Nonni - Erlebnisse eines jungen Isländers von ihm selbst erzählt - Jón Svensson - E-Book

Nonni - Erlebnisse eines jungen Isländers von ihm selbst erzählt E-Book

Jón Svensson

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Beschreibung

Der zwölfjährige Nonni fährt im Jahre 1870 auf einem kleinen dänischen Segelschiff von Nordisland nach Kopenhagen. Mit kindlicher Wissbegierde interessiert er sich für die Seefahrt und wird zum Liebling der ganzen Besatzung. Die Freundschaft mit dem gleichaltrigen Schiffskoch Owe hilft ihm über das anfängliche Heimweh nach seiner geliebten Mutter hinweg. Doch bis das Schiff in Dänemark anlegt, sind noch viele Abenteuer und Gefahren zu bestehen. Zum Autor: Jón Svensson (1857–1944) wurde auf dem Gut Mödruvellir bei Akureyri in Nordisland geboren. Nach dem Besuch des Gymnasiums in Amiens 1871 Konversion zum katholischen Glauben, 1878 Eintritt in den Jesuitenorden. Studium der Rhetorik und Philosophie in Belgien, den Niederlanden und in Ditton Hall bei London. 1890 Priesterweihe. Wirkte als Lehrer und Schulgeistlicher in Kopenhagen. 1912 erschien "Nonni. Erlebnisse eines jungen Isländers", gefolgt von zahlreichen weiteren "Nonni"-Bänden, die den Autor weltberühmt machten.

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Jón Svensson

Nonni

Erlebnisse eines jungen Isländers von ihm selbst erzählt

Saga

Eine große Überraschung

Der 31. Juli 1870 war für mich ein großer Tag. Er sollte mir die größte Überraschung bringen, die ich je erlebt habe.

Es war in der friedlichen kleinen Stadt Akureyri am Eyjafjördur in Nord-Island.

Das Wetter war bezaubernd schön. Die ganze Stadt war wie gebadet in leuchtendem Sonnenschein.

Draußen auf der Reede, der Stadt gerade gegenüber, lag eine Menge fremder Schiffe vor Anker, vor allem dänische, norwegische, englische und französische.

Das Meer, das sich bis zu den Häuserreihen hinzog, war seltsam ruhig und still und sah aus wie eine leuchtende Mischung von geschmolzenem Gold und Silber. Es schien soviel wie immer möglich von all der Schönheit der Natur ringsum in sich hineinsaugen zu wollen.

Die Jugend des Städtchens hatte sich schon lange ins Freie hinauslocken lassen. Denn Sonne, Wärme und Licht flossen da draußen zusammen zu einem unbeschreiblichen goldenen Schimmer, der alles umgab und durchdrang, Land und Meer und Himmel, und auch der Menschen Herz.

Ich spielte mitten in all dieser Herrlichkeit unten am Strande eifrig mit meinen Freunden unmittelbar vor unserem Haus, dem sogenannten »Paulshaus«, einem schwarzweißen Holzbau, der sich neben dem freundlichen Kirchlein des Städtchens erhob.

Plötzlich bemerkte ich meine Schwester Bogga, die schnell auf uns zukommt. Sie tritt nahe an mich heran, nimmt mich am Arm und flüstert mir ganz geheimnisvoll ins Ohr:

»Nonni, Mutter sagt, du sollst gleich zu ihr hineinkommen. Sie hat dir etwas zu sagen.«

Nonni wurde ich meistens gerufen. Mit meinem eigentlichen Namen Jón wurde ich nur bei feierlichen Anlässen und von Fremden genannt.

Im ersten Augenblick fuhr ich zusammen. Ich dachte, da ist etwas nicht ganz geheuer. Es mußte wohl etwas vorgefallen sein.

Was mochte es wohl sein? Mir wurde etwas bange.

Ich war eben zwölf Jahre alt, also in dem Alter, wo man allerlei tolle Streiche ausführt.

Habe ich wieder etwas verkehrt gemacht? Das war mein erster Gedanke.

Ich überlegte: Hatte ich vielleicht ohne Erlaubnis vom Zucker genascht? Oder war ich an den Kuchen gegangen? Oder hatte ich etwa meinen kleinen Bruder Manni geschlagen?

Richtig – ganz gewiß –, das war’s. Gerade das hatte ich getan! Und das eben heute vormittag.

Ach wie dumm! Er hat sicher bei der Mutter geklagt, und nun sollte ich dafür büßen.

Mein kleiner Bruder spielte da drüben, zusammen mit den kleineren Kindern.

Ich lief zu ihm hin.

»Hör mal, Manni, tut es dir noch weh?«

Manni sah etwas erstaunt auf.

»Nicht wahr, Manni, du weißt ja, wie ich dazu kam – so –, ohne daß ich daran dachte. – Ja, nicht wahr, ich stieß dich etwas hart heute morgen. Spürst du noch was?«

Manni tastete nach dem Rücken.

»Nein, ich spüre nichts mehr.«

»Aber, Manni, was sagte die Mutter, als du es ihr erzähltest? Du hast ihr bestimmt etwas gesagt?«

»Nein, Nonni, ich habe ihr nichts gesagt. – Wenigstens bis jetzt noch nicht«, fügte er zögernd hinzu.

»Oh, das war nett von dir. – Morgen hole ich dir Heidelbeeren. Und nicht wahr, so brauchst du ja der Mutter nichts mehr davon zu sagen?«

»Nein, das glaube ich auch nicht.«

Ich atmete erleichtert auf. Ein Stein war nun wenigstens von meinem Gewissen gewälzt.

Jetzt lief ich zu Bogga zurück und fragte:

»Bogga, weißt du, was die Mutter mir eigentlich sagen will?«

Bogga setzte eine sonderbar ernste Miene auf, die mich nicht gerade beruhigte.

»Nonni«, sagte sie, »geh nur schnell hinein. Die Mutter will es dir selbst sagen.«

»Ist es etwas Schlimmes, Bogga? Sag es mir doch.«

»Ich darf dir nichts sagen. Es ist etwas sehr, sehr Wichtiges. Ja, etwas ganz außerordentlich Wichtiges. – Aber nun geh gleich zur Mutter.«

Oh, diese böse Bogga!

