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***BAND 5-6 DER ERFOLGREICHEN EINFACH-LIEBE-REIHE SOWIE BAND 1-2 DER NIE-MEHR-OHNE-DICH-REIHE IN EINEM SAMMELBAND ***
Band 1: Das Geheimnis in deinem Herzen
Iolanthe und Reggie treffen sich an einer Bar. Er findet sie hinreißend und offenbar möchte auch sie ihn sofort vernaschen. Es ist, als hätten sich zwei Menschen zufällig und mit dem gleichen Ziel an einem Ort getroffen: Eine ungezwungene, heiße Liebesnacht. Aber der Schein trügt!
Der Roman ist eine Neuauflage und erschien ursprünglich unter dem TitelKein Frauenheld für immer.
Band 2: Für die Liebe musst du nicht perfekt sein
Juliane ist Studentin an einer der renommiertesten Modeschulen Europas in Berlin. Gerade steht der wichtigste Wettbewerb ihres Lebens vor der Tür: Edda-Dessous verspricht dem Gewinner eine Anstellung in ihrem Design-Team und die Umsetzung der Kollektion. Das wäre eine offene Tür in die Welt der Modeschöpfer. Wäre da nicht Tanja …
Der Roman ist eine Neuauflage und erschien ursprünglich unter dem TitelVeilchen küsst Distelprinz.
Band 3: Wenn jedes Wort nur Liebe ist
Am fünften Hochzeitstag will Clea, die eine Buchhandlung führt, endlich Nägel mit Köpfen machen und ihrem Mann Jonas – einem Arzt – unterbreiten, dass sie sich ein Kind von ihm wünscht. Doch dann kommt alles anders als erwartet. Jonas offenbart ihr, dass er schon länger nicht mehr an ihre gemeinsame Ehe glaube und eine andere Frau, die besser zu ihm passt, gefunden habe. Noch am selben Abend packt er seine Koffer und verlässt sie. Verletzt und mit sich allein versucht sie …
Band 4: Wenn jeder Blick nur Liebe ist
Lena wird von ihrem Freund Vincent eiskalt abserviert. Für ihn war ihre Beziehung bloß eine Affäre, doch für sie war sie so viel mehr. Umso schlimmer findet Lena sein plötzliches Verhalten: Er blockiert ihre Nummer, hat die E-Mail-Adresse gewechselt und lässt sich von seiner Sekretärin verleugnen. Lena startet einen letzten Versuch und schreibt Vincent einen Brief. Doch auch auf diesen reagiert er nicht. An diesem Punkt gibt sie auf, ihm hinterherzulaufen, obwohl sie ihm dringend noch etwas sagen müsste. Auf einer Vernissage 15 Monate später …
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Veröffentlichungsjahr: 2025
LOTTE R. WÖSS
Über die Autorin:
Lotte R. Wöss, geboren 1959 in Graz, absolvierte nach der Matura die Ausbildung zur Diplom-Krankenschwester.
Schon als Kind schrieb und dichtete sie, es folgten Artikel und Gedichte für kleine Zeitungen, doch erst im reiferen Alter fand sie zurück zu ihrer Leidenschaft, dem Schreiben, und veröffentlichte ihren Debütroman »Schmetterlinge im Himmel« als Selfpublisherin. Mittlerweile hat sie zahlreiche Liebesromane, Krimis und auch Kurzgeschichten veröffentlicht, sowohl als Selfpublisherin als auch in Verlagen.
Ihr bevorzugtes Genre bleiben aber Liebesgeschichten mit Tiefgang. Die Entwicklung, die ein Mensch machen kann, die Möglichkeit, an sich selbst zu arbeiten und einen Reifeprozess durchzumachen – das ist für Wöss Thema Nummer eins.
Lotte R. Wöss
Sammelband 2
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© November 2024 Empire-Verlag
Empire-Verlag OG, Lofer 416, 5090 Lofer
Lektorat: Michael Lohmann
https://www.worttaten.de/
Korrektorat: Enya Kummer
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Cover: Chris Gilcher
https://buchcoverdesign.de/
Illustrationen: Adobe Stock ID 111938461, Adobe Stock ID 74737687, Adobe Stock ID 322692986, Adobe Stock ID 275062166, Adobe Stock ID 212774127, Adobe Stock ID 274028334, Adobe Stock ID 276217349, Adobe Stock ID 366070673, Adobe Stock ID 74737687, Adobe Stock ID 111938461 und freepik.com
LOTTE R. WÖSS
Das Geheimnis in deinem Herzen
Einfach Liebe
Band 5
Über das Buch:
Iolanthe und Reggie treffen sich an einer Bar. Er findet sie hinreißend und offenbar möchte auch sie ihn sofort vernaschen. Es ist, als hätten sich zwei Menschen zufällig und mit dem gleichen Ziel an einem Ort getroffen: Eine ungezwungene, heiße Liebesnacht.
Aber der Schein trügt!
Iolanthe weiß genau, wem sie da gerade gegenübersitzt. Reggie ist nämlich der Chef ihrer besten Freundin, der als Schwerenöter bekannt ist. In einem Gespräch zwischen den beiden Freundinnen, wurde er zu ihrem Wetteinsatz, denn Iolanthe ist der Meinung, dass sie jeden dazu bringen könne, sich in sie zu verlieben – selbst einen Frauenheld wie Reggie. Die Bedingung für den Sieg ist entweder eine fünfmonatige Beziehung oder eine Liebeserklärung von Reggie. Iolanthe ist fest davon überzeugt, dass ihm der Ausgang der Wette letztlich ohnehin egal sein würde. Zudem ist er ein Casanova, der auch mal selbst erleben dürfte, wie es ist, abserviert zu werden. Doch schon bald werden beide feststellen, dass die Liebe ihren eigenen Regeln folgt!
Das Geheimnis in deinem Herzen ist der fünfte Teil der Einfach-Liebe-Reihe. Alle Bände sind in sich abgeschlossen und durch wiederkehrende Figuren miteinander verbunden. Sie können unabhängig voneinander gelesen werden.
Der Roman ist eine Neuauflage und erschien ursprünglich unter dem Titel Kein Frauenheld für immer.
In Erinnerung an meine liebe Wahltante Gocki, die unerschütterlich an mich glaubte und mich bereits in jungen Jahren motivierte, zu schreiben.
