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"Das Reisen lag Nonni", das ist der Autor Jón Sveinsson, "im Blute. Immer wieder lockte es ihn hinaus." Von daher wird es niemanden überraschen, dass er am Ende seines Lebens einfach die Weltreise unternehmen musste, nach der er sich 80 Jahre gesehnt hatte. Sie führt ihn in den Jahren 1936 bis 1938 von London aus über die Vereinigten Staaten, Japan, Shanghai, Hongkong und Singapore durch den Suezkanal wieder nach London zurück. Mit offenen Augen erlebt er das letzte Mal die Welt und nutzt die Gelegenheit, Menschen zu treffen. ZUM AUTOR: Jón Stefán Sveinsson (1857 – 1944) war durch seine Nonni-Bücher einer der in Deutschland bekanntesten isländischen Schriftsteller. Er veröffentlichte seine Werke weltweit unter dem Namen Jón Svensson. Im Jahr 1870 verließ er Island. In Frankreich – nach dem deutsch-französischen Krieg - nahm er den katholischen Glauben an und trat in den Jesuitenorden ein. Seit 1906 schrieb er die 12 "Nonni-Bücher" über seine Jugend auf Island und sein späteres Leben und Wirken in Europa, USA und Japan in deutscher Sprache. Sie wurden in mehr als 30 Sprachen übersetzt.
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Seitenzahl: 652
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Band I
Von Frankreich über England nach Amerika
Saga
Der Verfasser der vorliegenden Schrift, P. Jón Svensson, ist am 16. Oktober 1944 im Franziskushospital in Köln-Ehrenfeld gestorben. Die Schrift sollte nach Absicht P. Svenssons das letzte in der großen Reihe der von ihm verfaßten und vom Herderschen Verlag herausgegebenen „Nonnibücher“ sein, zu denen es seiner Natur und seinem Inhalt nach auch gehört, eine Darstellung der großen Reise um die Welt, die der 80jährige „Nonni“ von London aus über die Vereinigten Staaten, Japan, Shanghai, Hongkong, Singapore, Aden, den Suezkanal, das Mittelmeer, den Golf von Biskaya bis zurück nach London in den Jahren 1936—1938 ausgeführt hat.
Den 1. Band, der bis zur Abreise von San Francisco nach Japan reicht, konnte „Nonni“ noch selbst ganz zu Ende führen und für den Druck vorbereiten. Den 2. Band, der die Reise nach Japan, den einjährigen Aufenthalt daselbst und die Rückreise von dort nach London zum Gegenstand haben sollte, konnte er nicht mehr voll zu Ende führen. Denn im Juli 1942 wurde der 85jährige kranke Greis durch die nationalsozialistische Geheime Staatspolizei aus seinem friedlichen Wohnsitz in Valkenburg in Holland vertrieben und über die Grenze geschafft. Seine Bücher und Manuskripte wurden ihm zwar auf einflußreiche Verwendung hin zurückerstattet; aber dieser Schlag und die nachfolgende Bombenzeit trafen ihn doch so hart, daß anstrengende schriftstellerische Tätigkeit ihm nicht mehr möglich war. So ist er selber mit dem 2. Bande nur noch bis zum Kapitel 39 gekommen, das mit der Abreise von Tokio schließt. Damit aber das wertvolle Werk nicht unvollendet bleibe, hat „Nonnis“ alter Freund, P. Hermann Krose, es unternommen, den Abschluß der Japanreise und der Rückreise nach Europa in engem Anschluß an die von P. Svensson hinterlassenen genauen Tagebuchnotizen als Ergänzung hinzuzufügen. — In einer Schrift: „Jón Svensson. Ein Lebensbild“ hat P. Hermann Krose eine Gesamtwürdigung der Persönlichkeit und der Werke P. Svenssons gegeben.
Möge „Nonnis Reise um die Welt“ als die letzte Gabe Nonnis an seine zahlreichen Freunde und Verehrer die gleiche freundliche Aufnahme finden, die den früheren Nonnibüchern zuteil geworden ist!
Der Herausgeber
Es ist ihm nie recht wohl gewesen daheim. Immer wieder lockte es ihn hinaus. Einmal waren es die Naturwunder der isländischen Heimat, wie er sie in dem Buche „Zwischen Eis und Feuer“ beschrieben hat. Dann lockte ihn die sagenumwobene „Feuerinsel im Nordmeer“. Ein andermal war es ein gefährlicher Nachmittagsritt „Auf Skipalón“, wo Nonni geboren ist. Dann macht er zusammen mit seinem Bruder Manni eine waghalsige Ferienreise in die zerklüfteten Berge und schildert diese Abenteuer in den „Sonnentagen“. Im „Nonni“ nimmt er als kleiner Junge Abschied von seiner Heimat und macht mutterseelenallein die abenteuerreiche Seereise nach Dänemark. Kaum recht gelandet, wird Kopenhagen kreuz und quer durchstreift, und schon bald begegnen wir ihm wieder auf dem offenen Kahn über den Öresund nach Schweden, in der „Stadt am Meer“. Von hier aus geht es dann weiter nach Frankreich, wo dem kleinen Nonni zwei große Wünsche in Erfüllung gehen: daß er den berühmten Reiseerzähler Jules Verne einmal sehen könne und daß die Mutter auch seinen kleinen Bruder Manni zu ihm schicken werde. Diese großen Ereignisse in seinem Leben hat Nonni erzählt in dem Buche „Wie Nonni das Glück fand“.
Das waren aber alles nur Vorbereitungen für die große Weltreise, nach der sich Nonni fast 80 Jahre lang sehnte. Er konnte nicht von dieser Erde scheiden, ohne einmal rundherum um den großen Ball gewandert zu sein und alles Schöne und Gute, was er birgt, der Jugend und dem Volke aller Länder gezeigt zu haben. Und als er mit 82 Jahren die Reise hinter sich hatte und die Erlebnisse in der Hauptsache niedergeschrieben waren, kam der Tod. Er hatte auch jetzt noch nicht das Gefühl, zum letzten Male ausgefahren zu sein. Ihm war — so hörte man aus seinen letzten Worten — als ob er sich wieder auf dem großen Meere befände und neuen Wundern entgegenfahre.
So war er, und so will er verstanden sein.
Meine früheste Jugend verlebte ich auf dem trauten elterlichen Hofe Mödruvellir in Nordisland. Die blühende Wiese, die vor dem Hofe lag, war der bevorzugte Platz meiner kindlichen Spiele. Im Sommer trieb ich mich dort an sonnigen Tagen oft ganz allein im hohen Grase herum. Die Blumen waren meine liebsten Spielkameraden. Ich lief von der einen zur anderen und liebkoste sie in kindlicher Begeisterung.
An einem schönen Sommertag, als ich gerade draußen im Garten war, mitten unter den Blumen, wurde plötzlich ein Fenster an der Giebelseite des Hauses geöffnet. Ich schaute hin und gewahrte sofort meine Schwester Bogga in der Fensteröffnung. — Bogga spähte nach der Wiese aus und entdeckte mich bald.
„Nonni!“ rief sie mir freundlich zu, „komm doch schnell herein — da wirst du etwas Schönes zu sehen bekommen.“
„Was ist es denn, Bogga?“ rief ich zurück.
„Es ist etwas ganz Merkwürdiges. Mutter ist auch hier im Zimmer, sie wird es dir zeigen und erklären.“
Ich wurde neugierig. Und als Bogga das Fenster geschlossen hatte, lief ich, so schnell mich meine kurzen Beine tragen konnten, ins Haus hinein.
Als ich in die Stube kam, entdeckte ich auf dem Tisch nahe beim Fenster eine merkwürdige Kugel, ungefähr so groß wie der Kopf eines Menschen. Die Kugel war bläulich gefärbt und stand auf einem schwarzglänzenden, schönen Säulchen. Voll Erstaunen schaute ich mir das merkwürdige Ding einige Minuten an. Es war mir unmöglich zu erraten, was es eigentlich sein sollte. Ich warf einen Blick nach meiner Mutter. — Auch sie betrachtete mich und lächelte mir zu.
„Aber, liebe Mutter“, brach ich endlich aus, „was soll denn diese Kugel hier bedeuten?“
„Kannst du das nicht erraten, Nonni?“ entgegnete sie.
Ich dachte einen Augenblick nach, dann sagte ich zu meiner Mutter: „Ich glaube, es ist ein Spielzeug.“
„O nein, Nonni, das ist es nicht. Schau dir die Kugel doch etwas näher an.“
Ich schleppte einen Stuhl bis zum Tische hin und kletterte darauf, um die geheimnisvolle Kugel ganz aus der Nähe betrachten zu können. Jetzt sah ich deutlich verschiedene Zeichnungen, die wie große Flekken oder Wolken aussahen.
Was konnte das wohl sein? Auf einmal entdeckte ich auch noch Buchstaben und Wörter. Aber da ich es damals im Lesen noch nicht sehr weit gebracht hatte, so wurde es mir recht schwer, etwas davon zu verstehen.
