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"An einem sonnig-heiteren Herbsttage, Anfang Oktober 1870, landete ich in Kopenhagen, der glänzenden Hauptstadt Dänemarks", so beginnt dieses Buch aus der Nonni-Reihe. Für die Matrosen an Bord ist Nonni ein kleiner Märchenprinz, der auszieht, um ein Königreich zu erobern. Und so fühlt Nonni sich auch, als er Schritt für Schritt die Hauptstadt des Königreichs und seine Menschen kennenlernt.ZUM AUTOR:Jón Stefán Sveinsson (1857 – 1944) war durch seine Nonni-Bücher einer der in Deutschland bekanntesten isländischen Schriftsteller. Er veröffentlichte seine Werke weltweit unter dem Namen Jón Svensson. Im Jahr 1870 verließ er Island. In Frankreich – nach dem deutsch-französischen Krieg - nahm er den katholischen Glauben an und trat in den Jesuitenorden ein. Seit 1906 schrieb er die 12 "Nonni-Bücher" über seine Jugend auf Island und sein späteres Leben und Wirken in Europa, USA und Japan in deutscher Sprache. Sie wurden in mehr als 30 Sprachen übersetzt. -
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Seitenzahl: 434
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Saga
Chantilly, 14. September 1924.
Verehrter Herr Svensson!
Ihre Island-Erzählungen haben mein lebhaftes Interesse gefunden, und ich danke Ihnen für die freundliche Zusendung ihrer Übersetzung, die ich für ausgezeichnet halte. Die Gabe der Erzählung ist Ihnen in die Wiege gelegt worden, jene köstliche Gabe, die so selten geworden ist und deren sich selbst grosse Romanschriftsteller nicht rühmen durften. Wie geheime Macht geht diese Kunst des Erzählens jedem Atem des Lebens nach und erweckt mit unwiderstehlichem Zauber hingebenden Glauben. Wir Leser folgen Ihrem Nonni und Manni auf ihr Schifflein, dem Schauplatz ihrer Abenteuer. Geschieht auch das Zusammentreffen mit den Walfischen unter den merkwürdigsten Umständen: wir erleben es ohne Schatten eines Zweifels, können es gar nicht anders erleben. Schwarze, lange Leiber dieser Ungeheuer tauchen auf in der Nacht und verschwinden wieder. Wir hören nur das entsetzliche Knattern der niederstürzenden Wassersäulen, die sie gleich Fontänen spielend emporgeschleudert haben. Und wir begleiten schliesslich die armen Kinder an den gastlichen Bord des französischen Kriegsschiffes. Das Herausstellenkönnen greifbarer Gegenwart, das ist’s, was den Erzähler zum Meister macht. Dieses Vermögen besitzen Sie in allerweitestem Ausmass.
Halten Sie mir zugute, wenn ich noch etwas zu Ihrem Lobe sage. Ich muss das, sonst wäre es nicht voll. Nämlich: in beiden Erzählungen tritt zu Ihrer Erzählerkunst noch eine andere Gabe, die ich mangels besseren Ausdrucks nicht anders zu bezeichnen vermag denn als die Gabe atmosphärischer Wirklichkeitsvermittlung. Sehen Sie! Wie fern ist uns doch Ihre Heimat, Island! Kaum dass man sie in Frankreich kennt. Und doch! Liest man Ihre Zeilen, so steigen Ihrer Insel einsame Küstenstriche greifbar vor den Augen auf, ihre Gewässer, die im Glanz der Mitternachtssonne zittern, ihre Fjorde, ihre Berge, die ungekünstelte, doch wahrhaft hochherzige Art der Gesinnung ihrer Bewohner! Was muss das für eine Rasse von Seeleuten sein, wenn zwei Kinder, eines mit acht, das andere mit elf Jahren, nichts dahinter finden, mutterseelenallein in einen Nachen zu steigen, Ruder und Steuer in die Hand zu nehmen und in die schwarze Nacht hinauszustossen, bald übermütig, bald verzagt dahintreibend! Was für ein Geschlecht von Träumern, die den Fischen eines vorpfeifen wollen, dass sie sich in die wogenden Abgründe der Wellen flüchten! Da ist’s, als ob wir in unserem abgestumpften, lichtgetrübten Empfinden doch in etwa ahnten, wie in solchen kindlichen Äusserungen jene primitive Vorstellungswelt widerklingt, die einst die seltsamen nordischen Märchen gezeugt hat. Und wir ahnen ferner, bis zu welcher Höhe des Christentums diese Nachkömmlinge einstiger heidnischer Seeräuber emporgeklommen sein müssen, wenn wir den frommen Sinn dieser beiden schiffbrüchigen Kinder sehen dürfen, ihr Vertrauen in den Schutz der Vorsehung, diese köstlich naive Inbrunst ihres Gelübdes.
So war in der Tat, verehrter Herr Svensson, die Lektüre dieser Erzählungen ein grosser Genuss für mich. Ich sage Ihnen das gerade heraus, weil Ihnen vielleicht doch etwas daran liegt, das Urteil eines grau gewordenen Schriftstellers zu hören, der die Kunst des Fabulierens zu sehr liebt, als dass er nicht die Begegnung mit solchen Dichtungen als freudiges Erlebnis empfände.
Paul Bourget.
An einem sonnig-heiteren Herbsttage, Anfang Oktober 1870, landete ich in Kopenhagen, der glänzenden Hauptstadt Dänemarks.
Erst zwölf Jahre alt, war ich den langen, weiten Weg über den Atlantischen Ozean von meiner Heimatinsel Island hierher gekommen und sollte nun in einer für mich ganz fremden Welt ein neues Leben beginnen.
Fünf volle Wochen hatte meine Reise gedauert — von dem fernen Island droben im hohen Norden bis nach dem lieblichen Öresund, in dessen kristallklaren Wassern die stolze Grossstadt Kopenhagen sich spiegelt.
Und wie herrlich war sie doch gewesen, diese lange Reise auf dem gewaltigen Meer, mit all ihren aufregenden Gefahren, ihren seltsamen Abenteuern und frischfröhlichen Erlebnissen, besonders für mich, den lebhaften, unternehmungslustigen Knaben! Wie einen kostbaren Schatz, der mir vom Glücke zugefallen, bewahrte ich sie jetzt in meiner Erinnerung1.
„Nun wird aber unser kleiner Passagier froh sein, dass die Reise zu Ende ist!“ sagte einer der dänischen Matrosen zu mir, als unser Schiff, der bornholmsche Segler „Valdemar von Rönne“, am Kai des Kopenhagener Hafens festgebunden wurde.
„O nein!“ erwiderte ich. „Wenn sie nur noch länger gedauert hätte! Es war so schön draussen auf dem grossen Meere!“
„So so, du hast das Meer schon so liebgewonnen?“
„Ja, ich habe es immer gern gehabt. Ich bin ja ganz nah am Meere geboren.“
„Dann bist du also ein geborner Seemann! — Aber jetzt musst du bald fort von uns. Das wird dir wohl leid tun?“
Bei dieser Frage wurde ich etwas wehmütig gestimmt, denn auf der langen Reise war das Schiff und seine Besatzung mir ungemein lieb und teuer geworden.
Der Matrose schien meine Gemütsbewegung zu merken. Er brach das Gespräch ab, indem er sagte: „Nonni, wir sind gute Freunde geworden; wir wollen es bleiben und oft an unsere schöne Reise denken.“
Ich lehnte mich jetzt sinnend an die Reling des Schiffes. Es war ein schmerzlicher Gedanke für mich, dass ich schon am folgenden Morgen den „Valdemar von Rönne“ für immer verlassen sollte, und für immer auch den guten Kapitän Foss, meinen lieben Freund den jungen Schiffskoch Owe, den frohgemuten Steuermann und die drei biederen dänischen Matrosen.
Wie sicher und treu hatte doch das kleine Schiff mich über das unermessliche Meer getragen! Und wie sanft hatte ich während der furchtbaren Orkane in seinem Schosse geruht, umtost von den wütenden Wellen des Nordatlantischen Ozeans! Da hatte ich geschlafen so ruhig wie ein Kind, das in der Wiege von seiner Mutter geschaukelt wird.
