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Vertraue niemandem, denn auch der Schatten einer weißen Rose ist schwarz.
Jana und Felix’ Ehe ist am Ende. Nach dem Unfalltod ihres gemeinsamen Sohnes verhält Felix sich distanziert und kühl und lässt Jana mit ihrer Trauer allein. Nur ihre beste Freundin Marlene und Janas Schwager Fabian, der Gefühle für sie hegt, stehen ihr zur Seite und helfen ihr, nach dem Verlust wieder auf die Beine zu kommen.
Während eines gemeinsamen Wochenendes mit Marlene erhält Jana eine schreckliche Nachricht: Felix ist tot. Was zunächst wie ein Suizid scheint, entpuppt sich schon bald als eiskalter Mord. Hauptkommissar Hahn ist sich sicher: Wer auch immer Felix ermordet hat, ist nun auch hinter Jana her. Immer mehr Geheimnisse kommen ans Licht, die Janas Welt erschüttern. Sie hatte geglaubt, ihren Mann zu kennen, nun scheint er in illegale Geschäfte verwickelt gewesen zu sein. War der Unfall, der ihrem Sohn das Leben gekostet hat, womöglich gar kein Unfall? Und was verbirgt Marlene vor Jana? Jana bleibt nur eines: fliehen.
Allein in einer fremden Stadt entwickelt sie schon bald Gefühle für ihren mysteriösen und verschlossenen Nachbarn. Kann sie Niklas vertrauen und den Mördern ihres Mannes entkommen?
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Lotte R. Wöss
Über das Buch:
Vertraue niemandem, denn auch der Schatten einer weißen Rose ist schwarz.
Jana und Felix’ Ehe ist am Ende. Nach dem Unfalltod ihres gemeinsamen Sohnes verhält Felix sich distanziert und kühl und lässt Jana mit ihrer Trauer allein. Nur ihre beste Freundin Marlene und Janas Schwager Fabian, der Gefühle für sie hegt, stehen ihr zur Seite und helfen ihr, nach dem Verlust wieder auf die Beine zu kommen.
Während eines gemeinsamen Wochenendes mit Marlene erhält Jana eine schreckliche Nachricht: Felix ist tot. Was zunächst wie ein Suizid scheint, entpuppt sich schon bald als eiskalter Mord. Hauptkommissar Hahn ist sich sicher: Wer auch immer Felix ermordet hat, ist nun auch hinter Jana her. Immer mehr Geheimnisse kommen ans Licht, die Janas Welt erschüttern. Sie hatte geglaubt, ihren Mann zu kennen, nun scheint er in illegale Geschäfte verwickelt gewesen zu sein. War der Unfall, der ihrem Sohn das Leben gekostet hat, womöglich gar kein Unfall? Und was verbirgt Marlene vor Jana? Jana bleibt nur eines: fliehen.
Allein in einer fremden Stadt entwickelt sie schon bald Gefühle für ihren mysteriösen und verschlossenen Nachbarn. Kann sie Niklas vertrauen und den Mördern ihres Mannes entkommen?
Die Autorin:
Lotte R. Wöss, geboren 1959 in Graz, absolvierte nach der Matura die Ausbildung zur Diplom-Krankenschwester.
Schon als Kind schrieb und dichtete sie, es folgten Artikel und Gedichte für kleine Zeitungen, doch erst im reiferen Alter fand sie zurück zu ihrer Leidenschaft, dem Schreiben, und veröffentlichte ihren Debütroman »Schmetterlinge im Himmel« als Selfpublisherin. Mittlerweile hat sie zahlreiche Liebesromane, Krimis und auch Kurzgeschichten veröffentlicht, sowohl als Selfpublisherin als auch in Verlagen.
Ihr bevorzugtes Genre bleiben aber Liebesgeschichten mit Tiefgang. Die Entwicklung, die ein Mensch machen kann, die Möglichkeit, an sich selbst zu arbeiten und einen Reifeprozess durchzumachen – das ist für Wöss Thema Nummer eins.
Lotte R. Wöss
Roman
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Mai © 2023 Empire-Verlag
Empire-Verlag OG, Lofer 416, 5090 Lofer
Lektorat: Nicole Siemer
Korrektorat: Heidemarie Rabe
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Cover: Chris Gilcher
http://buchcoverdesign.de/
Illustrationen: Adobe Stock ID 568475977, Adobe Stock ID 566127409 und freepik.com.
Felix
»Ihre Frau hat die Operation gut überstanden.«
Der Arzt stand vor ihm. Erleichterung durchflutete Felix, doch gleich darauf durchfuhr es ihn kalt. »Was ist mit …?« Er befeuchtete seine Lippen, die sich rissig anfühlten wie eine Kraterlandschaft, »… dem Baby? Wie geht es ihm?«
»Es tut mir leid.«
Sämtliche Konturen vor ihm schienen sich in schwarzem Nebel aufzulösen. Die weiteren Worte des Arztes hörte er nicht, stattdessen sank er auf dem Stuhl zusammen. Jemand berührte seinen Oberarm. Eine junge Schwester hielt ihm ein Glas Wasser hin.
»Herr Winter?«
Felix schüttelte den Kopf. Tränen verschleierten seinen Blick. Er versuchte, sich zu konzentrieren, trotzdem kamen nur Bruchstücke der Worte des Arztes bei ihm an.
»Der Aufprall war sehr hart … zu viel Zeit vergangen, bis Ihre Frau gefunden wurde … alles getan … Ihre Frau wird wieder gesund … schläft jetzt … Intensivstation …«
»Kann ich sie sehen?« Felix stand auf. »Und meinen … Sohn?«
»Natürlich. Die Schwester wird Sie hinbringen.«
* * *
Jana so liegen zu sehen, Schläuche, wohin er sah, verursachte ihm Übelkeit. Eine halbe Stunde saß er bei ihr und hielt ihre Hand. Sie würde wieder gesund werden.
Schlimmer war der Anblick seines Kindes, eingeschlagen in ein grünes Operationstuch, das Gesichtchen notdürftig abgewischt.
Ein winziger Mensch, der niemals geatmet hatte. Felix stand da und merkte erst, dass er selbst die Luft angehalten hatte, als sein Körper japsend nach Sauerstoff verlangte.
* * *
Eine halbe Stunde saß er in seinem BMW. Es dämmerte langsam. Regungslos sah er aus dem Fenster mit Blick auf die Augsburger Klinik, ohne den Wagen zu starten. Seine Augen brannten, doch es kamen keine Tränen. In ihm brodelte es, drohte überzukochen.
Es war seine Schuld. Er hatte gewusst, dass sie ihm das nicht durchgehen lassen würden. Sämtliche Drohungen hatte er ignoriert. Nun hatte er die Rechnung erhalten.
Aber nicht mit ihm. Er würde sich rächen, der Tod seines Sohnes sollte nicht ungesühnt bleiben. Big Boss würde ihn kennenlernen, sobald er seine Identität gelüftet hätte.
