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Erik, ein rüstiger Rentner und Witwer, um die 70, will es noch einmal wissen, als er Julia, der jungen Studentin von der Filmakademie begegnet und von der hübschen Frau fasziniert ist. Sie kommen ins Gespräch und er erfährt, dass Julia an einem Filmprojekt arbeitet, bei dem es um Altersarmut geht. Erik wird für eine Rolle engagiert und hinterlässt dabei einen souveränen Eindruck. Beide merken bald, dass zwischen ihnen eine besondere Beziehung besteht, eine nicht erklärbare Seelenverwandtschaft. Nach einem gemeinsamen Konzertbesuch, fordert Julia Erik auf, mehr von sich zu erzählen. Sie erfährt von seinem schicksalhaften Leben, und dass er viel Zeit in Schweden verbrachte, wo seine Cousins ein Sommerhaus besitzen. Schnell spricht sich herum, dass sich zwischen Erik und Julia eine Beziehung entwickelt, die aber von den Außenstehenden als Liebesbeziehung verstanden wird und dies nicht tolerierbar sei. Bei einem erneuten Besuch in Schweden zeigt Erik den Trailer aus dem Filmprojekt seinen Vettern, und sein Cousin Lars will in Julia, das Gesicht der Urgroßmutter seiner Familie erkannt haben. Kann das sein? Gibt es eine wirkliche Verwandtschaft zwischen Julia Hansen und Erik Hellström?
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Seitenzahl: 141
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Lageplan
Für meine Freunde ... und zum Gedenken an Traudel und Ulla
Die Personen dieser Erzählung und deren Handlungen sind frei erfunden.
Jede Ähnlichkeit zum Realen ist rein zufällig und vom Autor nicht beabsichtigt.
Einige Gedanken zu der Erzählung …
Hierbei geht es in erste Linie um folgende Aspekte:
Die mit dem Älterwerden zunehmenden unterschiedlichen Ansichten und Bedürfnisse zwischen »ALT und JUNG« machen es manchmal schwer, noch gemeinsame Interessen zu finden. So kann eine emotionale Spannung oder auch Enttäuschungen entstehen, wenn die »Beziehungskluft« zwischen den Generationen zu groß ist, und...
wenn das Aufeinanderzugehen fehlt,
wenn aneinander vorbeigeredet wird,
wenn dem anderen nicht zugehört wird,
wenn das gegenseitige Wahrnehmen nicht da ist,
wenn das Wertschätzen verloren gegangen ist, u. v.m.
Die Geschichte versucht mit Hilfe einer tiefen inneren Vorstellung ‒ einer Vision – in dem Gegenüber etwas Besonderes zu sehen und das Interesse an der anderen Person zu wecken.
Ich nannte es ›Seelenverwandtschaft‹.
Günter Thumm
Im Februar 2015
Vorwort
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Nachwort
Es war ihm durchaus bewusst, mindestens 80% seines Lebens hatte Erik hinter sich, um dies so nüchtern in Prozentzahlen auszudrücken. Er, über siebzig, Rentner und Witwer, hatte sich an seine Verhältnisse angepasst. Sein Umfeld, seine Tochter, der Enkel, die Nachbarn ‒ alles bestens, wie man so schön sagt. In seinem Reihenhaus wohnt er alleine, ... nein, ... alleine ist er nicht, den Kontakt zur Familie, zu Freunden, die ehrenamtlichen Tätigkeiten strukturierten seinen Tag.
Vielleicht fühlte er sich manchmal etwas einsam.
Dann trifft er Julia, eine Studentin der Filmakademie. Er ist begeistert von ihrer Erscheinung, von ihrer Fröhlichkeit und ihrer Frische. Ein Geben und Nehmen zwischen ihnen entsteht. Sie lässt ihn teilhaben an ihrem jungen Leben, reißt ihn aus seinen Tagträumen heraus und er, als der väterliche Freund, der Erfahrene, der ‒ der zuhören kann und von ihr die größte Wertschätzung erfährt. ...
In dem kleinen Café in der Fußgängerzone war er öfters anzutreffen. Er liebte es unter Leuten zu sein, trank seine Tasse Kaffee schwarz und süß. Die Zeitung hielt er kurz gesenkt und seine Augen kreisten durch den Raum. Junge Leute, Studenten von der nahen Filmakademie, verliebte Pärchen, die sich gegenübersaßen, ältere Menschen wie er suchten hier Zerstreuung und ein geeignetes Refugium, um ihren Alltag kurz zu vergessen. Er schaute in die Runde und dachte, dass bestimmt jeder so seine Geschichte hat. Was steckt hinter den Gesichtern? In ihren Köpfen? Freude oder Leid? ‒ Es war nicht auszumachen. Auch er hatte seine Geschichte, seine Bedürfnisse, seine Wünsche ‒ nur wer wollte dies schon wissen.