Schade, dass du nicht mehr erleben kannst, dass ich im reiferen Alter deinem Rat folge.
In meinem Herzen bist du bei mir.
Die Frau war zum Anbeißen, brandheiß! Das war Hochspannung pur!
Sie saß direkt am anderen Ende der Bar. Keine Barbiepuppe, sondern eine reife, rassige Frau. Eine Klasse für sich.
Mahagonifarbenes Haar, das weich und glatt über ihre Schultern fiel, ein eng anliegendes, rotes Etuikleid, das ihren üppigen Busen vorteilhaft zur Geltung brachte.
Nein. Diesmal nicht.
Warum sah er nicht einfach weg?
Wegen ihrer Wahnsinnsaugen. Die Farbe konnte er bei dem diffusen Licht nicht erkennen. Aber das Feuer darin glühte bis zu ihm. Ihre vollen Lippen schlossen sich um den Strohhalm ihres Drinks, der kurz im Schein der gedämpften Lampe aufleuchtete, als sie das Glas bewegte. Zwinkerte sie ihm zu?
Reggies Vorsatz wankte. Wollte er nicht Schluss machen mit dem hier? Sein Plan war, seinem Leben eine entscheidende Wende zu geben. Es war schal geworden. Das Kribbeln, sobald ein weibliches Wesen seinen Weg kreuzte, die Enttäuschung, wenn sie ohne nennenswerte Mühe auf seine Avancen einging. Der oberflächliche Sex, vergleichbar mit einem Blitzlicht, die Leere danach. Gezielt hatte er sich stets Frauen ausgesucht, die nur eine heiße Nacht mit ihm wollten. Ein flüchtiges Spiel.
Reggie wollte nicht mehr spielen. Vergangenes Wochenende hatte Konstantin geheiratet, als Letzter seiner Brüder. Es war eine intime Feier im engsten Kreis, so eilig hatten sie es gehabt. Hautnah hatte er miterlebt, wie seine Brüder ihre Partnerinnen gefunden hatten. Den warmen Glanz in ihren Augen, wenn sie von ihren Frauen sprachen, die Fürsorge, die in jeder Geste lag, wann immer sie zusammen auftraten.
Was bot ihm das Leben? Belanglose Affären, die sein Innerstes höchstens streiften. Gab es nicht irgendwo eine Frau, die nur zu ihm passte? Deren Augen vor Glück leuchteten, wenn sie ihn sah?
Trotz seiner Unvollkommenheit?
Seit seine Jugendfreundin von einem Tag auf den anderen Schluss gemacht hatte, als er ihr seinen Makel anvertraut hatte, konnte er sich niemandem mehr öffnen. Monika war ein naives Mädchen gewesen, kaum neunzehn Jahre alt und die Begebenheit lag zwei Jahrzehnte zurück.
Es war Zeit, sich seinem Problem zu stellen.
In Zukunft keine seichten Affären mehr. Er wünschte sich eine Frau fürs Herz. Die würde er hier nicht finden.
Sein Apartment in München wollte er verkaufen. Geplant war eine größere Wohnung in Bernried, vielleicht ein Haus. Und dann Mrs. Right. Eine geschiedene Frau mit Kindern beispielsweise. Sein Bruder Konstantin hatte das auch geschafft.
Auf keinen Fall einen weiteren One-Night-Stand!
Er musste das nur seinem Spießgesellen unter der Gürtellinie mitteilen. Leider zeigte der sich stur. Gab es einen Grund, seine Pläne nicht auf den nächsten Tag zu verschieben? Diese Frau hatte was.
Warum sah sie auch dauernd zu ihm herüber?
Er sollte bezahlen und gehen. Blöd, dass ihm seine Beine und sein kleiner Freund dazwischen nicht gehorchten. Außerdem war die Bar überheizt. Das musste es sein, denn er spürte Schweißperlen am Hals. Er legte die Finger um sein eisgekühltes Cocktailglas. Es vibrierte. Tief im Inneren. Sein Jagdinstinkt erwachte. War sie allein hier?
Reggie trank seinen Mai Tai aus und winkte den Barkeeper, den er seit Jahren kannte, zu sich.
»Alex, mixt du mir noch einen?«
»Gerne.«
»Wer ist die Dame im roten Kleid?«
Alex angelte sich einen Mixbecher. »Ich sehe sie heute zum ersten Mal.«
»Was trinkt sie denn?«
»Einen Cosmopolitan.«
»Ich möchte ihr einen spendieren.«
Alex goss die Zutaten in den Mixbecher. »Das mache ich gerne.« Dabei grinste er, denn Reggie war bekannt dafür, dass er sich an Mädchen heranmachte. »Bist du auf der Pirsch?«
»Immer.« Reggie lehnte sich zurück, musste aber aufpassen, nicht zu kippen. Die Lehne des Barstuhls stützte ihn nur bis zum halben Rücken. Pfeif auf die Vorsätze! Was schadete es?
»Ich frage mich, ob diese Frau nicht eine Nummer zu groß für dich ist.« Alex schüttelte den Mixbecher, sein Grinsen reichte von einem Ohr zum anderen.
»No risk, no fun.«
Reggie nahm den frisch gemixten Mai Tai entgegen. In der Bar herrschte reger Betrieb, auch den zweiten Barmann Hannes kannte Reggie bestens. Die Dame fiel in dessen Bereich. Reggie beobachtete ihre Reaktion, als Hannes den Cosmopolitan vor sie stellte und dann mit dem Kopf in seine Richtung nickte. Sie hob das Glas und prostete ihm zu. Ihr Lächeln ließ den schummrigen Barraum plötzlich taghell erscheinen.
Er musste zu ihr. Ihr Blick war wie Sonne auf seiner Haut und Energie durchströmte ihn. Was war an ihr anders als an den Betthäschen seiner Vergangenheit? Aufreißen – Small Talk – Gekicher der Frau – kokettes Zögern! Punkte einer Liste, die er abhaken musste, um die Dame in sein Schlafzimmer bringen zu können. Langweilig, aber erforderlich. Am erbärmlichsten war das peinliche Gefühl hinterher, wenn er das Mädchen schnell genug loswerden wollte.