Jetzt aber war alles das vorbei! Nur wenige Stunden noch sollte ich hier weilen dürfen.
Wehmut im Herzen, ging ich am Abend zu Bette, und wehmütig stand ich am folgenden Morgen wieder auf.
Mein letzter Morgen auf dem trauten „Valdemar von Rönne“!
Kapitän Foss wollte mich selber durch die grosse Stadt zu Herrn Gísli Brynjúlfsson, einem isländischen Professor an der Kopenhagener Universität, führen und mich in seine Hände übergeben. Er hatte das vor unserer Abreise in Island meiner Mutter versprochen.
Während Herr Foss sich auf diesen Gang durch die Stadt vorbereitete, unterhielt ich mich noch ein letztes Mal mit den Matrosen.
Mit meinem kleinen Freund Owe sprach ich jetzt wenig. Wir waren beide traurig, da wir nun voneinander scheiden mussten; auch hatten wir zusammen verabredet, dass wir ganz allein drunten in der Kajüte einen besondern Abschied nehmen würden.
Wie das geschah, habe ich bereits in dem Buch über meine Reise von Island nach Dänemark erzählt.
Die Matrosen waren an jenem Morgen aussergewöhnlich gut aufgelegt. Sie sangen und pfiffen lustig, wo sie gingen und standen, machten Spässe und waren alle sehr freundlich gegen mich.
Einer von ihnen sagte, ich sei nun schon weit in die Welt hinausgekommen. Er nannte mich scherzend einen kleinen Weltreisenden. Und als wir dann weiter von meiner künftigen Reise nach Frankreich sprachen, meinte er, ich sei wie ein kleiner Märchenprinz, der auszieht, um ein Königreich zu erobern.
„Ja, ja, so ist’s“, fügte lachend ein anderer bei; „Nonni ist wie einer der Prinzen in ‚Tausendundeine Nacht‘. Er wird sicher noch ein Königreich gewinnen. Darum ist er auch immer so lustig.“
Ich lachte jetzt ebenfalls über die gutmütigen Spässe der Matrosen. „Ein Königreich!?“ rief ich aus. „Das möchte ich gar nicht. Aber vor meiner Abreise in Island hat ein Mann mir gesagt, ich werde Glück haben. Das ist mir lieber.“
„Und du glaubst an diese Prophezeiung?“
„Ja, ich glaube ganz fest daran.“
Nach dieser kurzen Unterhaltung begannen die Matrosen leise miteinander zu sprechen.
Ich stand unterdessen neben dem Schiffsmast und dachte über meine Zukunft nach und über das Glück, das der Mann auf Island mir vorhergesagt hatte. Ich war so sehr damit beschäftigt und so ganz in Gedanken versunken, dass ich kaum auf das sonst für mich so fesselnde Leben und Treiben am Hafenkai achtete; nur ab und zu liess ich meinen Blick dorthinüber schweifen.
Ich glaubte in der Tat an mein zukünftiges Glück.
Vor meinen Augen winkte und lockte es mir wie aus einem märchenhaften königlichen Land in weiter Ferne. Ich war überzeugt, dass ein freundlich-gutes Schicksal mich unaufhaltsam vorwärts treibe, immer neuen, freudvollen Erlebnissen entgegen. Ich fühlte mich als den glücklichsten Knaben der Welt und war, wie der Matrose soeben gesagt hatte, immer lustig und froh.
Jetzt freilich war meine Lage doch etwas eigenartig. Trotz der wonnigen Freude, die ich empfand, kam es mir vor, als sei in dieser Stunde alles feierlich ernst um mich herum geworden.
Ich stand nun ganz allein da in einer neuen Welt, noch so jung und unerfahren, unter lauter fremden Menschen, sozusagen auf mich selbst gestellt.
Bei meiner Abreise in Island hatte ich alles verlassen müssen, was mir lieb und teuer war auf Erden: Freunde und Verwandte, meinen kleinen Bruder Manni, meine Schwester Bogga und meine liebe, liebe Mutter.
Ein unermessliches Weltmeer lag von nun an wie ein gähnender Abgrund zwischen ihnen und mir.
Infolge dieser Gedanken war ich nahe daran, traurig zu werden. Da kam Owe gesprungen und sagte schnell zu mir:
„Nonni, der Steuermann will etwas mit dir sprechen! Ich habe soeben gehört, wie er es zum Kapitän gesagt hat.“
Ich sprach mit Owe noch einige Worte, da sahen wir schon den Steuermann aus der Kapitänskajüte heraufkommen. Er ging auf mich zu, klopfte mir freundlich auf die Schulter und sagte:
„Komm einen Augenblick mit mir, Nonni, in die Matrosenkajüte. Ich möchte etwas mit dir reden. Der Herr Kapitän braucht doch noch einige Zeit, bis er zum Ausgehen fertig ist.“
Ich folgte dem Steuermann die Treppe hinunter, und wir traten beide in die vordere Kajüte hinein.
Der Steuermann sah diesmal gegen seine Gewohnheit merkwürdig ernst aus. Ich konnte mir das gar nicht erklären.
Was mochte er mir wohl zu sagen haben?
Er schloss die Tür hinter sich zu und bat mich, an dem Tisch mitten in dem kleinen Raum Platz zu nehmen. Dann setzte er sich mir gegenüber und begann:
„Nun, mein lieber Nonni, wie geht es dir heute? Hast du noch immer Lust, hier in Kopenhagen zu bleiben, bis der deutsch-französische Krieg zu Ende ist? Und willst du dann wirklich deine grosse Reise bis nach Südfrankreich fortsetzen?“
„Aber natürlich! Das muss ich doch! Es ist ja alles so abgemacht!“
„Freilich, das schon. Aber ich meine, wenn es dir in Kopenhagen unter den fremden Menschen nicht mehr gefallen würde, und du wolltest wieder nach Island zurückkehren ...“
„Ich nach Island zurückkehren? — Herr Steuermann, das wäre doch nicht vernünftig!“
„Warum denn nicht?“
„Ich soll doch nach Frankreich reisen! Und jetzt bin ich schon so weit von zu Hause fort! Und ich bin ja ganz freiwillig gegangen! Alle Leute in Akureyri würden mich ja auslachen, wenn ich jetzt wieder heimkäme!“
„O nein, Nonni, man würde dich nicht auslachen; du müsstest nur einen guten Grund haben, warum du wieder heimkommst.“
„Aber ich habe keinen Grund, Herr Steuermann. Ich habe auch bis jetzt noch gar nie daran gedacht, nach Hause zurückzukehren.“
„Das freut mich, mein Lieber, dass du so mutig bist. — Aber sag mal, hast du noch nie Heimweh gehabt, seitdem du von Akureyri fort bist?“
„Ein wenig schon; aber nur, wenn ich an meine Mutter denke und an meine Geschwister. Sonst habe ich kein Heimweh.“
Der Steuermann schwieg jetzt einen Augenblick. Dann fuhr er fort:
„Zuweilen hast du also doch Heimweh, Nonni. Das kann ich wohl begreifen. Vielleicht bekommst du aber später noch mehr Heimweh. Möchtest du dann nicht doch wieder zu deiner Mutter gehen?“
„Das ist schon möglich. Aber meine Mutter würde das nicht gern haben, wenn ich nur aus Heimweh wieder nach Hause käme.“
„Glaubst du das sicher?“
„Ja, Herr Steuermann, ich glaube es ganz sicher. Meine Mutter ist so. Sie hat es mir freigestellt, ob ich die Reise machen wolle oder nicht, und sie hat gesagt, es sei sehr gut und nützlich für mich, wenn ich in Frankreich studiere. Nun bin ich aber schon so weit auf dem Wege nach Frankreich, da will sie ganz gewiss, dass ich jetzt aushalte. Sie hat mir auch selbst gesagt, dass ich Heimweh bekommen würde; aber darauf solle ich gar nicht achten, sondern es überwinden, wenn es käme; die Kinder vornehmer Eltern müssten das auch manchmal tun.“
„Deine Mutter hat recht, Nonni. Aber glaubst du, du wirst das Heimweh immer überwinden können?“
„O, ich kann das schon, wenn ich mir nur Mühe gebe und Gott um seine Hilfe bitte. — Aber warum sprechen Sie gerade jetzt von diesen Sachen, Herr Steuermann?“
„Das will ich dir sagen, mein kleiner Freund: Ich tue es nicht, um dich mutlos zu machen; aber ich kam gestern mit dem Herrn Kapitän auf dich zu sprechen. Wir sind beide etwas besorgt um dich und würden dich gern umsonst wieder nach Island mitnehmen, wenn du dich unglücklich fühlen würdest und nach Hause zurückkehren wolltest.“
Jetzt erst verstand ich, warum der Steuermann mich so ausfragte. Ich ergriff seine Hand, drückte sie herzlich und sagte:
„Sie sind beide so gütig gegen mich, Herr Steuermann, Sie und der Herr Kapitän. Ich danke Ihnen sehr dafür. — Wann werden Sie denn wieder nach Island fahren?“
„Wir segeln jetzt zuerst heim nach Bornholm. Gegen Ende des Winters kommen wir noch einmal nach Kopenhagen. Hier nehmen wir Waren ein, dann fahren wir wieder nach Island. Wenn du um diese Zeit noch in Kopenhagen bist und gern nach Island zurückkehren willst, dann bist du als Passagier bei uns willkommen. Du würdest unser Gast sein und natürlich freie Fahrt haben.“
Ich dankte dem Steuermann nochmals herzlich und sagte, wenn ich am Ende des Winters noch in Kopenhagen sei und mich unglücklich fühlen würde, dann wolle ich die Einladung gerne annehmen und mit nach Island fahren.