Felix scrollte in seinem Handy und tippte auf ›Fabian‹. Sein Bruder meldete sich mit verschlafener Stimme. »Ich hoffe, es ist wichtig.«
»Jana hatte einen Unfall.«
»Scheiße. Wie geht es ihr?«
»Sie wurde operiert, den Umständen entsprechend. Aber das Baby hat nicht überlebt.«
Er hörte Fabian heftig atmen. »Mensch, Felix, du hättest …«
»Nein!« Er fühlte förmlich, wie seine Stimme durch die Luft schnitt. Ohne Verabschiedung beendete er das Gespräch und scrollte sich durch seine Kontakte.
Bei einem Namen blieb er hängen. Marlene.
Jana
Ein Jahr später
»Warum willst du dich nicht scheiden lassen?« Marlene war immer schon direkt gewesen, hatte nicht lange um den heißen Brei geredet. Sie warf ihr blondes Haar zurück und nippte an ihrem Kaffee.
Scheidung? Das Wort erwischte Jana eiskalt.
»Wir haben noch kein einziges Mal über eine Trennung gesprochen«, erwiderte sie zaghaft auf die Frage.
Ein erholsames Frauenwochenende näherte sich dem Ende. Nun saßen sie am Frühstückstisch, Jana hatte sich ein Müsli mit frischen Früchten geholt, Marlene Schinken mit Ei.
»Solltest du aber. Seit dem Tod des Babys hat Felix dich im Stich gelassen. Ich sehe ja, wie du leidest. Nicht einmal unser Wochenende hat er dir gegönnt.«
»Er war sauer. Ausgerechnet diesmal hatte er offenbar gemeinsame«, sie malte Gänsefüßchen in die Luft, »Pläne mit mir. Seit meinem Unfall haben wir nie mehr etwas zusammen unternommen, ich war lediglich ein Möbelstück für ihn. Fast hätte ich nachgegeben, er hatte diesen Blick drauf, den liebevollen, wie damals.« Jana schluckte. »Aber schließlich ist er in seinem Arbeitszimmer verschwunden, wie immer, und hat mich stehen lassen. Ich Idiotin hab dann sogar Tante Helma angerufen und sie um Rat gefragt. Du weißt, wie nahe sie mir steht. Vor allem seit meine Mutter auf Mallorca lebt.«
»Sie ist wirklich ein Schatz.«
»Ja, sie war das ganze Jahr hindurch immer für mich da. Dabei ist sie nicht mal meine Tante, sondern die von Felix. Weißt du, was sie gesagt hat?« Sie verstellte ihre Stimme eine Oktave höher. »Kindchen, du musst mal raus aus dem Sumpf! Hach, am liebsten würde ich meinen Neffen an den Ohren packen, weil er so stur ist. Ihr seid bei der Hochzeit ein so wundervolles Paar gewesen.« Jana brach ab, fast hätte sie geweint. Helma war so weichherzig.
Marlene nahm einen Schluck Kaffee.
Jana rührte in ihrem Müsli. »Ich weiß, dass ich so nicht weiterleben kann«, sagte sie leise.
»Jana, du bist unglücklich. Das sieht jeder, nur dein Mann verschließt die Augen.« Marlene griff nach ihrer Hand. »So kann es nicht weitergehen. Du solltest vielleicht wieder arbeiten, ich weiß, wie sehr dir das Krankenhaus fehlt. Während unserer Ausbildung warst du diejenige, die förmlich für den Job gebrannt hat. Ich werde nie begreifen, weshalb Felix nicht wollte, dass du deinen Beruf ausübst.«
»Es wäre nicht nötig, hat er immer gesagt. Schließlich verdiene er genug.« Jana schob sich einen Löffel Müsli in den Mund und zog gleichzeitig ihre andere Hand zurück.
Sie waren an diesem Tag ausnahmsweise fast die Letzten im gemütlichen Frühstücksraum mit den rot karierten Tischdecken. In den vergangenen drei Tagen hatte sich zum ersten Mal seit dem Unfall ein gewisses Gefühl der Unbeschwertheit eingestellt.
Marlene hatte recht, sie sollte wieder im Krankenhaus arbeiten. Es herrschte permanenter Mangel an Pflegekräften. Sie musste etwas tun. Alles war besser, als daheim allein herumzusitzen. Felix kompensierte seinen Schmerz mit einem gewaltigen Arbeitspensum. Zwar verbrachte er die Abende meistens zu Hause, verschanzte sich jedoch in seinem Arbeitszimmer.
Von einem weiteren Kind wollte er nichts wissen.
Wie auch, da er ihr gemeinsames Bett mied wie die Pest.
»Felix und ich waren so unglaublich verliebt ineinander.« Sie sah auf. »Das kann doch nicht innerhalb eines Jahres einfach verschwinden.«
»Ihr konntet Lukas’ Tod nie richtig aufarbeiten. Aber daran bist nicht du schuld, sondern Felix, weil er jedes Gespräch abblockt.« Marlene schob ihren leeren Teller zurück und stand auf. »Ich hole mir noch ein paar Früchte. Eine solche Auswahl gibt es zu Hause nicht.«
Jana löffelte ihr Müsli zu Ende. War es wirklich nur Felix’ Schuld? Er hatte sich seit dem Unglück verändert. Sie hatte eine Stunde eingeklemmt im Wagen gelegen, ehe die Feuerwehr sie hatte befreien können. Da hatte sie bereits viel Blut verloren und ihr Baby war gestorben. Seitdem war sie nicht mehr dieselbe gewesen. Selbst ihr Schwager Fabian hatte das bemerkt, der sich zunehmend rührend um sie bemüht hatte. Tatsächlich hatte er sich im letzten Jahr mehr um sie gesorgt als Felix.
Und wenn sie in der schweren Zeit ihrer Rekonvaleszenz Tante Helma nicht gehabt hätte … Fast täglich hatte Helma sie besucht und sie ermuntert durchzuhalten. Die Reha war anstrengend und langsam vonstattengegangen. Und natürlich war auch Marlene für sie da gewesen. Felix hingegen war selten aufgetaucht und stets nur kurz geblieben.
Sie hatte ihr Müsli aufgegessen und griff nach ihrer Kaffeetasse. Beim Gedanken daran, in die angespannte Atmosphäre ihres Heimes zurückkehren zu müssen, bekam sie Magenkrämpfe. Ihre Versuche, Felix wieder näherzukommen, waren allesamt gescheitert.
Marlene ließ sich ihr gegenüber nieder, ein Stück Gugelhupf vor sich. »Habs mir anders überlegt, Diät machen kann ich wieder daheim.« Genussvoll biss sie ab.
Seit Jahren haderte Marlene mit ihrem Gewicht, mal mehr, mal weniger. Ihre Freundin hatte eben ein paar Pölsterchen und nach Janas Meinung genau an den richtigen Stellen.