Nie mehr. Schluss mit den schalen Affären, die meist einen One-Night-Stand nicht überdauerten. Die Lady im roten Kleid spielte in einer höheren Liga. Ein Tsunami überrollte Reggie. Seine Finger krampften sich um das Glas. Ein paar Sekunden beruhigen, ehe er sich zu ihr setzen würde. Er zwang sich, seine Augen auf andere Menschen zu fokussieren. Da hinten, dieser ältere Herr, der ungeniert mit einer Blonden schmuste, die seine Tochter sein …
»Darf ich?« Eine wohltönende Stimme. Die Traumfrau stand vor ihm. Die Beine passten zum Rest ihres Körpers, lang und die Füße in hochhackige Sandalen.
»Danke für den Drink.«
»Gern geschehen.«
Die Frau glitt geschmeidig auf den Barhocker neben ihm. »Ich habe Sie hier nie zuvor gesehen.«
»Das wundert mich. Ich bin relativ häufig in dieser Bar.«
»In diesem Fall haben wir uns zeitmäßig verpasst. Ich bin übrigens Iolanthe.«
Der Name war ebenso bescheuert wie sein eigener. Fand nicht jeder Topf seinen Deckel?
»Reggie.« Er hob sein Glas und sie stießen an.
»Freut mich, dich kennenzulernen. Du bist der Richtige, um mich von einem harten Tag abzulenken.«
»Ärger gehabt? Hoffentlich nicht mit deinem Ehemann.«
Was redete er da? Das war wenig subtil. Egal, mit verheirateten Frauen ließ er sich grundsätzlich nicht ein.
Sie lachte und Reggie bekam eine Gänsehaut. War es möglich, dass sogar ihr Lachen erotisch klang? »Nein. Ich bin single. Bis jetzt konnte ich keinen Mann finden, der sich opfert.«
»Unverständlich.«
»Du wirkst auch eher wie einer, der die Herzen der Frauen zwar bricht, aber sich nicht einfangen lässt.«
Reggie legte seine rechte Hand auf die Brust. »Ich schwöre, ich bin harmlos.«
Sie lächelte ihn über ihr Glas an.
»Bist du Manager?«
»Handwerker.« In gewissem Sinn war er das. Seine Stellung als Leiter der Entwicklungs- und Forschungsabteilung bei ›Heim-Backwaren‹ bedurfte zahlreicher Versuchsreihen und Tests. Mischen, kosten, ausprobieren, verfeinern – sein Job verlangte höchste Kreativität. Er liebte das.
»Und was machst du?«
»Ich unterrichte.«
»Ein anstrengender Beruf. Ich habe eine Schwägerin, die Lehrerin an einer Grundschule ist.«
»Ja, das kann ich mir vorstellen. Meine Schüler sind etwas größer.« Sie nippte an ihrem Glas und ließ die Zunge über ihre Lippen gleiten. Ihr Make-up war dezent und unterstrich ihre ebenmäßigen Gesichtszüge. Ihr Lippenstift fiel bestimmt unter das Suchtmittelgesetz. Reggie kämpfte gegen den Zwang an, sie zu küssen.
Absurd.
Sie angelte die Dekoration von ihrem Glas, schob sich die kandierte Kirsche in den Mund und leckte genießerisch über die Lippen.
Herr im Himmel!
Reggie presste sich auf seinen Barhocker. Er war doch kein Teenager mehr! Diese Frau war Aphrodisiakum, aber unverdünnt.
»Reggie, ein ungewöhnlicher Name. Von Reginald abgeleitet? Im englischen Sprachraum ist der Name häufig verbreitet.«
»Stimmt. Keine Ahnung, weshalb meine Eltern mich damit ausgestattet haben.«
»Meiner ist gewiss nicht besser. Zumindest weiß ich, warum ich so heiße. Mein Vater liebte die Musik von Arthur Sullivan.«
Reggie schüttelte den Kopf. »Die sagt mir leider gar nichts. Auch wenn ich damit eine gewaltige Bildungslücke zugeben muss.«
»Eine komische Oper mit Tanz, mein Vater hatte ein Faible für das Außergewöhnliche.«
»Er lebt nicht mehr?«
»Nein.« Sein Gegenüber nippte an ihrem Drink und ihre Zunge fuhr die Oberlippe entlang.
Heiliges Kanonenrohr!
»Erzähl mir von deinem Tag.« Hatte er bei dieser Frau Chancen, sie kurzfristig abzuschleppen? Oder wäre er desillusioniert, ginge sie auf seine Avancen ein?
»Immer dasselbe. Ein lästiger Exliebhaber, der mir nach wie vor an die Wäsche will, ein Chef, der mir nicht den Rücken stärkt, und unfähige Mitarbeiter, die zahlreiche Fehler machen und dies mit Lügen vertuschen.«
»Der Exliebhaber zumindest hat mein Mitgefühl.« Reggie wollte keinen Tiefgang zulassen, das würde ihn von seinem Ziel ablenken.
»Ich wäre nicht unbedingt abgeneigt. Der Sex mit ihm war klasse. Leider hat er Frau und Kind, das ist für mich ein No-Go.«
Reggie verarbeitete diese Information. Hatte er das richtig verstanden? Sie wäre nicht abgeneigt, aber …
Klasse Sex – war das als Herausforderung gedacht?
Wenn das keine Freikarte war. Schließlich saß sie hier bei ihm.
»Empfindest du noch etwas für ihn?«
Sie spielte mit dem Schirmchen. »Ich sollte nicht, denn er hat sich ausgesprochen schäbig verhalten. Aber Gefühle lassen sich nicht an- und abdrehen nach Wunsch.« Dann straffte sie sich, trank einen Schluck.
»Was soll’s. Ich bin hier, um mich zu amüsieren. Wie steht es bei dir? Lust, die Hüften zu schwingen? Die Musik hier gefällt mir.«
Reggie zuckte kurz zusammen. Tanzen gehörte nicht unbedingt zu seinen Stärken. Aber zu modernen Klängen sollte er ein paar Verrenkungen hinbekommen. Er bot ihr den Arm und sie hängte sich ein.
Es tummelten sich nur wenige Pärchen auf der Tanzfläche, manche jünger, die meisten jedoch in ihrem Alter. Iolanthe glitt in seine Arme, als würde sie dort hingehören, und sie wiegten sich langsam im Takt.