Der Steuermann reichte mir freundlich die Hand. „Gut, Nonni, das ist also abgemacht“, sagte er.
Nach einer kleinen Weile fragte ich ihn:
„Aber, Herr Steuermann, warum denken Sie, dass ich mich vielleicht unglücklich fühlen könnte?“
„Warum? — Das hat seinen Grund, Nonni. Du bist noch ein Knabe und stehst schon allein da in der Welt. Du kommst jetzt in eine grosse Stadt unter lauter fremde Menschen. Die haben andere Sitten und Gebräuche, als sie bei euch in Island sind. Da ist alles ganz neu für dich. Du wirst dich an vieles erst gewöhnen müssen. Das wird nicht immer leicht sein. Dann wirst du vielleicht Heimweh bekommen nach deinen Freunden und Geschwistern und nach deiner Mutter, und da wäre es doch möglich, dass du dich unglücklich fühlen würdest. — Überhaupt, Nonni, bist du selber gar nie ein wenig bange, wenn du so an deine eigentümliche Zukunft denkst?“
„Nicht viel und nur ganz selten. Aber dann habe ich auch ein Mittel, das mir gleich hilft.“
Der Steuermann war sichtlich gespannt darauf, was für ein Mittel das wohl sein würde.
„Es ist der Gedanke an meine Mutter“, sagte ich.
„An deine Mutter? — Wie meinst du das, Nonni?“
Ich griff in meine Brusttasche, holte mein Notizbuch hervor und nahm daraus ein Blatt. Indem ich es auseinanderfaltete, sagte ich:
„Hier, Herr Steuermann, hat meine Mutter mir vor dem Abschied zu Hause ihre letzten Ratschläge aufgeschrieben. Soll ich Ihnen vorlesen, was mir am meisten hilft, wenn ich etwas Furcht bekomme?“
Der Steuermann bat mich darum, und ich las ihm nun den Schluss der Aufzeichnungen meiner Mutter vor. Er lautete:
„Wenn du dich bemühst, immer ein Freund Gottes zu sein, dann wird dir nie etwas fehlen. Gott wird dir in allen deinen Anliegen helfen und dich auf seinen Händen tragen, überall wo du bist.“
Ich schaute den Steuermann an und merkte, dass ihm das Vorgelesene gefiel. Dann sagte ich:
„Herr Steuermann, nicht wahr, ich brauche doch nicht bange zu sein, wenn Gott mir immer so hilft.“
„Nein, Nonni, das brauchst du gewiss nicht. Und wenn du die Ermahnungen deiner Mutter immer befolgst, dann habe auch ich keine Sorge mehr um dich.“
Damit stand er auf, drückte mir bewegt meine beiden Hände und sagte zum Abschied:
„Behüt dich Gott, mein lieber kleiner Freund. Ich wünsche dir viel Glück.“
Mir kamen jetzt Tränen in die Augen, und ich wusste nichts zu antworten. Auch der Steuermann sagte nichts mehr. Schweigend verliessen wir beide die Kajüte und gingen wieder auf Deck. —
Ich hatte nun eben noch Zeit, mit Owe ein letztes Mal in die Kajüte hinunterzugehen und den erwähnten besondern Abschied von ihm zu nehmen.
Dann aber war auch schon der Kapitän fertig zum Aufbruch. Er rief jetzt, ich solle mich ein wenig beeilen.
Als ich wieder hinaufgekommen war, sah ich, wie die Matrosen mit dem Steuermann beisammen neben dem Schiffsmast standen. Sie schienen auf mich zu warten. Ich zögerte aber noch immer, mich von diesen guten Menschen zu trennen.
Da hörte ich wiederum den Kapitän rufen. Er stand bereits drüben auf dem Kai und wartete auf mich.
„Jetzt musst du aber schnell machen, Nonni!“ sagte der Steuermann; „den Herrn Kapitän darfst du nicht warten lassen!“
Ich gab also eilig einem jeden die Hand, sagte ihnen allen herzlich Lebewohl und lief dann hurtig vom Schiff über die Landungsbrücke zum Kapitän auf die Strasse hinüber.
„Es ist gut, dass du endlich da bist, Nonni“, sagte Herr Foss. „Wir haben einen weiten Weg vor uns. Die Dossering, wo der Professor Gísli Brynjúlfsson wohnt, liegt ganz am andern Ende der Stadt. Und dann wirst du wohl unterwegs auch einiges sehen wollen, mein kleiner Freund; es gibt da viel Neues für dich, ich werde dir manches zeigen können.“
„O ja, bitte schön, Herr Kapitän! Ich bin sehr gespannt darauf, wie die Stadt weiter innen aussieht.“
„Hast du aber auch den Empfehlungsbrief deiner Mutter an den Herrn Professor bei dir?“
„Ja, Herr Kapitän, ich habe ihn in meiner Brieftasche.“
„Und hast du sonst nichts an Bord vergessen?“
„Nein, Herr Kapitän.“
Ohne weiter etwas zu fragen, betrachtete Herr Foss jetzt mit forschendem Blick noch meinen Anzug. Da war alles in Ordnung. Nur über meine Fussbekleidung geriet er in grosses Erstaunen. Ich hatte nämlich meine kleinen isländischen Schaflederschuhe an.
„Aber Nonni!“ rief er aus, „was ist denn das? Was hast du da an den Füssen? So etwas kann man doch hier in der Stadt nicht tragen! Wo sind denn deine dänischen Stiefeletten?“
„Sie sind mir bei dem grossen Orkan über Bord gefallen, Herr Kapitän“, sagte ich kleinlaut, indem ich einen verlegenen Blick auf meine unglückseligen Schaflederschuhe warf.
„Das ist aber sehr bedauerlich, Nonni. Solche Schuhe kennt man in Kopenhagen nicht. Da werden alle Leute auf dich schauen, besonders die Knaben.“
„Das habe ich schon gestern gemerkt, Herr Kapitän. Die dänischen Jungen waren alle erstaunt über meine Schuhe und fanden sie ganz merkwürdig.“
Während wir so sprachen, wurden wir plötzlich von der Stimme eines Knaben unterbrochen, der aus dem Fenster eines nahen Hauses laut zu uns herüberrief:
„Nonni! Wo gehst du hin?“
„Ich gehe mit dem Herrn Kapitän nach der Dossering!“
„Kommst du nachher wieder zum Schiff zurück?“
„Nein!“
„O, dann warte einen Augenblick! Ich komme gleich hinunter zu dir. Nur einen Augenblick, Nonni!“
Damit verschwand er aus der Fensteröffnung.