»Dass ihr beide euren Sohn verloren habt, ist unbeschreiblich traurig.«
»Das Schlimmste ist, dass Felix mir die Schuld daran gibt.«
»Ja, aber ich verstehe das bis heute nicht. So spät war es nicht, als du von mir weggefahren bist und getrunken hast du auch nur Saft, schließlich warst du schwanger. Du bist nicht zu schnell gefahren und du hast richtig reagiert, indem du den Wagen herumgerissen hast. Sonst wäre der Mann tot gewesen. Was hätte Felix gemacht, hätte er am Steuer gesessen? Den Kerl einfach niedergemäht?«
»Der Fahrer des anderen Wagens ist weitergefahren und vom Betrunkenen war keine Spur mehr da. Die Polizei hat meine Story angezweifelt, sie denkt, ich wäre zu müde gewesen und deswegen von der Straße abgekommen. Daher glaubt auch Felix bis heute, dass ich mir alles nur eingebildet hätte und aus eigenem Verschulden über die Böschung geflogen bin.« Sie beugte sich vor. »Doch ich habe die Bilder immer noch deutlich vor mir. Das Auto mit den aufgeblendeten Scheinwerfern, nur deshalb habe ich den torkelnden Mann viel zu spät gesehen. Ich habe das Lenkrad herumgerissen und konnte dem Abhang nicht mehr ausweichen.« Sie sah auf einen unbestimmten Punkt hinter Marlene, ehe sie diese schicksalhaften, alles verändernden Momente ihres Lebens ein weiteres Mal durchlebte.
Ihr Auto raste den Hang hinunter, der Baum kam abrupt näher, bis sie dagegen prallte. Sie kippte seitlich, dann war es still. Eigenartigerweise spürte sie keine Schmerzen, nur den Druck ringsum und die Panik, dass sie sich nicht mehr bewegen konnte. Sie wollte schreien, brüllen, doch kein Ton verließ ihre Lippen. Nach einer Ewigkeit sah sie Lichter – blaue, orange – und Menschen in gelben Jacken mit Leuchtstreifen. »Wir holen Sie heraus, keine Angst.« Und »Jetzt wird es ein wenig lauter.« Dann das Kreischen einer Säge.
»Wir brauchen Plasma, sobald wir sie draußen haben, wird’s kritisch.« Ein bebrillter Mann mit Mundschutz beugte sich über sie. »Versuchen Sie, ruhig zu atmen. Haben Sie Schmerzen?«
Sie wusste es nicht.
Dann ließ der unheimliche Druck plötzlich nach und Übelkeit stieg in ihr hoch. »Mein Baby … schwanger …« Es war nur ein Hauch und sie war sich nicht sicher, ob jemand es vernommen hatte.
»Jana! Komm zurück!« Marlene wedelte mit der Hand vor Janas Gesicht und riss sie damit aus ihren Gedanken. »Es tut mir leid. Ich hätte das nicht anschneiden dürfen. Themenwechsel. Versprich mir, dass du mit Felix sprichst. Du solltest ihm zumindest sagen, dass du wieder arbeiten willst.«
Sie sah nun die Umgebung klarer. »Ja, das werde ich.« Es war anders geplant gewesen. Lukas – sie hatte seinen Namen auf den Grabstein schreiben lassen – wäre nun zehn Monate alt gewesen, wäre er zum errechneten Geburtstermin geboren worden.
Aber ihr kleiner Sohn war ungeboren gestorben und sie musste wieder leben. In ihrem Beruf tätig zu sein, den sie erlernt hatte und der ihr immer Spaß gemacht hatte, wäre schon mal ein Anfang.
»Und was setzt du dir für ein Ziel?«, fragte Jana nun, um von sich abzulenken. Sie hatten in den letzten Tagen hauptsächlich über sie gesprochen, deshalb hatte sie Marlene gegenüber fast ein schlechtes Gewissen. Ihre Freundin hatte immer ein offenes Ohr für ihr Gejammer. Dabei war sie selbst ständig unglücklich verliebt.
»Mich nicht mehr so oft zu ärgern.« Marlene setzte sich wieder an ihren Platz. »Männer! Immer gerate ich an die Falschen.«
Jana musste schlucken. Sämtliche Beziehungen von Marlene waren ein Griff ins Klo gewesen. Kein Wunder, dass sie frustriert war.
»Irgendwann wird jemand kommen, der dich zu schätzen weiß.« Sie drückte Marlenes Finger.
Marlene erwiderte den Druck und lächelte. »Danke, Jana, das ist lieb. Aber ganz ehrlich, bevor ich einen Mann wie Felix nehme, bleibe ich lieber allein. Tut mir leid, wenn ich das so krass sage.« Sie war bei der Hochzeit ihre Trauzeugin gewesen, doch so richtig entspannt war es zwischen ihr und Felix nie geworden. Und sein Verhalten nach dem Unfall und der Fehlgeburt hatte ebenfalls nicht dazu beigetragen, dass er bei Marlene Sympathiepunkte erhalten hätte.
Janas Handy klingelte. Auf dem Display leuchtete ›Tante Helma‹ auf.
»Hast du dich ein wenig erholen können?«, erklang es liebevoll.
»Danke, ja. Wir machen heute noch eine Wanderung zur Alpe hinauf, am Abend bin ich zu Hause.«
»Erst am Abend?« Jana konnte die Enttäuschung der alten Dame bis ins Innerste spüren. »Ich habe gestern Kirschstrudel gebacken und dachte, du kommst heute noch auf einen Kaffee vorbei.«
»Hätte ich das bloß gewusst!« Jana konnte ein Seufzen nicht unterdrücken. »Für deinen Kirschstrudel wäre ich sogar zu Fuß zu dir gelaufen. Aber ich habe Marlene versprochen, dass wir heute noch zur Alpe wandern, dort oben gibt es den besten Käse.«
»Dann werde ich euch ein Stückchen vorbeibringen, Felix mag meine Strudel auch.«
»Ja.« Der Gedanke an Felix ernüchterte sie. Als ob sich seine Laune durch ein Stück Kuchen bessern würde.
»Ich denke, Felix ist einsam. Er hat mich zum ersten Mal seit Monaten wieder angerufen.«
Jana musste schlucken. Tante Helma hatte die Entfremdung zwischen ihr und Felix mitbekommen, aber sie war ein derartiger Gutmensch, dass sie unerschütterlich an eine Versöhnung glaubte.
»Hat er von mir gesprochen?«
Das Zögern von Tante Helma war richtiggehend zu spüren. Also nein. Jana hatte es auch nicht erwartet.
»Ich konnte fühlen, dass du ihm fehlst, Schatz. Noch ein wenig Zeit und ihr seid wieder ein Herz und eine Seele. Weißt du was?« Ihre Stimme klang höher, wie immer, wenn sie aufgeregt war. »Du kommst doch früher heim und ich lade euch beide zu Kaffee und Kuchen ein, dann verschwinde ich und ihr sprecht euch einmal gründlich aus.«
»Tante Helma, Marlene …«
»Marlene bringst du einfach mit, dann wird es noch entspannter. Und ich habe einen Grund, mich zurückzuziehen, ich werde Marlene meine neuen Setzlinge zeigen, spezielle Rosen aus …«
»Marlene und Felix können sich nicht ausstehen«, unterbrach Jana rasch. Fast wäre sie auf das Angebot eingegangen, einfach nur, weil sie Helma nichts abschlagen mochte. Doch es wäre Marlene gegenüber nicht fair gewesen. Ihre Freundin legte währenddessen die restliche Hälfte ihres Kuchenstückes zurück auf den Teller und schrieb mit dem Finger ein Fragezeichen in die Luft.