„Liebe Mutter“, sagte ich schließlich, „komm doch und erkläre mir, was diese Zeichen und Buchstaben bedeuten sollen.“
„Versuche erst einmal selbst, mein kleiner Nonni, es herauszufinden. Dann komme ich zu dir und erkläre dir das Ganze.“
Jetzt schob ich mich ganz nah zur Kugel hin, wählte eines der kürzesten Wörter und versuchte es zu buchstabieren. Und wahrhaftig, es gelang mir. Denn bald hatte ich das Wort heraus. Es war England. Ich wußte, daß ein großes Land, nicht weit von uns entfernt, England hieß. Voll Freude rief ich: „Mutter! Hier steht England. Ich habe es ganz allein herausgefunden.“ Lächelnd erhob sich die Mutter und kam zu mir hin.
„Das muß ich loben, Nonni“, sagte sie, „daß du das ganz allein herausgefunden hast. — Ja, du hast recht, da steht wirklich England.“ Dann zeigte sie mir noch einen ganz kleinen Flecken, nicht weit von England entfernt. Dort stand auch ein Wort.
„Kannst du auch dieses Wort lesen?“ fragte sie mich. Ich fing gleich an zu buchstabieren, und nach kurzer Zeit rief ich wieder triumphierend aus: „Island! — Hier steht ja ‚Island‘, Mutter! Was soll denn das bedeuten?“
„Ja, was mag das wohl bedeuten!“ sagte die Mutter lächelnd. „Das kann wohl nur bedeuten, daß Island dort liegt. Kannst du denn das nicht begreifen, mein kleiner Nonni?“
„Nein, das kann ich nicht, liebe Mutter, denn Island liegt doch im Meer und nicht auf einer Kugel. Und so ist es auch mit England. England kann nicht auf einer Kugel liegen.“ Jetzt lachte die Mutter laut auf und strich mir liebkosend mit der Hand über die Haare.
„Du kleine Unschuld“, sagte sie dann, „dies ist etwas schwer für dich. Doch du hast recht, wenn du sagst, daß Island und England mitten im Meere liegen, denn das tun sie ja auch wirklich. Aber, wenn ich dir nun sagen würde, daß England und Island und das Meer noch dazu, ja alle Meere und Länder der Welt, das heißt die ganze Erde eine große Kugel bilden … was würdest du dann sagen, mein kleiner Nonni?“
Jetzt stand ich sprachlos da, denn ich verstand meine Mutter nicht im geringsten. England und Island und die ganze Erde und alle Meere und alles sollten eine große Kugel sein. Nein, das schien mir unmöglich.
Island war ja doch ein flaches Land mit Bergen darauf. Und auch das Meer war ja flach. Da brauchte man doch nur die Augen aufzumachen, um das zu sehen. Wie konnte die liebe Mutter so sprechen? Das war doch unbegreiflich.
Die Mutter merkte meine Ratlosigkeit. Sie war aber zu gut, um mir nicht gleich zu Hilfe zu kommen. Sie setzte sich auf einen Stuhl und winkte mich zu sich.
Ich lief zu ihr hin, stützte mich auf ihre Knie und sagte: „Aber, liebe Mutter, die Erde ist doch nicht eine Kugel. Sie ist ja ganz flach. Ich bin auf Skipalon gewesen und auch in Akureyri und habe es gesehen.“
„Mein kleiner Nonni, ich verstehe sehr gut, daß du das nicht begreifen kannst. Du bist noch zu klein, aber du kannst mir glauben: die ganze große Erde ist eine Kugel. — Und die Kugel dort auf dem Tisch ist ein richtiges Bild von der Erde.“
Jetzt war nichts mehr zu machen. Ich mußte das Unglaubliche annehmen, denn die Mutter hatte es ja ganz im Ernst gesagt. Aber ein Rätsel blieb es doch.
Auf einen Wink von der Mutter brachte jetzt Bogga die Erdkugel zu uns her. Die Mutter zeigte mir dann die verschiedenen Länder und Meere: Hier waren die Faröer. Dort war Dänemark, dort Schweden, dort Norwegen, auch England, Deutschland, Frankreich und Italien waren da, und das große Atlantische Meer. Alle diese Länder kannte ich schon vom Hörensagen. Dann kamen noch viele größere Länder und Meere, von denen ich noch nie gehört hatte.
Da war unter anderen ein ungeheuer großes Land. Es hieß Rußland. Dort wohnten Russen, sagte meine Mutter. Was für merkwürdige Menschen müssen dies wohl sein! dachte ich bei mir selbst.
Plötzlich drehte die Mutter die Erdkugel auf ihrer Achse herum. Da wurden nun neue Länder und neue Meere sichtbar. Da war das Indische und das Stille Meer. Und da waren geheimnisvolle Länder mit eigenartigen Namen: Afrika, Indien, China, Japan.
Welch merkwürdig klingende Namen! dachte ich in meinem stillen Sinn. Diese Länder waren auf der entgegengesetzten Seite der Kugel.
„Dort sind Menschen, die anders aussehen als wir“, sagte die Mutter, „einige sind schwarz, andere gelb, andere wieder sind braun.“
Guter Gott! Wie merkwürdig war doch das alles!
„Aber Mutter“, rief ich jetzt plötzlich aus, „diese gelben und schwarzen Menschen sind ja ganz unten an der Kugel. Wie können sie sich dort halten, ohne herunterzufallen?“ Auch diese Frage wurde von der Mutter gelöst und erklärt. Die Erklärung konnte ich aber nicht recht verstehen. Sie blieb für mich ein Geheimnis.
Aber von den großen Ländern auf der entgegengesetzten Seite der Erdkugel interessierten mich am meisten die mit den gelben und schwarzen Menschen: Indien, Arabien, China, Japan. Dieses zuletzt genannte Land konnte ich am besten behalten.
Und merkwürdig! So klein und so jung ich noch war, plötzlich wurde in meiner Seele ein leidenschaftlicher Wunsch — oder vielleicht richtiger gesagt, ein fester Vorsatz lebendig: nämlich dorthin zu fahren, wenn ich einmal groß genug sein würde.
Ja ich wollte unbedingt nach diesen geheimnisvollen Ländern reisen … Nach Arabien, Indien, China, Japan! Diese Länder und diese Menschen mußte ich unbedingt sehen … Wie herrlich müßte doch eine solche Reise sein!
Von diesem meinem Vorsatz sagte ich keinem etwas, aber er blieb von diesem Tage an in meiner Seele wohlbewahrt.
Öfters fragte ich meine Mutter über diese Länder und ihre merkwürdigen schwarzen und gelben Menschen aus. Dann erzählte sie mir auch allerlei Schönes und Interessantes darüber.
Ich merkte mir das alles mit größter Sorgfalt und wußte schließlich in vielem über diese Länder Bescheid, besonders über Indien, China und Japan.
Ich wußte, daß in Indien die Menschen meist braun oder schwarz waren. Ich wußte auch, daß das Wetter dort sehr warm war, viel wärmer als bei uns. Ich wußte ferner, daß ungeheuer große Tiere dort zu finden waren, die gewaltigen Elefanten nämlich. Die meisten der Einwohner Indiens waren Heiden, nur einige wenige Christen gab es unter ihnen. Ich erfuhr auch, daß zur Zeit, als die Indier fast alle noch Heiden waren, ein berühmter Mann von Europa dorthin gefahren war, um ihnen das Christentum zu predigen. Er hieß Franziskus Xaverius und hatte in Japan und in anderen asiatischen Ländern und Reichen viele Menschen zum Christentum bekehrt. Auch Wunder soll er gewirkt haben. So heilig war er.
Ich bekam große Achtung vor diesem Manne, und da meine Mutter mir erzählte, daß er für die Japaner und ihr Land eine große Vorliebe gehabt hatte, zog es auch mich dorthin.
Und so kam es denn, daß von allen Ländern an der andern Seite der Erdkugel Japan mir am besten gefiel, und daß ich fest entschlossen war, dorthin zu reisen, wenn ich einmal groß sein würde.
Mit dem Großwerden schien es mir freilich etwas zu langsam zu gehen. Das Wachsen braucht eine so merkwürdig lange Zeit.
Die Erdkugel aber bekam einen bestimmten Platz in der Stube. Ich ging oft dorthin und versuchte den Weg von Island nach Japan herauszufinden.
Zuerst wollte ich von Island aus mit dem Schiff über das große Atlantische Meer fahren. Dann kam ein Land, das noch viel größer zu sein schien als Island. Auf der Erdkugel sah es zwar nicht besonders groß aus, aber wenn ich es mit Island verglich, dann kam es einem sehr groß vor. Es hieß Amerika, und da mußte man quer durch.
Auf der andern Seite von Amerika kam wieder ein Meer. Das war noch größer als das Atlantische. Es hieß das Stille Meer und dehnte sich bis Indien, Japan und China aus.
Ja, diese Reise mußte ich unbedingt machen.
Doch die Zeit schritt voran. Es vergingen Wochen, Monate und Jahre.
Ich selber wurde größer und größer, und neue Pläne und neue Ereignisse kamen und warfen die ersten um, und so geschah es, daß die Japanreise noch immer nicht zustande kam.
Aber die Sehnsucht nach der Ferne blieb, und als ich zwölf Jahre alt geworden war, kam eine große Veränderung in mein Leben hinein: ich verließ mein Vaterland Island, um fortan in anderen Ländern zu leben.