„Was ist denn das für ein Bekannter?“ fragte Herr Foss verwundert.
„Es ist einer der Knaben, mit denen ich gestern hier gespielt habe. Er heisst Harald und ist ein sehr guter Junge.“
„So, wie weisst du denn, dass er ein guter Junge ist?“
„Das habe ich gestern gleich gemerkt. Denn als ich von meinem Taschengeld den vielen dänischen Knaben Napoleonskuchen kaufen wollte, da hat er gesagt, ich dürfe das nicht tun, das sei eine Verschwendung. Meine Mutter würde mir sicher so etwas nicht erlauben. Das war doch schön von ihm?“
„Gewiss, Nonni, das war sehr schön von ihm. Aber was will er denn jetzt von dir?“
„Ich glaube, er will nur Abschied von mir nehmen. Wir sind gestern gute Freunde geworden.“
„So, so, ihr habt schon Freundschaft miteinander geschlossen? — Das scheint aber sehr schnell bei euch zu gehen“, bemerkte lächelnd der Kapitän.
Ich wusste nicht recht, was ich antworten sollte, da kam gerade Harald zur Tür seines Hauses herausgesprungen und eilte auf uns zu. In der Hand trug er ein kleines, weisses Paketchen.
Er grüsste zuerst höflich den Kapitän und bat um die Erlaubnis, mit mir sprechen zu dürfen. Dann übergab er mir das Paketchen mit den Worten:
„Das schickt dir meine Mutter für die vielen Äpfel und Birnen, die du mir gestern gegeben hast, und du sollst auch einmal zu uns kommen.“
Ich betrachtete neugierig das Paketchen und fragte Harald, was darin enthalten sei.
„Es ist ein Napoleonskuchen!“ sagte er. „Ich habe meiner Mutter erzählt, dass du die Napoleonskuchen so gerne hast.“
Ich gab Harald die Hand, dankte ihm und sagte, er möge auch seiner Mutter meinen Dank aussprechen.
„Das will ich tun“, erwiderte Harald. „Aber sag noch, wo wirst du hier in Kopenhagen wohnen?“
„In der Breitstrasse 64.“
„In der Breitstrasse? — Das ist ja hier ganz in der Nähe! Da werde ich dich bald besuchen, Nonni. Also auf Wiedersehen!“
Er reichte mir die Hand zum Abschied, machte vor Herrn Foss eine Verbeugung und sprang wieder nach Hause.
Als er fort war, sagte der Kapitän: „Nun wollen wir aber gehen, Nonni, sonst kommen am Ende noch alle Knaben aus den Häusern und bringen dir Napoleonskuchen. So viel Zeit haben wir nicht übrig, und noch mehr Kuchen würden vielleicht auch nicht gut für dich sein, meinst du nicht?“
Ich musste lachen und ging nun mit Herrn Foss unsern Weg weiter in der Richtung nach dem Neuen Königsmarkt. Das weisse Paketchen trug ich sorgfältig in der Hand.
Wir waren aber kaum einige Schritte weit gekommen, da hörten wir schon wieder ein starkes Rufen hinter uns:
„Leb wohl, Nonni! — Leb wohl! — Auf Wiedersehen!“
Es waren die Leute unseres Schiffes. Sie standen alle auf dem Verdeck und winkten mir den letzten Abschiedsgruss zu.
Da fasste ich den Kapitän beim Arm und hielt ihn fest, bis er stehen blieb.
O diese guten bornholmschen Freunde!
Ich war so ergriffen und bewegt, dass ich nicht ein einziges Wort herausbringen konnte, sondern nur so dastand und immer nur den Kapitän festhielt.
Wehmütig sah ich zum letztenmal meine Reisegefährten auf dem „Valdemar von Rönne“ stehen: den Steuermann, die Matrosen und den lieben kleinen Owe.
Auch sie schauten jetzt alle schweigend vom Schiffe zu uns her.
Ich zog mein Taschentuch heraus und schwenkte es vor meinem Gesicht auf und nieder.
Sofort winkten sie ebenfalls vom Verdeck herüber und riefen noch einmal:
„Leb wohl, Nonni! — Viel Glück!“
Unter den starken Männerstimmen aber klang laut und hell wie Glockenton eine Knabenstimme hervor:
„Leb wohl, Nonni! — Leb wohl!“
Das war Owe.
Ich wollte rufen, doch es war mir unmöglich: die Worte blieben mir in der Kehle stecken, ich konnte kaum ein Schluchzen zurückhalten. Ich begnügte mich daher, nur ein allerletztes Mal noch zu winken.
Der Kapitän hatte währenddessen seine Hand auf meine Schulter gelegt. Als wir uns dann langsam wieder gegen die Stadt hin wandten, um unsern Weg fortzusetzen, sagte er freundlich:
„Ich sehe, mein Lieber, du bist mit den Leuten an Bord recht gut Freund geworden. — Wen von ihnen kannst du denn am besten leiden?“
„Owe, Herr Kapitän.“
Herr Foss lächelte. „Das kann ich mir wohl denken“, sagte er, „ihr seid ja fast im gleichen Alter. — Und welches war dann der nächste unter deinen Freunden?“
„Nach Owe der Steuermann.“
„Der war immer lustig mit dir, nicht wahr?“
„Ja, und er hat mir oft Feigen gegeben und Rosinen, und noch viele andere Sachen.“
„Dann glaube ich freilich, dass er neben unserm kleinen Koch dein liebster Freund war“, fügte scherzend Herr Foss hinzu.
Ich verstand, was er damit sagen wollte, und erwiderte deshalb sogleich:
„Herr Kapitän, ich habe aber auch noch den jüngsten unter den Matrosen gern.“
„So, der ist auch dein Freund? Wie ist denn das gekommen?“
„Es war damals, wo er krank zu Bette lag, nach dem Kampf mit den Eisbären. Ich musste ihn da oft besuchen und ihm helfen. Er hat es immer gern gehabt und war immer freundlich gegen mich.“
„Ja, richtig, ich kann mich jetzt wieder erinnern. Das war aber schön von dir, Nonni, dass du ihm so geholfen hast, als er krank war. Hier in Kopenhagen brauchst du keine Verwundeten mehr zu pflegen, hier gibt es keine Eisbären. Unser ‚Valdemar‘ liegt jetzt ruhig und sicher dort drüben im Hafen, bis wir heimsegeln nach Bornholm, und du kommst nun in feine, schöne Häuser zu vornehmen Leuten.“
Ich wandte mich bei diesen Worten noch einmal um und schaute nach dem Hafen zurück. Den „Valdemar von Rönne“ aber konnte ich nicht mehr sehen, er war verschwunden in dem dichten Wald von Schiffsmasten.
Wir waren jetzt am Neuen Königsmarkt angelangt, wo das grosse Reiterdenkmal steht, das mich am Abend vorher in einen so gewaltigen Schrecken versetzt hatte. Ich hatte nämlich bis dahin noch nie in meinem Leben ein Denkmal gesehen und deshalb beim ersten Anblick des Standbildes geglaubt, dass Ross und Reiter da oben lebendig seien.
Rechts von uns, auf den Neuen Königsmarkt herausmündend, war die Breitstrasse mit den vielen vornehmen Bauten und den Gesandtschaftspalästen. Sie lief kerzengerade weit, weit in die Ferne.
Ich blieb stehen und sagte zu Herrn Foss:
„In dieser Strasse ist das Haus des Herrn Dr. Grüder, bei dem ich bis zu meiner Abreise nach Frankreich wohnen soll. Hier in meinem Notizbuch steht es geschrieben: es ist die Nummer 64.“
„Da hast du wohl gleich Lust, kleiner Freund, deine künftige Wohnung zu sehen?“ bemerkte der Kapitän.
Ich war sofort dazu bereit. Herr Foss aber sagte, wir gingen jetzt noch nicht in das Haus des Herrn Grüder hinein, sondern würden es uns nur von aussen einmal anschauen.
Ich war aufs höchste gespannt, was für ein Haus das wohl sein werde, in dem Herr Dr. Grüder wohnte und in dem nun auch ich wohnen sollte, wahrscheinlich bis zum Ende des grossen deutsch-französischen Krieges.