»Das ist eines meiner liebsten Lieder.«
»Ich mag es auch.« Sie mochte Tom Jones? Reggie hatte sämtliche CDs von ihm zu Hause. In seinem Münchner Apartment allerdings nicht, denn die meisten Frauen, die er dorthin brachte, standen auf jüngere Musiker.
Sie schmiegte sich an ihn. Wie von selbst fanden sie einen gemeinsamen Rhythmus. Sie drehten sich, berührten sich an zahlreichen Stellen und die Musik vibrierte durch seinen Körper. Von der Welt rundum blieb nur die bunte Kulisse.
»Was hast du denn für Hobbys?«, fragte Iolanthe auf einmal und riss ihn damit aus der einlullenden Trance.
»Dieses und jenes.« Er gab niemals zu viel von sich preis.
»Das klingt vielversprechend.«
Reggie fiel es zunehmend schwerer, mit ihr zu tanzen. Sie törnte ihn an. Wenn sie sich zu eng anschmiegte, musste sie es registrieren. Peinlich zum Quadrat. Normalerweise hatte er seine Libido besser im Griff. Ein ausgedehntes Vorspiel gehörte zu seinen Spezialitäten. Kurze Berührungen, sanfte Komplimente. Er hatte immer den richtigen Riecher, wann die Dame so weit war, ihn zu begleiten. Was sollte also dieser Drang, gleich hier auf der Tanzfläche über Iolanthe herzufallen? Ihre Muskeln waren angespannt. Sie war ebenfalls erregt, ohne Zweifel, und er stand in Flammen. Die Lady war pures Dynamit.
Wie waren sie zum Tresen zurückgekommen? Iolanthe beugte sich näher zu ihm, um ihr Glas zu erreichen, dabei berührte ihr Busen seine Hand. Es kribbelte den Arm hinauf. Was war los mit ihm?
»Möchtest du noch einen Drink? Diese Runde bezahle ich.«
Wenn sie ein weiteres Mal über die Lippen leckte, konnte er für nichts garantieren.
»Kein Drink mehr, das bringt mich völlig aus der Fassung. Du willst bestimmt nicht, dass ich mich hier schlecht benehme?«
»Kommt drauf an.« Ihre Zunge umspielte den Strohhalm. »Hast du eine Idee, wo wir kein öffentliches Ärgernis erregen?«
Sie kam direkt zum Punkt, zeigte, was sie wollte. Das gefiel Reggie. Seine Vorsätze waren beim Teufel.
»Zufällig habe ich eine Eingebung.«
Sie lächelte lasziv, während der letzte Schluck ihres Cosmopolitan zwischen ihren Lippen verschwand.
Ein Tag zuvor.
Seit einer Stunde prüfte Iolanthe die neue Testreihe, gab Zahlen in den Computer ein und verglich die Ergebnisse. Sie genoss es, am Samstag in Ruhe allein zu arbeiten. Im Geist plante sie bereits den Ablauf des Montags, Organisation und effektives Einteilen der Mitarbeiter waren ihre Spezialität.
Für sämtliche Mitglieder ihres Teams galt sie als Freak. Eine, die ausschließlich für ihre Wissenschaft lebte. Ein Mensch ohne nennenswerte Freizeitaktivitäten. Und so war es auch. Erbärmlich.
Im Institut kannten sie alle nur in ihrem weißen Arbeitsmantel, der ihre wohlgeformte Figur erfolgreich verbarg. Ihre Haare waren zusammengefasst in einer straffen Hochsteckfrisur, blasse Haut, konzentrierte Miene: Fertig war der Prototyp einer alten Jungfer.
Hin und wieder gönnte sie sich eine Auszeit, die alles andere als jugendfrei war. Das war ihr Geheimnis, von dem niemand etwas ahnte.
Im Grunde genommen versank sie gern in ihren Testreihen und Zahlen. Die Stille war greifbar. Das war es, was sie wollte. Für sie gab es kein normales Leben, das war ihr von frühester Kindheit eingetrichtert worden.
Wer mit hoher Intelligenz geboren wird, ist der Menschheit etwas schuldig.
Die Worte ihres Vaters klangen heute noch deutlich in ihrem Kopf. Im gleichen Sinne tönten seine anderen Maximen.
Gefühle bedeuten Ablenkung. Ablenkung mündet in Versagen. Versagen ist Niederlage. Niederlage bedeutet den Wechsel auf die Verliererseite.
Iolanthe war auf Erfolgskurs geblieben. Auch wenn sie sich manchmal mehr erhofft hatte als Statistiken, Formeln und Zahlen. Energisch konzentrierte sie sich wieder auf den Bildschirm. Wo hatte sie die Abweichung gesehen?
Zum Glück gab es am Samstag keine Störungen.
Ein Irrtum.
»Es war klar, dass du arbeitest.«
Ihr Magen krampfte sich zusammen. Sie zwang sich, flach zu atmen. Werner Erlach! Der einzige Mann, der unter ihren Panzer gekrochen war. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, gegen die Dogmen ihres Vaters zu verstoßen. Ein Mensch, der sich von der Masse abhob, hatte keinen Anspruch auf Liebe. Das war ihr seit frühester Kindheit bewusst gewesen.
»Was tust du hier?«
»Ich bin ebenso Mitarbeiter an diesem Institut wie du.« Ein amüsierter Zug umspielte seine Mundwinkel. Mit den tiefblauen Augen und den dunkelblonden Haaren, die sich auch beim größten Sturm perfekt an seinen Kopf legten, stand er da. Die einst große Liebe ihres Lebens. Er berührte immer noch gewisse Saiten in ihr. Ihre Hände schwitzten. Hitze stieg in ihre Wangen.
Verflucht! Sie hasste das!
»Musst du nicht zu Hause sein? Deine Frau möchte bestimmt wenigstens am Wochenende deine Gesellschaft genießen.«
»Sie hat Verständnis, dass ich meine Wissenschaft brauche.« Er klang unbekümmert. Genauso bedenkenlos hatte er ihr damals den Laufpass gegeben. Weil er sich eine Familie und Kinder wünschte und keine Laborratte, wie er sie bezeichnet hatte.
»Ich möchte zu Hause abschalten können und nicht über Versuchsmöglichkeiten diskutieren.« Seine Worte hatten sich tief in ihre Seele gebrannt.