Jana formte mit den Lippen beinahe lautlos das Wort Helma, die Janas Absage erahnen konnte.
»Schade«, tönte es nun enttäuscht aus dem Handy. »Aber gib trotzdem nicht auf. Felix liebt dich und ihr findet wieder zueinander, ganz bestimmt.«
Nach fast einem Jahr emotionaler Durststrecke hatte Jana die Hoffnung begraben, doch sie wollte die gefühlvolle alte Frau nicht vor den Kopf stoßen. »Hoffentlich hast du recht«, sagte sie und bemühte sich um einen hoffnungsfrohen Tonfall. Hastig trank sie einen Schluck Kaffee. Sie mochte Felix noch immer.
»Ich habe mich gefragt, ob du wohl Lust hättest, mich am Mittwoch ins Theater zu begleiten? Sie spielen den ›Zerbrochenen Krug‹ von Kleist. Ein Stück, bei dem man lachen kann«, fuhr Helma bereits fort.
Lachen klang gut. Jana überflog in Gedanken kurz den Terminplan dieses Tages. »Ich denke schon, dass ich kann. Aber falls Felix andere Pläne hat …« Was redete sie da? Felix hatte seit Monaten nichts mehr mit ihr unternommen. Er kam nur aus seinem Arbeitszimmer, wenn er was essen wollte.
»Bestimmt hat er nichts dagegen. Und Kopf hoch, Liebes! Alles kommt wieder in Ordnung, du wirst schon sehen.«
»Danke. Bis bald.« Jana legte ihr Handy achtlos neben ihren Teller.
»Deine Tante denkt, dass ihr euch wieder versöhnt?«, fragte Marlene.
»Sie hofft es.«
»Sag mal, wieso ist er eigentlich bei ihr aufgewachsen?«
»Sie ist die Schwester von seinem Vater, der zusammen mit seiner Frau bereits mit dreißig einem Autounfall zum Opfer gefallen ist. Felix war zwei, sein Bruder Fabian ein Jahr, daher haben beide keine Erinnerung an ihre Eltern.« Sie seufzte. »Irgendwie gruselig, dass ihr Enkel ebenfalls bei einem Autounfall gestorben ist.«
»Ja.« Marlene nahm sich eines der Zuckerpäckchen aus der Schale, riss es auf und ließ den Zucker in ihren Kaffee rieseln. »Möchtest du dich mit Felix versöhnen?«
Sie ging nicht direkt auf die Frage ein. »Ich habe schon einmal angesprochen, ob wir zusammen eine Therapie machen, aber er will nicht.« Tatsächlich war seine Reaktion einem Tornado gleichgekommen.
»Klar, weil er nicht einsieht, dass es nötig wäre.« Marlene schob sich einen weiteren Biss des süßen Kuchens in den Mund, kaute und schluckte. »Aber zu einer Versöhnung gehören immer zwei. Er stürzt sich in seine Arbeit und vergisst dich komplett. Und Sex habt ihr auch keinen mehr.«
Jana sog scharf die Luft ein. »Schrei noch lauter, damit es alle hören.« Ihre Wangen wurden heiß.
»Betrügt er dich?«
»Das glaube ich nicht.«
»Die Ehefrau kriegt es in der Regel zuletzt mit.«
Jana überlegte kurz, aber es gab in Felix’ Leben keine Anzeichen einer anderen Frau. »Felix möchte momentan kein Baby haben, er sagt, das wäre eine Entweihung von Lukas.«
»So ein Unsinn! Dann dürften doch alle Eltern nur ein Kind haben. Ihr vergesst Lukas nicht, wenn ihr ein zweites Baby bekämt.«
»Das habe ich auch versucht, ihm zu sagen.« Jana griff rasch nach ihrer Kaffeetasse und hoffte, ihr leichtes Zittern verbergen zu können. Felix hatte ihr nicht einmal zugehört. Das tat er schon lange nicht mehr.
Marlene schob den leeren Teller von sich. »Du musst auf andere Gedanken kommen. Zu Hause im einsamen Kinderzimmer zu sitzen, das macht dich fertig. Rede Klartext mit ihm.«
Marlene hatte es auf den Punkt gebracht. Jana hatte in den vergangenen Monaten viel zu viel Zeit in dem Raum verbracht, in dem das verwaiste Babybettchen stand.
An diesem Wochenende hatte sie sich zum ersten Mal wieder an verschiedenen Dingen freuen können.
»Du hast recht, ich rede mit Felix.« Er konnte nicht wollen, dass sie beide in dieser kalt gewordenen Ehe weiterlebten. Vielleicht aber musste sie sich doch mit dem Gedanken an eine Trennung abfinden, so sehr es ihr auch widerstrebte.
»Das ist gut. Du kannst jederzeit zu mir ziehen, wenn du dich trennst.«
Daran mochte Jana noch nicht denken. Aber gab es eine Chance, dass alles so werden könnte wie früher? Wohl kaum.
Plötzlich war ihr der Appetit vergangen. Ihr Magen drückte, wenn sie an die Auseinandersetzung mit ihrem Mann dachte. »Nach dem Essen verfrachten wir unser Gepäck ins Auto und dann nichts wie los«, sagte sie betont munter. Das Zimmer mussten sie räumen, aber ihr Auto durfte während ihrer Wanderung zur Alpe auf dem Parkplatz stehen bleiben. Dies hatten sie bereits abgeklärt.
Marlene starrte an Jana vorbei zur Tür. »Was wollen denn die hier?«
Wegen des überraschten Tonfalls drehte Jana sich um und sah zwei Polizeibeamte, die in der offenen Tür zum Frühstücksraum standen und sich suchend umsahen.
»Ob sie auf Verbrecherjagd sind?« Jana trank den letzten Schluck aus der Tasse und überlegte, ob sie sich einen Apfel als Proviant mitnehmen sollte. Vielleicht hätte sie später mehr Appetit.
»Bestimmt geht es um einen Heiratsschwindler.« Marlene kicherte wie ein kleines Mädchen. »Schließlich sind die Frauen hier in der Überzahl. Ich fand den Grauhaarigen mit dem Schnauzbart gleich verdächtig. Erinnerst du dich? Der wollte uns vorgestern an der Bar einen Bellini spendieren.«
Die Uniformierten sprachen nun mit einer Servicekraft, die zu Janas Erstaunen dann ganz offensichtlich zu ihrem Tisch deutete.
Es konnte niemand anders gemeint sein, denn hinter ihnen war die Wand, und die Plätze im Umkreis waren unbesetzt.
Jana fing den Blick des jüngeren Polizeibeamten auf, da bewegten sie sich auch schon und kamen mit langen Schritten auf sie zu.
»Frau Winter? Jana Winter?«, fragte der Ältere mit ernstem Gesichtsausdruck.