Gewiss wird es ein sehr vornehmes Haus sein, dachte ich bei mir.
Die wehmütige Stimmung, von der ich eben noch ergriffen war, verschwand jetzt schon gänzlich. Ich beschäftigte mich in meinen Gedanken nur noch mit dem Grüderschen Hause und meinem zukünftigen Leben in der grossen, herrlichen Breitstrasse.
„Nonni, du sagst also, es ist die Nummer 64?“ fragte Herr Foss, indem er zu den Hausnummern hinaufschaute.
„Ja, Herr Kapitän, so hat meine Mutter es mir aufgeschrieben.“
„Dann haben wir aber noch weit zu gehen. Die Nummer 64 muss ganz dort oben am andern Ende der Strasse sein.“
„Das haben gestern auch die Matrosen gesagt“, bemerkte ich.
Während wir auf der linken Strassenseite weitergingen, fragte mich Herr Foss, ob ich im Hause des Herrn Grüder schon jemand kenne. Ich sagte nein; ich wisse nur von meiner Mutter, dass Herr Grüder ein sehr gelehrter Mann sei, und dass nur gelehrte Herren dort wohnten; sie seien keine Dänen, sondern lauter Deutsche, und es seien alle gute Menschen.
„Aber sie sind dir fremd, Nonni. Hast du da keine Angst?“ sagte Herr Foss.
„O nein, ich habe gar keine Angst, Herr Kapitän! Ich glaube, es wird mir Spass machen, zu diesen gelehrten deutschen Männern zu kommen und bei ihnen zu wohnen. Ich habe noch nie einen Deutschen kennengelernt; ich bin ganz gespannt darauf, einmal zu sehen, was für Menschen das sind!“
„So ein mutiger Junge bist du?“ erwiderte der Kapitän, indem er ein wenig stehen blieb und lächelnd mich anschaute. „Ich weiss, Nonni, du bist ein lebhafter, munterer Knabe. Aber meinst du nicht, in dem fremden Hause, bei den ganz fremden Menschen könntest du Heimweh bekommen? — nach Island, nach Akureyri, nach deiner Mutter und deinen Geschwistern?“
Jetzt fühlte ich, dass meine Tapferkeit vielleicht doch nicht so gross sein würde, wie ich eben noch geglaubt hatte. Es wurde mir auf einmal ganz merkwürdig zumute. Ich konnte nicht mehr fröhlich plaudern.
Herr Foss bemerkte es und tröstete mich sogleich:
„Nun sei aber doch nicht traurig, Nonni! Ich habe das nur so gemeint. Du wirst es schön haben beim Herrn Dr. Grüder, deine Mutter hätte dich sonst gewiss nicht zu ihm geschickt. Du hast eine gute Mutter; denke nur oft an sie und an ihre Ermahnungen.“
„Ja, Herr Kapitän, das tue ich. Meine Mutter hat gesagt, Gott wird unter den fremden Menschen ebenso für mich sorgen wie zu Hause in Island.“
„Gewiss, Nonni, das darfst du sicher glauben; und es gibt auch überall Menschen, die gut sind. Es braucht dir also nicht bange zu sein. Wir sind ja auf dem Schiff auch gleich gute Freunde geworden ...“
Da fiel ich ihm ins Wort und sagte, indem ich seine Hand ergriff:
„Ja, Herr Kapitän, und ich danke Ihnen, weil Sie immer so gut gegen mich waren, und weil Sie mir auch freie Rückfahrt nach Island angeboten haben. Der Herr Steuermann hat es mir schon erzählt. Aber ich habe gesagt, ich will jetzt doch in Kopenhagen bleiben.“
„Ich weiss es, Nonni“, erwiderte er. „Es ist auch am besten so, und wir können ja im Frühjahr wieder darüber sprechen.“—
Indessen waren wir bereits in die Mitte der Breitstrasse gekommen. Bei einem Hause dort begegnete uns auf einmal etwas Seltsames.
Aus einer offenen Kellertür, wie ich glaubte, zu der eine kleine Treppe hinunterführte, wehte mir ein ganz eigentümlicher Duft entgegen, den ich mir am Anfang gar nicht erklären konnte. Es war aber darin etwas, das mich an die Äpfel des vorhergehenden Tages erinnerte, die ich nicht hatte essen können, weil ich noch nie in meinem Leben eine solche Frucht gekostet hatte.
Ich blieb stehen und schaute mit gespanntem Blick gegen die offene Tür hin. Da trat Herr Foss neben mich und sagte:
„Du hast wohl Lust, Nonni, ein wenig Obst zu essen?“
„O nein, Herr Kapitän, ich kann gar kein Obst essen, ich bin nicht daran gewöhnt. — Aber was ist denn das für ein Keller, und was ist das für ein merkwürdiger Duft, der da herauskommt?“
Herr Foss lachte. „Das ist doch kein Keller, Nonni!“ „Das ist ja ein Obstladen! — und sogar einer von den feinsten!“
Neben der Tür war eine grosse Fensterscheibe, dahinter lag eine Menge kostbarer Früchte, rote und gelbe und violette und rosafarbige. Ein prachtvoller Anblick! Ich hatte nie zuvor etwas Ähnliches gesehen.
Der Kapitän nannte mir die Namen der verschiedenen Fruchtsorten. Gerade vor uns, dicht an der Fensterscheibe, lagen auf farbigen, kunstfertig geformten Seidenpapierstreifen ganze Reihen von überaus prächtigen Birnen. Die gefielen mir ganz besonders, und ich dachte, es müssten wohl sehr gute Früchte sein.
„Weisst du, wie diese Birnen heissen?“ fragte Herr Foss.
„Nein, Herr Kapitän.“
„Dann musst du sie dir aber merken, Nonni“, fuhr er fort. „Das sind nämlich die besten Birnen, die es hier gibt. Man nennt sie ‚Königinbirnen‘. Sie sind etwas teuer, aber sie haben einen wunderbaren Geschmack, und sie sind so weich, dass sie einem auf der Zunge schmelzen. — Hast du nicht Lust, eine zu probieren?“
Etwas zögernd gab ich zur Antwort: „Ich glaube, Herr Kapitän, dass ich Lust habe.“
„Wenn du das glaubst, Nonni“, sagte lächelnd Herr Foss, „dann wollen wir eine kaufen.“
Wir gingen die kleine Treppe hinunter in den Laden hinein. Herr Foss suchte die grösste und schönste der Königinbirnen aus und gab sie mir in die Hand.
Als er sie dem Fräulein, das im Laden war, bezahlte, merkte ich, dass sie fast ebensoviel kostete wie zwei bis drei ganze Napoleonskuchen zusammen. Dies erhöhte meine Achtung vor der edlen Frucht noch bedeutend.
Ich hatte mich inzwischen mit der Birne in der einen Hand und dem Napoleonskuchen von Harald in der andern schon nach der Türe gewandt, um hinauszugehen, da hielt Herr Foss mich zurück. Er sagte zu dem Fräulein:
„Dieser Junge da ist ein Isländer, der noch nie in seinem Leben eine Birne gegessen hat. Dürfte er sie vielleicht hier essen?“
„Aber herzlich gern!“ erwiderte das Fräulein und holte sofort ein Obstmesser und ein Tellerchen mit einem goldnen Rand herbei und lud mich ein, an einem kleinen marmornen Tischchen etwas weiter rückwärts in dem feinen Laden Platz zu nehmen. Dann stellte sie Birne, Teller und Messer vor mich hin.
Ich befand mich jetzt in einer peinlichen Lage. Da war alles so glänzend und vornehm, und ich wusste gar nicht, wie ich mich anschicken sollte.
Ratlos betrachtete ich die wunderschöne Birne auf dem Teller vor mir. — Wie sollte ich sie essen? — Ich hatte keine Ahnung davon!
Ich warf verlegene Blicke bald auf Herrn Foss und bald auf das Fräulein, die mich beide mit heiterer Miene ansahen.
„Der junge Herr ist also wirklich ein Isländer?“ nahm das Fräulein nun wieder das Wort.