Das Bistro, fast auf den letzten Platz gefüllt, war so ein Reservoir gehüteter, nicht ausgesprochener Geheimnisse und Wünsche. Wer gesehen werden wollte und darauf Wert legte, war hier. Er selbst suchte nur etwas Entspannung, trank Kaffee, las seine Zeitung.
Wieder in das Journal vertieft, merkte er zuerst nicht, dass eine junge Frau an seinen Tisch trat und nach dem noch freien Platz fragte.
»I st der Platz noch frei?«, kam als Frage.
Er bestätigte die Frage mit ja, ohne aufzuschauen. Nach einiger Zeit legte er die Zeitung weg, um bei der Bedienung einen Kaffee nachzubestellen. Sein Blick fiel dann auf die junge Frau, die jetzt ihm gegenübersaß.
Es war wie aus heiterem Himmel, ein Leuchten, ein Strahlen, ja, er konnte es gar nicht beschreiben, mit welcher Magie dieses Gesicht ihm entgegensah. So ein Ebenmaß an Symmetrie, perfekt ausgeglichenen Gesichtszügen und strahlenden Augen hatte er noch nie gesehen. Richtig betroffen, wandte er schnell den Blick ab, spürte seine Verlegenheit, wurde unruhig und erstaunt, dass diese Situation ihn völlig durcheinander brachte. Gut, dass jetzt die Bedienung mit der neuen Tasse Kaffee kam und den augenblicklichen Zustand entschärfte. Mit aller Energie und trotzdem völlig überwältigt, versuchte er seine innerliche Ruhe wieder zu finden, lehnte sich zurück und atmete kräftig durch, mehr nach innen, um nach außen seine Empfindungen nicht preiszugeben. Nachdem er sich etwas gefasst hatte, überlegte er, was ihn eigentlich so aus dem Tritt brachte.
Er, ein erwachsener Mann mit über siebzig, was war mit ihm los? Wieder unterbrach die Bedienung die Situation, servierte der Tischnachbarin einen Latte macchiato.
Durch diese Gelegenheit konnte er nochmals kurz aufblicken, ohne voyeuristisch zu wirken, und dieses Strahlen der blauen Augen wurde erneut zum Focus. Das ›Wasserblau‹ der Iris, durchsetzt mit feinen dunkelblauen Pigmentfasern, präsentierte sich im Lichtspiel des Deckenstrahlers wie ein in Facetten geschliffener Aquamarin.
Es war, als sehe er durch die Augen hindurch, entdecke auf dem Hintergrund eine Sommerwiese mit bunten Blumen und darüber den wolkenlosen, blauen Himmel.
Sie bemerkte sein intensives Betrachten und er befürchtete, dass es ihr unangenehm erschien und sie sich einen anderen Platz suchen würde. Dem aber war nicht so, stattdessen suchte sie in ihrer Umhängetasche nach dem Smartphone, legte es auf den Tisch, trank von dem Milchkaffee und konterte mit Blicken. Für ihn galt nun, dies auszuhalten und zu widerstehen.
Hier nun, fühlte es sich wie ein Spiel an, in dem sie sehr geübt und sicher schien, keine Hemmungen zeigte, warum sollte sie auch. ...
Er gab als Erster auf, griff zur Zeitung, schwächte dadurch seine Verlegenheit ab, vertiefte sich scheinbar in den Text, blieb jedoch hellwach. Die etwas laute Musik aus den Boxen ließ keine Unterhaltung im Raum zu, auch nicht das Telefonieren. So stand sie auf, nahm ihr Handy, um vor der Tür das Gespräch zu führen. Doch, wie sie sich erhob ‒ nicht normal, nein, es waren gleitende Bewegungen, ein Insichdrehen ohne abrupte Unterbrechungen, ähnlich einer Pflanze, die sich langsam dem Licht emporreckt. Die Schritte zur Tür erfolgten mehr schwebend als schreitend. Sie ging, ohne sich umzusehen. Er sah die körperbetonte, blaue Jeans, das knappe, grünblaue Oberteil, die langen blonden Haare, die sie offen trug. Sie spürte seine Blicke auf dem Rücken, war es aber gewöhnt, dass ihr Männer nachschauten.