Davon habe ich in den Nonni-Büchern erzählt. —
Wie schon gesagt, verließ ich, zwölf Jahre alt, mein Vaterland und reiste nach Dänemark, wo ich mich ein Jahr aufhielt. Was ich dort erlebte, das habe ich in dem Buche „Die Stadt am Meer“ erzählt.
Von Dänemark reiste ich dann nach Frankreich, in die nordfranzösische Stadt Amiens, um dort in dem großen Gymnasium Ecole libre de la Providence meine Gymnasialstudien zu beginnen.
Während ich in Amiens den Studien oblag, fiel mir eines Tages ein Buch in die Hände, dessen Titel mich sofort in größte Spanung versetzte.
Es war: „Die Reise um die Welt in achtzig Tagen“ („Le tour du monde en 80 jours“) — geschrieben von dem berühmten französischen Schriftsteller Jules Verne.
Ich las das Buch mit Begeisterung. Als ich damit fertig war, erfuhr ich zu meinem Erstaunen, daß der Verfasser, Jules Verne, auch in Amiens wohne, also in derselben Stadt, wo ich mich damals aufhielt! Sofort nahm ich mir vor, diesen berühmten Mann zu besuchen.
Ich wollte ihn ausfragen über seine große Weltreise, denn ich nahm an, daß er sie selber gemacht habe und mir daher gute Ratschläge geben könne.
Von diesem beabsichtigten Besuch sagte ich vorläufig niemandem etwas, sondern wartete in aller Stille auf eine gute Gelegenheit. Endlich kam sie auch.
Eines Tages, als ich von dem Rektor des Kollegiums mit einigen Briefen in die Stadt geschickt wurde, machte ich einen kleinen Umweg und erreichte bald das Haus, wo Jules Verne wohnte.
Ich klingelte bei der Eingangstür und wartete. Bald hörte ich Schritte von innen her …
Die Tür wurde aufgemacht, und es erschien ein junges Mädchen.
Sie schaute mich fragend an …
„Ist der Herr Jules Verne zu Hause?“ fragte ich sie.
„Ich glaube wohl, daß der Herr da ist“, erwiderte sie, indem sie mich prüfend anschaute.
„Wollen Sie ihn bitte fragen, ob er mich nicht empfangen wolle. Ich wünsche ein paar Minuten mit ihm zu sprechen.“
„Dann möchte ich Sie bitten, mir Ihre Visitenkarte zu geben.“ —
„Leider habe ich keine“, erwiderte ich etwas verlegen, „ich bin Zögling im Collège de la Providence. Dort haben die Zöglinge keine Visitenkarten.“
„Das tut mir leid“, sagte das junge Mädchen. „Herr Verne ist sehr beschäftigt und empfängt keine Besucher, ohne ihre Visitenkarte vorher zu bekommen.“
Ich dachte einen Augenblick nach, dann sagte ich: „Ich will ein Blatt aus meinem Notizbuch herausreißen und meinen Namen darauf schreiben.“
„Gut“, sagte das junge Mädchen, „aber dann rate ich Ihnen, auch den Grund Ihres Besuches darauf anzugeben.“
„Das will ich tun.“
Ich riß ein Blatt aus meinem Notizbuch und schrieb folgende Worte darauf:
Ich übergab dann dem jungen Mädchen diese selbstgemachte Visitenkarte. Jetzt bat sie mich, einzutreten und im Gang auf sie zu warten. Das tat ich auch.
Das junge Mädchen aber eilte davon, mit der Karte in der Hand, und verschwand. Nach kurzer Zeit kam sie zurück und sagte:
„Seien Sie so gut und folgen Sie mir.“
Ich folgte ihr bis zu einer halbgeöffneten Tür. Dort blieb sie stehen und sagte: „Bitte, treten Sie ein.“
Ich trat ein und befand mich, wie ich annahm, im Arbeitszimmer des Herrn Jules Verne. Die Tür wurde von dem jungen Mädchen zugemacht.
Herr Verne, der an seinem Arbeitstisch saß, stand auf, wandte sich zu mir her und wartete …
Ich beeilte mich, eine Verbeugung zu machen, indem ich ihn mit den Worten grüßte:
„Guten Tag, mein Herr! Wollen Sie mir erlauben, ein paar Augenblicke mit Ihnen zu sprechen?“
„Aber sehr gern, mein Freund, bitte setze dich.“
Ich setzte mich auf einen Stuhl, der da in der Nähe stand.
Herr Verne nahm meine „Visitenkarte“ in die Hand und sagte:
„Du heißt Jón Svensson?“
„Ja, Herr Verne.“
„Das ist ein seltener Name.“
„O ja, hier in Frankreich ist er selten, aber in meinem Vaterlande ist er ganz gewöhnlich.“
„Du bist also ein Ausländer?“ sagte lächelnd Herr Verne.
„Ja, Herr Verne, ich bin aus Island.“
„Aus Island! Das ist ja das Land der Vulkane. Ein interessantes Land.“
„Ja, Herr Verne. Es ist auch ein schönes Land.“
„Ja, das will ich glauben“, sagte lächelnd der Herr Verne … „Und womit kann ich dir dienen?“
„Ich habe Ihr Buch ‚Tour du monde en 80 jours‘ gelesen und wollte Sie fragen, ob ich nicht auch so eine Reise machen könnte.“
Herr Verne schaute mich mit gütigen Augen an und sagte: „Ja gewiß, warum solltest du nicht eine solche Reise machen können?“
Es entstand eine Pause, während welcher Herr Verne mich freundlich lächelnd betrachtete … Schließlich sagte er: „Aber nach welchen Ländern möchtest du am liebsten reisen?“
„Ich möchte am liebsten so eine Reise machen, wie die, von der Sie in Ihrem Buche erzählen, nach Amerika, Japan, China …“
„Das hatte ich mir gedacht“, sagte Herr Verne, „also durch Amerika und Asien. — Das ließe sich auch ganz gut machen. — Aber ich möchte dir raten, noch etwas damit zu warten, mein junger Freund. Wenigstens müßtest du zuerst deine Studien fertig haben. Je mehr du weißt, um so mehr wirst du sehen! Das ist der wichtigste Rat, den ich dir jetzt geben kann. Also nach Vollendung deiner Studien kommst du wieder zu mir. Wir werden dann weiter über die Sache sprechen.“
Jetzt stand Herr Jules Verne auf und sagte sehr freundlich: „Ich danke dir für den Besuch. Und nun auf Wiedersehen nach Vollendung deiner Studien.“
Damit war mein Besuch bei dem Herrn Jules Verne zu Ende.
Ich nahm Abschied von dem berühmten Verfasser der „Reise um die Welt in 80 Tagen“ und ging eiligst nach dem Collège de la Providence zurück.
Später habe ich Herrn Jules Verne leider nicht mehr treffen können.
Mein Besuch bei dem großen Schriftsteller hat für meine großen Reisepläne keine weitere Bedeutung gehabt.
Mit einigen meiner französischen Schulkameraden sprach ich gelegentlich von meiner Begegnung mit Jules Verne und erzählte ihnen dann auch von meinen Plänen. Ich fand aber bei ihnen wenig Verständnis. Meine besten Freunde rieten mir sogar, alle diese Gedanken mir aus dem Kopfe zu schlagen.
Eine solche Reise sei aussichtlos, sagten sie, und es wäre das beste, überhaupt nicht mehr daran zu denken.
Aber diese wohlgemeinten Ratschläge machten wenig Eindruck auf mich. Ich war Normanne. Die meisten Normannen aber treibt es in die weite Welt. Das liegt ihnen im Blute.
Ich hielt daher an meinem Plan fest. Aber ich vermied von nun an, mit andern darüber zu reden.
Unterdessen ging aber wieder die Zeit vorwärts. Ja, viele Jahre vergingen. Ich selber wurde alt und älter … und jede Hoffnung, meinen alten Plan einer Weltreise noch ausführen zu können, schien zu schwinden.
Doch, ich verzweifelte nicht, denn ich kannte das Sprichwort, „Ist die Not am höchsten, so ist die Hilfe am nächsten“, und das Scheitern meines Lebensplanes hätte ich als ein Unglück und eine wahre Not betrachtet.
Und wahrhaftig, jetzt geschah das Unglaubliche: als ich daran war, das achtzigste Lebensjahr zu erreichen, da kam endlich der große Tag, an dem mein Lebenswunsch plötzlich in Erfüllung gehen sollte.…
Und wie ging das zu? Es kam so:
Während ich mich, im Jahre 1935, in dem großen Kollegium zu Valkenburg in Holland aufhielt, bekam ich eines Tages den Besuch eines bedeutenden Mannes, der eben von einer Reise nach Asien zurückgekehrt war.
Dieser Mann, der zu meinen besten Freunden gehörte, lud mich ein, in dem prachtvollen Park des Kollegiums einen kleinen Spaziergang mit ihm zu machen. Ich nahm selbstverständlich sofort an.
Während wir nun auf den lauschigen Wegen des Parkes umher wandelten, erzählte er mir verschiedene interessante Züge und Erlebnisse aus seiner Reise in den fernen asiatischen Ländern.
