Die Flucht der Jüdin Bertha Amend - Günter Thumm - E-Book

Die Flucht der Jüdin Bertha Amend E-Book

Günter Thumm

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Beschreibung

Im Februar 1945 erhält die Jüdin Bertha Amend den Befehl, sich zu einem geschlossenen Arbeitseinsatz zu melden. Ihr ist sofort bewusst, dass dieser Einsatz im Vernichtungslager endet. Noch in der Nacht packt sie das Nötigste zusammen und flieht. Ihre Flucht wird zum Albtraum: Untertauchen, sich verstecken, um nicht entdeckt zu werden, bringt sie an ihre Grenzen.

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Eine Dokumentation nach den Aufzeichnungen von B. Amend

Bearbeitet und niedergeschrieben von

Günter Thumm

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

21. Februar 1947

Vorladung

Wichtiges Attest

Die ungewisse Reise beginnt

Wieder unterwegs

Wölfe

Neue Papiere

Pompelhof

Die Befreiung

Heimkommen

Denver, Colorado, 10. November 1952

Nachwort

Vorwort

›Literatur und Zeitgeschichte ‒ Schreiben nach Akteneinsicht‹, war das Thema eines gemeinsamen Projekts des Staatsarchivs Ludwigsburg und der ›Schreibwerkstatt‹ unter der Leitung der Schriftstellerin (P.E.N.) und Herausgeberin Ursula Jetter.

Dr. Peter Müller, Leiter des Staatsarchivs in Ludwigsburg, gab den Anreiz, unter über 2 Millionen Akten die passende Geschichte zu finden und das Archivierte in einer Erzählung zum Leben zu erwecken.

War es Glück? Zufall? ... Mithilfe der Archivare fand ich unter dem Aktenzeichen ›EL350 I Bü 26090‹ die Aufzeichnungen der Jüdin Bertha Amend. Sie hatte ihre dreimonatige Flucht im Jahre 1945 genau notiert, um dieses Dokument als Beweis bei einem Wiedergutmachungsantrag vor-zu- legen. Diese einmaligen Aufzeichnungen sind Grundlage für meine niedergeschriebene Geschichte.

Im Mittelpunkt steht eine mutige Frau, die ihre Familie verließ, um sie vor Repressalien zu schützen und die sich selbst, unter größtem Einsatz ihres Lebens, vor den NS-Behörden und ihren Helfern versteckte.

Die Schauplätze der Handlungen – direkt hier im nahen Umfeld: Ludwigsburg, Bietigheim, Karlsruhe, Heilbronn, Crailsheim und Unterrot bei Aalen – rufen heute noch ins Bewusstsein, nicht zu vergessen, was damals 1945 in Baden-Württemberg Unmenschliches geschah. Aber nicht nur Baden-Württemberg, sondern ganz Deutschland war von diesem menschenverachtenden Virus angesteckt.

Einen besonderen herzlichen Dank möchte ich meinem Cousin Wolfgang Albertini aus London aussprechen. Durch seine zusätzlichen Recherchen in den deutschen und amerikanischen Archiven wurden noch weitere Erkenntnisse über das Leben von Bertha Amend gewonnen. So konnte die Reise nach Amerika und ihr neues Leben in dem freien Land nachvollzogen und beschrieben werden.

Günter Thumm im März 2022

21. Februar 1947

Wir sind schon früh wach. Es ist kurz nach 6 Uhr. Unruhe im Camp. Alle wollen weiter nach Bremerhaven an diesem Februarmorgen, denn heute beginnt die Reise in ein freies, politisch liberales Land – nach Amerika. Nach einer ersten Aufnahme im DPCamp1 Stuttgart in der oberen Reinsburgstraße, sind wir nach einer anstrengenden Reise gestern hier im Camp Belsen (Hohne)2 nahe Celle angekommen. Unser Schiff soll um 16 Uhr Bremerhaven verlassen, zu der großen Reise ins freie Amerika. Vor zwei Monaten hatte ich die geplante Emigration über die Hebrew Immigration Aid Society (HIAS)3 beantragt, eine Organisation die jüdischen Verfolgten bei der Immigration in die USA hilft. Über diese Agentur erhielten wir die Visa und die Schiffskarten für das Touristenschiff Marine Marlin. Durch eine Exekutivverordnung des amerikanischen Präsidenten Truman (Truman Directive)4 kann ich als verfolgte Jüdin mit meiner Tochter mit diesem Schiff reisen, das direkt nach Manhattan fährt.

Ich hatte kaum geschlafen heute Nacht. Es war auch nicht möglich bei den vielen Leuten im Schlafraum.