»Du guter Gott, was mag das wohl sein!« So sprach ich zu mir selbst, während ich langsam auf unser Haus zuging.

Mindestens zwei bis drei Minuten blieb ich draußen vor der Tür stehen, bis ich sie zu öffnen wagte. Ich war beinahe sicher, daß ich etwas ganz außerordentlich Schlimmes angestellt hätte.

Die Mutter war sehr gut zu uns; doch sie wachte auch sorgfältig über unser Betragen, besonders seit dem Tode unseres Vaters. Er war im verflossenen Jahr gestorben, und seitdem unterließ sie es nicht, uns streng zu strafen, sooft wir es verdient hatten. Trotz ihrer Strenge sorgte sie sich liebevoll um uns.

Endlich öffnete ich die Tür und ging in die Stube.

Die Mutter saß da und nähte.

Sie schaute mich an, und es kam mir vor, als wenn sie mich länger als sonst von oben bis unten betrachtete. Es schien mir, daß sie mir etwas Außergewöhnliches sagen wollte.

Ich ging ans Fenster und wartete mit klopfendem Herzen, was da kommen werde.

Es vergingen einige Augenblicke.

Endlich sagte sie ganz leise mit merkwürdig bebender Stimme: »Nonni, nimm den Stuhl da, und setz dich zu mir her.«

Ich folgte, ohne ein Wort zu sagen.

In einem scheinbar gleichgültigen Tone sprach sie weiter: »Sag mal, Nonni, gehst du gern in die Schule?«

»In die Schule? – Ja, Mutter, es gefällt mir ganz gut dort – so für gewöhnlich; aber zuweilen kommt es mir sehr langweilig vor.«

»Wirklich, Nonni? Gehst du nicht gern in die Schule?«

»Ja, weißt du, Mutter, wenn der Lehrer lustig ist, dann gefällt es mir in der Schule sehr gut.«

»Was meinst du damit: ›Wenn der Lehrer lustig ist‹?«

»Ich meine, wenn er schöne Geschichten erzählt. Das habe ich am liebsten. Und da, glaube ich, lerne ich am meisten.«

Ich merkte, daß die Mutter nicht ganz zufrieden war mit dem, was ich gesagt hatte, und dachte nun selbst, es sei dumm von mir gewesen, so zu sprechen. Deshalb fügte ich schnell hinzu:

»Ich halte sonst viel vom Lesen; aber ich kann bloß nicht leiden, daß man jedesmal Strafe bekommt, wenn man seine Aufgabe nicht kann.«

»Das begreife ich gut, mein Junge. Aber du sagtest doch, du möchtest gern etwas lernen?«

»O ja, Mutter, wenn man nur nicht den ganzen Tag lernen müßte. Ich habe so große Freude am Spielen.«

»Hättest du nicht Lust, Nonni, ganz ernsthaft zu lernen? Ich meine studieren und an eine höhere Schule, an ein Gymnasium gehen? Denk mal darüber nach.«

Nun bekam ich aber Herzklopfen. Aber wirklich, im Ernst.

Studieren! An eine höhere Schule gehen! An ein Gymnasium! Das war wirklich etwas ganz Neues.

Jetzt merkte ich, daß Bogga recht hatte, als sie sagte, das, worüber die Mutter mit mir reden wolle, sei etwas sehr Wichtiges, ja etwas ganz außerordentlich Wichtiges.

Eine höhere Schule!

Aber es gab nur eine höhere Schule auf ganz Island; das war die in Reykjavik. Reykjavik lag aber auf der anderen Seite der Insel, in einer Entfernung von mehreren hundert Kilometern.

Sollte es wirklich sein, daß ich so weit fortgeschickt würde? Bis nach Reykjavik! In die höhere Schule dort!

Ich war so betroffen, daß ich nichts zu sagen wußte.

Die Mutter sah mich lächelnd an und sagte: »Nun, Nonni, was denkst du davon? Möchtest du studieren und ein gelehrter Mann werden?«

»Mutter, das möchte ich wirklich sehr gern. – Aber dann müßte ich ja bis nach Reykjavik reisen!«

»Und wenn dir angeboten würde«, die Mutter sprach die Worte langsam, »wenn dir angeboten würde, noch weiter zu reisen als nach Reykjavik, was würdest du dann wohl sagen?«

Ich schaute die Mutter mit großen Augen an.

Noch weiter als nach Reykjavik? – Aber, lieber Himmel, das hieße ja, ins Ausland! In die weite, große Welt, an deren äußerster Grenze mein Vaterland, Island, lag? Ja, von der es getrennt war durch den Atlantischen Ozean, Hunderte von Meilen entfernt!

Die große Welt! Dänemark, Norwegen, Schweden, England, Deutschland – weiter wagten meine kühnsten Gedanken sich nicht.

Eine höhere Schule im Ausland! – Aber da konnte doch eigentlich nur die Rede sein von einer Schule in Dänemark, dem Lande, mit dem wir ja in engerer Verbindung standen.

»Mutter, soll ich wirklich daran denken, nach Dänemark zu reisen, und dort eine höhere Schule besuchen?«

»Nein, mein Kind, es handelt sich nicht um Dänemark. Es handelt sich um ein Land, das noch viel weiter entfernt liegt. Es ist eines jener großen Länder im Süden, wo die Sonne viel stärker leuchtet und brennt als bei uns; wo alles wächst und blüht in einer Üppigkeit und Frische, von der wir uns kaum eine Vorstellung machen können; wo es kaum einen Winter gibt, wo fast immer der wärmste Sommer herrscht oder Frühjahr und Herbst; wo die Bäume sich beugen unter der Last der köstlichen Früchte: Feigen, Apfelsinen, Pfirsiche, Weintrauben und viele andere, deren Namen du nicht einmal kennst.