»Ich wusste, dass dich die Testreihe nicht in Ruhe lässt.« Sie forschten an einem neuen Artemisinin-Präparat in Kombination mit Ibuprofen, um sowohl die Malaria dauerhaft bekämpfen, als es auch bei Krebserkrankungen einsetzen zu können. Werner war wie sie Wissenschaftler durch und durch. Seit Jahren arbeiteten sie Hand in Hand; sie galten als harmonisches Team. Es war logisch, dass sie privat ein Liebespaar geworden waren. Iolanthe hatte sich ein bleibendes Arrangement ausgemalt. Sogar ihr Vater hatte ihre Beziehung zu einem Wissenschaftler gebilligt.
Hätte es funktioniert, wenn sie ihm seinen Kinderwunsch erfüllt hätte?
Sie hatte es sich zu dieser Zeit nicht vorstellen können. Ihre eigene sterile Kindheit wollte sie niemandem zumuten, schon gar nicht einer Tochter oder einem Sohn. So ein Würmchen wäre neben ihr zum Verhungern verdammt. Sie fraß sich dermaßen tief in ihre Studien, dass sie nichts außerhalb wahrnahm. Für Männer war es einfach, sie wussten den Nachwuchs bei den Müttern und tauchten nur gelegentlich zu Hause auf. Sie konnten beides haben, Karriere und Kinder. Frauen mussten sich entscheiden. Iolanthe hatte die Wissenschaft gewählt. In sieben Monaten feierte sie ihren vierzigsten Geburtstag, damit war das Thema Familie für sie endgültig vom Tisch. Sex, unverbindlich und emotionslos, war das Einzige, das sie sich erlaubte. Jedoch nicht mit ihrem verheirateten Ex-Freund!
Warum musste Werner heute hier auftauchen? Ihre Haut kribbelte, ihre Gedanken fuhren Achterbahn. Ein brennender Knoten ballte sich in ihrem Bauch. Zorn. Sonst gelang es ihr stets, mit ihrem Ex umzugehen wie mit jedem anderen Arbeitskollegen.
Weshalb beschwor er diese intime Situation herauf?
»Bis zur Klinikstudie in Mainz muss alles im Trockenen sein.«
Werner legte seine Hand auf ihre. Ihre Finger ballten sich zur Faust. Werners Mund kam näher.
»Ich bin deinetwegen gekommen. Karin hat keine Lust momentan und wir hatten doch früher Spaß miteinander.«
Iolanthe löste sich aus dem Bann und schüttelte seine Hand ab. »Das ist acht Jahre her. Und ich brauche dich gewiss nicht, um Spaß zu haben, wie du es ausdrückst.«
»Sei nicht so nachtragend!« Werner strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Du bist heute noch eine Wahnsinnsfrau, meine Favoritin …«
»Spar dir das. Du hast mich vor ein Ultimatum gestellt, daran erinnere ich mich! Ich sollte auf meinen Posten hier verzichten und dir stattdessen in dein trautes Heim folgen, dir warme Mahlzeiten servieren und ein paar kleine Erlachs in die Welt setzen.«
»Wäre das eine Katastrophe gewesen? Abgesehen davon, dass du nicht mal ein Ei kochen kannst?«
»Ich habe den Job hier angeboten bekommen und nicht du. Das ist es, was dich bis heute wurmt. Dein Plan war, mich mit einem Ehering dazu zu bringen, dir die Stelle zu überlassen.«
»Ich hätte die Leitung hier verdient.« Sein Gesicht faltete sich kurz zu einer Fratze. Sekunden nur, aber deutlich sichtbar, ehe sich seine Züge glätteten. Er hob die Hände, als wollte er sich ergeben. »Egal, das ist lange her. Du leitest die Abteilung eindrucksvoll und kompetent.«
Ein Lob? Von Werner?
»Dennoch darf ich unserer gemeinsamen privaten Vergangenheit nachtrauern.«
»Du bist verheiratet. Mit einer liebenswürdigen Frau.«
… die sich zu viel gefallen ließ …
»Karin ist … sie ist eben Karin. Und was ich will, ist ein bisschen Genuss mit einer Könnerin wie dir. Leidenschaft, Lust, Ungezwungenheit.«
Iolanthe zuckte zusammen. War das alles gewesen, was er für sie empfunden hatte? Spaß im Bett?
Welche Frage! Schließlich hatte er sie ohne Bedauern abserviert.
Dreckskerl!
Sie schwieg. Resignation und Enttäuschung schwappten in ihr hoch und töteten die Wut. Dass sie diesen Mann einmal geliebt hatte und trotz allem noch immer ein winziges Stück davon übrig war. Gefühle ließen sich nicht ein- und ausknipsen wie eine Glühbirne. Und da war dieses Quäntchen in ihr, das auf sein schmieriges Angebot eingehen wollte. Um dieser Frau, dem braven Hausmütterchen, das er ihr vorgezogen hatte, zu zeigen, dass Sex ein Gebiet war, auf dem sie ihr nicht das Wasser reichen könnte.
Eine primitive Rache, die die Falsche treffen würde. Iolanthe konnte ihr das nicht antun. Karin, Werners Frau, betete ihn an. Sie war sanft und naiv. Es wäre … wie ein Kind zu treten.
Iolanthe genoss die Freuden der körperlichen Vereinigung. Sie hatte akzeptiert, dass sie nicht ohne Sex auskam. Werner war ein großzügiger Liebhaber gewesen, sie hatten sich ergänzt, bei der Arbeit und im Bett. Bis zu jenem Tag, als Werner dazu verurteilt wurde, die zweite Geige zu spielen, obwohl er ein halbes Jahr älter war.
Er blies seinen Atem in ihren Nacken. Ihr Körper verriet sie schändlich. Ihr Unterleib pochte, ihre Haut brannte und auf dem Kopf breitete sich eine Gänsehaut aus. Sollte sie sich nicht einfach holen, was sie brauchte? Endlich einmal wieder beim Sex auf ihre Kosten zu kommen, statt der hohlen One-Night-Stands, die sie sich ab und zu leistete?
Nein. Sie drehte sich um.
»Du hast mich damals weggeworfen wie einen Putzlappen.« Ihre Hände ballten sich. »Nur weil du es nicht verkraftet hast, dass ich deine Vorgesetzte werde.«
»Zeige mir den Mann, der gerne seine Frau als Chefin hätte. Abgesehen davon wären wir ein grauenhaftes Ehepaar geworden.« Werner stützte sich vor ihr auf. »Keiner von uns kann kochen.«
»Wozu gibt es Fertiggerichte und Restaurants?« Ihr war bewusst, dass sie im Haushalt eine absolute Niete war. In ihrer Jugend hatte ihr Vater auf andere Dinge Wert gelegt als auf häusliche Qualitäten.