Schlafsaal Camp Hohne

Großer Ansturm vor dem Frauenwaschraum im Camp. Ich gehe zuerst dorthin, mache mich frisch. Meine Tochter wartet bei unserem Gepäck und ist später, wenn ich zurück bin, an der Reihe. Danach kleines Frühstück in der großen Halle: Tee, Toastbrot, etwas Butter, je eine Scheibe Corned Beef und Käse. Für die Weiterreise erhalten wir noch ein Lunchpaket, das ich mit der alten Feldflasche, gefüllt mit frischem Wasser, in den Rucksack stecke. Die Busse der amerikanischen Armee bringen uns zum Bahnhof in Celle. Nach kurzer Fahrt kommen wir dort gegen 9 Uhr an. An der Bahnrampe steht der Zug nach Bremerhaven bereits unter Dampf. Die Menschen drängeln zu den Plätzen in den Abteilen. Meine Tochter hat schnell zwei Sitze belegt, verstaut unser Gepäck. Dem noch von der Reichsbahn übrig gebliebenen alten Wagen sieht man die Jahre an, zerschlissene Sitzepolster, an der Decke provisorisch geflickte Löcher – Einschüsse von Luftangriffen. Das alles nimmt uns nicht den Mut nach vorne zu schauen in eine glückliche Zukunft. Als ich sitze, atme ich durch. Ich friere. Zittere leicht. Zu groß war die Aufregung in den letzten Tagen. Als ich zu meiner Tochter schaue, sehe ich in ein zufriedenes Gesicht. Sie lächelt. Beruhigt ziehe ich den Schal höher ins Gesicht und schließe meine Augen.

***

Meine Gedanken gehen zurück zu unserem Haus in Stuttgart, Landhausstraße, wo wir mit weiteren sieben Familien in dem großen Patrizierhaus aus der Jugendstilzeit wohnten. Viele der Mitbewohner waren Bekannte von meinem Mann und von der jüdischen Gemeinde in Stuttgart. Mit jedem Tag nahmen die Luftangriffe immer mehr zu.

Noch wurde unser Gebiet, östlich des Hauptbahnhofs, von den Bomben nicht getroffen. Dann in der Nacht vom 26. Juli 1944, wieder einmal Luftschutzalarm – und das so spät in der Nacht. Ich hatte schon geschlafen und ging ins Zimmer meiner Tochter, um sie zu wecken. Sie war aber schon wach und zog sich schnell warme Sachen über. Mein Mann hatte den kleinen Koffer mit den wichtigsten Unterlagen gegriffen und trieb uns zur Eile an. Unverzüglich suchten wir in unserem Haus, den Schutzraum im Keller auf. Das mehrstöckige Gebäude aus der Jugendstilzeit mit dicken Mauern bot uns sicheren Schutz. Unsere Gruppe – meist Frauen, Kinder und ältere Männer – traf sich heute schon zum zweiten Mal. Gegen drei Uhr am Nachmittag hatte es bereits den ersten Alarm gegeben. Nun war es kurz vor 2 Uhr und wir hörten die ersten Bombeneinschläge ganz in unserer Nähe. Doch diesmal schien der Angriff heftiger zu sein als sonst. Zusammengekauert und zitternd vor Angst saßen wir da, ich hatte die Hände zu einem Gebet gefaltet. Die Mütter und Omas umarmten die Kinder, hielten sie eng umschlungen, wollten ihnen Schutz gewähren. Nach jeder Detonation rieselte der Putz von der Decke und Staub legte sich auf uns. Es war eine Stimmung, als wäre unser Ende gekommen. Die Kinder weinten, wurden von den Müttern noch fester gedrückt, um ihnen so ein wenig die Angst zu nehmen. Ich biss mir auf die Lippen, um mich durch den Schmerz von dem Geschehen abzulenken. Auch sah ich den entsetzten Ausdruck meiner Tochter, ihre weit aufgerissenen Augen, ihre entsetzliche Angst, ihr Zittern. Plötzlich ein fürchterlicher Schlag über uns. Die Wände vibrierten, Staub bedeckte uns. Wir dachten über uns sei die Hölle ausgebrochen. Die schwere Luftschutztüre sprang vom Luftdruck aus den Halterungen und hing nur noch mit einem Scharnier oben im Rahmen. Wir wussten sofort, dass unser Haus getroffen worden war. Unfähig, uns zu bewegen, saßen wir mit den Händen über dem Kopf da und warteten das weitere Geschehen ab. Seltsam, es war still. Ganz plötzlich still. Unheimlich still. Fühlte sich so der Tod an? Doch langsam bewegten wir uns, husteten, klopften uns den Staub von den Kleidern, ein Reflex, als ob das jetzt so wichtig wäre. Über eine halbe Stunde hatte der Angriff gedauert. Einer der Männer wagte sich zum Ausgang, drückte die Tür auf. Über Geröll und Schutt stieg er nach oben und prüfte die Lage. Wir folgten. Es war nicht zu beschreiben, von unserem Haus standen nur noch die Außenwände. Unsere Wohnungen mitsamt den Einrichtungen waren verschwunden, von der Druckwelle wie Streichhölzer zerlegt. Ausradiert.

Beißender Rauch schlug uns entgegen, die ganze Umgebung brannte lichterloh. Beim Einatmen der heißen Luft schmerzten unsere Lungen und die Augen brannten. Wir