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DIE FRAU AUF SYLT
Hanna verschwand vor zehn Monaten spurlos, nachdem sie ein gewaltiges Vermögen geerbt hatte. Während ihre Freunde und Ex-Freund Thorben noch heute der Meinung sind, sie genieße ein Leben in Saus und Braus und sie wolle nicht gefunden werden, ist ihre beste Freundin Marie sich sicher: Hanna ist ermordet worden. Doch nicht einmal die Polizei schenkt ihr Glauben.
Gerade als Marie hofft, endlich mit der Sache abschließen zu können, traut sie ihren Augen kaum. In einer Zeitung entdeckt sie ein Bild von Hanna in Gesellschaft eines fremden Mannes in einem Café auf Sylt. Der Dekoration nach muss es um die Weihnachtszeit entstanden sein – zwei Monate nach Hannas Verschwinden.
Sofort bricht Marie auf, um dem Geheimnis auf die Spur zu gehen. Schnell findet sie Freunde, die sie bei ihrer Suche unterstützen. Dabei lernt sie auch David kennen, einen Wissenschaftler, in den sie sich sogleich verliebt. Während zunächst alles den Anschein hat, als könnte Marie trotz der Sorge um Hanna glücklich werden, ahnt sie noch nicht, in welcher Gefahr sie tatsächlich schwebt und was für ein Netz aus Lügen und Intrigen Hannas Verschwinden umgibt.
GEHEIMNISSE STERBEN NICHT
Jana und Felix’ Ehe ist am Ende. Nach dem Unfalltod ihres gemeinsamen Sohnes verhält Felix sich distanziert und kühl und lässt Jana mit ihrer Trauer allein. Nur ihre beste Freundin Marlene und Janas Schwager Fabian, der Gefühle für sie hegt, stehen ihr zur Seite und helfen ihr, nach dem Verlust wieder auf die Beine zu kommen.
Während eines gemeinsamen Wochenendes mit Marlene erhält Jana eine schreckliche Nachricht: Felix ist tot. Was zunächst wie ein Suizid scheint, entpuppt sich schon bald als eiskalter Mord. Hauptkommissar Hahn ist sich sicher: Wer auch immer Felix ermordet hat, ist nun auch hinter Jana her. Immer mehr Geheimnisse kommen ans Licht, die Janas Welt erschüttern. Sie hatte geglaubt, ihren Mann zu kennen, nun scheint er in illegale Geschäfte verwickelt gewesen zu sein. War der Unfall, der ihrem Sohn das Leben gekostet hat, womöglich gar kein Unfall? Und was verbirgt Marlene vor Jana? Jana bleibt nur eines: fliehen.
Allein in einer fremden Stadt entwickelt sie schon bald Gefühle für ihren mysteriösen und verschlossenen Nachbarn. Kann sie Niklas vertrauen und den Mördern ihres Mannes entkommen?
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Lotte R. Wöss
Die Autorin:
Lotte R. Wöss, geboren 1959 in Graz, absolvierte nach der Matura die Ausbildung zur Diplom-Krankenschwester.
Schon als Kind schrieb und dichtete sie, es folgten Artikel und Gedichte für kleine Zeitungen, doch erst im reiferen Alter fand sie zurück zu ihrer Leidenschaft, dem Schreiben, und veröffentlichte ihren Debütroman »Schmetterlinge im Himmel« als Selfpublisherin. Mittlerweile hat sie zahlreiche Liebesromane, Krimis und auch Kurzgeschichten veröffentlicht, sowohl als Selfpublisherin als auch in Verlagen.
Ihr bevorzugtes Genre bleiben aber Liebesgeschichten mit Tiefgang. Die Entwicklung, die ein Mensch machen kann, die Möglichkeit, an sich selbst zu arbeiten und einen Reifeprozess durchzumachen – das ist für Wöss Thema Nummer eins.
Lotte R. Wöss
Sammelband
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
September © 2022 Empire-Verlag
Empire-Verlag OG, Lofer 416, 5090 Lofer
Lektorat: Nicole Siemer
Korrektorat: Tino Falke
www.tinofalke.de/lektorat
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Cover: Chris Gilcher
https://buchcoverdesign.de/
Illustrationen Band 1: Adobe Stock ID 235000824, Adobe Stock ID 332668485, Adobe Stock ID 127449673, Adobe Stock ID 113481608 und freepik.com
Illustrationen Band 2: Adobe Stock ID 568475977, Adobe Stock ID 566127409 und freepik.com.
Lotte R. Wöss
Die Frau auf Sylt
Roman
Über das Buch:
Hanna verschwand vor zehn Monaten spurlos, nachdem sie ein gewaltiges Vermögen geerbt hatte. Während ihre Freunde und Ex-Freund Thorben noch heute der Meinung sind, sie genieße ein Leben in Saus und Braus und sie wolle nicht gefunden werden, ist ihre beste Freundin Marie sich sicher: Hanna ist ermordet worden. Doch nicht einmal die Polizei schenkt ihr Glauben.
Gerade als Marie hofft, endlich mit der Sache abschließen zu können, traut sie ihren Augen kaum. In einer Zeitung entdeckt sie ein Bild von Hanna in Gesellschaft eines fremden Mannes in einem Café auf Sylt. Der Dekoration nach muss es um die Weihnachtszeit entstanden sein – zwei Monate nach Hannas Verschwinden.
Sofort bricht Marie auf, um dem Geheimnis auf die Spur zu gehen. Schnell findet sie Freunde, die sie bei ihrer Suche unterstützen. Dabei lernt sie auch David kennen, einen Wissenschaftler, in den sie sich sogleich verliebt. Während zunächst alles den Anschein hat, als könnte Marie trotz der Sorge um Hanna glücklich werden, ahnt sie noch nicht, in welcher Gefahr sie tatsächlich schwebt und was für ein Netz aus Lügen und Intrigen Hannas Verschwinden umgibt.
Breitbeinig stand er vor der Leiche.
Eigentlich schade. Sie war gut gewesen. Hatte sich in sein Betriebssystem gehackt bis in die verborgensten Schichten. Und sämtliche Geheimnisse aufgedeckt. Wie schockiert sie getan hatte!
Hatte sie tatsächlich gedacht, dass man es im Leben weit brachte, wenn man sich von moralischen Bedenken führen ließ?
Jetzt musste eine akzeptable Lösung her. Die Leiche zu entsorgen war das geringste Problem. Jem, einer seiner besten Männer fürs Grobe, würde das diskret erledigen.
Er selbst jedoch brauchte eine überzeugende Geschichte.
Nicht, dass es ihm größere Probleme bereiten würde, eine Unwahrheit zu erfinden. Lüge war praktisch sein zweiter Vorname. Wenn er nur daran dachte, wie seine Mutter, die naive Henne, ihm alles geglaubt hatte. Bis zum Schluss.
Vermutlich war sie auch da noch überzeugt gewesen, dass das Messer versehentlich zwischen ihre Rippen geraten war. Sie hätte ihm eben das Erbe früher auszahlen sollen.
Er wäre heute nicht da, wo er war, hätte er nicht gezielt ein paar Menschen beiseitegeräumt.
Die Welt hatte ohnehin zu viele davon. Und nur die Starken kamen durch.
So war es schließlich immer schon gewesen.
»Heute Nacht, Boss?« Jem stand vor ihm, hünenhaft, gelassen, hartgesotten.
Ein kurzes Nicken, dann verließ er den Raum, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Auf seinen Handlanger konnte er sich verlassen.
Marie
»Hanna, du wirst abgeholt.«
»O schade.« Marie nahm Hannas Hand, und gemeinsam liefen sie über die nasse Wiese zum Haus zurück. Das Tempo war wohl zu rasant, denn sie landeten im Gras.
Marie lachte und rappelte sich hoch.
Hanna blieb sitzen und begann zu weinen.
»Was ist los?«
»Ich bin schmutzig«, flüsterte ihre Freundin unter Schluchzen.
Eine halbe Minute später stand eine dunkel gekleidete Frau vor ihnen. Hannas Kindermädchen, die Marie »Eule« getauft hatte, weil die Augen hinter dicken Brillengläsern verborgen waren.
»Wie siehst du wieder aus?«, schimpfte die Eule. »Du weißt, dass deine Mama es hasst, wenn du dich wie ein Ferkel benimmst. Zur Strafe gehst du ohne Abendessen ins Bett.« Sie zog Hanna grob hoch und zerrte sie zu Tür.
Marie lief auf ihre geliebte Mama zu, die sie zärtlich in die Arme nahm.
* * *
»Entschuldigen Sie, wir wollen einchecken«, ertönte eine Stimme vor ihr, und Marie wurde aus ihren Gedanken gerissen. Wo war denn Joy? Eigentlich hätte die Auszubildende sich um die Anreisenden kümmern müssen.
Marie seufzte innerlich. An ihrer Autorität musste sie noch arbeiten. Aber das lag ihr einfach nicht. Sie hatte den Job in dem Innsbrucker Nobelhotel Alpenglück nur ihrem Verlobten Hendrik zuliebe angenommen, dessen Eltern eine gewöhnliche Kellnerin nicht genügte. Sie hatten ihr auch die Arbeit hier verschafft. Glücklich war sie in den Monaten, seitdem sie hier arbeitete, nicht geworden.
Die verwöhnten Gäste mit ihren hohen Ansprüchen in diesem Luxusressort nervten sie zusehends.
Die Bedienung auf den Skihütten hatte einfach mehr Spaß gemacht. Mit Hanna.
Wehmütig dachte sie an die Zeit zurück. Hanna fehlte ihr so sehr.
»Hallo? Hören Sie mir zu? Wir wollen einchecken!« Die Stimme klang nun richtiggehend scharf.