„Gewiss“, antwortete Herr Foss. „Wir sind gestern von Island hier angekommen, und wie Sie sehen, ist hier noch alles ganz neu für ihn.“
„Ja, ich sehe schon“, wandte das Fräulein sich jetzt freundlich zu mir; „ich glaube, ich muss dir helfen, junger Herr.“
Sie nahm das Messer und die Birne und schnitt die kostbare Frucht in zwei gleiche Teile. Sogleich wurde das reine, weisse Obstfleisch sichtbar, und ein heller, klarer Saft träufelte auf den goldgerandeten Teller hinab.
Ich war aufs höchste gespannt, wie das wohl weitergehen werde.
Das Fräulein nahm jetzt die eine Hälfte der Birne und teilte auch sie in zwei Teile. An dem einen Ende sass der Stiel. Sie fasste ihn und entfernte mit ein paar raschen Schnitten alles, was nicht gegessen werden sollte; nur den Stiel liess sie daran. Dann legte sie die weisse Frucht auf den Teller, reichte ihn mir dar und sagte liebenswürdig nach dänischem Brauch:
„Sei so artig, kleiner Herr.“
Ich nahm zuerst das Stück mit dem Stiel, fasste es geradeso, wie ich eben das Fräulein hatte tun sehen, und obwohl ich noch immer ein wenig fürchtete, es könnte mir vielleicht wieder ergehen wie am Tage vorher mit den Äpfeln, die ich nicht hatte essen können, so führte ich doch — ganz langsam freilich und etwas feierlich ernst — die seltsame, mir völlig unbekannte Speise zum Mund.
Ich biss behutsam ungefähr die Hälfte des Stückes ab.
Zu meiner grössten Überraschung fand ich, dass es gut schmeckte. Ja es schmeckte mir so gut, dass ich beim folgenden Bissen beinahe den Stil auch mitgegessen hätte.
Die noch übrige halbe Birne versuchte ich jetzt gleichermassen zu behandeln, wie das Fräulein es mit der ersten Hälfte gemacht hatte, und es gelang mir, bald damit fertig zu werden.
So hatte ich zum erstenmal in meinem Leben eine Birne gegessen — für mich ein wahres Ereignis! Und ich war nicht wenig stolz darauf, dass meine erste Birne eine „Königinbirne“ war. —
Als das Fräulein im Gespräch mit dem Kapitän sich überzeugt hatte, dass ich in der Tat ein Isländer sei, fragte sie, während ich die Birne ass, Herrn Foss:
„Bleibt der Kleine hier in Kopenhagen?“
„Nur vorläufig“, antwortete Herr Foss; „er soll nach Frankreich gehen und dort studieren.“
Das Fräulein war darüber sehr erstaunt. — „Nach Frankreich?“ sagte sie. „Aber er reist doch wohl nicht allein nach Frankreich?“
„Doch, Fräulein, ganz allein. Aber erst nach dem Kriege. Bis dahin bleibt er hier in Kopenhagen. Er wird sogar in dieser Strasse wohnen, hier in nächster Nähe, Nummer 64.“
„In Nummer 64? Bei den deutschen Herren?“
„Ja, im Hause des Herrn Dr. Grüder. — Kennen Sie vielleicht diese Herren?“
„Nur dem Namen nach und vom Ansehen. Die Herren kommen öfters hier vorbei. Dr. Grüder ist ein älterer, würdiger Herr, den man sich leicht merkt; er geht immer glatt rasiert und trägt gewöhnlich einen dunkelblauen Rock. Die andern sind zwei junge deutsche Gelehrte, namens Dr. Diessel und Dr. Böhmer.“
Der Kapitän wandte sich jetzt zu mir und sagte lächelnd:
„Nonni, dann kommst du ja unter lauter Doktoren! Am Ende wirst du da auch ein gelehrter Herr Doktor!“
Das Fräulein und ich mussten lachen.
Währenddessen kam eine vornehme Dame zum Laden herein. Wir wollten daher nicht länger bleiben. Herr Foss dankte dem Fräulein für die freundliche Auskunft. Ich gab ihr die Hand und machte ihr eine Verbeugung. Dann traten wir zur Türe hinaus. —
Als wir weiter durch die Breitstrasse gingen, schaute ich sogleich eifrig umher, ob ich nicht vielleicht irgendwo den Herrn Dr. Grüder sähe; denn so wie das Fräulein ihn beschrieben hatte, dachte ich, würde ich ihn wohl sicher erkennen und ihn begrüssen können. Es hätte mir Spass gemacht, ihn plötzlich zu überraschen. Aber Herr Foss meinte, es wäre nur Zufall, wenn wir ihn gerade auf der Strasse antreffen würden, ich solle lieber sonst meine Augen offen halten, damit nicht am Ende mir selbst in dem Strassenverkehr eine „Überraschung“ zustosse!
Bald wurde ich auch durch neue Sehenswürdigkeiten von meinem Vorhaben, den Herrn Dr. Grüder zu entdecken, abgelenkt. Wir kamen jetzt an einem mächtigen Gebäude vorüber, an dem mit riesigen goldenen Buchstaben auf einer grossen Wandfläche zu lesen stand: Hôtel Phénix, und darunter: Restaurant français.
Ich blieb stehen und rief erstaunt aus:
„Herr Kapitän, hier ist ja ein französisches Haus! Wie kommt dieses französische Haus hierher?“
Herr Foss erklärte mir, das sei kein französisches Haus, sondern ein dänisches; nur die Aufschrift sei französisch. In Städten, wo viele Fremde verkehren, sei es vielfach gebräuchlich, dass man die Gasthäuser mit französischen Namen bezeichne.
Gleich darauf sah ich zur Linken etwas ganz Merkwürdiges, einen noch viel grösseren Bau, der aber in Trümmern lag: Riesenmauern ohne Dach, aus gewaltigen weissen Steinblöcken, die alle gleichmässig zubehauen waren.
Voll Verwunderung fragte ich Herrn Foss:
„Wer hat denn diesen ungeheuern Bau so zerstört?“
„Den hat niemand zerstört, kleiner Freund.“
„Wie ist er aber dann zu einer solchen Ruine geworden?“
„Das will ich dir sagen. Diese ‚Ruine‘, wie du meinst, ist die sogenannte Marmorkirche; es ist nur noch nicht gelungen, sie fertig zu bauen. Die Dänen wollten nämlich eine Kirche aus weissem Marmor haben, und sie sollte ähnlich wie die Peterskirche in Rom werden. Als man aber bis zum Dach gekommen war, hatte man kein Geld mehr, sie zu vollenden.“
Ich konnte nicht genug diese merkwürdige „Kirche“ betrachten. Noch im Weitergehen schaute ich mehrmals nach den riesenhohen Mauern zurück und wunderte mich im stillen über die Kühnheit der Dänen, die aus weissem Marmor eine Kirche wie den Petersdom bauen wollten.
Eine kleine Strecke von der Marmorkirche entfernt blieb Herr Foss auf einmal stehen. Er fasste mich am Arm, zeigte mit der Hand über die Strasse hinüber und sagte:
„Nonni, sieh mal dort das kleine Tor und lies, was darüber steht.“
Ich schaute hinüber und fand sogleich das kleine Tor samt der Überschrift. Im nächsten Augenblick rief ich voll Freude und Begeisterung aus:
„Herr Kapitän, da wohnt Herr Dr. Grüder! Es ist die Nummer 64!“
Aber es war merkwürdig: man konnte dort kein Haus sehen, sondern nur eine hohe Mauer. Ich fragte deshalb Herrn Foss, wie das komme, und ob Herr Grüder vielleicht doch nicht da wohne.
„Nur Geduld, mein Freund“, erwiderte der Kapitän, „das Haus wird wohl etwas weiter zurück von der Strasse liegen.“
Ich betrachtete mit Spannung den Ort und fühlte mich eigentümlich ergriffen. — Hier sollte ich also wohnen! — „Breitstrasse 64“, so hatte es meine Mutter mir aufgeschrieben.
Das erste Ziel meiner langen Reise war erreicht!
Aber wo nur das Haus des Herrn Dr. Grüder sein mochte? — Ich konnte es nirgends finden.