Während sie draußen telefonierte, dachte er, es war mehr als nur das hübsche Gesicht, was ihn so faszinierte, so fesselte. Irgendetwas ging von ihr aus, nicht nur von ihrem Äußeren, es kam auch von innen. Er dachte an ›Seelenverwandtschaft‹, dieses Wort fiel ihm ein, was immer es auch bedeuten möge. Ich werde etwas sagen müssen, ... ein Gespräch anfangen, einen Kontakt herstellen, sonst ist die Gelegenheit im Nichts verflogen, dann ist sie weg, vielleicht für immer.
Aber wie? – ohne dass es zu aufdringlich wirkte.
Sie kam zurück. Legte das Handy auf den Tisch, schaute ihn an, lächelte. Nun war er dran, seine einzige und letzte Chance etwas zu tun. Er zögerte, als in diesem Moment ihr Smartphone klingelte.
»Rückruf«, sagte sie über den Tisch und übernahm das Gespräch.
Sie presste das Handy an das rechte Ohr und mit der linken Hand hielt sie sich das andere zu. »Ja, ... Julia am Telefon, ich höre Sie, ... ja, ... Pause, ... könnte ich einrichten, ... bis dann am Mittwoch im Besprechungszimmer um 16 Uhr.«
Jetzt kam sein Einsatz.
»Wichtiges Gespräch?«, fragte er über den Tisch.
»Ja, mein Professor von der Filmakademie ... unser Team möchte sich treffen, um ein neues Projekt zu besprechen. Es geht um Altersarmut und um die Lebensbedingungen von älteren Menschen, eine Dokumentation als Film«, gab sie ihm bereitwillig als Antwort.
Also ... das war nun Julia, die Studentin von der Filmakademie, dachte er. Schon mal gut ihren Namen zu wissen. Julia ‒ das passt zu ihr, bestätigte er gedanklich.
So, so, einen Film über ältere Menschen ... ältere Menschen so wie ich?«, fragte er vorsichtig.
»Ja, wir stellen gerade ein Team zusammen, das ältere Menschen befragen soll und was gefragt werden soll, um dies dann szenisch umzusetzen. Ein Drehbuch muss geschrieben werden, die passenden Personen gefunden werden, die sich trauen, vor der Kamera zu sprechen, ihre Meinung zu sagen«, erklärte Julia.
Es kam euphorisch und überzeugend über ihre Lippen und er hätte ihr stundenlang zuhören können.
Er war begeistert, mit welchem Temperament und Engagement sie die Aufgaben wahrnahm, und er beneidete ihre Jugend, ihre Frische und ihren Elan.
»Mit dem Interview können Sie gleich bei mir beginnen«, schmunzelte er, »ich heiße übrigens Hellström.«
»Freut mich ... ich bin Julia.«
»Habe ich schon gehört, während des Gesprächs vorhin«, antwortete er.
»Aber mit dem Interview müssen Sie noch etwas warten, bis das Konzept zusammengestellt ist. Ich denke, in drei Wochen sind wir so weit.
Es ist nun meine Aufgabe, vier oder fünf ältere Menschen zu suchen, die bereit sind, unsere Fragen zu beantworten, und wenn Sie mitmachen, habe ich schon den ersten Kandidaten. Wir treffen uns dann alle zusammen in drei Wochen in der Filmakademie, um das Interview einmal durchzuspielen. Ich möchte mit Ihnen in Kontakt bleiben, Sie anrufen, wenn es so weit ist. Können Sie mir noch Ihre Handynummer geben?«
»Ja, natürlich, hier meine Visitenkarte, da steht alles drauf.«
»Oh, ... vielen Dank, ... ah, ... ›Erik Hellström‹ heißen Sie, das klingt schwedisch!«
»Stimmt, mein Großvater stammt aus Schweden und meine Eltern nannten mich nach dem Großvater Erik«, fügte er hinzu.
»Gut fürs Erste«, bestätigte sie, »ich muss los, noch schnell bezahlen, mach ich am Tresen bei der Bedienung, bis dann ... wir sehen uns.«
Julia schwebte davon.
Er lehnte sich zurück und atmete tief durch ... was für ein Wirbelwind.