Mit Macht konzentrierte sie sich auf ihre Arbeit und blickte auf den Bildschirm. »Ihr Zimmer ist noch nicht bereit, Herr Maler, ich gebe der Hausdame Bescheid, dass Sie angereist sind. Vielleicht möchten Sie in der Zwischenzeit einen Spaziergang zum ›Goldenen Dachl‹ machen? Es ist nicht weit von hier.«
»Das geht auf keinen Fall.« Herr Maler hob die Hand. »Ich hoffe, das mit dem Zimmer dauert nicht zu lange, meine Frau ist etwas unpässlich.«
»Das tut mir sehr leid. Vielleicht nehmen Sie drüben in der Sitzgruppe Platz? Ich telefoniere sofort.«
Unnötig, das Ehepaar Maler darauf hinzuweisen, dass die Zimmer normalerweise erst ab 15 Uhr bezugsfertig und sie somit zwei Stunden zu früh dran waren. Hier hatte sie dafür zu sorgen, dass dem Gast der Mond vom Himmel geholt wurde, sollte er es wünschen.
Marie fand Joy in dem kleinen Kämmerchen hinter der Rezeption. Die Siebzehnjährige spielte mit ihrem Handy. »Wo steckst du denn? Gib der Hausdame Bescheid, dass die Gäste von 367 schon angereist sind. Und kümmere dich ums Gepäck.«
»Jaja.«
»Und spuck um Himmels willen den Kaugummi aus!«
»Ich schieb ihn eh nach hinten.« Immerhin wählte sie eine interne Nummer und brachte in Erfahrung, dass das Zimmer in einer Stunde bezugsfertig sei.
»Eine Stunde noch.« Marie ahnte bereits, dass das Paar damit alles andere als einverstanden sein würde.
Widerwillig richtete sie die Botschaft aus. »Darf ich Ihnen in der Zwischenzeit einen Kaffee anbieten?«
»Eine ganze Stunde!« Herr Maler schüttelte den Kopf.
»Einen Latte«, bat Frau Maler, deren Hochsteckfrisur ihre Wangenknochen betonte.
»Für mich einen Schwarzen, wenn es denn sein muss.« Herr Maler sah sich um. »Gibt es hier einen Kiosk? Dann hole ich mir eine Zeitung.«
»Gleich gegenüber auf der anderen Straßenseite.«
Der Herr stand ohne ein weiteres Wort auf.
Marie gab dem Küchenservice Bescheid, dass sie die beiden Kaffeewünsche erfüllten.
Neue Gäste reisten an, das Telefon klingelte, und Marie musste eine Rechnung für einen abreisenden Herrn drucken lassen.
Schließlich meldete sich die Hausdame, dass Zimmer 367 bezugsfertig sei. Marie sah zu Joy, die erneut auf ihrem Handy herumtippte. Seufzend begab sie sich selbst zur Sitzecke und wollte die gute Nachricht überbringen. Frau Maler war nicht da, vielleicht zur Toilette gegangen. Herr Maler hatte eine große Tageszeitung aufgeschlagen und war in die Lektüre vertieft. Er hörte Marie offenbar nicht kommen, die sich von hinten näherte.
Ein Bild erweckte ihre Aufmerksamkeit, wie erstarrt blieb sie stehen. Sie hörte Joy von der Rezeption her rufen, doch sie reagierte nicht. Der Deutsche machte Anstalten umzublättern, da griff sie, ohne nachzudenken, über seine Schulter und zog ihm das Blatt aus den Händen.
»Jetzt hören Sie mal …«
Sie beachtete seinen Protest nicht.
Wie in Trance starrte sie auf das Foto, konnte den Blick nicht lösen. Ihr Hals wurde eng, und sie vergaß zu atmen.
Hanna.
Auf dem Foto war eindeutig Hanna zu sehen.
Ihre Freundin Hanna, die vor zehn Monaten verschwunden war. Alles hatte dafürgesprochen, dass sie sich mit ihrem gesamten Vermögen nach Dänemark abgesetzt hatte. Niemand hatte daran gezweifelt.
Ausgenommen Marie.
Sie hatte niemals an diese Version geglaubt. In ihrem tiefsten Inneren spürte sie, dass Hanna nicht mehr lebte.
Nun war sie verunsichert.
Auf dem Foto saß ihre beste Freundin lachend in einem Gasthaus oder einer Bar, ihre Haare hatten eine andere Farbe, und der Mann, den sie innig anlächelte, war Marie unbekannt. Das Halstuch, das Hanna trug, identifizierte sie eindeutig.
Denn Marie hatte es ihr geschenkt.
O Gott, Hanna lebte. Wo war sie da? Ein gemaltes Bild war im Hintergrund zu erkennen. Es zeigte einen Leuchtturm im Vordergrund und ein stürmisches Meer dahinter.
Das durfte nicht wahr sein.
Sie hatte sich Sorgen gemacht, hatte vehement bestritten, dass Hanna, ihre Hanna, einfach abhauen würde – und jetzt das?
Jemand zog an ihrem Unterarm.
»Sie unverschämte Trine. Was stehen Sie da rum wie ein Zinnsoldat? Geben Sie sofort meinem Mann die Zeitung zurück.«
Marie sah nun direkt in die Augen der Dame, dick geschminkte Lippen und pudriges Make-up. Automatisch trat sie einen Schritt nach hinten und drückte die Zeitung an sich. »Tut mir leid, aber ich brauche sie.« Hastig begann sie, das große Papier zusammenzufalten.
»Was soll das heißen?« Nun baute sich auch der Herr vor ihr auf. »Das war das letzte Exemplar des ›Norddeutsch Kuriers‹, und ich habe ihn noch nicht zu Ende gelesen.«
Marie drehte sich um, eilte zur Rezeption zurück, an Joy vorbei, die sie mit weit aufgerissenen Augen anstarrte. Offenbar hatte sie gerade einem Gast ein paar Sehenswürdigkeiten empfohlen, denn aus dem Augenwinkel registrierte Marie, dass die Auszubildende den Stadtplan und einen Stift in Händen hielt. Sie beachtete sie nicht weiter, stürzte förmlich ins Hinterzimmer und stieß die Tür zu.
Dort ließ sie sich auf einen der Bürostühle sinken und faltete die Zeitung erneut auseinander.
Es musste Hanna sein. Das schmale, lange Gesicht mit der Nase, die Hanna von klein auf für zu groß erachtet hatte, die hellen Augen, sofern man das auf dem Foto erkennen konnte. Lediglich die Frisur war anders. Statt des dunklen Zopfs, den sie immer trug, waren die langen glatten Haare offen und mittelblond gefärbt. Zudem hatte sie noch nie zuvor so schwarze Kleidung getragen, sie liebte es bunt. Nur das rot gemusterte Halstuch brachte Farbe ins Bild.
Es war das Tuch. Tiroler Handarbeit, ein Unikat.
Lichterketten, Sterne und Kerzen waren zu sehen, eine deutliche Weihnachtsdekoration.
Aber Hanna war weit vor Weihnachten verschwunden.
Das hieß, dass sie im Dezember noch am Leben gewesen sein musste.
O Gott, Hanna, warum hast du dich nie gemeldet? Tränen traten Marie in die Augen, und das Bildnis verschwamm.
Wer war der Mann neben ihrer Freundin?
Marie las den Artikel. Das Bild war auf Sylt entstanden, jenem Ort, an dem sie zuletzt von Hanna gehört hatte. Das Foto bot einen Blick in einen Gastraum, mehrere Personen saßen an Tischen, in der Mitte eine Art Bar oder Ausschank. Die meisten Leute waren nur undeutlich in Teilstücken oder von hinten drauf, lediglich Hanna und der Fremde waren klar zu erkennen. Es ging um den Tourismusaufschwung in den Orten und dass langsam nach der Coronapandemie wieder Festivitäten stattfinden würden. Mehrere Fotos schmückten den Bericht aus, mit der typischen Dünenlandschaft der Insel und einem kleinen Hafen.
Unter dem Bild stand, dass es einige Weihnachtsfeiern gegeben hätte. Weihnachtszeit – sie hatte sich nicht geirrt.
Marie fand keinen Hinweis darauf, wo das Foto genau gemacht worden war.
Das musste sich doch herausfinden lassen.
Der Norddeutsch Kurier war eine große deutsche Zeitung, sie würde dort anrufen und den Fotografen ausfindig machen.
Weihnachten – Hanna war laut Polizei im Oktober nach Dänemark gefahren. War sie danach irgendwann nach Sylt zurückgekehrt?
O Hanna, wieso hast du dich nicht gemeldet?
Langsam nahm der Raum um sie wieder Konturen an.
Sie hatte sich unmöglich benommen, das würde sie nun ausbaden müssen. Hoffentlich hatte Joy in der Zwischenzeit nichts angestellt, Marie musste sofort an die Rezeption zurück.
Rums!, wurde die Tür aufgerissen. Joy stand vor ihr. »Was machst du hier? Der Gast rastet förmlich aus! Warum hast du ihm die blöde Zeitung weggenommen?«
Was hatte Herr Maler gesagt? Dass es das letzte Exemplar wäre? Klar, in Österreich gab es nicht so viele Zeitungen aus Deutschland zu kaufen. Marie würde sie trotzdem auf keinen Fall zurückgeben, egal was passierte.
Joy blinzelte. »Sag schon, was steht denn da drin, dass du sie einfach an dich gerissen hast?«
Marie faltete die Zeitung mehrmals sorgfältig, vor allem, um das für sie so wertvolle Bild nicht zu beschädigen, und stopfte sie in ihre Handtasche, die hinter der Tür hing. Die Zeit bis zu ihrem Feierabend um sieben würde ihr lang erscheinen.