Überleg mal, Nonni, hast du Lust, in ein solches Land zu reisen? Nicht aber, um das Leben zu genießen in all diesen Herrlichkeiten, sondern um etwas zu lernen, Jahr um Jahr fleißig zu studieren, ein tüchtiger Mann zu werden und dann wieder heimzukehren als Arzt oder Jurist oder Schriftsteller oder zu irgendeiner anderen Stellung, die du dann selber wählen kannst.

Was denkst du von dem Plan? Hast du Lust zu dieser großen Reise? – Antworte mir nicht gleich. Überleg es dir gut.«

Mir wurde beinahe schwindlig.

Ich lehnte mich zurück und versuchte nachzudenken.

Wirr schossen mir die Gedanken durch den Kopf.

Verlassen meine liebe Mutter, das Liebste, was ich auf der Welt hatte, meine guten Geschwister, Manni und Bogga, alle meine Freunde und Bekannten, mein Vaterland, und das vielleicht für immer!

Denn daß ich je wieder zurückkehren würde nach einer so langen Studienzeit, das war mir doch sehr ungewiß.

War es nicht gerade so, als sollte ich mit der Wurzel ausgerissen und in einen neuen Boden, in eine neue Welt eingepflanzt werden?

Ja, es war fast so, als müßte ich sterben und dann neu geboren werden und das Leben von neuem anfangen in einem fernen, unbekannten Land.

Es kam mir vor, als stürzte ich mich in einen gähnenden, bodenlosen Abgrund!

Ich schreckte davor zurück.

Und doch von der anderen Seite, welch lockende Aussicht!

Eine Reise in die weite Welt, ein langer Aufenthalt in einem der schönsten Länder des Südens! Oh, wie herrlich!

Ich hatte schon immer eine unwiderstehliche Sehnsucht gefühlt, hinauszuwandern, weit, weit weg.

Schon oft hatte ich den Entschluß gefaßt, nach dem Beispiel meiner Vorväter, der alten Normannen, das Vaterland zu verlassen und rund um die Welt zu reisen, die Sitten und Gebräuche anderer Völker kennenzulernen.

Und nun kommt plötzlich ein geheimnisvolles Angebot, das es mir möglich macht, diesen Plan auszuführen, ihn auszuführen auf die beste Weise, die ich mir denken konnte.

Ja, ich muß reisen, je eher, desto lieber! Es ist doch allzu schön; es ist eine Gelegenheit, die mir kaum je wieder geboten wird. Ich muß mit beiden Händen zugreifen.

Jetzt unterbrach ich das Stillschweigen, und in der Meinung, lange genug überlegt zu haben, sagte ich mit Bestimmtheit:

»Ja, Mutter, ich möchte gern reisen, gern studieren.

Aber um welches Land handelt es sich, Mutter? Und wer ist es, der uns dieses Angebot macht?«

»Ich ahnte es, mein lieber Nonni, daß du Lust dazu hättest. Gleich werde ich dir erzählen, wie das alles zusammenhängt.

Aber sag mir nun erst: Kannst du das betreffende Land nicht selbst herausfinden? Welches von den großen Ländern des Südens ist dir am meisten bekannt?«

Ich dachte etwas nach.

Die verschiedenen Länder, die ich in der Schule kennengelernt hatte, kamen mir nun nacheinander in den Sinn. Es konnte, dachte ich, wohl nur die Rede sein von Spanien, Italien, Deutschland oder Frankreich.

Frankreich! Das Land der »Großen Revolution«, das Land Napoleons und der Jungfrau von Orléans. Frankreich mit der Hauptstadt Paris, worüber ich so vieles gelesen hatte. Ein Mann, der in Paris gewesen war, hatte mir kurz vorher Wunderdinge von dieser Stadt erzählt.

Spanien! Das warme, weinreiche Land mit dem königlichen, stolzen Volke. Das Land mit den Wunderpalästen Eskorial und Alhambra und den großen Kathedralen.

Italien! Das Land der mächtigen Römer mit den großen Erinnerungen an die alte Zeit. Italien mit dem ewigen Rom, dem Vatikan, der Peterskirche und dem Flavischen Amphitheater, dem riesengroßen Kolosseum.

Deutschland! Das geschichtsreiche, weit ausgestreckte Land der Germanen, mit den verschiedenartigen Völkern. Deutschland! Das gewaltige Land mit den tiefen Wäldern, dem Rhein und seinen Weinbergen und alten starken Burgen.

Ich konnte mich noch immer nicht entscheiden. Meine Mutter warf mir lächelnd einen Blick zu.

Es wird sich wohl entweder um Deutschland oder Frankreich handeln, dachte ich.

Ich selbst gehörte ja zu der großen deutschen Völkerfamilie. Wir Isländer waren ja ein goto-germanisches Volk, und ich hätte nicht wenig Lust gehabt, nach dem herrlichen Lande der Deutschen zu reisen.

Doch merkwürdig! Immer wieder kam es mir in den Sinn: Es ist Frankreich, wohin du reisen sollst.

Frankreich war ja auch das Land, dessen Einwohner ich nächst Dänemark am besten kannte.

Jeden Sommer kamen nämlich viele französische Schiffe nach Island. Sie lagen oft lange Zeit im Eyjafjördur, gerade unserem Haus gegenüber. Vor allem waren es große französische Kriegsschiffe. Aber auch zahlreiche französische Fischkutter legten in den Sommermonaten an unserer Küste an.

Ich spielte gern mit den französischen Kindern, die manchmal ans Land kamen. Auch besuchten sie uns und wurden immer freundlich empfangen.

Zwar verstanden wir unsere Sprache gegenseitig nicht; aber wir halfen uns durch Zeichen und Bewegungen.

Zuweilen holte ich unsere Pferde und machte mit den fremden Jungen Spazierritte.

Ich hinwieder war ein häufiger Gast draußen auf den Kriegsschiffen. Kein Wunder, daß ich die Franzosen so gut kannte.

Alle diese Gedanken schwebten mir wie lichte Traumbilder vor Augen.

Endlich sagte ich zu der Mutter:

»Ich glaube, es ist nach Frankreich, wohin ich reisen soll.«

Bei diesen Worten mußte die Mutter lächeln.

