natürlich damit verbunden war.

Nach wenigen Minuten traten wir den Marsch über den Berg an, der Junge tapfer voraus.

Es ging auf Wegen dahin, die keine Wege waren. Oftmals mussten wir über Stock und Stein springen und über Bergbäche setzen. Aber das verdross uns nicht im geringsten. Wir hatten fest unser Ziel vor Augen, wir dachten an die uns bemessene knappe Frist, und in etwa eineinhalb Stunden erreichten wir Hvidenaes.

Ich erledigte so schnell wie möglich meinen Auftrag. Kurz nach Mitternacht, als ich glücklich damit fertig war, machten wir uns wieder auf den Rückweg über den Berg — eine eigenartig schöne Wanderung in halbheller Nacht.

Mein kleiner Färinger war jetzt sehr zutraulich und mitteilsam geworden. Er erzählte mir mit kindlicher Offenheit und Natürlichkeit von seiner Familie und von den Verhältnissen in Thorshavn. Sein Vater, sagte er, sei gerade nicht daheim, er sei auf dem Fischfang droben bei Island.

Das machte mich natürlich ein wenig neugierig, und ich bekam Lust, zu hören, wie der kleine Färinger wohl über mein Heimatland dachte. Wir führten darum etwa folgendes Gespräch:

„Wie gefällt deinem Vater Island?“

„Er sagt, es ist ein sehr schönes Land, aber man könne dort nicht so gut wohnen wie hier, denn die Berge seien so fürchterlich hoch.“

„Ja, aber was schadet denn das, kleiner Freund, dass die Berge so hoch sind?“

„Es liegt immer Eis und Schnee darauf, und der schmilzt nicht einmal im Sommer.“

„Das ist wahr, und man muss daran gewöhnt sein. — Dein Vater hat aber wohl auch sonst noch etwas von Island erzählt?“

„Ja, er meint, das Land sei so furchtbar gross; man sollte gar nicht glauben, dass es eine Insel sei. — Und dann hat er noch gesagt, es sei überaus reich.“