Vorher musste sie noch Herrn Maler besänftigen.
* * *
Die Kirchturmuhr von gegenüber schlug siebenmal. Aufatmend schlüpfte Marie aus der Dienstuniform und zog ihre Shorts und ein Top über. Ein merkwürdiges Gefühl von Aufregung erfasste sie. Die unschöne Szene im Hotel war an ihr vorbeigeglitten. Herr Maler hatte einen Riesenaufstand veranstaltet, schließlich hatte sie ihn mit einer Flasche Champagner, die sie auf ihre Kosten ins Zimmer liefern ließ, besänftigen können. Den gesamten Nachmittag hatte sie sich mühselig auf ihre Arbeit konzentriert, sie hatte funktioniert und hoffentlich keine Fehler gemacht. Sie hatte Hendrik eine kurze SMS geschrieben, dass sie noch etwas zu erledigen hätte, und danach ihr Handy auf stumm geschaltet.
Mit ihrem alten Fiat, der bereits sechzehn Jahre auf dem Buckel hatte, fuhr sie nach Jenbach, ihrem Heimatort. Auf der Autobahn benötigte sie normalerweise dazu eine halbe Stunde, doch ausgerechnet heute hatte es einen Unfall gegeben, und so kam sie nur schrittweise voran.
Vor ihren Augen sah sie immer wieder das Bild von Hanna vor sich.
Wer war der Mann auf dem Foto? Es gab nur eine einzige Person, die ihr darüber Auskunft geben konnte.
Zielsicher lenkte Marie ihren Wagen zu dem Wohnblock. Obwohl sie seit Monaten nicht mehr hier gewesen war, fand sie den Weg problemlos.
Durch den Stau hatte sie viel Zeit verloren, zudem suchte sie zehn Minuten vergeblich nach einem Parkplatz. So war es schon fast halb neun, als sie bei Thorben Pichler Sturm läutete. Sie hielt die gefaltete Zeitung in den Fingern und gab nicht auf. Er musste zu Hause sein, denn sein Wagen stand vor der Tür.
Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis er sich endlich meldete. »Was soll das?«
»Ich bins, Marie. Ich muss mit dir reden.«
»Gehts noch? Heute nicht.«
»Verdammt, es ist wichtig!«
»Ich bin nicht allein.«
Natürlich nicht. »Egal. Schick sie weg. Es betrifft Hanna.«
»Was sonst?«
Erleichtert hörte Marie den Türsummer und stieß die Tür auf. Sie nahm sich nicht Zeit für den Aufzug, sondern rannte die zwei Stockwerke zu Fuß hinauf und drückte auf den Klingelknopf neben Thorbens Tür.
Sie hatte den Finger noch auf dem Knopf, als die Tür aufgerissen wurde. Thorben trug lediglich eine Jogginghose, die seine schmalen Hüften hinunterzurutschen drohte, er hatte sich nicht verändert: Die Rippen traten deutlich hervor, seine langen Haare waren hinten lose mit einem Gummiband zusammengebunden, die spitze Nase dominierte sein Gesicht.
Weiß Gott, was Hanna an ihm gefunden hat, dachte Marie zum wiederholten Mal. Sie schob ihn zur Seite und trat ein.
»Komm doch rein«, sagte er mit spöttischem Unterton hinter ihr.
Sie hörte die Tür zufallen und betrat das Wohnzimmer.
Auf der Couch saß ein junges Mädchen, das gerade ihre Bluse zuknöpfte. Dabei warf sie ihr wütende Blicke zu, die vorgeschobene Unterlippe signalisierte zusätzlich, dass sie über die Störung alles andere als erbaut war.
»Also, was willst du?« Thorben angelte sich sein T-Shirt vom Stuhl und zog es über seinen mageren Körper. »Ich hoffe, du kommst nicht mit neuen Mordthesen, dass ich Hanna umgebracht und irgendwo verscharrt hätte.«
»Du bist mit ihr in diesem Urlaub gewesen, warst der Letzte, der sie gesehen hat. Was zum Teufel hätte ich sonst denken sollen?«
»Sie ist abgehauen, die verdammte Kohle hat ihr den Kopf verdreht. Und teilen wollte sie wohl nicht. Übrigens auch nicht mit dir.«
»Ich war nie scharf auf ihr Geld, im Gegensatz zu dir.« In Marie stieg die alte Wut hoch. »Du hast sie jahrelang hingehalten, bist mit anderen ins Bett gestiegen, aber gleich, als sie geerbt hat, wolltest du sie vom Fleck weg heiraten.«
»Was du ja verhindert hast, du Zicke.«
»Geht das noch lang?«, maulte das Mädchen von der Couch. »Wer ist die Kuh überhaupt?«
Marie trat zu ihr hin. »Wenn du ein bisschen Grips im Hirn hast, dann machst du dich vom Acker. Der Kerl hier«, sie deutete auf Thorben, »ist nicht wählerisch und hüpft mit jeder in die Kiste, die nicht bei drei auf dem Baum ist.«
»Jetzt reicht’s.« Marie spürte Thorbens harten Griff am Oberarm. »Die Einzige, die hier verschwindet, bist du.«
Sie riss sich los und legte die Zeitung auf den Tisch. »Sag mir, wo das ist. Und wer ist der Kerl neben ihr?«
»Was meinst du?«
»Hier.« Sie schlug mit der Hand auf das Foto. »Das ist Hanna. Wo wurde es gemacht?«
Nun beugte er sich über den Tisch. »Mich laust der Affe! Alle machen sich Sorgen um sie, und da hockt sie, mit ’nem neuen Macker. So eine betrügerische Ziege.«
»Ah, und wie oft bist du fremdgegangen?«
Thorben schüttelte den Kopf. »Das war nie was Ernstes. Leck mich am Arsch, das ist wirklich Hanna. Was ist das für eine Zeitung? Ist sie aktuell?«
»Ja, sie ist von heute. Der ›Norddeutsch Kurier‹, das ist ein Bericht von Sylt.«
»Dann kann das Foto auch älter sein.«
»Möglich. Aber es ist ein Weihnachtsbild, siehst du die Deko? Leuchtketten und Sterne. Wo ist diese Bar? Oder ist es ein Restaurant? Kommt dir das Bild mit dem Leuchtturm bekannt vor?«
»Meine Güte, davon gibt es viele auf Sylt, ist ja ein Touristenort und so.« Thorben ließ sich auf den Stuhl fallen. »Denkst du, dass Hanna noch auf Sylt ist? Aber sie ist doch auf die Fähre nach Dänemark gestiegen. Zumindest hat das die Polizei recherchiert.« Er rutschte vor und fixierte Marie. »Sieh mal an, jetzt sind all deine Anschuldigungen total haltlos geworden. Weil du dir nicht hast vorstellen können, dass deine Busenfreundin dich abgeschrieben hat und untergetaucht ist. War wohl doch nicht so dicke, die Freundschaft?«
In Maries Kopf wirbelten die Gedanken. Sie konnte es einfach nicht glauben! Hanna hätte sich niemals abgesetzt. Wozu auch? Durch ihr Erbe war sie plötzlich reich geworden und konnte endlich das Leben führen, das sie wollte. Weshalb sollte sie untertauchen und kein Lebenszeichen von sich geben?
Marie war überzeugt, dass ihr etwas zugestoßen sein musste.
Das Foto sprach jedoch eine andere Sprache.
Hatte Hanna womöglich ihr Gedächtnis verloren?
»Na, jetzt bist du sprachlos.« Thorben stand auf.
»Ist die bald fertig?«, ertönte es von der Couch.
»Meine Freundin ist verschwunden und vermutlich einem Verbrechen zum Opfer gefallen.« Marie schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Nein, ich bin nicht fertig, weil ich sie verdammt noch mal finden will und dein Typ da der Letzte war, der sie gesehen hat. Also verdrück dich, wenn es dir zu fad wird.« Damit setzte sie sich hin, egal ob es Thorben passte oder nicht.
»Darf sie so mit mir reden?« Das Mädchen schob die Unterlippe vor. »Sag doch was!« Ihre Augen hingen an Thorben.
Der wischte mit der Hand durch die Luft. »Zieh Leine«, sagte er schroff. »Wir sehen uns ein andermal.«
»Ganz sicher nicht.« Sie erhob sich, schloss ihre Shorts und schlüpfte in ihre Sandalen. »Verarschen lass ich mich nicht.« Damit stöckelte sie zur Tür, kurz darauf hörte man die Eingangstür zuknallen.
»Na bitte, bist du zufrieden? Jetzt hast du mir den Abend gründlich verdorben.« Thorben fuhr sich durchs Haar. »Alles wegen deiner Hirngespinste. Die Polizei ermittelt nicht, schon vergessen?«
»Ich weiß, dass mir die Polizei nicht geglaubt hat und dass du mit einer schneeweißen Weste dastehst. Aber ich kenne Hanna seit dem Kindergarten. Niemals wäre sie so einfach untergetaucht.«
»Du kanntest die arme Hanna. Ein Mädchen, das von seinen Eltern kurzgehalten wurde, das sich ständig anhören musste, was für ein Lottosechser es sei, adoptiert worden zu sein, und das sich alles hart erkämpfen musste. Und dann – bumm – sterben die Adoptiveltern, und sie erbt auf einmal einen Riesenbatzen Geld. Wenn das kein Grund ist auszuflippen!« Er schüttelte den Kopf. »All die Jahre war sie scharf drauf, mich zu heiraten, aber als sie dann reich war, war das Thema für sie vom Tisch.«
»Nein, sie hat lediglich gecheckt, dass du es niemals ernst gemeint hast. Als Erbin war sie plötzlich interessant für dich.«
»Nicht schon wieder die alte Leier.« Thorben stand auf und holte ein halb volles Glas vom Tisch, die dunkle Flüssigkeit sah nach Cola aus.