»Nun«, sagte sie, »du hast das Richtige getroffen, lieber Nonni. Nach Frankreich, dem Vaterland deiner kleinen fremden Spielkameraden, sollst du wirklich reisen.«

»Aber wie ist das alles so gekommen, Mutter? Wer hat dir das Angebot gemacht?«

»Das will ich dir jetzt erzählen, mein Kind.

Du kennst wohl dem Namen nach Herrn Baudoin, den französischen Priester, der jetzt schon mehrere Jahre hier auf Island lebt?«

»Ja, Mutter, vom Hörensagen kenne ich ihn gut. Er ist von Reims. Gewöhnlich hat er in Reykjavik gewohnt, und da ist er auch jetzt. Ein Jahr lang hat er sich auch hier am Eyjafjördur aufgehalten bei unserem Freund Einar Asmundson, auf dem Gute Res.«

»Ganz richtig.

Pfarrer Baudoin hat mir nun vor kurzem einen Brief geschrieben, worin er mitteilt, daß ein französischer Edelmann aus Avignon, das unten am Mittelmeer liegt, eine große Vorliebe für Island gefaßt hat. Er soll ein guter, frommer Mann sein, und zudem sehr reich. Nun ist es sein größter Wunsch, daß zwei isländische Jungen zu ihm nach Avignon kommen. Er will für sie sorgen, sie studieren und auf die beste Weise erziehen lassen. Sie sollen ungefähr zwölf Jahre alt sein, gesund, gut erzogen und müssen Lust und Fähigkeit zum Studieren haben.«

»Aber Mutter, glaubst du, daß ich alle diese Eigenschaften besitze?« fragte ich etwas verlegen und kleinlaut.

»Ich hoffe es, mein Junge. Herr Baudoin schreibt nämlich, er sei durch unseren Freund Herrn Einar Asmundson auf uns aufmerksam geworden. Und nun fragt er mich, ob ich auf sein Angebot eingehen wolle. Wenn wir beide einverstanden sind, dann sollst du schon im August abreisen.

Das ist ein ganz ungewöhnliches Angebot, und ich bin gewiß, wenn dein Vater noch lebte, würde er sofort darauf eingehen.«

»Aber, Mutter, du sagtest, es sollten zwei Jungen sein. Wer ist denn der andere?«

»Das ist einer von Herrn Einar Asmundsons Söhnen, ein netter und begabter Junge. Er heißt Gunnar. Er reist schon vor dir ab. Du wirst ihn in Kopenhagen treffen. Von dort werdet ihr dann zusammen nach Frankreich reisen.

Noch etwas will ich dir sagen. Ein Herr hier am Eyjafjördur hat dasselbe Angebot für seinen zwölfjährigen, sehr begabten Sohn Thorhall erhalten. Der Vater war schon entschlossen, seinen Sohn reisen zu lassen. Der Junge selbst war auch einverstanden. Aber die Mutter war dagegen; sie fürchtete, es könne ihn auf der weiten Reise ein Unglück treffen. Der Vater war zwar davon überzeugt, daß Gott dort geradesogut über ihr Kind wachen würde wie hier; doch die Mutter wollte nicht nachgeben, und so wurde nichts aus der Reise. Jetzt sollst du, wenn es dir recht ist, Thorhalls Platz einnehmen.«

»Wie ist doch alles das merkwürdig, Mutter! – Aber wie soll die Reise vor sich gehen?«

»Du fährst von hier mit dem letzten dänischen Handelsschiff, das dieses Jahr Akureyri verläßt. Wahrscheinlich wird es das kleine bornholmische Schiff ›Valdemar‹ sein, mit Kapitän Foß. In den nächsten Wochen kommt es hierher und bleibt eine Zeitlang hier liegen. Es wird dich direkt nach Kopenhagen bringen, wo du dann einige Zeit bleiben mußt.«

»Bei wem werde ich aber in Kopenhagen wohnen, Mutter?«

»Bei einem vornehmen deutschen Herrn. Man nennt ihn ›Präfekt‹; sein Name ist Hermann Grüder. Er soll ein sehr gewissenhafter und guter Mann sein. Bei ihm wirst du Gunnar antreffen. Herr Grüder will für den anderen Teil der Reise, von Dänemark nach Frankreich, sorgen.«

»Aber, Mutter, ich kenne diesen Herrn Grüder nicht, und bei ihm werde ich wohl keine Isländer finden. Wäre es nicht möglich, daß ich bei einer isländischen Familie in Kopenhagen wohnen könnte? Es ist doch was ganz anderes, bei seinen Landsleuten zu sein als bei wildfremden Menschen.«

»Das wird nicht gut gehen, mein lieber Nonni. Aber du brauchst nicht ängstlich zu sein, sowohl er als auch die anderen Leute alle, die in seinem Hause wohnen, werden dich sehr gut und liebevoll behandeln. Ich habe mich über die Verhältnisse erkundigt.«

Die Worte meiner Mutter beruhigten mich.

»Aber, Mutter«, fuhr ich fort, »ich werde doch einige Isländer in Kopenhagen besuchen können?«

»Gewiß, mein Kind, und ich werde dir Briefe an verschiedene unserer Landsleute mitgeben. Du wirst sehen, mein Kind, es wird dir in Kopenhagen an Freunden nicht fehlen. – Und jetzt, mein lieber Nonni«, fuhr die Mutter ernst fort, »in der kurzen Zeit, die du hier noch verweilst, mußt du dich recht zusammennehmen. Bist du einmal von hier abgereist, dann beginnt ein ganz neues Leben für dich. Dann bin ich nicht mehr da, um dich ermahnen und dir raten zu können. Deshalb mußt du schon jetzt versuchen, dich wie ein Mann und nicht wie ein kleiner Junge und unvernünftiger Knabe zu benehmen.«

Und mit Nachdruck setzte sie hinzu, indem sie mich liebevoll anschaute:

»Vor allem mußt du darauf sehen, gut Freund mit Gott zu bleiben, mein Kind. Vertraue dich mehr und mehr ihm im Gebet an. Wir müssen bald voneinander Abschied nehmen, und wer weiß, ob wir uns je wiedersehen werden. Nun, so möge Gott für dich Vater und Mutter sein.«

Diese Worte meiner guten Mutter machten einen solchen Eindruck auf mich, daß ich in Tränen ausbrach.