Mit wachsender Aufmerksamkeit hörte ich zu. Und nun erwachten in meinem Innern die alten Reisepläne, und das Verlangen nach der großen Weltreise wurde wieder lebendig.
Plötzlich blieb ich stehen und sagte zu meinem Freund: „Wie glücklich sind Sie doch, daß Sie die zauberhaften Länder Asiens sehen und bereisen konnten!“
Mein Freund lächelte, schaute mich an und sagte: „Möchten Sie vielleicht auch nach Asien reisen?“
„O ja“, erwiderte ich. „Das ist mein Wunsch gewesen mein Leben lang.“
„Aber dann ist es ja die höchste Zeit, daß Sie diesen Wunsch nun endlich auch verwirklichen“, erwiderte er.
„Das ist leichter gesagt als getan“, bemerkte ich. „Bis jetzt ist es mir noch nie möglich gewesen, mich für eine solche Reise frei zu machen. Ich bin durch Verpflichtungen verschiedener Art so sehr gebunden, daß eine derartige Reise kaum in Betracht kommen kann.“
Mein Freund dachte ein wenig nach. Dann sagte er: „Wenn diese große Reise Ihnen wirklich so sehr am Herzen liegt, biete ich Ihnen gern meine Dienste an, um alle Hindernisse aus dem Wege zu räumen.“
Durch diese Worte wurde ich so ergriffen, daß ich zuerst nicht wußte, was ich sagen sollte.
Es war mir nämlich klar, daß mein Freund, der ein sehr einflußreicher Mann war, dieses sein Versprechen sicher halten konnte.
Ich ergriff daher seine Hand und sagte: „Ich nehme Ihren Vorschlag mit Freuden an. Und sobald ich durch Ihre Hilfe von allen Hindernissen und Verpflichtungen frei geworden bin, werde ich unverzüglich meine Reise um die Welt antreten.“
Auf diese einfache Weise war meine Fahrt um die Erdkugel, nach der ich mich mein ganzes Leben lang gesehnt hatte, eine abgemachte Sache geworden.
Doch sollte noch ein ganzes Jahr vergehen, bis es mir im Sommer 1936 durch die Hilfe meines Freundes gelang, alle Fesseln zu sprengen und mich frei zu machen.
Dann aber konnte endlich die große Reise ihren Anfang nehmen.
Jetzt war also alles klipp und klar. Der wundervolle Traum meiner Kindheit und meines ganzen Lebens sollte nach einem Jahr zur Wirklichkeit werden.
Man wird begreifen, wie glücklich ich mich fühlte.
Wie viel Schönes, Neues und Ungewöhnliches sollte ich nicht auf dieser ungeheuer langen Fahrt zu sehen bekommen!
Danach hatte ich mich ja schon als Siebenjähriger so sehr gesehnt, und jetzt endlich wurde es mir in meinem achtzigsten Lebensjahre möglich gemacht.
Die unermeßlichen Weltmeere und neue — mir gänzlich unbekannte Länder sollte ich durchqueren! Auch mit schwarzen, braunen und gelben Menschen sollte ich Bekanntschaft machen! Ihre eigenartigen Sitten und Gebräuche sehen! Ihre mir wildfremden Sprachen sollte ich hören.…
Welch eine märchenhafte Reise würde das nicht sein!
Großer Gott! Welch ein eigenartiges Gefühl, wenn ich daran dachte, daß ich nach wenigen Monaten auf der entgegengesetzten Seite der Erdkugel sein würde!
Trotz meiner achtzig Jahre fühlte ich mich immer noch jung, und ich freute mich wie ein Kind auf alles, was da kommen sollte.
Ich hatte gut Zeit, meine Fahrt um die Welt vorzubereiten. Um aber Fehler in der Festlegung meiner Reiseroute zu vermeiden, riet mir ein guter Freund, mich in eines der großen Weltreisebureaus des Herrn Thomas Cook zu begeben, und dort um Rat zu fragen.
Sofort begab ich mich zu Cook — ich befand mich damals in Wien — und legte ihm meine Reisepläne auseinander.
„Sie wollen also eine Reise um die Erde machen?“ fragte Herr Cook.
„Ja, mein Herr, eine Reise, ungefähr wie die des Herrn Jules Verne. Aber sie soll nicht nur achtzig Tage dauern, sondern viel länger. Ich will mich nämlich in den verschiedenen Städten und Ländern, durch welche ich reisen werde, etwas umsehen.“
„Ich verstehe“, sagte Herr Cook. „Das wird sich alles sehr leicht machen lassen.“
Herr Cook schlug dann einen vorläufigen Reiseplan vor, der aber nach Belieben geändert werden konnte.
„Ich würde Ihnen raten“, fuhr Herr Cook fort, „die Reise von England aus anzufangen. Sie nehmen in Southampton einen der großen englischen Amerikadampfer und fahren über das Atlantische Meer bis New York. Von New York reisen Sie dann durch Kanada und die Vereinigten Staaten Nord-Amerikas bis nach Kalifornien. Von Kalifornien fahren prachtvolle japanische Dampfer über den Pazifik, das Stille Meer, nach Yokohama in Japan.
Die Rückreise können Sie dann am besten wieder mit einem der ausgezeichneten japanischen Dampfer machen, die den Dienst zwischen Asien und Europa besorgen. Die Fahrt geht an China vorbei, dann an Indien, Arabien, Afrika, Ägypten, Palästina, Griechenland etc.
Über alles das können wir noch gelegentlich sprechen und alle Einzelheiten einrichten, wie Sie es nur wünschen.“
Herr Cook fügte noch hinzu: „Wenn Sie auf der langen Reise Rat und Hilfe von mir wünschen sollten, brauchen Sie nur ein paar Worte an mich zu schreiben oder zu drahten. Ich werde Ihnen dann immer und überall, wo Sie sich auch befinden möchten, sehr gern zu Diensten sein.“
„Übrigens“, fuhr Herr Cook noch fort, „in den meisten Großstädten der verschiedenen Länder haben wir Kontore und Niederlassungen. — Sie werden dort immer willkommen sein.“
Zum Schluß gab er mir noch die lange Liste aller Geschäftshäuser von Cook in der ganzen Welt und lud mich noch einmal ein, mich jedesmal dorthin zu wenden, wenn ich in Not wäre.
So schien die zukünftige Reise immer sicherer, bequemer und angenehmer werden zu wollen. Sie war nun auch bald in jeder Beziehung vorbereitet. Ich selber aber war noch nicht ganz frei, denn die Liebhaber meiner Nonnibücher hatten mich dringend zu Vorträgen in verschiedenen europäischen Ländern eingeladen — und ich hatte mich schon vor langer Zeit verpflichtet, diesen Einladungen Folge zu leisten.
Fast ein Jahr lang mußte ich fortwährend herumreisen, um in unzähligen großen und kleinen Städten die versprochenen Vorträge zu halten. Oft in großen Sälen vor Tausenden von Zuhörern, oft in Internaten und Schulhäusern vor zappeligen Jungen und Mädchen, und zu meiner großen Freude manchesmal im Freien, wie bei der Bergpredigt, ja sogar ans Mikrophon hatte man mich gerufen, wo ich allerdings nie so recht warm wurde, weil ich lebendige Menschen und strahlende Gesichter um mich haben mußte, wenn ich erzählen sollte.
Da aber auf einmal geschah etwas Schreckliches! Es kam wie ein Blitz aus heiterem Himmel!
Ich wurde nämlich von einem derartig schweren Schicksalsschlag getroffen, daß meine Weltreise und alle meine Pläne samt und sonders in Frage gestellt wurden …!
Und was war das?
Mitten in meiner anstrengenden Arbeit, während ich mich in der glänzenden Hauptstadt Österreichs aufhielt und in den dortigen zahlreichen Vereinen, Kollegien und Gymnasien täglich Vorträge hielt, wurde ich plötzlich in Folge von Überanstrengung von einer schweren Krankheit aufs Krankenlager geworfen.
Sofort wurde ein tüchtiger Arzt gerufen. — Nachdem er mich auf das sorgfältigste untersucht hatte, erklärte er, der Fall sei äußerst ernst! Ja, man müsse sogar jede Hoffnung auf Genesung fahren lassen …!
Ich war also in aller Form aufgegeben!
Statt der großen Reise um die Erde herum — stand mir nun also plötzlich eine ungleich größere Reise bevor, die Reise nämlich in die andere Welt.…
Von dem Urteil des Arztes wurde mir natürlich damals nichts gesagt. Erst später erfuhr ich, in welcher Gefahr ich geschwebt hatte. —
Doch, was geschah nun?
Nachdem ich mehrere Wochen schwerkrank und in ständiger Todesgefahr auf einem Krankenlager gelegen hatte, trat auf einmal unverhofft und gegen jede Voraussicht eine solche Besserung ein, daß von da an keine Rede mehr von Todesgefahr sein konnte. — Ich war gerettet, meine Weltreise auch … und meine große Reise in die Ewigkeit war auf unbestimmte Zeit verschoben.
Von meiner Krankheit erholte ich mich auffallend rasch und konnte daher bald wieder meine Vortragstätigkeit fortsetzen.