Marie musste schlucken, Thorben hatte recht. Es brachte nichts, wiederholt die alten Sachen aufzuwärmen. »Was hältst du von dem Foto?«
Thorben trank das Glas leer, stellte es ab und rülpste. »Was soll ich dazu sagen? Hanna ist Vergangenheit für mich. Sie hat mir gezeigt, dass ich ihr nichts mehr bedeute, und der Affe da«, er tippte auf das Foto, »scheint ihr neuer Lover zu sein.«
Marie musste zugeben, dass es den Anschein erweckte. Aber irgendetwas stimmte nicht mit dem Bild. Oder mit Hanna. Sie wirkte fremd. Es musste etwas mit ihr passiert sein, das fühlte sie.
»Du schnallst es immer noch nicht.« Thorben beugte sich zu ihr, dass sie seinen heißen Atem im Gesicht spürte. Automatisch fuhr sie zurück. »Hanna will auch von dir nichts mehr wissen. Sie führt jetzt ein mondänes Leben.« Mit der Hand klopfte er auf die Zeitung. »Sieh dir ihr neues Herzblatt an! Geschniegelt, Markenkleidung. Das Sakko kostet mehr, als du im Monat verdienst. Das ist die Welt, in der sie sich nun bewegt.«
Marie sprang auf. »Das stimmt nicht!« Ein Kloß saß ihr im Hals.
Thorben packte sein leeres Glas, schlurfte in die Küche, öffnete den Kühlschrank und warf ihr einen schrägen Blick zu. »Willst du auch was, wo du schon mal da bist?«
Marie hatte tatsächlich einen trockenen Mund, bei der Hitze kein Wunder. Das Fenster stand zwar offen, doch bei der Julihitze war das eher kontraproduktiv. »Ein Glas Wasser, gern.«
Thorben holte eine Flasche Cola heraus, schenkte sich ein und trank in durstigen Zügen. Dann angelte er ein weiteres Glas aus dem Schrank, hielt es unter den Wasserhahn und reichte es ihr schließlich.
Sie trank es fast in einem Zug leer. Ihr Blick fiel auf die Uhr an der Wand, es war nach neun. Die Helligkeit des Sommerabends täuschte.
Hendrik! Er wunderte sich bestimmt schon, wo sie blieb.
Aber das hier war wichtiger.
»Erzähl mir noch einmal von deiner letzten Begegnung mit Hanna.«
»Nicht wieder der Käse! Das hab ich doch schon hundertmal.«
»Ich möchte wirklich wissen, was sie zu so einem Schritt getrieben hat.«
Thorben seufzte übertrieben. »Scheinbar hältst du mich nicht mehr für einen Axtmörder. Zudem«, er breitete die Arme aus und drehte sich herum, »würde ich wohl nicht in diesem Loch wohnen bleiben, wenn ich mir Hannas Geld unter den Nagel gerissen hätte.«
Die schöne Zweizimmerwohnung als Loch zu bezeichnen, ließ wieder Wut in Marie hochsteigen. Sie wusste, dass sich Thorbens Mutter als Kassiererin in einem Supermarkt die Finger wund arbeitete, damit ihr einziger Sohn studieren konnte. Thorbens Vater hatte sich aus dem Staub gemacht und drückte sich vor den Unterhaltszahlungen.
Thorben schien nach ihm zu kommen. Von Arbeit hielt er nicht viel, und obwohl bald dreißig, war noch kein Ende abzusehen, wann er sein Studium beenden wollte. Marie konnte sich nicht erinnern, dass er jemals zu einer Prüfung angetreten wäre.
»Also, ihr wart essen.«
»Ich habe Fischbrötchen geholt, in der Nähe von dem Apartmenthaus, in dem wir wohnten, war nämlich so eine Wirtschaft. Wegen Corona haben wir vorn im Freien gegessen.«
»Ich dachte, ihr seid beide geimpft?«
»Ja, aber ich hatte mein Handy liegen gelassen. Also saßen wir auf einer Bank mit Blick auf das Meer, da habe ich Hanna noch mal gesagt, dass wir eigentlich heiraten könnten.«
»Eigentlich? Das war ja enorm romantisch.«
»Mein Gott, hätte ich eine Kapelle organisieren sollen? Hanna und ich waren seit sieben Jahren zusammen, da wird es doch Zeit. Und nach meinem ersten Heiratsantrag …«
»… den du ihr gleich beim Begräbnis ihrer Eltern gemacht hast, so in der Art, jetzt könnten wir ja bald heiraten, nachdem du vorher nichts davon hast wissen wollen? Das war wirklich ausgesprochen feinfühlig.«
»Hanna stand nie auf so was, die brauchte solchen Schnickschnack nicht.«
Damit hatte er recht. Hanna war durch die strenge karge Erziehung ihrer Eltern erwartungsfrei geblieben, das war auch der Grund, weshalb sie geglaubt hatte, sie bekäme nichts Besseres als Thorben ab.
»Okay, du hast sie also in deiner charmanten Art gefragt, ob sie dich heiraten will, und dann?«
»Hanna ist ausgeflippt.« Thorben schüttelte den Kopf, als könnte er es nicht glauben. »Ich habe sie noch nie zuvor so erlebt. Sie ist aufgesprungen, hat mit dem halb gegessenen Fischbrötchen in der Luft herumgefuchtelt und gesagt, dass sie mich nie, niemals heiraten wird.«
»Da warst du bestimmt wütend.«
Er rieb über seine Nase. »Na ja, ein bisschen, klar. Ich meine, was hat die sich eingebildet? Tut so, als wäre ich der letzte Hirsch.«
»Stimmt ja auch.« Marie zuckte bei Thorbens Blick leicht zusammen, fuhr jedoch trotzdem fort. »Was hast du ihr schon zu bieten?«
»Ist das nicht egal? Hanna ist stinkreich geworden. So viel Geld, was braucht man da zu arbeiten?«
Marie ballte unter dem Tisch die Hände, sie musste sich zusammenreißen, um den Esel vor ihr nicht anzubrüllen. »Und dann?«
»Ich bin aufgestanden und weggegangen. Hab mich nicht umgedreht, bin die Stufen hinunter zum Strand und dort entlangspaziert, bis nach Westerland, so eine Stunde, und dann auf dem Weg im Inneren wieder zurück.«
»Und Hanna?«
»Hörst du mir überhaupt zu? Ich hab nicht geschaut, was die Zicke gemacht hat. Ich war wütend, verdammt! Aber wir hatten ja das gemeinsame Apartment, also musste ich wieder zurück. Als ich da zwei Stunden später hinkam, war es leer.«
»War Hanna in der Zwischenzeit da?«
»Weiß ich nicht. Hab ich der Polizei alles erzählt damals und dir übrigens auch. Du hattest ja nichts Besseres zu tun, als mich als Mordverdächtigen hinzustellen. Dabei gibt es keine Leiche, nicht wahr? Jetzt sitzt sie da und lacht sich einen ab, mit einem anderen. Vermutlich auch ein stinkreicher Schnösel, so wie der aussieht. Reich und Reich gesellt sich gern.«
Marie holte Luft und sah wieder auf das Bild. »Und du hast keine Ahnung, welche Bar das sein könnte?«
»Nö, wirklich nicht. Da gibt’s in jedem Ort solche Plätze mit überdachten Bars, das kann überall auf der Insel sein. Aber so groß ist die ja nicht.«
»Was meinte Hanna mit ihrer letzten Nachricht an mich? Was hat sie entdeckt?«
Er prallte zurück. »Du kannst mich noch hundertmal fragen, ich weiß es nicht. Aber damit du Ruh’ gibst …« Er stand auf und ging ins Nebenzimmer. Kurze Zeit später brachte er einen Laptop. »Der gehört Hanna. Ich habe schon geschaut, ob sie was geschrieben hat, da ist nichts Nennenswertes. Nada. Vielleicht siehst du ja mehr.«
Hannas Laptop? Fast zärtlich strich sie mit den Fingern darüber.
Thorbens Gesicht kam plötzlich ganz nah. »Und nun, Prinzessin?« Er zwinkerte und leckte mit der Zunge über seine Lippen. »Du hast mein Date vergrault. Wird’s was mit uns beiden?«
»Wenns jetzt zu schneien beginnt.« Marie stand auf. Es war Zeit, dass sie zu Hendrik kam. Der würde staunen. Denn er war auch einer gewesen, der ihr nicht geglaubt hatte.
Niemand hatte das innige Verhältnis, das sie zu Hanna gehabt hatte, verstanden.
Was sollte sie tun? Morgen musste sie bei der Zeitung anrufen und feststellen, wo und wann das Bild entstanden war.
Sie konnte sich nur vorstellen, dass Hanna gestürzt war oder so, und sich an nichts erinnern konnte. Aber wo war sie all die Monate gewesen? Weshalb hatte sie sich die ganze Zeit versteckt?
Thorben stand auf einmal auf und zog den Rotz in seiner Nase hoch. »Okay, ich bringe dir jetzt alles, was ich noch von Hanna hab. Und danach will ich dich nie wiedersehen, verstanden?«
Marie
Auf ihrem Handy sah sie fünf verpasste Anrufe von Hendrik. Er war bestimmt sauer. Sie setzte sich ins Auto und rief zurück.