Die Mutter stand auf, strich mir zärtlich über die Haare, tröstete und beruhigte mich.

»So«, sagte sie, »nun geh zu den anderen Kindern, die draußen im Sonnenschein spielen.«

Auf dem Berge

Ich wischte meine Tränen ab und ging hinaus.

Unwillkürlich zog es mich hinab zum Strande, um dort mit meinen Freunden wieder zu spielen, zu laufen und zu springen. Das hatte ich bisher immer am liebsten gemacht.

Aber plötzlich war alle Lust dazu auf einmal verschwunden. Ich blieb stehen und schaute hinab auf all die Kinder dort unten.

Ihr Spielen kam mir jetzt vor wie etwas, das mich nichts anging, ja als etwas so Leeres und Gleichgültiges, daß ich mich umwandte und den Bergabhang gleich hinter unserem Hause hinauflief.

Ich wollte allein sein. Ich mußte nochmals alles das überdenken, was sich eben zugetragen hatte.

Bald war ich so hoch oben, daß ich nach Norden hin meilenweit hinaus über den mächtigen Eyjafjördur schauen konnte.

Es war so still und einsam hier. Im Westen stiegen die hohen Berge bis hinauf zu den Wolken, im Osten sah ich die spiegelblanke Wasserfläche des Eyjafjördur und darüber hinweg die Bergkette Vadlaheidi.

Weit, weit draußen im Norden entdeckte ich mitten im Fjord einen kleinen schneeweißen Punkt, der einer schwimmenden Möwe glich. Es war ein einsames Segelschiff, das, wie es schien, fortsegelte. Es fuhr wohl hinaus auf das offene Meer, in den Atlantischen Ozean.

Auf so einem kleinen Fahrzeug, dachte ich, werde ich auch bald sein und zu einem fernen, sonnigen Strande fahren. Dort wartet auf mich eine ganz unbekannte Welt.

Wie wird es mir da wohl gehen?

Ich werde zwischen fremden Menschen leben müssen, die eine mir unbekannte Sprache sprechen und andere, ungewohnte Sitten und Gebräuche haben.

Da bin ich dann ganz allein, ohne Vater und Mutter, ohne Geschwister, ohne Freunde und Verwandte, ja, ohne Vaterland.

Alle diese Gedanken drängten mit unheimlicher Gewalt und Klarheit auf mich ein, als ich so dem kleinen, weißen Schiff nachschaute, das immer mehr meinen Blicken entschwand.

Es kam mir vor, als wäre ich auf einmal älter geworden. Jetzt sollte ich anfangen, Mann zu werden, hat die Mutter gesagt. Aber würde ich dazu imstande sein? Lief ich nicht Gefahr, ganz allein und verlassen in der großen, weiten Welt unterzugehen?

Wäre es nicht besser, ich änderte meinen Entschluß und nähme das seltsame Angebot nicht an? Ja, das wäre wohl das klügste.

Bange Furcht überfiel mich.

In meiner Herzensangst und Ratlosigkeit seufzte und stöhnte ich laut auf:

»Ach, mein Gott! Allmächtiger Gott, was soll ich anfangen? Hilf mir doch!«

Da auf einmal fuhr ich zusammen. Ich hatte Stimmen gehört – Kinderstimmen. Woher kamen sie? Ich konnte es nicht sagen.

Sonderbar!

Ich schaute umher, niemand war zu sehen. Ich war ganz allein.

Sollte mich jemand belauschen? Nein, ich muß mich geirrt haben. Auch hörte ich jetzt nichts mehr.

Aber eigentümlich war es doch. Ich hatte es so deutlich vernommen.

Ich setzte mich auf einen Stein.

Die kleine Unterbrechung hatte mich in eine andere Stimmung versetzt und meinen Gedanken eine neue Richtung gegeben.

Wozu doch alle diese trüben Gedanken? sagte ich zu mir. Weshalb sollte ich mich eigentlich bange machen vor einer Reise in ein fremdes Land?

War es denn im Grunde nicht eine lockende, ja eine überaus glänzende Zukunft, die mir da winkte?

Und hatte ich mich nicht immer nach Abenteuern gesehnt?

Ja, welch ein Glück! Erst zu Schiff die Hunderte von Meilen über das große Meer, den gewaltigen Atlantischen Ozean, von Island bis nach Dänemark!

Wie verlockend war schon das, dieses schöne Land kennenzulernen, worüber ich soviel von meiner Mutter gehört und selbst gelesen hatte!

Es mußte doch wahrhaft ein wunderbares Land sein. Schon in der Edda hieß es ja »Freijas Saal«.

Und dann Kopenhagen, die größte Stadt des Nordens!

Eine Zeitlang saß ich da und träumte über die Wunderdinge dieser glänzenden Hauptstadt. – Der Runde Turm, in dem man mit Wagen hinauffahren kann. Die altnordischen Sammlungen mit den Waffen der Normannen und den Wohnungen und Pelzkleidern der Eskimos. Der Lustgarten Tivoli mit dem Labyrinth. Thorvaldsens, meines großen Landsmannes, Meisterwerke. Die Häuser und Paläste, die vielen Menschen, das heitere Leben und das Gewühl der Großstadt!

Und Kopenhagen wird nun eine Haltestelle auf der großen Reise sein! Noch vieles andere werde ich erleben auf der Fahrt nach dem Süden bis hinab zum Mittelländischen Meer.

Ich werde wohl mit einem Schiff von Kopenhagen zur Nordküste Frankreichs segeln. Von da wird es dann weitergehen mit der Eisenbahn. Die habe ich noch nie im Leben gesehen. Welch herrliche Fahrt quer durch das große Land, über Paris nach Avignon!

War nicht schon das allein ein strahlendes, bezauberndes Märchen!