Da aber mehrere Vorträge, die ich in Wien hätte halten sollen, wegen meiner Krankheit ausgefallen waren, wurde dieser Ausfall auf eine geschickte Weise wettgemacht. Das geschah so:
Ein Herr aus dem großen Wiener Radiohaus kam zu mir und sagte: „Mehrere Ihrer versprochenen Vorträge sind ja infolge Ihrer Krankheit ausgefallen. Wäre es Ihnen nicht möglich, Ihren Aufenthalt in Wien um einige Wochen zu verlängern, damit Sie diese Vorträge nachholen könnten?“
„Leider ist es mir unmöglich“, erwiderte ich, „denn man wartet auf mich in verschiedenen anderen Gegenden. Nach kurzer Zeit, zum Beispiel, muß ich in der Riedenburg bei Bregenz sein, gleich darauf in Bregenz, dann in Feldkirch, und so weiter. Es tut mir unendlich leid, daß ich Ihren Vorschlag nicht annehmen kann.“
„Ich verstehe Ihre Schwierigkeit“, fuhr der Herr fort, „aber dann möchte ich mit einem anderen Vorschlag kommen, könnten Sie sich nicht heute abend zu uns in das Radiohaus begeben und dort ein paar Vorträge auf unsere Schallplatten sprechen? Diese Vorträge werden wir dann durch ganz Österreich und noch weiterhin verbreiten.“
„Dazu bin ich sehr gern bereit“, erwiderte ich. An demselben Abend fuhr ich nach dem Wiener Radiohaus und gab dort mehrere Erzählungen vor den dortigen Schallplatten zum besten. Diese Erzählungen wurden dann bald darauf nach allen Seiten hin verbreitet.
Kurz nachher verließ ich Wien, um meine Vortragstätigkeit in anderen Gegenden fortzusetzen. Da konnte ich dann zuweilen meine eigenen Erzählungen in den dortigen Radios mit anhören.
Einmal erlebte ich sogar folgenden sonderbaren Fall:
Ich war nach der bekannten Studien- und Erziehungsanstalt Riedenburg in Vorarlberg eingeladen worden.
Zwischen zehn und elf Uhr nachts sollte ich an der Eisenbahnstation Riedenburg absteigen und von dort zu Fuß nach der Anstalt gehen.
Es wurde programmäßig an der genannten Station gehalten. Als ich ausgestiegen war, fuhr der Zug sofort weiter und verschwand bald in der stockfinsteren Nacht.
Da die Gegend mir gänzlich unbekannt war, befand ich mich in der größten Verlegenheit.
An der kleinen Station war es ganz dunkel, und außerdem war kein Mensch dort zu sehen.
Ich stand also hilflos in der finsteren Nacht. Nirgendwo in der Dunkelheit war ein Weg zu entdecken. Von der Riedenburg war keine Hilfe zu hoffen, denn man kannte dort die genaue Zeit meiner Ankunft nicht. Nachdem ich etwa eine Viertelstunde so gestanden und gewartet hatte, entdeckte ich schließlich in der Ferne ein winziges kleines Licht.… Es war das Lämpchen eines Radfahrers, der auf der Landstraße daherfuhr.
Als er nahe genug herangekommen war, rief ich ihn mit lauter Stimme höflich an und bat ihn abzusteigen. Das tat er sofort.
Ich redete ihn mit den Worten an: „Ich bitte Sie um Entschuldigung, mein Herr, können Sie mir nicht sagen, wie ich von hier die Riedenburg erreichen kann?“
Kaum hatte ich diese Worte gesprochen, da hörten wir auf einmal laute Stimmen, die aus der Finsternis bis zu uns drangen.…
Es waren Frauenstimmen.
Unter anderen konnten wir folgende Worte vernehmen: „Aber, Mutter, das ist ja der Nonni, der da gesprochen hat …! Komm doch mit.…“
„Du hast recht, es muß der Nonni sein“, hörten wir die Mutter antworten.
Gleich darauf bewegten sich zwei geheimnisvolle Schatten aus dem Dunkel auf uns zu.…
Voll Erstaunen schaute ich sie an: Es war eine ältere Frau mit ihrer erwachsenen Tochter.
Sie kamen näher zu uns her ins Licht der Fahrradlampe und grüßten uns mit echt österreichischer Höflichkeit.
Die Mutter wandte sich an mich und sagte:
„Es freut mich, Hochwürden, daß ich Sie hier treffe. Wir haben Sie sofort erkannt.“
Sprachlos stand ich da und betrachtete einige Augenblicke die beiden mir gänzlich unbekannten Gestalten.
Schließlich sagte ich: „Aber wie konnten Sie mich erkennen, bevor Sie mich sahen? Ich bin ganz fremd in dieser Gegend und kenne keinen Menschen hier.…“
Lächelnd antwortete die ältere Frau: „Wir brauchten Sie nicht zu sehen. Wir haben Sie an der Stimme erkannt.“
„Aber wie konnten Sie mich an der Stimme erkennen? Wir haben doch nie miteinander gesprochen.“
„Das ist richtig. Aber Sie haben Vorträge in einem Radiohaus gehalten und auch auf Schallplatten dort gesprochen. Das haben wir hier gehört, und deshalb haben wir Sie sofort erkannt, als Sie soeben den Radfahrer herbeiriefen und mit ihm sprachen. — Unser Haus ist hier in nächster Nähe, nur kann man es jetzt wegen der Dunkelheit nicht sehen.“
Nun war mir alles klar.
Wir sprachen noch ein wenig miteinander, und mit Hilfe dieser guten Menschen erreichte ich dann sehr bald die Riedenburg, wo ich mich bei lieben Freunden im besten Wohlergehen einige Tage aufhielt.
Im Sommer 1936 war ich endlich mit den wichtigsten Reisevorbereitungen fertig, und nun stand meine Abfahrt bevor.
Ich muß sagen, daß ich eigentlich nicht daran gedacht hatte, ein Buch über meine Erlebnisse auf dieser Reise zu schreiben. Denn ich war damals schon bedenklich nah an mein achtzigstes Lebensjahr herangekommen, und es schien mir, daß ich wegen meines Alters für eine solche Arbeit nicht mehr recht tauge.
Aber diese Rechnung hatte ich ohne die Leser der bisherigen Nonnibücher gemacht.
Kaum hatten sie nämlich von meiner bevorstehenden großen Reise gehört, da kamen auch schon von vielen Seiten her dringende Briefe an mich. Einige erreichten mich noch vor meiner Abreise, andere gingen mir nach bis ins Land der aufgehenden Sonne.
Ein junger Leser aus Italien stellte sich so eine Reise um die Welt sehr einfach vor und schrieb mir:
„Lieber Nonni!
Du mußt alles aufschreiben, was Du siehst. Und dann mußt Du ein Buch daraus machen. Ich warte schon darauf.“
Ein anderer aus Frankreich schrieb:
„Lieber Nonni!
Bist Du schon zurück von Deiner Weltreise? Ich suche in allen Schaufenstern nach Deinem Buch. Ich warte darauf. Jules Verne ging auch rund um die Erde und machte das in der kurzen Zeit von achtzig Tagen.“
Ein sehr geweckter kleiner Schuljunge aus der Schweiz schrieb mir ebenfalls einen Brief, während ich in Japan war. Als Adresse standen auf dem Umschlag folgende Worte:
„An Jón Svensson (Nonni)
der so schöne Bücher schreibt
Reykjavik Island“.
Eine so lustige Adresse hatte ich noch nie in meinem Leben bekommen.
Dieser freundliche Junge hatte offenbar auch schon etwas von dem tüchtigen Jules Verne gehört und gemeint, es ginge bei mir ebenso rasch wie bei diesem, und ich sei schon wieder von Japan nach Island zurückgekehrt. Aber die Post muß ich bewundern. Die isländische Post, die nicht wußte, wo ich war, sandte den Brief nach Norwegen.
Von Norwegen wurde er dann an meinen Verleger Herder in Freiburg im Breisgau geschickt. Von dort wanderte er nach Japan, wo ich ihn richtig erhielt.
Briefe dieser Art kamen oft dutzendweise in meine Hände. Ja es ging kaum ein Tag vorüber, ohne daß ich von meinen Freunden aus allen Ländern Briefe bekam, in welchen ich dringend gebeten wurde, alle meine Erlebnisse aufzuschreiben und sie in einem Reisebuch zu erzählen. Sollte hinter diesen Wünschen am Ende wiederum Jules Verne stecken? Er war inzwischen in Amiens gestorben. Aber seine Bücher lebten weiter. Das eine führte zum Mittelpunkt der Erde, ein anderes spielte 20 000 Meter unter dem Meer.
Das waren ja schöne Aussichten für mich. Die Jungen werden doch nicht so etwas von mir erwarten, dachte ich.