Wie erwartet, war er ungehalten. »Wo steckst du denn, verdammt noch mal? Bei der Arbeit warst du nicht mehr, dort habe ich angerufen.«
»Hast du meine Nachricht nicht gelesen?«
»Ich dachte, du kämst zehn Minuten später oder so. Du kannst es doch nicht vergessen haben.«
Er klang wirklich total wütend, und in derselben Sekunde schoss ihr in den Kopf, warum. Ihr wurde siedend heiß, als Hendrik weiter schimpfte.
»Meine Eltern waren nicht begeistert, dass du nicht zum Essen erschienen bist. Das war extrem unhöflich.«
Die Einladung von seinen Eltern! Wie hatte sie die vergessen können? Sie schloss die Augen. Das würde Ärger geben.
Im Kopf formulierte sie Entschuldigungen. Aber sie wusste bereits jetzt, dass Hendrik nichts gelten lassen würde. Er hatte ihre Obsession, Hanna zu finden, ohnehin nie verstanden. Marie konnte das verstehen, denn die Indizien, dass Hanna sich freiwillig abgesetzt hatte, waren für alle ausreichend gewesen.
Aber sie hatte Hanna besser gekannt.
Oder hatte sie sich doch geirrt?
»Soll ich noch ins Restaurant fahren?« Sie sah an sich herab, die leichte Sommerhose und das Top eigneten sich so gar nicht für einen Besuch in Innsbrucks feinstem Lokal.
»Lebst du auf dem Mond? Es ist bald elf Uhr. Ich bin längst zu Hause.«
* * *
Die Rückfahrt ging schneller, dennoch war es fast Mitternacht, als sie das Wohnhaus erreichte, in dem sie seit zwei Monaten mit Hendrik die Dachwohnung bewohnte. Während sie mit dem verspiegelten Aufzug hochfuhr, wurde ihr wieder einmal bewusst, wie unwohl sie sich in diesem hypermodernen Ambiente fühlte.
Die Spiegel zeigten ihr, was sie ohnehin geahnt hatte: ihre zerzauste Frisur und das zerdrückte Oberteil.
Die Türen öffneten sich direkt im Apartment. Sie atmete kurz durch und betrat die Wohnung.
Hendrik saß auf der Ledercouch im Wohnzimmer über seinen Laptop gebeugt. Er trug immer noch seine Anzughose, lediglich seine Jacke hing fein säuberlich aufgehängt in der Garderobe. Er musste sie kommen hören, sah jedoch nicht auf.
»Hendrik, es tut mir leid.«
Er hob die Hand. »Einen Moment, ich muss noch diese E-Mail beantworten.«
Behände schlüpfte sie aus ihren Sandalen und stand dann barfuß hinter ihm. Sie hasste diese Situationen, in denen er sie warten ließ und sie sich vorkam wie eine reuige Sünderin.
Nach einer Minute wurde es ihr zu dumm, sie bewegte sich an ihm vorbei. »Ich geh duschen.«
»Na toll! Erst lässt du mich hängen und jetzt bist du sauer, weil ich dich kurz warten lasse? Das, was ich mache, ist wichtig, verstehst du?« Er hob den Kopf. »Meine Eltern hatten ihre Freunde, den Stadtrat Lachermayr und seine Frau, eingeladen. Sie wollten dich als meine Verlobte vorstellen. Ich dachte, es würde dir etwas bedeuten, dass meine Eltern dich anerkennen. Sie sind dir entgegengekommen, und du glänzt durch Abwesenheit? Nicht mal entschuldigt hast du dich. Ich hatte keine Ahnung, wo du steckst?«
»Ich habe dir eine Nachricht geschickt.«
»Toll! ›Komme heute später.‹ Das war enorm aussagekräftig. Für meine Eltern muss das so aussehen, als wäre dir eine Einladung von ihnen total unwichtig.« Er klappte den Laptop zu und verschränkte die Arme. »Ich warte immer noch auf eine plausible Erklärung.«
Marie ließ sich ihm gegenüber auf einen Lederstuhl fallen. »Es tut mir ehrlich leid, Hendrik. Aber heute ist etwas Wichtiges passiert.« Sie entrollte die Zeitung und deutete mit dem Finger auf das Foto. »Erkennst du Hanna? Sie ist auf Sylt, wo genau, weiß ich nicht, und …«
»Das ist nicht dein Ernst, oder?«, unterbrach er sie, ohne auch nur einen Blick auf das Bild zu werfen. »Du versäumst ein wichtiges Essen und bringst als Entschuldigung ein altes Zeitungsbild von deiner Freundin, die es nicht der Rede wert gefunden hat, sich zu verabschieden? Die sich monatelang nicht bei dir gemeldet hat? Und da freust du dich über ein Bild?«
»Sie lebt, das ist das Wichtigste, verstehst du? Es muss ihr irgendwas zugestoßen sein, Gedächtnisschwund oder so. Ich kann nicht glauben, dass sie einfach so untergetaucht wäre und …«
»Ist sie aber.« Er nahm ihr die Zeitung aus der Hand, betrachtete das Bild und schüttelte den Kopf. »Das hier beweist es nur zu deutlich. Du wolltest es nicht wahrhaben, obwohl die Polizei herausgefunden hat, dass sie die Fähre nach Römö genommen hat. Mit ihrem Geld im Gepäck.«
»Ich habe das nie geglaubt. Was sollte Hanna in Dänemark? Wenn sie von einem Land geträumt hat, dann war es Irland.«
»Wir haben das schon zigmal durchgekaut. Sie ist halt von Dänemark weitergereist, wohin auch immer.«
»Nein.« Marie schüttelte heftig den Kopf. »Und jetzt beweist das Bild, dass sie auf Sylt ist, und ich werde herausbekommen, was es damit auf sich hat.«
Es war heraus, noch ehe sie hatte darüber nachdenken können.
Sekundenlang war einzig Hendriks Atem zu hören. Schließlich räusperte er sich. »Habe ich richtig gehört? Wie willst du das denn anstellen?«
»Ich werde hinfahren.« Sie beugte sich vor. »Das muss ich tun, verstehst du? Thorben meinte auch, dass …«
»Thorben? Was hat der damit zu tun?« Hendrik stand auf und baute sich vor ihr auf. »Ah, daher weht der Wind. Jetzt kommen wir der Sache näher! Du warst vorhin bei ihm, nicht wahr? Hat er dir den Floh ins Ohr gesetzt, dass du Privatdetektivin spielen sollst?«
Sie holte tief Luft. »Ich war bei ihm, das stimmt. Deswegen habe ich auch das Essen vergessen. Es tut mir wirklich wahnsinnig leid, aber ich musste noch mal mit ihm reden. Er war der Letzte, der Hanna gesehen hat.«
Hendrik verengte die Augen zu Schlitzen. »Er hat doch damals bereits alles erzählt, nicht wahr? Was läuft da zwischen euch?« Mit zwei langen Schritten ging er zum Barschrank und holte eine Flasche Weinbrand heraus.
»Mit dem Foto hat sich ein neuer Blickwinkel ergeben, verstehst du das nicht?«
Es klirrte, als er ein Glas aus dem Schrank nahm und es auf dem kleinen Tischchen platzierte. »Nein, das begreife ich nicht. Thorben hat dir damals schon alles erzählt, was hat sich groß geändert?« Hendrik schraubte die Flasche auf und schenkte sich ein Glas ein. Mit dem Flaschenhals zeigte er auf Marie. »Willst du auch einen? Würde dir guttun.«
Sie schüttelte den Kopf. »Hendrik, ich habe das Gefühl, dass ich Hanna im Stich gelassen habe. Alle haben geglaubt, sie wäre untergetaucht. Nur ich nicht. Dennoch habe ich aufgegeben, nach ihr zu suchen.« Ein Kloß saß ihr im Hals. »Ich bin eine verdammt schlechte Freundin.«
»Marie, jetzt komm wieder runter. Ich weiß, dass die Geschichte rund um deine Freundin ein rotes Tuch für dich ist, aber du musst mal abschließen können. Hanna hat ein neues Leben begonnen und will dich nicht länger als Teil davon.«
»Schwachsinn!«
Hanna und sie, das war mehr als Freundschaft gewesen, sie waren durch dick und dünn gegangen. So eine tiefe Beziehung warf man nicht einfach aus einer Laune heraus fort.
Bis vor Kurzem hatte sich Marie damit abgefunden, dass Hanna tot sein musste. Doch dieses Bild veränderte alles.