»Ja.« In ihrem Hals bildete sich ein Kloß so dick wie ein Golfball.
Der Beamte sah sich im Raum um. Es waren zwar nur noch wenige Menschen da, schließlich war es schon fast elf Uhr, dennoch sahen die Anwesenden zu ihnen herüber.
»Wer sind Sie?«, fragte der Beamte nun Marlene.
»Das ist Marlene Wagner, meine Freundin.« Jana verengte ihre Augen zu Schlitzen. »Worum geht es denn?«
»Kommen Sie bitte mit, damit wir uns ungestört unterhalten können.«
Der todernste Tonfall des Beamten sorgte dafür, dass Jana mit weichen Knien aufstand. Ihr Herz hämmerte, als wollte es die Knöpfe ihrer Bluse sprengen.
»Ich komme mit.« Marlene klang energisch.
»Wenn Frau Winter nichts dagegen hat?«
»Nein, natürlich nicht.« Jana fühlte sich gleich ein wenig wohler, nun da Marlene bei ihr blieb.
Die Beamten führten sie in den kleinen Raum hinter der Rezeption und schlossen die Tür. Was war passiert?
»Setzen Sie sich, bitte.« Der Ältere wies auf den einzigen Stuhl im Zimmerchen, das durch die Anwesenheit der beiden Männer überladen wirkte.
»Was ist los?« Sitzend fühlte Jana sich noch unterlegener. Marlene stellte sich hinter sie und legte eine Hand auf ihre Schulter.
»Sie sind die Ehefrau von Felix Winter?« Die Stimme des Beamten klang sachlich. Janas Blick fiel auf den Jüngeren, der blass wirkte und von einem Bein aufs andere trat. Hatten sie nicht zuvor schon nach ihrem Namen gefragt?
»Ja, Felix ist mein Mann.«
»Es tut mir sehr leid, Ihnen sagen zu müssen, dass Ihr Mann …« kurzes Zögern, »… verstorben ist.«
Niklas
Die Sonne blendete Niklas, als er das düstere Gebäude verließ.
Er war frei. Nach zwei Jahren war er endlich entlassen worden, natürlich mit Bewährungsauflagen. Aber das war ihm egal, er hatte nicht die Absicht, gegen irgendetwas zu verstoßen.
Das Urteil hatte er damals angenommen, tief in seinem Inneren hatte er es akzeptiert, auch wenn die Ungerechtigkeit noch manchmal an ihm nagte. Doch nun hatte er die Strafe abgesessen und Gelegenheit für einen Neustart.
Mit einunddreißig Jahren stand er wieder am Anfang, er war zurück bei seinen Eltern. Kurz sah er an der Fassade des Hochhauses hoch. Es brauchte dringend einen neuen Anstrich, wirkte aber sonst stabil. Doch Niklas wusste, dass seine Eltern bald ausziehen mussten. Die Häuser waren verkauft worden, sollten niedergerissen werden und eine teure Wohnanlage entstehen. Mutter hatte es ihm bei ihren Besuchen im Gefängnis erzählt.
Niklas betrat das Gebäude und fuhr in den vierten Stock.
Vater öffnete und umarmte ihn fest. Niklas machte sich Sorgen um ihn. Er hatte Herzprobleme und musste regelmäßig Medikamente einnehmen. Doch nun war ihm nichts anzumerken, er strahlte förmlich. Er führte Niklas ins Zimmer zum gedeckten Kaffeetisch.
Es roch nach Kaffee, ein warmes Gefühl stieg in ihm auf. Mama bereitete ihm ein herzliches Willkommen. Sie hatte Tränen in den Augen, als sie ihn mit beiden Armen umschloss, als wollte sie ihn nie mehr loslassen. Gemeinsam setzten sie sich hin. Nichts hatte sich verändert: das geblümte Kaffeegeschirr von seiner Urgroßmutter auf der karierten Tischdecke, an der gegenüberliegenden Wand die alte Kommode mit Großmutters Spitzendeckchen, darauf zahlreiche Bilder von einem lachenden Jungen mit Downsyndrom.
Jannik. Sein kleiner Bruder. Er war krank gewesen, ein Herzfehler, wie ihn sehr viele Behinderte hatten. Dies hatte man ihm jedoch nie angemerkt. Seine Unbeschwertheit und immerwährende fröhliche Laune hatte jeden in seinem Umkreis angesteckt.
Gestern hatte sich sein Todestag zum dritten Mal gejährt. Jannik war nur siebzehn Jahre alt geworden.
Mutter schnitt den Zitronenkuchen an, einen seiner Lieblingskuchen. »Es ist so schön, dass du wieder hier bist. Eine Schweinerei ist es, dass man dich ins Gefängnis gesteckt hat. Dein Anwalt war eine jämmerliche Figur!«
»Ist schon gut, Mama.« Niklas drückte ihren Arm. Sie hatte sich richtig in Rage geredet. Niklas nahm ihr den Kuchenteller aus der Hand, biss in das flaumige Gebäck und seufzte genießerisch.
»Wenigstens haben sie dir einen Teil erlassen.« Vater holte sich die Zuckerdose und nahm sich ein Stück. »Eine Gemeinheit ist das alles, da hat Mama recht.«
Niklas wollte das Thema nicht vertiefen, zu viel Zeit hatte er bereits damit verschwendet. »Wie ist es in der Rente?«, fragt er daher.
Sein Vater zuckte die Achseln. »Sparen an allen Ecken. Die Politiker machen, was sie wollen. Ich wünschte, einer von den Selbstdarstellern sollte einmal einen Monat mit unserem Geld auskommen müssen.« Er zeigte sein verschmitztes Grinsen. »Aber wir schaffen es und an jedem Monatsende denke ich, die haben uns wieder nicht kleingekriegt.«
»Ich kann leider nicht mehr putzen gehen.« Mama zerkrümelte den Kuchen auf ihrem Teller. »Ich habe eine Putzmittelallergie entwickelt, es müssen die Dämpfe sein. Ich bekomme Atemnot. Der Arzt hat mir ein Attest ausgestellt, aber das nützt halt nichts. Einen anderen Job kriege ich nicht und die Frühpension wurde abgelehnt.«
»Wir schaffen das auch so, Nele.« Vater klang energisch. »Im Grunde genommen ist es gut, dass du nicht mehr bei dieser Putzfirma bist, die haben dich ohnehin nur ausgebeutet. Wir kriegen das hin, wirst sehen.«
Niklas legte das Kuchenstück auf den Teller. Er hätte seine Eltern so gern unterstützt, aber womit? Zuerst musste er selbst wieder auf die Beine kommen. »Es tut mir so leid, dass Zarletti alle Gebäude im Umkreis aufgekauft hat, nur um euch schaden zu wollen. Und das, weil ihr meine Eltern seid. Ich fasse es nicht, dass er so rachsüchtig ist.«
»Du kannst nichts dafür.« Mutter drückte seine Hand. »Es war ein unglückseliger Unfall.«
»Du hast für deinen Fehler eine übermäßig hohe Rechnung bezahlt, Nik.« Der gute Papa! »Und sollte mir deine Ex noch einmal über den Weg laufen …« Er hob drohend die Faust.