Nun schrieben sie mir auf das genaueste, wie das von mir erwartete Reisebuch ausschauen sollte:
„Vor allem, lieber Nonni, kein gelehrtes Buch, in dem so viele Zahlen und Namen sind und das so sehr nach Schule riecht. Auch keines, das nur von solchen Dingen berichtet, wie sie in der Zeitung stehen. Das würde nur den Politikern und den Professoren gefallen, nicht aber uns und den vielen anderen einfachen Leuten!“
Einer, der mich sicher schon einmal gesehen oder gehört hat bei den vielen Vorträgen, und der sich nun freuen wird, wenn er dieses Buch in die Hände bekommt, schrieb folgende überaus liebenswürdige Ermahnungen:
„Lieber Nonni, schreiben Sie bitte besonders die kleinen und kleinsten Einzelheiten, die Ihnen auf Ihrer Reise begegnen und die so schön sind. Ich weiß nicht warum. Ich weiß nur, daß es angenehm ist, zuzuhören, wenn Nonni erzählt, und daß ich mich wohl fühle, wenn ich in den Nonni-Büchern lese. Ich meine dann immer, ich sei bei ihm und reise selber mit ihm durch die Welt.“
Immerfort wiederholten meine Freunde — die kleinen und die großen — dieselbe Bitte.
Ich aber versprach, mich so gut wie möglich nach diesen Winken und Wünschen zu richten. Vor allem versicherte ich ihnen hoch und heilig, daß ich nicht den Versuch machen werde, sie langweilig zu belehren über die Geschichte und Geographie der Völker und Länder, die ich besuchen werde. „Das alles wird uns mehr als genug in der Schule beigebracht“, schloß der gleiche Junge seinen freundlichen Brief. Ich konnte es verstehen, und entschloß mich darum gern dazu, alle meine Freunde aus Nord und Süd, Ost und West im Geiste mit mir zu nehmen in die große weite Welt hinaus.
Wie schon mehrere Male angedeutet, nahm ich mir vor, direkt von Europa nach den Vereinigten Staaten Nordamerikas zu fahren. Das sollte die erste Strecke meiner Weltreise sein.
Mit welchem Schiff aber sollte ich diese Überfahrt machen?
Als kleiner Junge hatte ich die Reise von Island nach Dänemark auf einem winzig kleinen Segelschiff gemacht.
Das war siebzig Jahre früher.
Und es war gut so. Denn sonst wäre alles ganz anders gekommen und mein Leben wäre um viele Abenteuer ärmer. Ich hätte nicht so vieles erlebt und hätte darum auch nichts Interessantes erzählen können. Und die Nonni-Bücher wären nicht entstanden. Mir selber würde es jedenfalls leid tun, wenn ich alle die Freuden, die ich jung und alt aller Länder mit meinen Erinnerungen an die abenteuerliche Fahrt mit dem Segler „ Valdemar von Rönne“ gemacht habe, nicht hätte machen dürfen.
Jetzt wollte ich es aber anders machen. Inzwischen hatte die Schiffahrt gewaltige Fortschritte gemacht. Statt eines kleinen Schiffes konnte ich jetzt eines der allergrößten Schiffe wählen.
Die größten Schiffe aber, dachte ich, wird man wohl im Inselreich England finden.
Ich schaute nach und entdeckte bald, daß die damals größten Schiffe der Welt die englische „Queen Mary“ und die französische „Normandie“ waren.
Diese beiden Riesenschiffe waren ganz neu und wurden auch überall als wahre Wunder der Technik angesehen. Hier mußte ich zugreifen, dachte ich.
Ich wandte mich deshalb gleich an die betreffenden Schiffsgesellschaften, die englische und die französische, und fragte, ob noch Platz für einen Reisenden nach Nordamerika zu finden sei.
Sofort erhielt ich die Antwort, daß auf diesen beiden Schiffen für die nächsten fünf Monate alle Plätze schon bestellt seien. Wie merkwürdig! dachte ich, so viele Reisenden nach Amerika.
Da also war guter Rat teuer.… Ich überlegte hin und her Es war aber nichts zu machen: ich mußte auf die beiden prachtvollen Riesenschiffe Englands und Frankreichts verzichten.
Ganz im stillen hatten sich manche meiner älteren Freunde über diese Absagen gefreut. Ich erkannte das aus den Zuschriften, die ich von ihnen erhielt. Diese guten Leute hatten Angst um mich, wegen meines hohen Alters. Daß man mit achtzig Jahren noch Wanderlust haben kann und eine Weltreise beginnen will, ganz allein, schien ihnen unbegreiflich. Aber sie konnten ja nicht wissen, wie es einem Manne zumute ist, der Normannenblut in seinen Adern hat!
Um diesen heimlichen Widerstand zu überwinden, machte ich den Vorschlag, man möge mir einen tapferen Jungen mitgeben, der mir behilflich sein könnte und aus dessen Fragen und Antworten ich wieder zu entnehmen vermöchte, was junge Menschen von heute besonders interessiert. Mit Begeisterung boten sich sofort mehrere Jungen aus der Herderschen Zöglingsfamilie als Begleiter an, wie damals Viktor, der mit mir ging zur Tausendjahrfeier des Things von Reykjavik und der dann kreuz und quer mit mir durch Island streifte. Allein die Eltern dieser Jungen hielten zurück, so daß mir nichts anderes übrig blieb, als die Reise um die Welt allein zu unternehmen. Ich selber hatte nicht die geringste Angst davor; ich fühlte mich ganz sicher in Gottes Hand. Nur davor war mir ein wenig bange, es könnte jemand aus übergroßer Sorge um mein Wohl meine Ordensobern veranlassen, mich selber von der Reise zurückzuhalten.
In aller Eile wandte ich mich daher an eine neue Schiffsgesellschaft in England (weil es inzwischen abgemacht worden war, daß ich von England aus meine Weltreise beginnen sollte) und bestellte eine Fahrkarte nach Newyork mit der „Berengaria“, einem riesengroßen Amerikafahrer, den ich schon etwas näher kannte.
Die „Berengaria“ war 1914 in Deutschland gebaut worden. Sie hatte ursprünglich den Namen „Imperator“ und war das damals größte Schiff der Welt. Mit diesem prachtvollen Schiff wollte ich also die erste Strecke meiner Reise machen, nämlich die Strecke von England nach Neuyork.
Ich hatte aber noch gute Zeit; denn von der „Berengaria“ erhielt ich den Bescheid, daß das Schiff erst nach drei Wochen die Reise von England nach Amerika antreten werde.
So standen mir also bis zur Abfahrt noch drei Wochen frei.
Da ich sowohl in Paris als auch in London einige wichtige Geschäfte zu besorgen hatte, verließ ich bald Holland, wo ich mich inzwischen aufhielt, und reiste direkt nach Paris.
In dem Eisenbahnzug, der mich von Holland nach Frankreich brachte, erlebte ich ein kleines Abenteuer.
Es war das erste kleine Abenteuer auf meiner Weltreise, denn eben jetzt fing ja meine Weltreise an.
In meinem Abteil saß mir gegenüber ein sehr liebenswürdiger Herr, mit dem ich bald ins Gespräch kam.
Da er gerade nach Paris fuhr, fragte ich ihn, ob er vielleicht selber ein Pariser sei.
„Nein, mein Herr“, sagte er, „ich bin zwar ein Franzose, aber kein Pariser. Ich bin jetzt auf Reisen in den europäischen Ländern, wohne aber sehr weit von hier.“
Ich wurde neugierig, wollte ihn aber nicht gern ausfragen. Er schien aber meine Gedanken erraten zu haben, denn nach einer kurzen Pause sagte er lächelnd: „Sie möchten vielleicht gern wissen, wo ich wohne.“
„Gewiß. Das würde mich interessieren“, erwiderte ich.
„Raten Sie mal. — Ich wette aber“, sagte lächelnd der Franzose, „daß es Ihnen nicht leicht sein wird, meinen Wohnort zu finden.“
Meine Neugierde nahm zu. Ich fing also mit dem Raten an:
„Sie wohnen weit von hier, sagen Sie, wahrscheinlich in der Schweiz oder in Österreich?“
„O nein! Etwas weiter als das.“
„Dann vielleicht in Italien?“
„O nein, noch weiter.“
„Noch weiter …! Dann am Ende in Rußland?“
„Rußland! Das ist noch viel zu nah.“
„Noch viel weiter als Rußland …! Dann sagen wir mal in Amerika.“
„Ach nein … Amerika ist auch zu nah … Weiter, weiter … noch viel weiter.…“
„Weiter als Amerika …! Dann wohnen Sie am Ende in Indien.“
„Nein, nein, nein … Sie sind noch immer nicht weit genug. Aber Sie sind wenigstens auf dem richtigen Weg.“
„Dann bleibt schließlich nur noch China übrig.“
„China! Ach nein. Es bleibt noch ein herrliches Land übrig, eines der wundervollsten Länder der Welt.… Also, noch etwas weiter als China.“
Ich machte große Augen, denn jetzt wurde mir alles klar: es konnte nur mein Lieblingsland sein, das herrliche Land des japanischen Volkes —!
„Jetzt weiß ich es“, sagte ich dem freundlich heiteren Franzosen, „es ist Japan, Sie wohnen in Japan.“
„Ja, so ist es. Ich wohne in Japan. Ich bin französischer Beamter in Tokio.“
Man denke sich meine Überraschung. — Ich war ja gerade auf dem Wege nach Japan … und der erste Unbekannte, mit dem ich mich zufällig ins Gespräch einließ, war ein Bewohner dieses fernen Landes!