Links von uns war ein schöner Bau mit einer Apotheke. Der Kapitän sagte, der schöne Bau sei ein königliches Krankenhaus und heisse „Friedrich-Spital“. Zur Rechten lag ein mächtiges Gebäude mit breiten, steinernen Stufen und hohen Säulen am Eingang. Ich schaute es mit Bewunderung an und fragte, was dies für ein Haus sei.
„Das ist das Anatomische Institut der Stadt Kopenhagen“, antwortete Herr Foss.
„Was machen die Leute, die da drin wohnen, Herr Kapitän?“
„Die haben eine ganz eigenartige Beschäftigung, Nonni. — Da drinnen untersucht man tote Menschen.“
„Wie? — tote Menschen! — Leichen!“ fragte ich bestürzt. „Ist das möglich, Herr Kapitän?“
„Gewiss, Nonni.“
„Aber warum untersuchen sie denn tote Menschen?“
„Sie tun es, um die Kranken besser heilen zu können.“
Ich verstand nicht, was dies heissen sollte. Da erklärte mir Herr Foss:
„Wenn drüben im Spital ein Kranker stirbt, und man weiss nicht recht, welches die Todesursache war, dann bringt man den Toten ins Anatomische Institut und sucht herauszufinden, welche Krankheit er gehabt hat. Und wenn man es findet, dann kann man später mit grösserer Leichtigkeit einem Kranken helfen, der an derselben Krankheit leidet.“
Das schien mir sehr vernünftig zu sein. Nur war es mir nicht angenehm, dass ein solches Haus so nahe bei dem Ort lag, wo ich nun bald wohnen sollte.
Um das Gespräch von diesen unheimlichen Dingen abzulenken, sagte ich:
„Herr Kapitän, meinen Sie nicht, dass wir einmal sehen sollten, wo man in das Haus des Herrn Dr. Grüder hineingeht?“
Herr Foss schaute nach links und nach rechts. Dann sagte er:
„Man kann es wahrscheinlich von hier aus gar nicht sehen. Es wird wohl, wie ich gesagt habe, etwas weiter von der Strasse zurückliegen. Wenn du willst, so geh nur hinüber und schau einmal zu dem kleinen Tor hinein, vielleicht kannst du es dann sehen. Ich warte hier.“
Ich liess mich nicht zweimal auffordern. Voll Begierde, endlich mein neues Heim zu sehen, in das ich noch diesen Abend einziehen sollte, sprang ich hinüber. Nach einem nochmaligen schnellen Blick auf die Nummer 64 öffnete ich behutsam das kleine Tor und ging hinein.
Vor mir lag jetzt ein gerader, offener Gang mit hohen Mauern zu beiden Seiten.
Rasch entschlossen schritt ich vorwärts durch den langen Gang und entdeckte bald eine steinerne Treppe, deren Stufen zu einer Haustür linkerhand hinaufführten.
Hier war also ein Wohnhaus, wie der Kapitän vermutet hatte, und ich zweifelte nicht, dass Herr Grüder da wohne.
An der steinernen Treppe angelangt, blieb ich stehen und betrachtete eine Weile die Tür.
Die muss man doch leicht aufmachen können, dachte ich. — Soll ich es probieren?
Ich empfand eine unbändige Lust dazu.
Aber war es denn erlaubt, so ohne weiteres in ein fremdes Haus hineinzugehen?
Schliesslich siegte die Neugierde über alle meine Bedenken. Ich ging auf den Fussspitzen die wenigen Stufen hinauf, fasste vorsichtig die Türklinke und drückte sie leise hinunter.
Die Tür ging auf.
Ich steckte den Kopf hinein und sah in einen dunklen Gang. In der rechten Wand schienen einige Türen zu sein. Zur Linken dagegen, nur ein paar Schritte von mir, war eine Treppe, die in die oberen Stockwerke hinaufführte.
Alles war still. Ich schaute und horchte. Aber ich vernahm nicht den geringsten Laut.
Jetzt nahm ich mir ein Herz und trat in den dunklen Hausgang hinein. Langsam liess ich die Türe los. Sie schloss sich von selbst hinter mir.
Ich stand nun ganz im Dunklen.
Was tun? — Ich streckte beide Arme aus und ging vorsichtig die paar Schritte bis zur Treppe hin. Ich schaute hinauf. Von oben kam ein wenig Tageslicht herunter. Es musste also irgendwo ein Fenster oben sein.
Sollte ich es wagen, hinaufzugehen? — Ich überlegte.
Auf einmal fuhr ich zusammen. — Oben wurde eine Tür aufgemacht. Dann wurde sie wieder zugemacht, und es wurden Tritte hörbar.
Ich merkte, dass jemand an die Treppe kam. — Man hatte mich sicher entdeckt!
Ich wandte mich daher, so schnell ich konnte, nach der Haustür zurück und wollte eiligst hinaus. Doch wegen der Dunkelheit war es mir nicht möglich, gleich die Türklinke zu finden; ich musste erst eine Weile nach ihr herumtasten.
Unterdessen waren die Tritte hinter mir immer näher gekommen.
Endlich brachte ich die Türe auf. Ich wollte entfliehen. Allein es war zu spät. Als ich mich nämlich schnell noch umschaute, sah ich ganz nahe hinter mir einen vornehmen, älteren Herrn.
Ich schämte mich nun, wie ein Einbrecher vor den Augen des Mannes hinauszulaufen, und blieb deshalb bei der offenen Türe stehen.
Im Tageslicht, das jetzt durch die Türe in den dunklen Gang hereinfiel, konnte ich den vornehmen Herrn genau erkennen. Er trug einen langen, dunkelblauen Rock, sein Gesicht war glatt rasiert, die Nase stark gebogen. Er war von mittlerer Grösse und sah sehr ernst aus.
O Gott! — schoss es mir wie ein Blitz durch den Kopf, das muss der Herr Dr. Grüder selbst sein! Sein Aussehen und seine Kleider, alles passte genau zu der Beschreibung, die uns das Fräulein in dem Obstladen von ihm gegeben hatte.
Ich nahm schnell meine Mütze ab, stellte mich gegen den einen Türpfosten, hielt mit der Hand die Tür und sagte, nur um in meiner Verlegenheit überhaupt etwas zu sagen:
„Guten Tag, mein Herr! Wenn Sie hinausgehen wollen, so will ich die Tür so lange offen halten.“
„Ich danke dir, mein Junge. Aber sag mir, was wünschest du eigentlich? Willst du vielleicht jemand hier im Hause besuchen?“
„Nein, mein Herr, ich will niemand besuchen“, antwortete ich kleinlaut.
„Aber warum kommst du dann hier herein? Etwas musst du doch vorhaben?“
„Ich wollte nur sehen, ob die deutschen Herren hier wohnen.“
„Gewiss, die wohnen hier. Willst du zu einem von ihnen gehen?“
„Nein, aber ich sollte heute abend hierher gebracht werden.“
Der Mann schaute mich jetzt mit grossen Augen an und betrachtete mich aufmerksam. Dann sagte er:
„Du sollst zu den deutschen Herren hierhergebracht werden? Heute abend? Ja wer bist du denn, mein Junge, und wo kommst du her?“
„Ich heisse Nonni“, antwortete ich rasch. „Ich komme von Island, und ich soll hier eine Zeitlang bei Herrn Dr. Grüder wohnen.“
Sichtbar überrascht, reichte der Herr mir nun die Hand und sagte überaus freundlich:
„Aber dann sollst du ja gerade bei mir wohnen, kleiner Freund! Mein Name ist Hermann Grüder.“
Jetzt drückte auch ich seine Hand und sagte: „Ich hatte mir gleich gedacht, dass Sie der Herr Dr. Grüder sind.“
„So? — Kennst du mich denn?“
„Nein, Herr Doktor, aber ich habe soeben von einem Fräulein gehört, wie Sie aussehen.“
Herr Grüder schaute mich fragend an.