Zu Hause angekommen, ging ihm einiges durch den Kopf. Was für ein Tag? Nichts ahnend trifft er ein bildhübsches Mädchen, ja, ... junge Frau, ... die jünger ist als seine Tochter, bekommt eine Statistenrolle in einem Film angeboten und hat von ihr nicht einmal eine Handynummer, er weiß nur, dass ihr Name Julia ist und sie an der Filmakademie studiert. Abgesehen von den kurzen Dialogen weiß er rein gar nichts von ihr und doch hat er den Eindruck, dass auf der Gefühlsebene von ihnen beiden ein Gleichklang herrscht, eine Verbundenheit, eine ›Seelenverwandtschaft‹ ‒ gibt es das? Dieses Phänomen, nach Wikipedia erklärt, ist:
›Eine Verbindung zwischen zwei Personen, die sich durch eine tiefe, als naturgegeben erscheinende Wesensähnlichkeit verbunden fühlen, was sich in Liebe, Intimität, Sexualität oder Spiritualität äußern kann.‹
Was steckt hinter dieser rätselhaften Begebenheit? Zwei Fremde begegnen sich ‒ und erkennen auf Anhieb in dem anderen einen ›Seelenverwandten‹. Erik erinnerte sich an Begegnungen, wo er bei wildfremden Menschen dachte, diesem Menschen bist du schon irgendeinmal begegnet.
Erik möchte es dabei belassen und versuchte auf andere Gedanken zu kommen. Weg von dieser Traumwelt, Vorgaukeln falscher Tatsachen, Unwirklichkeiten. Er möchte seinen gewohnten Weg gehen und versuchte sein Leben zu ordnen und zu meistern.
Abends kann er nicht einschlafen, wälzt sich hin und her. »Julia«, ... flüsterte er vor sich hin. Was lief ihm da heute über den Weg? Ist dies eine Vorsehung? Ist es dieser helle Streifen am Horizont? Das Ende einer langen schicksalsbeladenen Phase. Seine Ehefrau Annett gestorben und danach seine neue Lebensgefährtin, die ihr nach zehn Jahren folgte.
Er traute sich nicht mehr, irgendeiner Frau nahe zu sein, sie zu lieben, weil er glaubte, sie wieder zu verlieren.
Mit Julia war es anders. Er spürte und fühlte es. Sie ist nicht die Frau für seine suchende, nochmalige späte Liebe. Wie auch ‒ es lagen über 40 Jahre zwischen ihnen. Nein ... von Julia ging etwas Magisches aus. Sie war Nahrung für die Seele. Ein Aufputschmittel gegen Langeweile, Trägheit, Trübsinn und vielleicht für noch nicht geführte Dialoge zweier Menschen, die sich verstanden und ergänzten.
Doch im nächsten Moment dachte Erik, dass seine Vorstellungen absurd waren, zu einseitig gedacht, entsprangen aus einem verwirrten Gehirn, ohne dass das Gegenüber etwas davon wusste oder ahnte. Entwickelte er sich zum ›Stalker‹? Einsame Menschen bilden sich manchmal etwas ein.
Was war das bei ihm?
Trotz dieser schrecklichen Gedanken, überfiel ihn der langersehnte Schlaf.
Er hatte einen wunderbaren Traum:
Er sah eine Sommerwiese mit Margeriten, Glockenblumen, rotem Klee und blauem Wiesensalbei. Es duftete herrlich nach Frische und Natur. Er legte sich ins Gras und schloss die Augen. Nach einiger Zeit spürte er einen Schatten über seinem Gesicht. Als er die Augen öffnete, blickten ihn zwei wasserblaue Augen an.
Wie von einem Blitz getroffen, saß er hellwach im Bett. »Nein, nein – nicht auch noch in den Träumen«, murmelte er panisch vor sich hin.
Mittwochnachmittag ‒ Verabredung mit dem Professor. Julia und die anderen Kommilitonen warteten im Meetingraum. Sie überlegten, wie am besten vorzugehen wäre. Wichtige Punkte notierten sie auf der Flipchart, zum Beispiel, wer macht was, wer organisiert was und festlegen von:
Drehbuch für den Dokumentarfilm ‒ Fragetexte ‒ Regie für den Dokumentarfilm ‒ Ton – Bildgestaltung – Kameraführung – Schnitt ‒ Montage.