Und in Avignon die gelehrte Schule! – Da würde ich zusammenkommen mit den lebhaften französischen Jungen und fleißig studieren, um so bald wie möglich gelehrt zu werden. Und dann würde ich vielleicht später als großer Herr nach Island zurückkommen?

Während ich so meinen Träumereien nachging, kam mir plötzlich wieder ein Aber in den Sinn.

Aber die Gefahren unterwegs! Wird Gott mich beschützen?

»Alles hängt doch schließlich ab von Gottes Segen.« So sagt die Mutter immer. Und was sie sagt, muß doch wahr sein.

Es werden gewiß auf dem langen Wege manche und große Gefahren auf mich lauern.

Soll ich nicht niederknien und, wie die Mutter mir geraten, an Gott mich wenden und ihn bitten, er möge meine Zukunft segnen? Ja, das will ich tun.

Ich war gewohnt zu beten. Selten ließ ich einen Tag ohne Gebet hingehen. Und in dem täglichen Gebet vergaß ich nie meine Eltern, die ich so liebte.

Ich stand also auf, kniete nieder, und mit gefalteten Händen begann ich mein kindliches Gebet.

»Allmächtiger Gott, lieber, guter Gott, hilf mir! Wenn ich von hier fortgereist bin, habe ich sonst niemand, an den ich mich wenden, auf den ich mich stützen kann, als dich allein. Ach segne doch meine Reise und meine Zukunft. Hilf mir, daß ich ein guter Junge bleibe. Sei immer mit mir und verlaß mich nicht. Auch bitte ich dich, lieber Gott, nimm dich meiner Mutter an. Laß sie glücklich sein, noch mehr als mich. Ja, lieber Gott, sie ist mir so lieb. Segne, ich bitte dich, meine liebe, gute Mutter und meine Geschwister ...«

Weiter kam ich nicht.

Abermals fuhr ich zusammen und sprang auf; wieder hatte ich dieselben Laute gehört wie vorhin! Jetzt aber ganz deutlich!

Was mochte das doch sein?

Da sprangen plötzlich einige Schritte von mir Bogga und Manni aus einer kleinen Vertiefung hervor und liefen auf mich zu.

Bogga, die mich sehr liebte, umarmte mich und rief: »Lieber Nonni, sei nur nicht böse auf uns. Wir wollten dich nicht belauschen; wir waren dort in der Kuhle und pflückten Heidelbeeren. Wir kamen nicht gleich zu dir, um dich nicht zu stören.«

Jetzt kam Manni mit einer Papierschachtel voll von frischen Heidelbeeren und sagte:

»Du versprachst mir, Blaubeeren für mich zu pflücken. Nun habe ich Blaubeeren für dich gepflückt. Da hast du sie alle, Nonni.«

Mit diesen Worten reichte er mir die Schachtel.

Ich stand da und war ganz verwirrt.

Die sind gewiß schon längere Zeit dort gewesen, dachte ich, und ich glaubte, ganz allein zu sein. Das machte mich so verlegen, daß ich kaum wußte, was ich sagen sollte.

Besonders war es mir unangenehm, daß sie mich hatten beten sehen.

Doch ihre Unbefangenheit beruhigte mich bald wieder.

Ich dankte Manni, ganz gerührt von seiner Selbstlosigkeit, und sagte dann zu Bogga:

»Aber wie seid ihr hierhergekommen? Ich habe euch ja gar nicht bemerkt.«

»Als wir dich hinaufsteigen sahen«, erzählte Bogga, »liefen wir auf einem kleinen Umwege hinter dir her. Wir hielten uns ganz still in der Vertiefung dort und pflückten Heidelbeeren für dich.«

Mit dieser Erklärung gab ich mich zufrieden.

Eine kleine Weile standen wir nun da, ohne ein Wort zu sprechen. Dann aber wandte sich Bogga in einem ganz andern Tone zu mir und sagte:

»Aber jetzt höre, mein lieber Nonni. Ich wollte dich etwas anderes fragen, und deshalb bin ich dir eigentlich nachgelaufen. Ich weiß, worüber die Mutter mit dir gesprochen hat, und möchte gern von dir erfahren, was ihr ausgemacht habt. Willst du es mir sagen?«

»Gut, du sollst es hören, Bogga. Es ist abgemacht, daß ich in einigen Wochen von hier fortreise nach Frankreich. Und das läßt sich nicht mehr ändern. Ich bin fest entschlossen dazu.«

Bogga schwieg.

Sie schlug die Augen nieder. Ich sah, sie war sehr traurig. Manni hingegen schaute mich mit seinen großen Augen fragend an. Er verstand noch nicht recht, worum es sich handelte.

Dann sagte er:

»Wo ist das, wohin du reisen willst, Nonni?«

»Weit weg von hier, Manni, nach Frankreich hinab.«

»Und wann kommst du wieder?«

»Ich komme vielleicht niemals zurück, Manni.«

»Niemals zurück?«

Der Kleine konnte die Worte nicht recht fassen, doch fügte er hinzu: »Das ist aber schade, Nonni!«

Für einen Augenblick schlug auch er die Augen nieder.

Aber dann kam er plötzlich mit der Frage:

»Nimmst du deine schönen Holzschuhe auch mit, wenn du nach Frankreich gehst?«

»Nein, Manni.«

»Dann bekomm ich sie, nicht wahr? Ich werde die Mutter schon drum bitten. Du hast doch sicher nichts dagegen?«

»Nein, gewiß nicht, Manni.«

Ich hatte vor kurzem ein Paar niedliche dänische Holzschuhe als Geschenk erhalten. Sie waren schwarz und rot lackiert, und ich sah sie als etwas besonders Feines, als eine Kostbarkeit an.

Sonst trugen wir meist kleine Stiefel oder isländische Schuhe aus Schafleder. Holzschuhe waren bei uns etwas ganz Neues, Ausländisches. Nur wenige hatten solche. Die meinigen waren in Kopenhagen hergestellt, kamen also von weit her.

Manni hatte keine bekommen und war deshalb etwas neidisch auf mich.