Der französische Herr merkte wohl, daß ich sehr überrascht und erstaunt war. Er konnte sich aber mein Staunen nicht recht erklären, denn er schaute mich fragend an und sagte schließlich nach einer kurzen Pause:
„Sie scheinen Interesse für Japan zu haben.“
„Ja, da haben Sie recht, mein Herr. Ich interessiere mich ganz besonders für dieses Land und für dieses Volk.“
„Aber aus welchem Grund tun Sie das?“
Ich schaute ihn lächelnd an und sagte: „Den Grund möchte ich Ihnen zum Raten geben, denn jetzt ist die Reihe an Ihnen.“
„Gut“, sagte lachend der Herr, „ich will es gern versuchen.“
Er dachte einige Augenblicke nach. Dann schaute er mich an und sagte: „Vielleicht machen Sie besondere Studien dort?“
„O nein, das gerade nicht, aber um es noch einmal zu sagen, ich kann nicht leugnen, daß ich für Japan ein starkes Interesse habe.“
Der geistreiche Franzose dachte wieder einige Augenblicke nach, dann auf einmal fuhr er auf und rief mir lebhaft zu: „Jetzt habe ich es, Sie haben mir auf die rechte Spur geholfen: Sie wollen sicher eine Reise nach Japan machen.“
„Ja, so ist es. Sie sind ein Meister im Raten, denn Sie haben es sofort getroffen.“
„Und wann fangen Sie die Reise an?“
„Ich habe sie schon angefangen … soeben, heute morgen. Dieser Tag ist mein erster Reisetag.“
„Und Sie fahren über Rußland?“
„Nein, mein Herr, ich fahre über die großen Weltmeere, denn ich liebe die Seereisen. Ich fahre jetzt über Paris nach London und dann von England aus über das Atlantische Meer nach Amerika. Dann über Amerika und das Stille Meer bis nach Japan. Und wenn ich in Japan sein werde, fahre ich sofort nach Tokio und werde dort längere Zeit wohnen.“
„Das freut mich aber sehr. Wo werden Sie aber in Tokio wohnen?“
„In der ‚Catholic University Jochi Daigaku‘.“
„In der University Jochi Daigaku! Aber die kenne ich sehr gut“, sagte mein freundlicher Mitreisender! „Die volle Adresse dieser Universität ist: Kojimachi Kioicho. Ich wohne nämlich selber in Tokio, nicht weit von der Universität Jochi Daigaku. Ich gehöre dort zu einer französischen Mission.“
Dann gab er mir seine volle Adresse und bat mich dringend, ihn zu besuchen, wenn ich in Tokio sein würde.
Wir sprachen noch lange über unsere Pläne in Japan und trennten uns schließlich, als der Zug in einem der großen Pariser Bahnhöfe hielt. In Paris blieb ich eine Woche, um dort einige bestellte Vorträge zu halten.
Meine eigenartige Begegnung mit dem französischen Herrn sah ich als ein gutes „Omen“ an.
Ich empfand es jedenfalls immer mehr und mehr merkwürdig, daß der erste Mensch, mit dem ich am Anfang meiner Reise in Berührung kam, ein Bewohner jenes Landes und jener Stadt war, wo auch ich meine Wohnung aufschlagen sollte!
Natürlich war ich fest entschlossen, mein Versprechen zu halten und meinen neuen französischen Bekannten in Tokio zu besuchen.
Das habe ich auch öfters getan, als ich später in Tokio wohnte, und immer wurde ich von ihm auf das freundlichste empfangen.
So konnte ich mir nur dazu Glück wünschen, daß ich diesen heiteren und liebenswürdigen Herrn am ersten Tag meiner Reise im Pariser Zug getroffen habe.
In Paris hielt ich mich nur einige wenige Tage auf, um, wie schon oben bemerkt, ein paar Vorträge zu halten.
Den einen dieser Vorträge sollte ich am ersten Tag nach meiner Ankunft in einem Saal in der Rue Lafayette halten.
Eine halbe Stunde bevor der Vortrag beginnen sollte, kam ich dort an. Es war am Nachmittag.
Neben dem Versammlungsgebäude war ein geräumiger Hof, wo einige muntere Pariser Gymnasiasten spielten.
Ich trat in den Hof hinein und schaute dem Spiel und dem lebhaften Treiben zu.
Bald kamen einige der fröhlichen kleinen Jungen zu mir her und grüßten mich höflich.
Freundlich erwiderte ich ihren Gruß und fragte sie, wie es ihnen ginge und was sie da täten.
„Wir sind hierher gekommen, um im Saale dort nebenan einen Vortrag zu hören.“
Ohne ihnen zu sagen, wer ich sei, fragte ich die Jungen:
„Wann soll der Vortrag beginnen?“
„Erst nach einer halben Stunde“, erwiderten sie, „deshalb spielen wir hier draußen, bis der Vortrag beginnt, statt in den Saal hineinzugehen und dort zu warten.“
Ich merkte bald, daß keiner von ihnen eine Ahnung davon hatte, daß ich der Vortragende sei.
Zum Spaß fragte ich weiter: „Wer wird aber diesen Vortrag halten?“
Die Jungen schauten zuerst einander an. Dann erwiderte einer der Größeren:
„Es ist der Nonni, der die „Récits islandais“ geschrieben hat.“
„Und wer ist denn dieser Nonni?“ fragte ich weiter.
„Es ist ein isländischer Junge.“
„Ein Junge! Kann denn ein Junge so einen Vortrag halten?“
Wieder schauten sich die Jungen gegenseitig an. Sie schienen nicht recht zu wissen, was sie auf diese Fragen antworten sollten. — Dann aber sagte wieder einer der Größeren: „Er muß es wohl können, denn er hat ja das Buch selber geschrieben, und sein Name steht auf den Flugzetteln, die heute verteilt worden sind.“
Ich hatte Spaß an diesem kleinen unschuldigen „Qui pro quo“, wie die Franzosen so eine verworrene Verwechslung nennen.
„Aber wie alt mag wohl dieser Nonni sein?“
„Er wird wohl etwas über 12 Jahre alt sein“, erwiderten sie.
Es wurde immer schwieriger. Ich dachte schon daran, mich nun doch endlich den guten Jungen bekannt zu machen. Um das aber einzuleiten, sagte ich: „Aber sollte dieser Nonni nun doch am Ende jetzt nicht etwas älter geworden sein …?“
„Nein, nein!“ protestierten die Kinder. „Er ist nur zwölf Jahre alt. Es steht im Buch, und wir haben es gelesen.“
Jetzt wurde geläutet … Ich schaute auf meine Uhr. Es war Zeit. Ich mußte in den Saal
Ohne mich zu verraten, nahm ich Abschied von den Kindern und begab mich in den Vortragssaal, um meinen Vortrag zu halten.
Eine gute Stunde später, als ich mit dem Vortrag fertig war und nach Haus zurückfahren wollte, fiel ich auf der Hauptstraße vor dem Vortragssaal wieder in die Hände meiner kleinen Freunde von vorher.
Sie erkannten mich sogleich und riefen einander zu: „Kommt schnell, der Nonni ist wieder da.“
In einem Nu war ich umringt von denselben Jungen und von vielen anderen, die hinzugekommen waren.
Es gelang mir, mit der ganz kleinen Bande aus der Volksmenge der großen Straße in ein Nebengäßchen hineinzuschlüpfen.
Hier umringten mich die lustigen kleinen Pariser wieder. Und nun regnete es nur so Fragen und Ausrufe aller Art.
„Sie sind der Nonni selber. Wir haben Sie gleich erkannt. — Besonders als Sie auf der Bühne zu sprechen anfingen, da haben wir Sie alle wieder erkannt.“
Ich wollte zu Wort kommen, es war aber vorläufig unmöglich.
Alle sprachen und riefen durcheinander und zu gleicher Zeit.
Schließlich gelang es mir doch, die bewegliche und feurige kleine Schar durch Gesten ein wenig zu beruhigen. Und als ich zu Worte kommen konnte, sagte ich:
„Aber Kinder, was soll ich nun da machen? Ihr habt mir ja vorher auf dem Hof gesagt, daß der Nonni ein kleiner zwölfjähriger Junge sei. Dann müßte ich ja selber zu zweifeln anfangen, wer ich eigentlich bin. — Ich bin jetzt achtzig Jahre alt. Der Nonni aber soll zwölf Jahre alt sein! Was soll das aber bedeuten? Und was sollen wir darüber sagen? Und wie ist denn das zu verstehen?“
Jetzt wären die Jungen wahrhaftig bald an mir irre geworden. Die Kleinen standen ratlos da und wußten nicht, was sie sagen sollten.
Da löste auf einmal einer der Großen den schwierigen Knoten.
Er sagte: „Der Nonni hat sehr wahrscheinlich die ganze Geschichte der ‚Récits islandais‘ früher erlebt. Nachher ist er denn älter geworden und schließlich so alt, wie er jetzt ist.“
Jetzt ging allen ein Licht auf, den Kleinen wie den Großen, und endlich wurden alle davon überzeugt, daß der Nonni der „Récits islandais“ viel jünger war als der jetzige Nonni.