»Du wolltest keine Kinder.«
»Nein. Ich wäre eine entsetzliche Mutter, wie du ein grottenschlechter Vater bist.«
»Wie bitte?«
»Wie oft sieht dich dein Sohn? Deine Arbeitszeiten decken sich fast mit meinen. Warst du jemals bei einem seiner Fußballspiele oder Klavierabenden dabei?«
»Oh Mann, bei dem Geklimpere bekomme ich Ohrenschmerzen.«
»Du hörst es ohnehin nicht, weil du nie daheim bist. Wie konnte deine Frau bloß ein zweites Mal schwanger werden?«
»Übertreib nicht.« Werner kratzte sich am Kopf, eine Eigenschaft, die Iolanthe hasste.
»Glaubst du, ich weiß nicht, warum du hier herumhängst? Du hoffst, dass ich einen Fehler mache und du meinen Job ergatterst. Das wird nicht passieren, Garantie drauf.«
»Du leidest unter Verfolgungswahn.« Er klopfte mit den Fingern auf das Pult. »Ich hätte mir ernstlich gewünscht, dass du ebenfalls einen Partner findest und merkst, dass Arbeit nicht alles ist. Kinder sind die Zukunft.«
»Was tust du dann hier an einem Samstag, wo du angeblich glücklich bist, Frau und Kind zu besitzen, bald zwei Kinder?«
Er hob die Arme. »Ich dachte, du wünschst dir wieder einmal einen Mann im Bett. Kann nicht gesund sein, ganz ohne Sex.«
»Zu deiner Information: Ich habe Sex. Mehr als du mir bieten könntest.« Sie drehte sich energisch zu ihrer Testreihe. Ihre Hände zitterten. »Jetzt lass mich arbeiten, ich habe Wichtigeres zu tun, als dein Ego aufzupolieren.«
Er lachte kurz.
»Viel Spaß mit deinem Vibrator.«
Gottlob, er war endlich weg. Iolanthe atmete minutenlang durch, bis das Zittern nachließ. Danach verließ sie ebenfalls die Laborräume und setzte sich in ihrem Büro an den Computer. Sie rief eine geheime Datei auf.
Letzten Monat hatte sie begonnen zu recherchieren. Es war reif für Phase eins.
Ihre Cousine Janine hatte ihr diesen Floh ins Ohr gesetzt. Sie erinnerte sich an das Gespräch mit ihr vor knapp vier Wochen.
Sie saßen bei ihrem Lieblingsitaliener. Janine war verknallt. Wieder einmal. Die zierliche Brünette verliebte sich alle Monate bedauerlicherweise immer in den Falschen.
»Er beachtet mich kaum.«
»Vielleicht denkt er, dass du sein Essen nicht schätzt, weil du so dünn bist?«
Mörderischer Blick. Daniel, ihr Auserwählter, war Kantinenkoch von ›Heim-Backwaren‹, der Firma, in der Janine arbeitete.
»Er ist selbst schlank und hat eine hammermäßige Figur.«
Hieß es nicht immer, Frauen wären Äußerlichkeiten nicht wichtig? Janines Zielobjekte hätten allesamt im ›Playgirl‹ Modell stehen können.
»Mach ihn auf dich aufmerksam. Setz Signale.«
»Zum Beispiel?«
»Männer ticken alle gleich. Zieh dir was Aufreizendes an, klimpere mit den Wimpern, stolpere, schütte ihm dein Getränk auf die Hose und biete dich an, sie zu waschen …«
»Das könnte ich nie.« Röte überzog Janines Wangen. »So unkompliziert ist das nicht.«
»Doch, ist es. Männer sind dem Sex-Appeal von Frauen machtlos ausgeliefert. Wir müssen nur unsere Waffen einsetzen.«
»Das glaube ich nicht.«
»Kannst du aber. Nur die Frischverliebten haben Immunitätsstatus, alle anderen … wenn ich mich ins Zeug lege, kriege ich jeden.«
»Ha.« Janine trank einen großen Schluck. »Für eine Nacht vielleicht. Ich will mehr als Sex, eine Beziehung, Liebe …«
»Pah.« Iolanthes abwehrende Handbewegung streifte den vorbeieilenden Kellner. »Entschuldigung.«
»Wünschen die Damen noch etwas?«
»Danke, nein.« Er hastete weiter.
»Meinst du, er hat was gehört?«
»Was denn? Das Wort ›Sex‹? Wird für ihn nicht neu sein.« Der trockene Kommentar entlockte ihrer Cousine ein Kichern. Plötzlich zwinkerte Janine und sie sah Iolanthe von unten herauf verschlagen an.
»Du bist also der Meinung, dass du einen Mann nicht nur für eine Nummer ins Bett bekommst, sondern ihn zu einer längerfristigen Affäre verführen kannst?«
»Bombensicher. Allerdings habe ich keinen Grund.«
»Doch. Ich wette mit dir, dass du es nicht schaffst, meinen Chef zu angeln.«
»Deinen Chef?« Iolanthe nahm rasch einen Schluck.
»Die Anzahl der Damen, die durch sein Schlafzimmer marschieren, sind Gerüchten zufolge legendär. Aber keine dieser Schönheiten überlebt eine Woche bei ihm. Na, nimmst du die Herausforderung an?«
»Was zum Teufel ist in deinem Cocktail drin?« Iolanthe klopfte mit dem Fingerknöchel auf Janines Cocktailglas.
»Abgesehen davon lebt dein Chef in Bernried. Da fahre ich gewiss nicht hin.«
»Er hat eine Zweitwohnung in München, da spielt sich sein Liebesleben ab.«
»Du meinst sein Sexualleben. Mit Liebe hat das nichts zu tun.«
»Wie auch immer.«
»Woher weißt du das überhaupt?«
»Seine Putzfrau hat angerufen und gemeldet, dass sie wegen Grippe ausfällt.«
»Aha. Alles andere ist reine Spekulation von dir.«
»Ich weiß, in welcher Bar er die Mädels aufreißt.«
Iolanthe verschluckte sich und röchelte. »Woher?«
»Er lässt sich monatlich eine Rechnung schicken.«
»Ich fass es nicht.«
»Also?«
»Auf keinen Fall.«
»Kapitulierst du vor einem Frauenhelden?«
»Die Idee ist schwachsinnig.« Iolanthes Haare stellten sich auf. Ihre Sex-Abenteuer waren anonym.