»Gut, Manni«, sagte ich also zu ihm, »du kannst die Holzschuhe jetzt gleich haben.«

Der Kleine dankte mir so stürmisch, als wenn ich weiß Gott was getan hätte.

Wir setzten uns nun alle drei nieder, und Bogga sagte:

»Jetzt kann aber auch ich dir etwas Neues erzählen; ich habe es heute gehört. Das Schiff, welches heute morgen von England hierher kam, hat die Neuigkeit mitgebracht, und augenblicklich spricht man in der ganzen Stadt von nichts anderem.«

»Ja, was ist denn das, Bogga?«

»Eine Neuigkeit, auf die du sehr gespannt sein wirst. Denk dir, Frankreich, das Land, wohin du reisen sollst, hat Deutschland den Krieg erklärt!«

»Wie? Frankreich hat Deutschland den Krieg erklärt? Das ist doch wohl nicht wahr?«

»Doch, Nonni, das ist ganz gewiß wahr. Kaiser Napoleon will gegen die Preußen kämpfen. Vor kaum zwei Wochen, am 19. Juli, hat er den Krieg erklärt. Als die Nachricht heute nachmittag bei den französischen Seeleuten, die sich zur Zeit hier aufhalten, bekannt wurde, waren sie alle rein wild vor Begeisterung. Sie wollen so bald als möglich nach Frankreich zurücksegeln, um für ihr Vaterland zu kämpfen.«

»Nein, ist das aber auch wirklich wahr? So komme ich ja nach Frankreich mitten in den Krieg! Ist das nicht schrecklich?«

»Ja, wahrhaftig, das ist bedenklich. Aber glaubst du nicht, daß es gefährlich für dich werden könnte, eben jetzt während des Krieges nach Frankreich zu reisen?«

»Allerdings, das kann schon sein. Aber das Schlimmste wäre doch, wenn dieser Krieg meine Reise verhinderte, so daß ich überhaupt gar nicht abreisen könnte.«

»Gewiß. Unmöglich ist es nicht, daß es so kommen könnte und daß aus deiner Reise wegen des Krieges nichts würde.«

»Aber dann bekäme ich ja die Holzschuhe nicht«, wandte Manni ganz ernsthaft ein.

»O Manni, du wirst schon sehen, ich reise ganz sicher fort.«

Sowohl mir als Manni wurde es eigentlich doch etwas unbehaglich zumute bei dem Gedanken an diesen unseligen deutsch-französischen Krieg: mir, weil ich dachte, meine Reise könnte schließlich doch verhindert werden; Manni, weil er fürchtete, er bekäme vielleicht die schönen Holzschuhe nicht.

Wir blieben noch eine Weile oben mitten im blühenden Kraut sitzen, unterhielten uns über die bevorstehende Reise und bauten Luftschlösser.

Endlich standen wir auf. Wir mußten uns beeilen.

Wir nahmen den kleinen Manni in die Mitte und sprangen in vollem Lauf über Blumen und Kräuter den steilen Berg hinab, bis wir an unserem Hause waren, wo die Mutter schon lange auf uns wartete.

Abschiedsbesuche

»Lieber Nonni«, sagte ein paar Wochen später meine Mutter zu mir, »es wird Zeit, daß du einige Abschiedsbesuche bei Freunden und Verwandten machst. Du könntest heute hinaufreiten zum Hof Hals zu unserem Freund, Herrn Thorson. Sag ihm Lebewohl und danke ihm für alle Liebe, die er dir erwiesen hat.«

Schnell war ich zu diesem Ausflug bereit. Ich war gern unterwegs, mochte es kurz oder lang sein.

Sofort holte ich eines von unseren zwei Pferden, sattelte es, und bald ging es im Galopp den Berg hinauf, der zum Hofe Hals führte. Schon oft hatte ich den hübsch gelegenen Hof besucht.

Sobald ich mich dem Hause näherte, erkannten mich die Kinder, die alle meine Freunde waren.

Erwartungsvoll liefen sie mir entgegen, umringten mich, griffen in die Zügel meines Pferdes und hielten es an.

»Wohin geht’s?« rief Julius, der älteste Sohn des Herrn Thorson, gleich alt wie ich und einer meiner besten Freunde.

Wir waren schon oft zusammen auf die Jagd gegangen und hatten eine Menge wilder Enten geschossen, einmal sogar einen wilden Schwan.

»Vorläufig«, sagte ich, »will ich nicht weiter als hierher, Julius. – Ist dein Vater zu Hause?«

»Ja, was führt dich denn heute zu uns, Nonni?«

»Ich komme, um euch Lebewohl zu sagen, denn ich soll bald ins Ausland.«

»Ich habe schon davon gehört«, erwiderte Julius. »Aber nun will ich dir auch etwas sagen, was du sicher noch nicht weißt. Es war nämlich die Rede davon, daß ich nach Frankreich gehen sollte.«

»Nein, davon habe ich nichts gewußt. Hast du wirklich dieselbe Einladung erhalten wie ich?«

»Ja, das habe ich.«

»Weshalb hast du sie denn nicht angenommen?«

»Mein Vater war dagegen, und so mußte natürlich auch ich nein sagten. – Aber bestimmt werde ich es später bereuen«, fügte er traurig hinzu.

Ich sprang vom Pferd. Sofort kletterten vier, fünf kleine Reiter auf seinen Rücken. Das kleine Pony ließ es ruhig geschehen.