Hendrik nahm einen großen Schluck, dann klang seine Stimme ruhig. »Marie, du ahnst wohl nicht, was für ein schlechtes Licht deine heutige Abwesenheit auf deinen Charakter wirft. Ich stehe kurz vor der Eröffnung meiner eigenen Kanzlei, und die Protektion von Stadtrat Lachermayr ist total wichtig für mich. Er ist in der Lage, mir lukrative Klienten zu vermitteln und dafür zu sorgen, dass meine Kanzlei erfolgreich wird. Du hättest nur dazusitzen brauchen und ihn mit deinem Charme bezirzen, das wäre doch nicht zu viel verlangt gewesen. Schließlich kommt meine Karriere auch dir zugute.« Mit einer Handbewegung deutete er auf die Wohnung. »Den Luxus hier genießt du, das kannst du nicht bestreiten. Da du finanziell nichts dazu beitragen kannst und wirst, wäre das eine Möglichkeit, dich einzubringen.«
Wie bitte? »Was soll das heißen?«
»Marie, ich bitte dich.« Hendrik trank den Rest und schenkte sich gleich nach. »Du weißt, dass dein Aussehen dein größtes Kapital ist. Das ist gut fürs Geschäft, du wirst mich bei sämtlichen Geschäftsessen mit Klienten begleiten und eine positive Wirkung ausüben.«
Marie fühlte sich wie im falschen Film. Dass ihr Verlobter sie so direkt auf ihr Äußeres degradierte, hätte sie sich nie gedacht. »Ich habe einen Beruf.«
»Ich bitte dich.« Seine Mundwinkel verzogen sich spöttisch. »Natürlich, jetzt im ›Alpenglück‹ hast du eine gehobenere Stellung inne, doch im Grunde genommen wirst du künftig nicht mehr arbeiten müssen. Wir wollen schließlich bald Kinder. So ein Fauxpas darf allerdings nicht noch mal passieren, das musst du mir versprechen.«
Marie schloss kurz die Augen, dann zwang sie sich zu einem ruhigen Tonfall. »Ich verstehe dich ja, und es tut mir leid, dass ich wegen dieses Fotos heute ein wenig durch den Wind bin. Ehrlich.« Das war noch untertrieben, in Wirklichkeit fühlte es sich so an, als wäre sie mitten in einem Wirbelsturm. »Ich werde mich bei allen entschuldigen, wenn dir das hilft. Aber Hanna, das ist mir wichtig. Sie bedeutet mir viel, deswegen …«
»Du bist ihr nicht einmal den Dreck unter ihrem Fingernagel wert, wie man hier sieht.« Er überbrückte die Schritte zum Sofa, griff nach der Zeitung und warf sie auf den Boden. Seine Stimme klang plötzlich rasiermesserscharf. »Wann kapierst du das endlich? Hanna ist weg, und sie lebt jetzt ihr eigenes Leben im Luxus. Wer kann es ihr verdenken, so wie sie aufgewachsen ist?«
Marie sprang auf. »Ja, aber wir haben immer zusammengehalten, immer. Du hast keine, absolut keine Ahnung von unserer Verbindung. Sie würde nicht einfach untertauchen und mich im Stich lassen.«
»Tu nicht so theatralisch! Das klingt, als hätte sie dich in die Gosse gestoßen. Du lebst doch gut bei mir und brauchst ihr Geld nicht.«
Vor Wut hätte Marie ihm am liebsten die Faust ins Gesicht geschlagen, und das, obwohl sie alles andere als aggressiv veranlagt war. »Das Geld ist mir so was von egal. Ich will meine Freundin zurück!« Marie drehte sich um und konnte nicht verhindern, dass ihr das Wasser in die Augen schoss.
»Du hörst dich an wie ein trotziges Kleinkind.«
Sie hörte, wie Hendrik das Glas abstellte, und spürte kurz darauf seine Hände auf ihren Schultern.
»Marie«, sein Tonfall war nun zärtlich, »ich weiß, dass dich das berührt, ich bin ja nicht komplett unsensibel.« Sanft drehte er sie herum, er lächelte sogar. »Aber es tut dir nicht gut, wie du an ihr festklebst und nicht akzeptieren kannst, dass sie es war, die sich von dir gelöst hat.« Mit einer fürsorglichen Geste strich er ihr eine Haarsträhne aus der Stirn. »Liebling, wir sollten endlich ein Hochzeitsdatum festlegen. Die Vorbereitungen werden dich ablenken. Wir könnten gleich im August standesamtlich heiraten, dann für Oktober die kirchliche Trauung festsetzen und ein großes Fest bei deinen Eltern in Jenbach nachholen.«
In Maries Kopf wirbelte es. Heiraten? Sie wohnten seit zwei Monaten zusammen, und sie hatte immer noch das Gefühl, nur Gast in Hendriks Wohnung zu sein. Jede Änderung, die sie vorgeschlagen hatte, war durch seine Gegenargumente zurückgeschmettert worden.
»Du sagst nichts? Bist wohl sprachlos?« Sein Gesicht vergrub sich in ihren langen Haaren, der heiße Atem blies unangenehm in ihr Ohr.
Langsam, aber bestimmt löste sie sich aus seiner Umarmung.
»Du siehst richtig schockiert aus.« Er legte seine Handfläche an ihre Wange, eine Geste, die sie noch nie gemocht hatte. »Keine Bange, meine Mutter organisiert unsere Hochzeit, du musst nur …«
»… hübsch aussehen«, ergänzte sie bissig und entfernte seine Hand von ihrem Gesicht.
Hendrik bemerkte ihren ironischen Tonfall offenbar nicht. »Richtig.« Mit langen Schritten ging er zur Bar zurück und nahm sich sein Glas. »Mach dir also keine Sorgen, Mutter weiß ohnehin besser, was von unserer Hochzeit erwartet wird.«
Sie sah es deutlich vor sich, eine Schickimicki-Hochzeit, bei der sie nichts zu sagen haben würde.
Auf einmal wusste sie, was sie zu tun hatte: »Ich werde nach Sylt fahren.«
Hendrik hätte fast das Glas fallen gelassen. »Das ist nicht dein Ernst.«
»Doch. Ich muss wissen, was mit Hanna passiert ist.«
»Ist das nicht offensichtlich?« Er deutete zur Zeitung hin. »Sie feiert und genießt ihr Leben.«
»Nein. Da ist irgendwas faul an der Sache, deswegen muss ich hinfahren.«
»Das ist doch Unsinn! Wir können jetzt nicht Urlaub nehmen, ich eröffne in ein paar Wochen meine Kanzlei.«
»Hendrik, ich weiß, dass der Zeitpunkt ungünstig ist.«
»Ungünstig?« Hohn lag in seiner Stimme. »Das ist die Untertreibung des Jahres. Es ist unmöglich.«
»Nichts ist unmöglich.« Es war nur ein Flüstern, Hendrik hatte es nicht gehört, denn er sprach bereits weiter.
»Überhaupt, was tust du auf Sylt? Willst du mit der Zeitung auf der Insel herumlaufen und alle befragen? Marie, das ist wie die berühmte Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen. Wenn Hanna da gewesen sein sollte, ist sie es vermutlich nicht mehr. Sie kann mit ihrem Geld um die ganze Welt reisen.«
Marie umschlang sich selbst, weil sie spürte, dass sie zu zittern anfing. »Thorben hat mir sämtliche Unterlagen von ihrem Syltaufenthalt gegeben. Wo sie gewohnt haben, was sie unternommen haben, da werde ich anfangen.«
»Wofür hältst du dich? Für Miss Marple? Das ist eine hirnverbrannte Idee.«
Marie schwieg. Was sollte sie darauf antworten? Im Grunde hatte er recht, sie war keine Detektivin, sie war nicht einmal besonders mutig. Der Gedanke daran, auf eigene Faust Ermittlungen anzustellen, Leute zu befragen und womöglich bei ihrer Suche auf verlassene Orte zu stoßen, verursachte Magengrummeln bei ihr.
Aber dann sah sie wieder Hanna vor sich, ihre Freundin seit Kindertagen.
Sie hatte keine Wahl.
»Na also«, sagte Hendrik, der ihr Schweigen wohl als Zustimmung gedeutet hatte. »Vergessen wir das Ganze. Was hältst du von meiner Idee mit der Hochzeit?«
»Nichts«, fuhr sie ihn an. »Ich werde meinen Plan nicht aufgeben.«
»Du bist heute nicht du selbst, Marie. Morgen siehst du wieder klarer …«
»Ich sehe sonnenklar. Und ich werde nach Sylt fahren.«
»Das kommt nicht infrage.«
»Was soll das heißen?« Sie starrte ihn an.
»Eben das. Ich untersage es dir.«
Sekundenlang war es totenstill. Dann griff Marie zu ihrer Zeitung und ging ins Schlafzimmer. Mit einem Ruck zog sie ihren Koffer hervor, mit dem sie vor wenigen Wochen erst eingezogen war, und begann hektisch ihre Sachen zu packen.
Hendrik war plötzlich neben ihr. »Komm wieder zu dir, Marie.«
»Nein! Ich lasse mir von dir nichts verbieten.«
»Gut.« Er verschränkte die Arme. »Dann muss ich dich zu deinem Glück zwingen. Wenn du jetzt gehst, betrachte ich unsere Verlobung als beendet.«
»Morgen früh bin ich hier raus.« Marie sah auf ihre Uhr. »Pardon, heute.«
Marie
Marie hatte in der Nacht kaum Schlaf gefunden, am Vormittag ihre Sachen gepackt und war anschließend zum Alpenglück gefahren. Sie hatte gekündigt, und da sie noch Urlaub gut hatte, war sie sofort gegangen, auch wenn der Personalchef nicht begeistert gewesen war. Nun befand sie sich auf dem Weg nach Hause.
Jedes Mal, wenn sie die schmale Straße zu ihrem Elternhaus einbog, überkam sie ein warmes Gefühl. Marie mochte das Tiroler Bauernhaus mit dem Holzbalkon rundum. Die Blumentröge waren mit zahlreichen bunten Blumen bestückt. Rote und lila Geranien wechselten ab mit Petunien, in den Farben Blau, Weiß, Violett und Gelb. Ihre Mutter hatte immer schon einen grünen Daumen besessen.
Marie stoppte den Motor und sah noch ein paar Sekunden ehrfurchtsvoll hinaus. In der Nachmittagssonne bot ihr ehemaliges Zuhause einen besonders tollen Anblick. Zum ersten Mal seit gestern wich die innere Starre von ihr.
Es war nicht nur das Haus, das bei Marie heimelige Gefühle auslöste. Sondern vielmehr die Gewissheit, dass sie hier immer mit offenen Armen empfangen wurde.
Sie stieg aus ihrem Wagen, angelte ihre Tasche vom Rücksitz. Im Kofferraum befanden sich noch ihr Koffer und ein Karton mit ihren restlichen Habseligkeiten, mit denen sie in froher Erwartung bei Hendrik eingezogen war. Die wollte sie später holen. Mit großen Schritten ging sie auf die Eingangstür zu.