»Dieses Luder«, stimmte nun auch Mama zu. »Sie hätte dich entlasten können und – Schwupps«, sie schnippte mit den Fingern, »war ihr Gedächtnis futsch.«
Niklas wollte sich lieber nicht an Maja erinnern. Gern hätte er erneut das Thema gewechselt, doch Papa fuhr schon fort.
»Deine Verhandlung war nicht gerecht.« Sein Vater schüttelte den Kopf. »Dass Kai-Uwe nach dem unglücklichen Sturz gelähmt war und sich in der Reha umgebracht hat, das war nicht deine Schuld.«
»Ich habe einen großen Fehler gemacht, ich hätte nicht auf Kai-Uwe losgehen sollen. Ich war es, der ihn geschubst hat, sodass er durch das morsche Geländer gebrochen ist. Und was hab ich mir dadurch eingebrockt? Schwere Körperverletzung lautete das Urteil.«
»Aber ohne Todesfolge.« Vater wischte mit der Hand durch die Luft. »Und ich wiederhole es noch einmal, dein Anwalt war eine Witzfigur! Er hätte Maja viel mehr unter Druck setzen müssen. Schließlich hast du sie verteidigt. Und sie schweigt!«
»Das begreife ich bis heute nicht. Zuerst dachte ich, sie sei sauer, weil er sie meinetwegen angegriffen hat.«
»Das kann doch nicht sein! Maja ist letzten Endes nichts passiert.« Vater schüttelte den Kopf.
»Ja. Mein Gefühl sagt mir auch, dass etwas anderes dahintergesteckt haben muss.« Niklas hob seine Hände. »Aber lassen wir das. Das Rätsel werde ich nicht lösen können. Am meisten tut es mir leid, dass ihr nun dafür büßen müsst.«
»Mach dir keinen Kopf, Nik. Es ist gut so. Was wir erleben, unsere Entscheidungen, unser Handeln und unsere Worte, das alles macht uns zu den Menschen, die wir sind. Du startest jetzt neu, auch für Mama und mich wird es einen Weg geben. Du bist nicht schuld an unserer Situation. Du weißt, dass wir mehr hätten sparen sollen all die Jahre, aber wir wollten Jannik das Bestmögliche bieten.«
Und Jannik war ein glückliches Kind gewesen.
Niklas wurde warm. Seine Eltern hatten immer zu ihm gestanden. Nach seiner Verhaftung waren ihm nicht viele Menschen geblieben, die auf seiner Seite gewesen waren.
»Ich vermisse ihn so.« Mama strich sich über die Augen. Niklas trat zu ihr und umarmte sie.
»Was wirst du nun machen?«, fragte Vater. »Zur Polizei kannst du leider nicht zurück. Eine Schande ist das, ein Jahr vorher hast du noch die vorzeitige Beförderung bekommen.«
Hoch gestiegen, schnell gefallen, dachte Niklas bei sich. Er und sein Kollege Salim waren das Dream-Team vom Drogendezernat gewesen.
»Ich werde mir so bald wie möglich einen Job suchen.« Gott sei Dank hatte er einen anderen Job gelernt, bevor er zur Polizei gegangen war. Er hatte eine Schreinerlehre hinter sich, und Handwerker wurden immer gebraucht. Fragte sich nur, ob ein potenzieller Chef tolerant genug wäre, dass er einen Ex-Knacki anstellte. Auch wenn Nik diesen Beruf nur ein paar Monate lang ausgeübt hatte, war er gut darin gewesen.
Hier in Hamburg wollte er nicht bleiben. Er brauchte einen Neuanfang.
* * *
Eine Woche später genehmigte sich Nik mit seinem Freund und ehemaligen Kollegen Salim ein Bier in ihrer Lieblingskneipe.
»Ich habe die Hälfte Absagen bekommen.« Niklas drehte sein Bierglas zwischen den Händen.
»Waren Begründungen dabei?«
»Die Stelle wäre schon besetzt, oder sie wollten nun doch niemanden – so ähnlich. Also nichts Genaues. Fadenscheinig, wenn du mich fragst.«
»Ich würde dich vom Fleck weg wieder nehmen.« Ein schiefes Lächeln umspielte Salims Lippen. »Es ist nicht das Gleiche ohne dich.«
»Unsinn! Jeder ist austauschbar.« Niklas wusste die Ansage seines Freundes zu schätzen.
»Warum sollte ich lügen? Allerdings arbeite ich nicht mehr im Drogendezernat.«
»Nein? Das hast du mir gar nicht erzählt.« Nik war wirklich überrascht, denn Salim war neben seinen Eltern der treueste Besucher in der Haftanstalt gewesen.
»Ergab sich irgendwie nicht. Ich bin nun in der Abteilung für Cyberkriminalität seit ein paar Monaten.«
»Oh, wow, spitze. Das wolltest du doch immer.« Salim war ein Ass mit sämtlichen Computerprogrammen und Niklas wusste, dass er in den letzten Jahren anspruchsvolle Fortbildungen auf dem Gebiet absolviert hatte. »Hattest du schon Erfolge?«
»Immer wieder.« Sein Tonfall wurde ernst. »Da habe ich bereits einiges erlebt, das Darknet ist ein Fass ohne Boden. Am Abend komme ich heim und möchte nichts anderes als meine Kinder drücken und die Gewissheit haben, dass ich sie vor allem behüten kann.« Salim wechselte das Thema: »Hast du Maja wiedergesehen?«
»Nein. Seit sie vor Gericht beteuert hat, dass sie sich an nichts erinnern kann – wieso sollte ich?« Niklas zuckte die Achseln. »Ich begreife immer noch nicht, weshalb sie das getan hat.«
»Wer kann schon in eine Frau hineinschauen? Aber klar, dass der Richter angenommen hat, dass sie dich schützen will und deswegen schweigt.«
»Ja.« Niklas wollte nicht mehr an sie denken.
Dieses Biest!
Er trank ein paar Schluck Bier und spürte, wie er ruhiger wurde. »Wie gehts euch sonst so? Auch Jolene und den Mädchen?«
Salim erzählte von seinen Töchtern und seiner Frau, die manchmal unter seinen unorthodoxen Arbeitszeiten litten. Es war jedoch wesentlich besser als zu der Zeit, da er noch im Drogendezernat gearbeitet hatte. Aus jedem seiner Worte klang Liebe und Zuneigung heraus und Nik beneidete ihn um sein häusliches Glück.
Obwohl sich Salim Mühe gab, da anzuknüpfen, wo ihre Freundschaft nach Niks Verhaftung geendet hatte, war es nicht mehr ganz wie früher. Salims Leben war weitergegangen, Himmel, er hatte in der Zwischenzeit zwei Töchter bekommen, während Niklas stehen geblieben war, eingesperrt hinter hohen Mauern.
Dennoch war da wieder diese Verbindung zwischen ihnen, die sie damals so aneinandergeschweißt hatte, und im Laufe des Abends kamen sie der alten Vertrautheit ein Stück näher.