Diese Ansicht versuchte auch ich geltend zu machen.
Und so gelang es schließlich, die ganze Schwierigkeit zu lösen.
Ein ähnliches Erlebnis wie das im vorigen Kapitel hatte ich schon einmal einige Jahre vorher in Italien.
Während ich in diesem Zauberlande herumreiste, kam ich auch eines Tages nach Sizilien.
Ich zog gleich nach der Hauptstadt, dem wunderschönen Palermo, und hielt mich da einige Tage auf.
Ich wohnte dort bei Freunden in einem sehr schönen Gymnasium mitten in der Stadt.
Am zweiten Tag meines dortigen Aufenthaltes kam der Vorsteher der Anstalt auf mein Zimmer und sagte: „Unten im Sprechzimmer ist ein Besuch für Sie.“
„Und wer ist der Besucher?“ fragte ich.
„Es ist ein kleiner zwölfjähriger Junge aus der Stadt. Er und seine Eltern und Geschwister haben Ihre Bücher gelesen und wünschen nun den Nonni zu sehen.“
Der Vorsteher führte mich die Treppe hinunter in einen Gang und zeigte mir dort die Tür des Sprechzimmers, indem er sagte: „Bitte klopfen Sie dort an.“ Dann verließ er mich.
Ich ging hin und klopfte.
Eine Knabenstimme lud mich ein, einzutreten.
Ich öffnete die Tür und trat ein.
Auf einem Stuhl, nah beim Tisch, saß der junge Besucher. — Ich grüßte ihn.
Er stand auf und erwiderte höflich meinen Gruß.
Dann setzte er sich wieder und tat, wie wenn er nichts mit mir zu tun habe.
Ich wunderte mich nicht wenig über seine Teilnahmslosigkeit.
Dann schob ich einen Stuhl zum Tische hin und nahm auch selber dort stillschweigend Platz.
Der junge Besucher verblieb stumm und tat, wie wenn ich nicht da wäre.
Nach einigen Augenblicken redete ich ihn freundlich an, indem ich ihm auf französisch sagte: „Kleiner Freund, ich bin hierher gekommen, weil man mir gesagt hat, du hättest nach mir verlangt und wolltest mit mir sprechen.“
Der Kleine schaute mich verwundert an und sagte: „Mein Herr, das muß ein Mißverständnis sein. Ich habe nach dem Nonni verlangt. Nur mit ihm wollte ich sprechen.“
Jetzt mußte ich aber lächeln, denn da war auch wirklich irgendein eigenartiges Mißverständnis vorhanden … Ich wandte mich wieder zu dem Jungen und sagte: „Aber wer ist dieser Nonni, nach dem du verlangt hast?“
„Das ist der Junge aus Island, der die Geschichte von ‚Nonni und Manni‘ geschrieben hat. Ich habe gehört, daß er nach Palermo gekommen sei und hier im Kolleg wohne.“
„Ja das habe ich auch gehört, und ich weiß, daß es wahr ist. Der Nonni ist wirklich nach Palermo gekommen, und er wohnt hier im Hause … Und du möchtest ihn sehen?“
„Ja, mein Herr, das wünsche ich sehr.“
„Wenn du ihn aber sehen würdest, glaubst du, daß du ihn dann leicht auch erkennen könntest?“
„O ja, denn sein Bild steht in dem Buch ‚Nonni und Manni‘.“
Der kleine Italiener meinte also augenscheinlich, daß die italienische Übersetzung meines Buches „Nonni und Manni “ ein neues Buch sei und daß Nonni als kleiner zwölfjähriger Junge, dessen Bild im Buche zu sehen war, es geschrieben habe.
Nach seiner Auffassung mußte Nonni jetzt also ein kleiner etwa zwölfjähriger Junge sein.
Von dieser irrigen Überzeugung mußte ich ihn nun zu befreien suchen.
Zu diesem Zweck stellte ich ihm die Frage: „Wann ist aber die Geschichte von ‚Nonni und Manni‘ passiert?“
„Ich weiß es nicht genau“, erwiderte der kleine Italiener, „aber ich glaube, daß sie vor kurzer Zeit passiert ist.“
„Dann wäre ja der Nonni noch ein kleiner Junge.“
„Ja, mein Herr, das habe ich auch immer angenommen, und das muß er auch sicher sein.“
Jetzt sagte ich ihm: „Mein lieber Freund, wenn ich dir nun aber sagen würde, daß die Geschichte von ‚Nonni und Manni vor mehr als fünfzig Jahren stattgefunden hat, was würdest du nun sagen?“
Der Junge machte große Augen. Er dachte einige Augenblicke nach. Dann sagte er:
„Aber, mein Herr, es ist unmöglich, daß das Buch so alt ist, denn es ist in diesem Jahre herausgekommen. Es ist also ganz neu, und das Bild von Nonni steht da drin. Und dort sieht er aus wie ein Junge“.
„Kleiner Freund“, erwiderte ich ihm, „das italienische Buch ‚Nonni und Manni‘, wovon du sprichst, ist nur eine Übersetzung des Buches, welches Nonni vor, vielen Jahren geschrieben hat. — Und jetzt will ich dir noch etwas anderes sagen: nicht der junge Nonni, sondern der alte Nonni ist jetzt hier in diesem Hause. Ja, du hast ihn sogar schon gesehen und auch mit ihm gesprochen.“
Jetzt konnte das Staunen des kleinen Jungen keine Grenzen mehr … Er wußte nicht, ob er lachen oder weinen sollte.
Er schaute mich eine kleine Weile mit weitgeöffneten Augen an …
Dann endlich sagte er: „Und wo ist der Nonni jetzt?“
Ich schaute den kleinen Italiener freundlich an und sagte dann, indem ich jedes Wort deutlich und langsam aussprach:
„Er ist jetzt hier … in diesem Zimmer … Und er sitzt jetzt neben dir auf einem Stuhl … Ja, mein guter kleiner Freund … der alte Mann, der jetzt mit dir spricht, das ist der Nonni selber.“
Jetzt saß mein kleiner Freund sprachlos und ganz überwältigt da.
Es war mir nicht schwer, mich in seinen Seelenzustand hineinzudenken. —
Den jungen Nonni, den er in sein Herz eingeschlossen, dessen Jugendbild er in seiner Phantasie lange aufbewahrt, und an welches er sich gewöhnt hatte, den konnte ich, der alte, wirkliche Nonni, nicht mehr so leicht ersetzen …
Doch bald erholte sich der gute kleine Junge von seiner gewaltigen Überraschung und tiefen Bewegung.
Und es kam bald ein ungezwungenes, herzliches Zwiegespräch zwischen uns in Gang.
Zum Schluß sagte er mir noch: „Da ich Sie nun schließlich gefunden und erkannt habe, so müssen Sie mir noch versprechen, einen Besuch bei uns zu machen, denn sowohl ‚mamma mia‘ wie auch ‚sorella mia‘ haben beide die Geschichte von ‚Nonni und Manni‘ gelesen, und beide würden eine sehr große Freude haben, den Nonni selber kennen zu lernen.“
Der gewünschte Besuch bei der „Mamma“ und der „Sorella“ wurde mit Freuden versprochen, und nachdem wir noch eine kleine Weile miteinander geplaudert hatten, schieden wir als gute Freunde.
Nach diesem kleinen italienischen Abstecher, den wir übrigens nur im Geiste gemacht haben, wollen wir wieder zu meiner Weltreise zurückkehren.
Meine Tage in Paris waren jetzt bald gezählt. Die nächste Strecke war Paris—London. Es gibt nun aber viele Wege, die von Paris nach London führen.
Mir kam es aber darauf an, einen schönen, interessanten und wenn möglich einen etwas ungewöhnlichen Weg zu wählen. Denn ich gehe nicht gern ausgetretene Pfade.
Mein Absteigequartier in Paris war in der Rue de Vaugirard neben der Place de la Convention. Dort hatte ich lauter gute und liebe Freunde. Es waren dort eine große Schule und ein bedeutendes Internat, wo viele frische und fröhliche Pariser Schüler und Schülerinnen erzogen und unterrichtet wurden.
Den jungen Studierenden des Hauses mußte ich zuweilen Vorträge halten und ihnen allerlei Interessantes erzählen.
Eines Tages, kurz vor meiner Abreise, nachdem ich den Schülern eine Geschichte erzählt hatte, blieb ich noch eine Weile mit ihnen zusammen, um über meine Weltreise mit ihnen zu plaudern.
Wir saßen alle in einem schönen, geräumigen Versammlungssaal des Hauses. Mitten im Gespräche fragte ich meine jungen Zuhörer, wie ich wohl am besten und einfachsten von Paris nach London fahren könne.
Sie dachten einige Augenblicke nach. Dann schlug einer der Jungen vor: „Am besten fahren Sie mit der Eisenbahn von Paris nach Calais. Von Calais mit einem Schiff über den Kanal nach England. Dann wieder in einem englischen Zug nach London.“
„Und wie lange dauert wohl so eine Reise?“ fragte ich.
„Sie dauert ungefähr einen Tag“, meinten die Jungen.