Julius bat nun die anderen, sie möchten uns allein lassen. Wir gingen eine kleine Strecke schweigend. Dann begann ich zu reden und fragte:

»Weshalb will dein Vater dich eigentlich nicht gehen lassen?«

»Er glaubt nicht, daß ich dann glücklich sein würde.«

»Genauso wie Thorhalls Mutter!«

»Ja, das habe ich auch gehört.«

»Sonderbar! Meine Mutter scheint keine Furcht zu haben.«

»Nonni, ich glaube, sie hat recht. Du kannst von Glück sprechen. Aber du verstehst sicher, daß ich nicht anders handeln konnte. Mein Vater ließ mir zwar volle Freiheit; doch gegen seinen ausdrücklichen Wunsch wollte ich nicht reisen.«

»Was hält deinen Vater denn ab?«

»Ja, ich weiß nicht recht, wie ich das ausdrücken soll. Er fürchtet, daß die Reise zu gefährlich für mich sei.«

»Das begreife ich nicht.«

»Ich auch nicht, Nonni. Aber es ist nun mal so.«

»Was meint er eigentlich damit?«

»Ich vermute, es hängt unter anderem mit der Religion zusammen. Du weißt ja, es gibt draußen in der großen Welt so viele Menschen, die keinen Glauben haben und die über jede Religion spotten.«

»Das hat meine Mutter mir auch schon gesagt. Aber sie hat hinzugefügt, daß es überall auch viele gute Menschen gibt, und zu solchen soll ich reisen.«

»Das weiß ich, Nonni. Und gerade der französische Edelmann, der uns zu sich einlädt, soll ein außerordentlich guter Mann sein. Aber trotzdem ist mein Vater nun einmal sehr besorgt.«

Inzwischen waren wir zum Eingangstor des Hofes gekommen, und Julius lief ins Haus, um seinen Vater zu rufen.

Gleich darauf kam Herr Thorson, grüßte freundlich und bat mich, ihm in sein Zimmer zu folgen.

Ich hatte vor, ihm sofort zu erzählen, weshalb ich gekommen sei. Aber nach dem, was ich eben von Julius gehört hatte, wußte ich nicht recht, wie ich anfangen sollte. Doch half er mir bald aus meiner Verlegenheit.

»Den Grund deines Besuches kann ich wohl erraten«, begann er, »du willst gewiß Abschied nehmen.«

»Ja, Herr Thorson, und Ihnen dafür danken, daß Sie immer so freundlich zu mir waren.«

»Das laß schon gut sein. Du willst also nach Frankreich reisen. Wann wirst du uns denn verlassen?«

»In einigen Tagen mit dem kleinen Schiff von Rönne, das nach Kopenhagen fährt.«

»Du meinst wohl das kleine Handelsschiff ›Valdemar‹, mit Kapitän Foß? – Das ist allerdings ein sehr kleines Schiff, ein Einmaster mit drei Matrosen.«

»Und einem Jungen«, fügte ich bei.

»Ja, ja; aber der zählt nicht mit. Er wird wohl Koch sein und ist nicht viel älter als du.«

»Ja, aber dann sind noch der Kapitän und der Steuermann da.«

»Ohne Zweifel! Es wäre schlimm, wenn die fehlten. – Du willst also nach Frankreich reisen. Hast du wirklich große Lust dazu?«

»Ja, Herr Thorson.«

»Nun, das kann ich mir vorstellen. Du bist noch ein Kind und denkst nur an das Verlockende einer solchen Reise. Du siehst eben das Leben noch mehr von der angenehmen Seite. Aber denkst du auch daran, daß es draußen in der Welt Gefahren gibt?«

»Ja, ich habe schon davon gehört und auch in Büchern davon gelesen. Aber ich habe mir fest vorgenommen, immer gut zu sein.«

»Das ist ein guter Vorsatz, aber du bist noch zu jung, um ihn halten zu können, wenn du ganz allein dastehst. – Ich fürchte sehr für dich, mein kleiner Nonni ...«

Ich wurde verlegen und wußte nicht, was ich sagen sollte.

Doch nach einer kleinen Pause fiel mir folgende Antwort ein:

»Ich glaube nicht, daß Sie sich um mich sorgen müssen. Meine Mutter hat gesagt, daß der Edelmann, zu dem ich reise, ein sehr guter und frommer Mann ist.«

»Ja, aber einen Vater und eine Mutter wird er kaum ersetzen können.«

»Die Mutter hat mir auch noch gesagt, daß Gott ebensogut für mich in Frankreich sorgen wird wie hier.«

»Ja, das ist gewiß wahr. Aber dann mußt du selbst dich an Gott halten und täglich zu ihm beten. – Ob du das auch tun wirst, wenn die Mutter nicht mehr da ist, um dich daran zu erinnern?«

»Ja, Herr Thorson, ich werde es tun. Ich habe es mir fest vorgenommen. Übrigens hat mir die Mutter versprochen, mir oft zu schreiben.«

»Schon recht, das sind gewiß gute Vorsätze. Behalte sie nur immer! Aber eine so weite Reise ist doch eine sehr gewagte Sache ...«

Doch ließ ich mich nicht weiter einschüchtern.

Es wurden mir nun einige Erfrischungen angeboten, die ich mit Julius zusammen verspeiste.

Dann nahm ich Abschied von Herrn Thorson und versprach ihm, die Ermahnungen, die er mir gegeben hatte, nicht zu vergessen.

Wie es in Island üblich ist, küßte er mich und drückte mir nebenbei still einige Taler in die Hand. Dabei sagte er mir leise ins Ohr: »Leg das zu deinem Taschengeld! Und nun lebe wohl! Gott sei mit dir!«

Ich war ganz gerührt von dieser Freundlichkeit.

Dann holte ich mein Pony, und Julius begleitete mich noch ein Stück den Berg hinab.

Wir waren beide sehr traurig. Keiner sprach ein Wort. Endlich trennten wir uns mit Tränen in den Augen.

Einige Tage später rief meine Mutter mich wieder und sagte: »Heute wollen wir beide zusammen zu Pastor Magnusson reiten. Du weißt, er ist ein besonderer Freund von uns.«

»Oh, das ist schön, Mutter! Das ist mal eine weite Reise, und außerdem kann ich Pastor Magnusson gut leiden.«

»Das weiß ich, mein Junge, ich habe aber noch einen besonderen Grund, gerade ihn zu besuchen«, fuhr die Mutter fort. »Ich möchte nämlich seine Meinung darüber hören, was er von deinem Aufenthalt in Frankreich hält.«

Eine Stunde später waren wir unterwegs. Ich ritt einen Goldfuchs, die Mutter saß auf einem stahlgrauen Schimmel.