»Übrigens, es geht das Gerücht um, dass Viktor Zarletti todkrank ist«, sagte Salim unvermittelt.
Ein Ruck ging durch Niklas’ Körper. »Ja?«
»Er soll ziemlich abgenommen haben und geht kaum noch aus dem Haus.«
Nik überlegte, Zarletti müsste nun Anfang sechzig sein. Er sah ihn vor sich, beleibt und glatzköpfig und vor Gericht voller Zorn und Hass ihm gegenüber.
»Und wer leitet die Firma?«
»Möglicherweise macht er einiges von zu Hause aus.« Es klang, als ob Salim selbst nicht daran glaubte. »Er hat niemanden als Kronprinzen aufgebaut. Und seien wir mal ehrlich, auch Kai-Uwe hätte das Imperium niemals übernehmen können.«
»Übernehmen vielleicht, aber nicht erfolgreich weiterführen.« Niklas hatte das schwammig aufgedunsene Gesicht des Neunzehnjährigen direkt vor Augen.
»Ich war damals am Anfang so wütend auf dich.« Salims Stimme war nun leiser geworden.
Nik sah ihm in die dunklen Augen. »Das hast du nie gesagt.«
»Nein. Ich hätte es tun sollen. Aber – na ja – du wurdest ohnehin gestraft. Ich war so zornig, dass ich dich am liebsten verprügelt hätte. Wie konntest du so dumm sein und einen drogensüchtigen Jungen dermaßen hart schubsen?«
»Auch wenn Maja es vor Gericht verschwiegen hat, er ist auf sie losgegangen. Und er hatte bereits meinen Bruder auf dem Gewissen.« Niklas holte tief Luft, denn sein Hals drohte eng zu werden. »Kai-Uwe wurde nicht einmal angeklagt!«
»Ich weiß. Und später konnte ich dein Handeln nachvollziehen. Ich habe nie daran gezweifelt, dass Kai-Uwe Maja angegriffen hat. Vermutlich mit der Absicht, dich zu provozieren.«
»Wofür ich keine Beweise hatte.«
»Dein Anwalt hätte sie besorgen müssen.«
»Der hat behauptet, niemanden gefunden zu haben, der sich an den Vorfall erinnert. Alle seien betrunken gewesen.« Niklas holte geräuschvoll Luft. »Dennoch wollte ich niemals, dass Kai-Uwe stirbt.«
»Dafür hat er selbst gesorgt.«
»Ja, aber ich hatte seine Querschnittslähmung zu verantworten.«
»Das war ein Unglück.« Salim beugte sich vor und Nik stellte fest, dass bereits ein paar Silberfäden das dunkle Haar seines Freundes durchzogen. »Dein Anwalt, dieser Florian Berger, war gekauft.«
»Wie bitte?« Niklas richtete seinen Blick wieder auf Salims Augen.
»Er steht nun auf der Gehaltsliste von Zarletti. Als Firmenjurist. Und ich wette, dass er da einen dicken Gehaltsscheck einstreicht.« Salim lehnte sich zurück. »Checkst du nun, warum keine Entlastungszeugen für dich gefunden wurden?«
Niklas fehlten die Worte. Er hatte sich damals schon gewundert, weshalb der Anwalt dermaßen darauf gedrängt hatte, dass er sich schuldig bekannte. Dass Berger, der von seinen Eltern ausgesucht worden war, weil er jung, dynamisch und unverbraucht schien, hintenherum für Zarletti gearbeitet hatte, war furchtbar.
»Es tut mir leid, Niklas, aber ich musste dir das einfach sagen.« Salim fuhr sich erneut durch seinen Bart.
Eine Verlegenheitsgeste, wie Nik wusste. »Hätte ich mich nicht so unüberlegt verhalten, wäre kein Anwalt nötig gewesen.« Er trank einen großen Schluck Bier. »Ich schätze, auch der beste Rechtsanwalt hätte keinen Freispruch erwirkt.«
»Da bin ich mir nicht so sicher.« Salim klopfte auf den Tisch.
Was sollte er darauf sagen? Das Klingeln seines Handys enthob ihn einer Antwort.
»Spreche ich mit Herrn Sonnenberg?«, ertönte eine raue Stimme.
»Ja. Ich bin Niklas Sonnenberg.«
»Hier ist Ronny Büttner, der Chef der Tischlerei Büttner.«
Aufregung erfasste Nik. Er stand auf und verließ den Schankraum. Draußen im Vorraum war es ruhiger.
»Sind Sie noch dran?« Leichte Ungeduld war aus dem Tonfall Büttners herauszuhören.
»Ja, entschuldigen Sie. Ich habe nur den Raum gewechselt.«
»Sind Sie weiterhin interessiert an der Stelle?«
»Natürlich.«
»Gut. Sie können am ersten Juli anfangen.«
»Das ist nächste Woche.«
»Ich brauche dringend Leute, im Sommer ist bei uns immer viel los. Ich hoffe, Sie halten, was Sie in Ihrer Bewerbung versprechen, und arbeiten hart. Ihr Gehalt in den drei Probemonaten ist eintausendeinhundert brutto.«
Die Summe war lächerlich gering. Aber er durfte nicht wählerisch sein. »Ich muss noch eine leistbare Wohnung suchen.«
»Da werden Sie schon was finden. Melden Sie sich am Ersten um acht Uhr in meinem Büro. Und nochmals, das ist erst mal auf Probe.« Damit war das Gespräch beendet.
Niklas starrte noch ein paar Sekunden auf sein Handy, ehe er zu Salim zurückkehrte.
»Etwas Schlimmes?«, fragte dieser besorgt.
»Nein. Ich habe einen Job.«
»Gratuliere. Und wo?«
»In Rostock. Ich wollte nicht hierbleiben, aber auch nicht zu weit weg von meinen Eltern.«
Salim nickte. »Kann ich verstehen. Wie heißt die Firma?«
»Tischlerei Büttner. Ein mittelgroßer Betrieb.« Er drehte das Glas zwischen den Fingern. »Wird schon passen.«
Salim schwieg, seine Stirn war gerunzelt.
»Salim? Woran denkst du?«
»An nichts.« Er hob sein Glas. »Trinken wir noch eins, dann muss ich heim.«
Immer noch nichts, was mich weitergebracht hätte. Ich habe mehrere Personen in Verdacht, doch Big Boss ist vorsichtig. Aber ich bleibe dran, auch wenn ich nicht gedacht hätte, dass es so lange dauern würde. Ich bereue zutiefst, dass ich mitgemacht habe und mich vom Geld verlocken ließ. Damals konnte ich nicht ahnen, was es bedeutete, Teil der Corporation zu sein.
Etwas anderes beunruhigt mich. Zuerst dachte ich, ich bilde mir ein, dass meine Finger schwächer werden. Heute ist mir das Wasserglas aus der Hand gefallen. Einfach so. Stefan hat mich gleich drangenommen. Wie gut es ist, wenn man einen Arzt als Freund hat. Und ihm kann ich vertrauen. Er hat einige Untersuchungen angeordnet.