„Es war ein Fräulein in einem Obstladen“, fuhr ich fort; „ich habe dort eine Birne gegessen.“
Herr Grüder lächelte. Er sah jetzt gar nicht mehr ernst aus. Ich bekam den Eindruck, dass er ein freundlicher, guter Mann sein müsse. Er nahm wieder das Wort und sagte:
„Es freut mich herzlich, dass du hier bist, kleiner Freund. Aber nun erzähle mir auch, wie du so ganz allein hierher kommst.“
„Ich bin nicht allein, Herr Doktor. Der Kapitän des Schiffes ‚Valdemar von Rönne‘, das mich von Island hergebracht hat, steht draussen auf der Strasse und wartet auf mich.“
„So, so? Dann werde ich ihn ja gleich begrüssen können. Ich gehe nämlich gerade in die Stadt, da kannst du mich zu ihm hinbegleiten.“
Herr Grüder wollte hinausgehen. Er blieb aber nochmal stehen und besann sich einen Augenblick. Dann sagte er:
„Weisst du auch, Nonni, dass der andere isländische Knabe, der zusammen mit dir nach Frankreich reisen soll, schon vor einiger Zeit bei uns angekommen ist?“
„Meinen Sie den Gunnar Einarsson, Herr Doktor?“
„Ja, den Gunnar Einarsson, von dem Hofe Nes im Eyjafjörður auf Nord-Island. Ihr kennt euch wohl?“
„Ja, Herr Doktor, wir wohnen in Island nicht weit voneinander. Ich bin auch aus dem Eyjafjörður.“
„Richtig, das hat er mir schon erzählt.“
„Geht es ihm gut, Herr Doktor?“
„Ja, Nonni, es geht ihm gut, und ich bin sehr mit ihm zufrieden. Er sitzt fast den ganzen Tag über seinen Büchern und lernt.“
„Ist er wirklich so fleissig?“ fragte ich etwas betroffen.
„Ja, das ist er. — Und du bist es wohl auch, nicht wahr, kleiner Freund?“
„Ich weiss nicht, Herr Doktor. Ich will es aber versuchen. Doch ich glaube nicht, dass ich so fleissig sein kann wie Gunnar.“
„So? — Warum denn nicht, mein Lieber?“
„Ich bin nicht daran gewöhnt, Herr Doktor.“
Herr Grüder fing an zu lachen. „Nicht daran gewöhnt!“ sagte er. „Was hast du denn eigentlich bis jetzt getrieben?“
„Ich bin viel in den isländischen Bergen herumgeritten und auch viel auf dem Meere in meinem Kahn gefahren. Es gefällt mir immer am besten, wenn ich draussen in der freien Luft bin.“
Herr Grüder lächelte abermals. „Dann hast du es allerdings recht schön gehabt“, erwiderte er. — „Ja, ja. — Du kommst mir vor wie so eine kleine wilde Blume aus den isländischen Bergen. — Doch sei nur nicht bange, mein Freund, du wirst auch hier nach Herzenslust im Freien sein und herumspringen können. Freilich nicht den ganzen Tag. Du musst zwischenhinein auch etwas lernen und studieren, sonst wirst du ja nie ein tüchtiger Mann werden. Daran gewöhnt man sich aber schon mit der Zeit.“
Was Herr Grüder hier gesagt hatte, gefiel mir, und ich wurde immer mehr überzeugt, dass er wirklich ein guter Mann sei.
Er trat jetzt zur Haustüre hinaus. Ich folgte ihm die steinernen Stufen hinunter und ging an seiner Seite durch den langen, offenen Gang bis zum Strassentor.
Währenddessen fragte er mich: „Nonni, du sagtest soeben, das Schiff, auf dem du nach Kopenhagen gekommen bist, heisse ‚Valdemar von Rönne‘. Wie heisst denn der Kapitän?“
„Er heisst Foss. Er ist von Bornholm. Alle Matrosen des Schiffes sind von Bornholm. Herr Foss kennt schon Ihren Namen, Herr Doktor!“
„Warum ist er denn nicht mit dir ins Haus hereingekommen?“
„Ich glaube, er wollte Sie nicht stören, Herr Doktor.“
Mittlerweile hatten wir das Strassentor erreicht. Ich machte die Tür auf und liess Herrn Grüder vor mir hinausgehen. Dann sprang ich hinter ihm her und an ihm vorbei und lief eilends zu Herrn Foss hin, der auf der andern Seite der Strasse wartete.
Herr Grüder kam langsam nach.
Ich fasste den Kapitän am Arm, zog ihn zu mir herunter und flüsterte ihm ins Ohr:
„Herr Kapitän, der Mann, der da kommt, ist der Herr Dr. Grüder!“
Im nächsten Augenblick war schon Herr Grüder selbst da. Er grüsste den Kapitän freundlich und reichte ihm die Hand.
„Ich höre“, sagte er, „dass Sie diesen kleinen Isländer hierher gebracht haben. Es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen. Mein Name ist Hermann Grüder.“
Der Kapitän stellte sich ebenfalls dem würdigen Herrn vor und teilte ihm dann sogleich mit, dass er mich auf Wunsch meiner Mutter zu einer Familie in der Stadt überbringe.
Herr Grüder erwiderte, er habe schon eine Zeitlang auf meine Ankunft gewartet und freue sich, dass ich nun endlich da sei, und noch dazu so fröhlich und so frisch.
„Ja, er ist recht munter und ist auch die ganze Reise hindurch immer so gewesen“, sagte Herr Foss darauf.
Herr Grüder blickte mich freundlich an: „Das gefällt mir, mein Junge, und ich hoffe, dass du auch bei uns deine Fröhlichkeit nicht verlieren wirst.“
Zu Herrn Foss gewandt, fuhr er fort: „Haben Sie eine glückliche Überfahrt gehabt, Herr Kapitän?“
„Nein, leider nicht, Herr Doktor. Wir hatten eine ungewöhnlich harte und lange Reise.“
„Das tut mir aber herzlich leid“, sagte Herr Grüder teilnahmsvoll und mit einem väterlichen Blick auf mich, wie wenn er mich trösten wollte. Ich entgegnete aber sogleich:
„Herr Doktor, mir hat es ganz gut gefallen! Die Stürme und die hohen Wellen haben mir immer Spass gemacht, und auch die Eisberge!“
„Das ist brav von dir, mein Junge. Doch wie sagst du: Eisberge? — Sind Sie denn zwischen Eisberge geraten, Herr Kapitän?“
„Ja, Herr Doktor, und wir können Gott danken, dass wir überhaupt mit dem Leben davongekommen sind.“
„Das muss allerdings schlimm gewesen sein. — Sie haben wohl starke Stürme gehabt und sind am Ende aus Ihrem Kurs verschlagen worden?“
„Ja, wir hatten förmliche Orkane zu bestehen und haben für diese Reise, die sonst in acht bis zehn Tagen gemacht werden kann, mehr als dreissig Tage gebraucht.“
„Dann darf man Ihnen aber wahrhaftig Glück wünschen“, bemerkte Herr Grüder. — „Und du, kleiner Freund, sagst, eine solche Reise habe dir Spass gemacht!?“
„Ja, Herr Doktor; auf dem Meere gefällt es mir immer am besten, wenn viel Sturm und Bewegung da ist!“
Die beiden Herren mussten lachen.
Herr Grüder sagte dann zum Kapitän: „Wann werde ich nun den kleinen Isländer bei mir erwarten können?“
„Erst heute abend, Herr Doktor. Seine Mutter hat mich, wie gesagt, gebeten, ich solle ihn zuerst zu einem isländischen Freund bringen. Wir sind gerade auf dem Wege dahin. Ich zeige ihm noch die Stadt ein wenig; heute abend aber wird er sicher bei Ihnen eintreffen.“
„Gut, so werden wir uns also heute abend wiedersehen, Nonni!“
Damit reichte Herr Grüder uns die Hand und bat um Entschuldigung, dass er uns schon verlassen müsse. Er habe dringende Geschäfte in der Stadt zu besorgen, sagte er.
Ehrerbietig nahmen wir Abschied von dem ausserordentlich würdigen und freundlichen Herrn, der sich darauf rasch durch die Breitstrasse in der Richtung nach dem Neuen Königsmarkt entfernte.
Als Dr. Grüder fort war und wir ihn unter den vielen Menschen auf der Strasse bald nicht mehr sehen konnten, sagte Herr Foss zu mir:
„Nun, wie gefällt dir dein zukünftiger Hausherr?“