Ihre Ankunft war nicht unbemerkt geblieben.
»Tante Marie, Tante Marie!« Ein Ball flog auf sie zu, sie duckte sich gerade rechtzeitig. Dicht dahinter stürzten ihre beiden Neffen, Jörg und Simon, auf sie zu und umarmten sie heftig.
»Lässt du dich auch mal blicken?«, ertönte die tiefe Stimme ihres Bruders.
Dann fand sie sich schon in seiner bärenstarken Umarmung wieder. Ihre Tasche glitt zu Boden, während sie nun ebenfalls ihre Arme um ihn schlang. Thilo war sieben Jahre älter als sie und ihr Held.
»Marie, das ist aber eine Überraschung.« Mama strahlte, was sie jünger als ihre fünfundsechzig Jahre aussehen ließ. Dann fiel ihr Blick auf die Tasche auf dem Boden. »Was ist passiert?«
»Ich muss euch einiges erzählen.« Tatsächlich wusste Marie im Moment nicht, womit sie beginnen sollte, und hob ihre Sporttasche auf.
»Wo ist mein Mädchen?« Papa. Marie ließ das Gepäckstück erneut fallen und flüchtete in seine Umarmung.
Während der gesamten Fahrt hatte sie sich mies gefühlt, daher tat der herzliche Empfang gut.
Ihre Eltern waren immer für sie da gewesen.
Nun konnte Marie nicht verhindern, dass ihr Tränen über die Wangen liefen.
»Alles gut.« Papa drückte sie noch einmal fest und schob sie schließlich von sich. »Jetzt packst du erst mal aus, und dann erzählst du uns, was passiert ist.«
Thilo holte bereits ihren Koffer aus dem Wagen und trug ihn die Treppe hinauf. Zwar war oben nun das Reich ihres Bruders mit Familie, dennoch hatte sie immer noch ihr kleines Zimmer behalten.
Mit besorgtem Blick stellte Thilo den Koffer ab. »Wenn du bereit bist, komm runter.«
Eine halbe Stunde später saßen sie alle zusammen am Kaffeetisch, es war wie früher. Fast. Nur Hanna fehlte.
Ihre Freundin hatte fest zur Familie gehört.
Dafür stand Luise, Thilos Frau, auf und umarmte Marie ebenso herzlich wie der Rest der Familie.
Mama brachte Kuchen und Kaffee. Nachdem alle ein Stück vom Gugelhupf erhalten hatten und mit Kaffee versorgt waren, legte Marie die Zeitung auf den Tisch.
»Wahnsinn, das ist doch Hanna?« Mama holte ihre Brille vom Regal und setzte sie auf. »Eindeutig. Sie sieht allerdings mit der Frisur ein wenig fremd aus.«
»Wie alt ist das Bild?« Papa strich mit dem Finger darüber. Für ihre Eltern war Hanna wie eine zweite Tochter gewesen.
»Das weiß ich nicht. Gestern habe ich die Zeitung einem Gast entrissen.« Und dann sprudelte die gesamte Misere aus ihr heraus, kein Job, kein Verlobter, keine Zukunftsaussichten.
Thilo sprach als Erster. »Also so richtig warm geworden bin ich mit Hendrik ohnehin nie. Hanna hat ihn ebenfalls nicht gemocht.«
»Stimmt«, bestätigte Luise.
Marie war dankbar, dass keine Vorwürfe kamen. Das hatte sie auch nicht erwartet. »Genauso wenig, wie ich Thorben leiden konnte.« Dass sie ihre Partner gegenseitig nicht akzeptiert hatten, war ein Wermutstropfen in ihrer innigen Freundschaft gewesen. Daher war es schwierig gewesen, zu viert etwas zu unternehmen.
Mama hatte die Stirn in Falten gelegt, ein Zeichen, dass sie sich sorgte. »Was willst du jetzt machen? Der Job in Innsbruck wäre eine gewaltige Chance gewesen. Das Jobben auf den Skihütten, das ist schließlich nichts auf Dauer.«
»Annelies, das hat ihr doch keine Freude bereitet, nicht wahr?« Papa war wie so oft auf ihrer Seite. »Auch wenn es ›Alpenglück‹ heißt, so war sie nie glücklich da.«
»Hast du wirklich erwartet, dass Hendrik alles stehen und liegen lässt und mit dir nach Sylt fährt?« Thilo schüttelte den Kopf. »Selbst wenn er nicht gerade vor der Eröffnung seiner Kanzlei stünde, der wäre viel zu egoistisch dazu.«
Marie spielte mit ihren Fingern. »Zumindest habe ich nicht damit gerechnet, dass er mir ein Ultimatum stellt, das hätte ich ihm echt nicht zugetraut. Und wisst ihr was? Ich musste nicht eine Sekunde nachdenken, was mir wichtiger ist.«
»Du fährst nach Sylt – und dann?« Mama deutete auf den Kuchen vor Marie. »Iss ein wenig, das muntert auf.«
Marie lächelte und nahm die Kuchengabel. »Ich lasse es auf mich zukommen. Irgendwas sagt mir, ich soll hinfahren. Die letzten Orte aufsuchen, an denen Hanna war. Vielleicht treffe ich Leute, die sie kannten. Ich weiß es auch nicht.« Sie nahm einen Bissen. »Mhm, deine Kuchen haben mir gefehlt, Mama.«
»Kindskopf, so lange bist du noch nicht weg.« Mama wirkte trotz ihrer Worte geschmeichelt.
»Wo willst du wohnen? Wovon leben? Deine Ersparnisse halten nicht ewig?« Papa klang besorgt.
»Ich finde einen Job. Ist schließlich EU. Und Kellnerinnen braucht man überall, es ist Hauptsaison.« Die Erinnerung an die unschöne Szene mit dem Personalchef vom Alpenglück heute Vormittag lag ihr im Magen. Der sonst immer freundliche Mann hatte ihr zu verstehen gegeben, dass sie es sich sparen könne, sich noch einmal bei ihnen um einen Posten zu bewerben. Sowie in jedem anderen Hotel in Innsbruck. Pflichtvergessen und verantwortungslos hatte er sie genannt. Und vermutlich hatte er von seiner Warte aus gesehen recht.
»Ich bin mir nicht sicher.« Mama griff nach der Kaffeekanne und begann reihum nachzuschenken. »Ehrlich gesagt mache ich mir Sorgen. Wenn sich deine Befürchtung bestätigt und Hanna etwas zugestoßen ist, wer sagt, dass dir nicht dasselbe passiert?«
Thilo schnitt sich ein zweites Stück Gugelhupf ab. »Was glaubst du denn, das du finden wirst?«
Marie seufzte. »Ich weiß es nicht. Es klingt verrückt, aber so ist es.« Sie senkte den Kopf. »Ich würde mir wünschen, dass Hanna noch am Leben ist und vielleicht ihr Gedächtnis verloren hat.«
»Ich sage nicht, dass es komplett unmöglich ist, aber …« Luise nahm Maries Hand.
Marie liebte ihre Einfühlsamkeit. »Es gibt immer ein Aber. Dennoch bin ich mir sicher, dass ich das Richtige tue.«
»Wie willst du vorgehen?« Papa rührte in seiner Kaffeetasse.
»Wenn ich das wüsste.«
»Gehen wir es mal durch.« Mama war immer praktisch veranlagt. »Du fährst mit deinem alten Auto nach Sylt, vermutlich musst du irgendwo Zwischenstation machen, denn es sind über tausendzweihundert Kilometer.«
Marie musste schlucken. So eine weite Strecke war sie noch nie zuvor gefahren, schon gar nicht allein. »Ich werde mir auf der Karte ansehen, wo es günstig ist, eine Pause einzulegen. Es ist Sommer, ich nehme das Zelt mit.«
Ihr kamen die ersten Zweifel.
»Sylt ist eine Insel, da musst du mit dem Zug hinüber«, erklärte ihr Simon und hielt sein Handy hoch. Ihr zehnjähriger Neffe hatte offenbar gegoogelt.
»Wow, das ist spannend.« Jörg, der jüngere und wildere der Brüder, wirkte begeistert. »Nimmst du mich mit?«
»Ganz sicher hat deine Tante Verwendung für einen Rabauken wie dich«, lachte Luise und wuschelte ihm durchs Haar.
»Tu es, Marie«, hörte sie plötzlich Mama sagen. »Die letzten Monate konntest du nicht mit der Sache abschließen. Vielleicht findest du heraus, wo Hanna ist. Selbst wenn dir das nicht gelingt, so hast du es wenigstens versucht.«
»Ich glaube auch, dass es das Beste ist.« Luise lächelte. »Du schaffst das.«
»Und wehe, du meldest dich nicht stündlich bei uns!« Thilo drohte mit dem Zeigefinger.
»Stündlich?«
»Zumindest täglich.«
»Der Meinung bin ich auch.« Papa schob ihr die Zuckerdose hin. »Trink einen Schluck Kaffee, und dann planen wir deine Reise.«
Marie angelte ein Stück Würfelzucker und tat es in ihren Kaffee, der vermutlich bereits kalt geworden war.
Dennoch war ihr warm. Ihre Familie verstand sie und hielt zu ihr.
Marie
Sie hatte es tatsächlich bis hierher geschafft. Marie saß in ihrem Wagen und sah nach links und rechts. Viel war nicht zu sehen, denn Regen und Nebelschwaden ließen keine weitreichenden Blicke zu. Aber zum ersten Mal seit Tagen hatte sie das Gefühl, wieder atmen zu können.