Hoffentlich ist es nichts Ernstes.
Janas Blicke ertrage ich nicht, sie ist verzweifelt, traurig und enttäuscht von mir. Und ich kann es ihr nicht verübeln, denn ich lasse sie im Stich. Ich kann sie nicht mehr anrühren, eine zweite Schwangerschaft wäre fatal. Noch ein Kind zu verlieren, würde sie nicht verkraften, das kann ich ihr nicht antun. Ich muss sie auf Abstand halten, meine Täuschungsmanöver können jeden Tag durchschaut werden. Wenn es einen Gott gibt, dann bete ich, dass ich irgendwann – trotz meiner Sünden – Erfolg haben werde und sie mich verstehen wird.
Danach darf ich sie vielleicht wieder lieben.
Jana
»Ich kann den Tod meines Sohnes nicht verwinden. Verzeih mir.«
Jana hatte immer noch das Gefühl, aus einem bösen Traum erwachen zu müssen. Die Tage waren nur so an ihr vorbeigezogen.
In ihrem schwarzen Kostüm saß sie vorn in der Kirche.
Das konnte nicht ihr Mann sein, der da im Sarg lag. Felix konnte einfach nicht tot sein.
Sie hatten sich doch noch nicht ausgesprochen!
»Ist dir kalt?«, flüsterte ihr Tante Helma zu. Dankbar erwiderte sie den Druck ihrer Hand. Helma war es gewesen, die ihr den nötigen seelischen Zuspruch gegeben hatte. Ihre Mutter hatte leider wegen Krankheit absagen müssen.
»Ein wenig, aber das hat nichts mit der Temperatur zu tun. Es geht schon.« Gegen die innere Kälte half keine Decke.
Felix hatte sich umgebracht! Mit seiner eigenen Jagdpistole hatte er sich in den Kopf geschossen. Und hatte nur ein Papier mit einer Zeile zurückgelassen.
Tante Helma betrachtete sie noch kurz mitfühlend, ehe sie wieder nach vorn schaute. Auch heute trug sie eins ihrer albernen Hütchen auf ihrer hochgesteckten Frisur, dem Anlass entsprechend ein schwarzes mit Tüllumrandung.
Jana versuchte nun ebenfalls, sich auf das Kommende zu konzentrieren, doch ihre Gedanken glichen einem Gewittersturm.
War Felix’ Gefühlskälte in den letzten Monaten Ausdruck einer Depression gewesen? Sein Abschiedsbrief, sofern man zwei Sätze als Brief bezeichnen konnte, schien darauf hinzudeuten. Und Janas schlechtes Gewissen darüber, nichts bemerkt zu haben, war gewachsen.
»Die Feier wird so kurz wie möglich gehalten«, flüsterte ihr Fabian von der anderen Seite zu. Er war in den letzten Tagen ihr zweiter Engel gewesen.
Sie hätte nicht gewusst, was sie ohne ihn und Tante Helma getan hätte. Fabian hatte ihr sämtliche Formalitäten abgenommen, während Helma sie einfach umsorgt hatte.
Musik erklang, Fabian hatte Beethovens ›Pathétique‹ ausgewählt, den Abschluss sollte ein Ed-Sheeran-Lied bilden, denn Felix hatte den Sänger geliebt. Das zumindest hatte sich Jana gewünscht, sonst war sie mit allem einverstanden gewesen, was der Bestatter und Fabian ihr vorgeschlagen hatten.
Sie sah auf den Sarg, hörte die Worte des Pfarrers, doch sie bekam nichts mit. Der Obmann vom Jagdverband hielt ebenfalls eine Rede.
Wäre es nicht passiert, wenn Felix keine Waffe zu Hause gehabt hätte? Aber ihr Mann war stets sorgsam mit den beiden Gewehren und der Pistole umgegangen. Auch Erwin Seewald, der Geschäftsführer des Golfklubs, fand lobende Worte, da Felix sich sehr für Wohltätigkeitsturniere eingesetzt hatte.
Weshalb hatte sie nicht bemerkt, dass er Selbstmordgedanken hatte? Ihr Gehirn schien sich seit seinem Tod in ein Labyrinth verwandelt zu haben, ihre Fähigkeit klar denken zu können, wurde von den zahlreichen Windungen verschluckt.
Hätte sie Felix helfen können, wenn ihr aufgefallen wäre, wie schlecht es ihm offenbar gegangen war? Dass sein Rückzug möglicherweise nicht böswillig gemeint, sondern als Folge seiner psychischen Krankheit zu sehen gewesen war?
Jana spürte den Druck von Tante Helmas Hand, die sich über ihre kalten Finger gelegt hatte. Fabian rückte auf der anderen Seite näher zu ihr. Direkt hinter ihr saßen Marlene und ihre restlichen Freundinnen.
Nach der Befragung durch die Polizei – der nette Polizeihauptwachtmeister Mühlhuber hatte ihr versichert, dass es reine Routine wäre – war ihr psychologische Hilfe angeboten worden. Aber Jana hatte sie abgelehnt. Vielleicht später. Zuerst musste sie das Ganze für sich verdauen. Außerdem war der Trost, den sie dringend gebraucht hatte, von anderen gekommen. Tante Helma, Marlene und Fabian, der ihr in rührender Weise alles Geschäftliche vom Hals gehalten hatte. Dafür würde sie ihnen ein Leben lang dankbar sein.
* * *
Endlich war die Trauerfeier vorüber. Jana hielt drei rote Rosen in den klammen Fingern, drei Stück für drei Ehejahre. Wie in Trance beobachtete sie die Leute, die am Sarg vorbeischritten, um sich ein letztes Mal von Felix zu verabschieden. Über zweihundert Menschen waren erschienen, alte Schulfreunde von Felix, seine Arbeitskollegen und Kunden der Firma. Marlene verteilte die Erinnerungskärtchen mit dem Foto von Felix. Es zeigte ihn mit dem verschmitzten Lächeln, das Jana seit dem Tod ihres Sohnes nie mehr an ihm gesehen hatte. Weihwasser wurde auf den Sarg gesprenkelt.
»Wir kommen nicht zum Leichenschmaus mit.« Jürgen Kantner, Felix’ Cousin und Teilhaber seiner Firma Winter-Consulting, hatte sich im Vorbeigehen zu ihr gebeugt. Er hielt seine kleine Tochter auf dem Arm. »Anna ist müde.« Dann umarmte er Jana kurz, dabei schob er ein Bonbon von einer Wange in die andere, das Lutschen von Pfefferminz war seine Leidenschaft.
Wie unpassend, schoss es Jana durch den Kopf.
Weshalb hatte er das vierjährige Mädchen nicht bei seiner Mutter zu Hause gelassen? Dabei kam ihr in den Sinn, dass sie Gudrun, Jürgens Frau, schon längere Zeit nicht mehr gesehen hatte. Auch an diesem Tag glänzte sie durch Abwesenheit, doch ehe Jana fragen konnte, war er bereits weitergegangen.