»Angst, dass du versagst?«
Eiswürfel kratzten Iolanthes Rücken hinunter. Versagen war das Schlimmste!
»Wer sagte soeben, dass sie jeden Mann um den Finger wickeln könne? Weibliche Reize et cetera?«
»Das waren Tipps für dich. Ich bin nicht erpicht auf eine Beziehung.«
»Du bist mir einen Beweis schuldig. Mein Chef eignet sich bestens. Du kannst ihn nicht einmal verletzen, denn er investiert keine Gefühle.«
»Vergiss es. Konzentriere dich nach Möglichkeit darauf, deinen Koch zu erobern.«
Janine hörte nicht zu.
»Falls du gewinnst, gehe ich mit dir auf diese Kulturreise, die du dir wünschst.«
»Die Loire-Schlösser? Du hasst Reisen mit Führungen.«
»Eben. Solltest du verlieren …« Janine rührte ihren Cocktail mit dem Strohhalm um.
»Ja?« Iolanthe fragte pro forma. Auf diesen haarsträubenden Blödsinn ließ sie sich eindeutig nicht ein.
»Wir fahren auf Badeurlaub. An die Adria.«
»Um Gottes willen.«
»Ein Grund für dich zu gewinnen. Und es trifft unter dem Strich keinen Unschuldigen. Er soll mal am eigenen Leib erfahren, wie es ist, sich zu verlieben, und dann – peng! – lässt ihn die Frau fallen.«
Peng. Das war der entscheidende Klick in Iolanthe.
Eine Welle formte sich in ihrem Inneren und schwappte förmlich aus ihr heraus. Ein Kribbeln erfasste sie und in ihrem Kopf summte es.
Aufregung. Abenteuer. Raus aus der Eintönigkeit. Ein Projekt am lebenden Menschen wie jedes andere in ihrem Institut. Ihre Zunge machte sich selbstständig.
Was hatte Janine noch erwähnt? Liebe?
»Verlieben ist nicht drin. Aber dass er sich auf eine Affäre einlässt. Deal?«
Janine nickte. Ihre Augen glänzten, die Wangen waren gerötet. Iolanthe hatte ihre Cousine niemals zuvor so aufgeregt erlebt. »Ab wann zählt es? Zwei Nächte sind zu wenig. Ein paar Monate.«
»Drei.«
»Neun.«
»Du spinnst. Vier, mein letztes Wort.«
»Fünf, oder er erklärt dir seine unsterbliche Liebe. Gebongt.«
»Abgemacht.« Das mit der Liebe war nicht ernsthaft eine Option.
Märchen hatte sie nicht einmal für bare Münze genommen, als sie drei war.
»Bekam der Wolf eine Narkose zum Bauchaufschneiden? Und wo waren dann die Steine? Im Magen? Da passt doch nicht so viel rein! Hat der Jäger das Blut aufgewischt?«
Sie war fürchterlich erschrocken, als ihre Mutter das Buch quer durch den Raum geworfen hatte. »Es macht keinen Sinn, wenn ich dir vorlese.«
Sie blickte verwirrt auf Janines ausgestreckte Hand.
»Schlag ein.«
Warum tat sie es? Weil ihre Cousine der einzige Mensch war, der ihr nahestand? Der sie mochte, wie sie war? Janine stand ihr näher als ihre Schwester. Janine war dreizehn Jahre jünger als Iolanthe, hatte die Ferien oft bei ihrer Großmutter verbracht. Dort hatten sie sich kennengelernt. Ihre Großmutter hatte Iolanthes Kindheit zumindest ein wenig Wärme eingehaucht, daher hatte sie sie bis zu ihrem Tod vor sechs Jahren regelmäßig besucht.
Einer farblosen Kindheit war ein ebenso graues Leben gefolgt. Kalkuliert ohne triviale Amüsements, fortwährend Stress und Druck im Nacken, Arbeit, Konzentration. War ihre Beziehung zu Werner nicht auch genau das gewesen?
In ihrem Kopf bildete sich bereits das Konzept: Wie verführe ich einen Frauenhelden?
Die Wette bot ihr einen Grund, aus ihrem Alltag auszubrechen.
Konnte sie ein wenig Spannung in ihr Leben bringen? Einen Kick?
Eine Kampfansage.
Ihr Opfer hatte keine Ahnung. Vier Wochen Recherche lagen hinter ihr. Aus dem Rohentwurf entstand ein Programm mit Zeitplan. Akribisch tüftelte Iolanthe über Einzelheiten. Was waren seine Vorlieben? Wo hielt er sich auf? Auf welchen Typ Frau stand er? Iolanthe recherchierte im Internet und quetschte Janine aus. Erstaunlich, was eine persönliche Assistentin alles mitbekam. Iolanthe lernte, wie er seinen Kaffee gerne trank, kannte sein Lieblingsessen, seine bevorzugte Musikrichtung, seine Freizeitvergnügen, wie er sich kleidete und welche Lokale er besuchte.
Reggie Heim brachte Spannung und Aufregung in ihr eintöniges Alltagsleben, obwohl sie ihn noch nicht einmal persönlich kannte. Eine zwanglose Affäre. Sex ohne Reue. Mit einem Mann, der keine Kinder wollte, kein Haus mit Vorgarten und der um Gottes willen niemals verlangte, dass sie für ihn kochte oder seine Hemden bügelte. Denn das konnte sie nicht.
Sie musste ihn nur dazu bringen, dass er gewillt war, länger als eine Nacht mit ihr zu verbringen. Hoffentlich war er kein Versager beim Sex. Frauenhelden wurden vielfach überbewertet.
Die erste Nacht würde es zeigen.
Was für eine Nacht!
Reggie konnte sich nicht erinnern, jemals dermaßen ausgeglichen und … ja, befriedigt aufgewacht zu sein.