Ihr alter, kleiner Fiat hatte den weiten Weg ohne Pannen bewältigt. Nun war sie auf der Überfahrt über den Hindenburgdamm von Niebüll nach Sylt. Sie hatte die Fahrt in drei Etappen zurückgelegt und auf Campingplätzen übernachtet. Nach zahlreichen Campingurlauben mit ihren Eltern war sie eine versierte Camperin geworden, und ihr praktisches kleines Zelt war mit wenigen Handgriffen aufgestellt.
Ihre Ersparnisse würden eine Zeit lang ausreichen, jedoch wollte sie trotzdem so rasch wie möglich einen Job suchen.
Sie wählte Mamas Nummer. »Ich bin fast da und fahre bereits mit dem Sylt-Shuttle nach Westerland.«
»Ah, gut.« Sie konnte Mamas Stimme anhören, dass diese erleichtert war.
»Es war gut, dass ich einen Platz auf dem Shuttle online gebucht habe, der Zug ist ziemlich voll.«
»Vermutlich, weil Hauptsaison ist. Ich habe mal gehört, dass Sylt die Lieblingsinsel der Deutschen ist.«
»Ja, scheint so. Ist bei euch alles okay?«
»Ist es. Übrigens hat deine ehemalige Chefin angerufen und gefragt, ob du wirklich losgefahren bist, ich hatte so ein wenig das Gefühl, dass sie dich zurückgenommen hätten, wegen des ständigen Personalmangels.«
»Ist nicht mehr so einfach, seit Corona haben viele gewechselt.«
»Vielleicht klappt es, wenn du wieder zurückkommst.«
»Möglich.« Jetzt wollte sie nicht darüber nachdenken. Beim besten Willen konnte sie sich eine Rückkehr in den großen Hotelkasten nicht vorstellen. Nein, ins Alpenglück wollte sie nicht mehr.
Glück sah für sie anders aus.
Mit Wehmut erinnerte sie sich daran, wie toll es gewesen war, mit Hanna auf den Almhütten zu kellnern! Die Saisonjobs hatten ihnen beiden Spaß gemacht. Es ging locker zu, und sie hatte im Winter mit den Skifahrern, im Sommer mit Wanderern lustige Gespräche führen können.
Mit Hanna war alles fantastisch gewesen.
Im Prinzip war ihre Freundschaft immer nur durch Thorben und Hendrik getrübt worden. Hanna hatte Hendrik als »Mann mit Stock im Hintern« bezeichnet, während für Marie Thorben ein Taugenichts war, der nichts auf die Reihe bekam und ihre Freundin auch noch betrog.
Hanna. Wo mochte sie sein?
Marie fuhr in eine unklare Zukunft, auf Sylt hatte sie nicht einmal ein Quartier. Aber zur Not würde sie auf dem Campingplatz schlafen.
Ihre Aufregung ließ ihr Herz pumpen, der Druck im Magen verstärkte sich. Würde sie endlich erfahren, was mit Hanna geschehen war? Konnte es sein, dass ihre Freundin sie wirklich nicht mehr sehen wollte? Die Ungewissheit machte sie total verrückt.
Dann sollte sie ihr das selbst ins Gesicht sagen. Die Hanna, die sie gekannt und geliebt hatte, hätte sich niemals feige verdrückt.
In Westerland angekommen, ließ Marie den Stau hinter sich und suchte den Weg nach Wenningstedt.
Dort hatten Thorben und Hanna im vergangenen Oktober eine kleine Wohnung gemietet.
Sie fand das Apartmenthaus auf Anhieb, doch parken war nur für die Mieter erlaubt. So suchte sie nach einem öffentlichen Parkplatz.
Kalte Luft fegte ihr ins Gesicht, als sie ausstieg. Es nieselte, und Marie bekam eine Vorahnung vom sogenannten »Schietwetter«. Einen Regenschirm konnte sie bei der steifen Brise nicht aufspannen, aber sie hatte eine wetterfeste Jacke mit Kapuze. Die fünf Minuten vom Auto bis zu der modernen Wohnanlage kamen ihr vor wie eine Ewigkeit. Der Wind blies ihr die Regentropfen ins Gesicht.
Schließlich stand sie vor dem Gebäude und starrte darauf. Sie wünschte sich, Hanna käme plötzlich heraus, und sie könnten sich in die Arme fallen.
Mehrere Menschen waren unterwegs, doch niemand beachtete sie. Ob sie sich an die Vermieterfirma wenden sollte? Es war bereits nach drei Uhr, sie sollte sich schleunigst um eine Unterkunft bemühen.
In ihrer Handtasche suchte sie den Zettel von der Apartmentvermittlung heraus. Auf dem kleinen Plan sah sie, dass das Büro ganz in der Nähe war, und so machte sie sich zu Fuß auf den Weg.
Zehn Minuten später wusste sie, dass alle Apartments belegt waren.
»Wissen Sie, ob bald etwas frei wird?« Sie lächelte den jungen Mann durch die Trennscheibe an, doch er sah nicht einmal hoch.
»Es ist Hochsaison, und wir vermieten hauptsächlich über das Internet.«
»Da ist nichts zu machen?«
»Tut mir leid.«
»Vielleicht sagt jemand ab?«
»Das kommt selten vor.«
»Vielleicht ja wegen Corona.« Marie wollte nicht so leicht aufgeben. »Könnte doch sein, dass wer krank wird. Ich könnte Ihnen meine Telefonnummer dalassen, für den Fall.«
»Das können wir so machen, aber fragen Sie lieber in der Tourismuszentrale nach, ob irgendwo ein Zimmer frei ist.«
Der Bedienstete klang höflich, trotzdem hatte Marie das Gefühl, dass er keineswegs die Absicht hatte anzurufen. Lächelnd bedankte sie sich und stand gleich darauf wieder draußen auf der Straße. Es regnete nun stärker, der Wind schien noch einen Tick an Kraft zugelegt zu haben.
So wanderte sie zurück und erfuhr im kleinen Tourismusbüro, dass keine freien Zimmer zur Verfügung standen. Also fuhr sie mit dem Auto Richtung Kampen zum dortigen Campingplatz.
Der Betreiber, ein stämmiger älterer Herr, den sie sich gut als Kapitän auf einem Kutter vorstellen konnte, lachte sich fast kaputt. »Mensch, Mädchen, du kannst doch bei dem Wind kein Zelt aufstellen.« Dabei zwirbelte er seinen Schnauzbart.
Marie betrachtete ihn fasziniert, denn sie hatte noch nie so ein gewaltiges Teil gesehen.
»Ein Zelt, das ist zum Totlachen. Da fliegste gleich mit zum Festland. Hier kommen alle mit dem Wohnwagen.«
Weshalb hatte sie das nicht bedacht? Oder sich ausgiebiger informiert? Ihre Eltern hatten ihr noch geraten, sich mehr Zeit für die Reisevorbereitungen zu nehmen, aber sie hatte es einfach eilig gehabt.
Sie hätte sich vorher ein Quartier besorgen müssen.
»Was mache ich denn jetzt?« Sie knetete ratlos ihre Finger. »Im Tourismusbüro haben sie mir ebenfalls gesagt, dass nichts frei ist.«
»Ja, Juli und August sind die meisten Touristen hier.« Er schüttelte den Kopf. »Mädel, was mach ich bloß mit dir?«
»Darf ich hier im Auto schlafen?« Es würde zwar unbequem sein, denn der kleine Fiat war vollgepackt, aber auf einem Campingplatz könnte sie wenigstens in der Sanitäranlage duschen.
Selbst schuld, eine schlaflose Nacht würde sie nicht umbringen.
Der Kapitän, wie sie ihn bereits insgeheim nannte, runzelte die Stirn. »Ich hab eine bessere Idee, der Wohnwagen von meinem Kumpel steht grad leer, er kommt immer nur am Wochenende. Ich ruf ihn an und frage ihn, ob du ihn benutzen darfst.«
»Wirklich? Sie sind ein Schatz.«
»Nix mit Sie. Ich bin der Johnny. Eigentlich Jonathan, aber keiner nennt mich so.« Er lachte, es klang wie ein tiefes Brummen.
Zehn Minuten später führte der behäbige Mann Marie zu einem abseits stehenden Wohnwagen. Er schien nicht mehr das neueste Modell zu sein, aber immerhin hatte sie ein Dach über dem Kopf.
»Toiletten und Waschräume sind da hinten. Und ein Restaurant gibt’s auch hier. Bist du geimpft?«
Die Standardfrage. »Ja.«
»Das ist gut, denn sonst wär ein Test nötig, und jetzt am Abend hat keine Teststation mehr auf. Vergiss deinen Nachweis nicht, aber was red ich, ihr Jungen fühlt euch eh nackt ohne Handy.« Wieder ertönte das sympathische Lachen.
Im Wohnwagen roch es ein wenig abgestanden, also ließ Marie die Tür offen, um zu lüften, während sie aus dem Auto das Nötigste herausholte.
Da ihr Magen knurrte, beschloss sie, essen zu gehen, und war überrascht, dass es sich statt der erwarteten Imbissbude um ein nettes Lokal handelte. Es war bereits ziemlich voll, doch Marie fand Platz bei einem Ehepaar. Sie bestellte Backfisch mit Kartoffelsalat. Die älteren Leute kamen aus Hamburg und waren regelmäßig auf Sylt im Urlaub.
»Dann kennen Sie Sylt bestimmt in- und auswendig?«, fragte Marie.
»Das will ich meinen, wir haben die Insel von oben bis unten durchforstet.« Der liebenswerte Glatzkopf beugte sich vor. »Brauchen Sie ein paar Tipps von uns?«