Julia, die vor Beginn des Studiums, ein Volontariat bei einer Zeitung absolvierte, sollte sich um das Drehbuch und die Fragetexte kümmern. Den anderen Studenten wurden die restlichen Aufgaben übertragen. Als der Professor kam, erklärte er nochmals die Wichtigkeit des Projekts, dass es sich hier um eine Test-Vergabe an die Akademie vom Funkhaus der Landeshauptstadt handle und dass man eine gut recherchierte Dokumentation erwarte. Dementsprechend sollte dann der Beitrag vom Sender übernommen und eventuell ausgestrahlt werden. Auch würde der Sender, was nicht unerheblich wäre, sich an der Finanzierung des Projekts beteiligen.
Er wandte sich zu den bereits unternommenen Überlegungen an der Flipchart und war hochzufrieden. Zufrieden ‒ mit dem Engagement der Gruppe, mit ihren Darstellungen und Aufzeichnungen. Doch bat er, noch einmal den Sachverhalt zu recherchieren, wie sich die Renten der deutschen Frauen und Männer in Ost und West zusammensetzten. Die Daten wären die Grundlage und der Schlüssel für das Thema
Sie gingen zusammen nochmals alle Fakten und Details durch und er machte den Vorschlag, Julia zur Projektleiterin der Gruppe zu ernennen. Er begründete dies so, Julia Hansen braucht für ihren Examensabschluss, der bald sein würde, noch den Nachweis, dass sie genügend Wissen und Praxis als Assistentin eines Regieleiters habe.
Daraufhin herrschte im Raum absolute Stille. Sicher ‒ gab es da noch mehr Anwärter auf die Projektleitung. Marc, zum Beispiel, der im gleichen Semester wie Julia war, hatte sich dies so insgeheim ausgedacht und gab seiner Enttäuschung freien Lauf. Er würde sich genau so eignen wie Julia und außerdem müsse auch er seinen Abschluss untermauern. Der Professor betonte, Julia Hansen sei nur ein Vorschlag und wir wollen demokratisch vorgehen. Er bat um Handzeichen, wer ist für Julia? Vier Hände gingen hoch, und wer ist für Marc? Drei Hände wurden gezeigt. Ein knapper Sieg für Julia und sie wusste, dass die anderen es ihr nicht leichtmachen würden, vor allen Dingen, Marc nicht.
Doch allen war das Ziel bewusst, ein Projekt abzuwickeln, die Anerkennung des Auftraggebers zu erhalten und vielleicht auch etwas für das Image der Akademie und für sich selbst zu tun.
***
Als Julia in ihrem kleinen gemieteten Zimmer ankam, war sie total erschöpft, streifte ihre Schuhe ab und legte sich so mit den Kleidern auf das Bett.
Es war bereits dunkel, als sie wieder aufwachte. Sie dachte über das Gewesene nach: ihre Wahl zur Projektleiterin der Gruppe und vor einigen Tagen das Treffen im Bistro mit Erik Hellström. Sie fand es seltsam, dieses genaue Fixieren von Hellström, spürte aber, dass es mehr war wie sonst das Anschauen von ihren männlichen Kommilitonen. Bei Hellström hatte sie nicht das Gefühl, als ziehe er sie mit Blicken aus. Er schaute sie interessiert, verbunden und freundschaftlich an, so wie ein guter Bekannter. Er müsste an die siebzig sein, so schätzte sie sein Alter, wirkte aber nicht wie ein Großvater, gebrechlich, sondern seine Augen strahlten hinter der Brille etwas Frisches und Waches aus. Auch seine Bewegungen, nicht schwerfällig, sondern mit guter Körperbeherrschung. Die graumelierten Haare, der Oberlippenbart gaben seinem Gesicht etwas Verbindliches, ja Vertrauensvolles. Vielleicht die richtige Person, um bei der Dokumentation die Seriosität zu unterstreichen. Doch es kam noch darauf an, wie er die gestellten Fragen beantwortete. Sie schaute die Visitenkarte genauer an, die sie in den Händen hielt. Eine einfach gestaltete Karte mit einem Regenbogen drauf, in klarer Schrift die Adresse, Festnetz- und Handynummer. Er wohnte nördlich von ihrem Wohnort in einer kleinen Gemeinde, die sie näher nicht kannte. Wohnt er dort mit seiner Familie? Ist er verheiratet? Wieso sitzt er alleine nachmittags im Café? Wer ist er? Alles Fragen, die ihr durch den Kopf gingen. Fast war sie gehalten, seine Nummer zu wählen, um ihn das alles zu fragen. Doch dazu war es aber noch zu früh, um sich zu melden.