Befriedigt? Sein Hunger entflammte erneut. Sein Blick fiel auf die Seite neben ihm … sie war leer. Er richtete sich auf. Sie war weg? Zumindest ein Frühstück servierte er seinen Damen immer. Bisher war keine aus seinem Bett regelrecht geflohen, wobei er bei manch einer dankbar gewesen wäre, ihr Geplapper nicht weitere Stunden ertragen zu müssen.
Doch Iolanthe war einfach gegangen.
Sein Körper war gesättigt – aber seine Laune sank in den Minusbereich. Es war Sonntag. Wohin war sie verschwunden? Er kannte nicht einmal ihren Nachnamen. In seinem Magen formte sich ein Klumpen. Was war mit seinen Vorsätzen? Keine Kerben mehr im Bettrahmen, Wohnung verkaufen und solide werden.
Er schleppte sich ins Badezimmer. Das heiße Wasser ließ die sinnlichen Bilder von letzter Nacht wieder auferstehen. Energisch stellte er es kalt. Eine kühle Dusche musste sein Gehirn funktionstüchtig machen.
Woher kam dieses Ziehen im Bauch? Diese Leere? Alle Symptome von Enttäuschung? Hatte er mehr erwartet als einen kurzfristigen erotischen Genuss?
Zurück zu Plan A. Eine Partnerin für immer. Iolanthe wäre ohnehin keine Kandidatin dafür gewesen. Eine Frau, die das Instrument der Sinnlichkeit bis in die Perfektion beherrschte, war selten an nur einem Mann interessiert.
Die beste Nacht seines Lebens. Das war klar. Und dieses lästige Teufelchen neben seinem Ohr wollte nicht schweigen. Sex war nicht alles!
Allerdings hatte er auch das Gespräch in der Bar genossen. Nicht nur oberflächlicher Small Talk, sie hatten sich auf derselben Ebene getroffen.
Gut, ja, ein zweiter Punkt.
Und sie war eine Rassefrau. Diese schokoladenfarbigen Augen, die im schummrigen Licht geglänzt hatten wie poliertes Holz …
Okay! Sie war hinreißend, einzigartig, aber eben nicht artig, fantastisch, unvergleichlich, eindrucksvoll, reizvoll …
Leider war sie fort.
Zurück also nach Bernried, ein weiterer einsamer Sonntag lag vor ihm.
In der Küche erwartete ihn eine Überraschung. Eine Kaffeetasse und ein Körbchen mit zwei frischen Croissants. Reggie stellte die Tasse unter die Kaffeemaschine und drückte den Knopf. Erst als der Kaffee mit Zischen einfloss, fiel ihm die Serviette auf. Eine bunte Papierserviette geschmückt mit Zahlen.
Er beäugte sie genauer und erkannte die eingekreisten Ziffern, die hintereinander gelesen eine Telefonnummer ergaben.
Wahnsinn! Die zusammengefallene Euphorie erhielt wieder neue Nahrung. Sollte er sie anrufen? Es war so ganz gegen seine Prinzipien. Reginald Heim von Werlenbach telefonierte keiner Frau hinterher. Niemals!
Sie war doch auch nur auf Aufriss aus gewesen. Andererseits hatte sie Probleme im Beruf gehabt.
Der Ball lag bei ihm. Seine Entscheidung, und das entlockte ihm Respekt.
Wie zwanghaft war sein Finger am Handy. Er hatte die Zahlen zur Hälfte gewählt, als es klingelte.
Unbekannte Münchner Nummer.
Rief sie bereits an? Er meldete sich mit einem knappen »Hallo.« Seinen Nachnamen wollte er nicht preisgeben. Nur Vornamen, das war sein oberstes Motto.
»Hier ist Schwester Mareike von der Unfallstation, Klinikum Großhadern. Spreche ich mit Reginald Heim?«
»Am Apparat.« Um Himmels willen, was war passiert? Ein Stromstoß fuhr durch seinen Körper.
»Ihre Tante, Frau Eilmann, hatte einen Unfall. Sie und Ihr Bruder sind als einzige Verwandte angegeben.«
O Gott! Tante Hanna. Vor zwei Jahren hatten er und Jos mit ihr gebrochen. Weshalb sollte er jetzt für sie da sein?
»Ist sie schwer verletzt?« Warum fragte er überhaupt? Tante Hanna ging ihn nichts mehr an.
»Das darf ich Ihnen am Telefon nicht sagen. Könnten Sie gleich herkommen?«
Nein!
Reggie seufzte, ließ sich die Station nennen und versprach, bald da zu sein. Danach starrte er auf sein Handy.
Weshalb hatte er zugesagt?
Ungern erinnerte er sich daran, wie er und sein Bruder Jos sich von der Schwester ihrer verstorbenen leiblichen Mutter hatten manipulieren lassen. Vor seinen Augen erschienen Bilder aus seinen ersten sieben Lebensjahren. Er hatte gehofft, das Kapitel endgültig vergessen zu haben.
Er wollte seine Tante nicht sehen.
Egal, jetzt musste er wohl dahin. Vielleicht war es von Vorteil, dass Iolanthe warten musste. Auf keinen Fall sollte sie erwarten, er strebe eine längerfristige Beziehung an, Gott bewahre. Aber eine zweite Nacht wie die letzte, das wäre eine Überlegung wert.
Ob er Jos anrufen sollte? Nein, sein Bruder hasste seine Tante mittlerweile, die seinen Sohn als »Missgeburt« und »Kretin« bezeichnet hatte, weil Noah Autist ist. Reggie wollte seiner Tante ein für alle Mal klarmachen, dass sie es war, die das Band zerschnitten hatte.
Eine Stunde später stand er vor dem Krankenbett und blickte fassungslos auf seine Tante. In den knapp zwei Jahren hatte sie sich dermaßen verändert, dass er sie kaum wiedererkannt hatte. Dick war sie nie gewesen, jetzt war sie abgemagert, ihre Augen starrten ihn aus schattigen Höhlen an, die Haut spannte sich wie Pergament über ihre Knochen.
»Reginald.« Ihre Stimme – ein Hauch, doch so etwas wie Freude erhellte ihre Miene. »Du bist tatsächlich gekommen.«
»Was ist passiert?« Wider Erwarten verspürte Reggie trotz allem eine Verbundenheit zu seiner letzten Verwandten mütterlicherseits.
»Sind Sie der Neffe von Frau Eilmann?« Eine burschikose Schwester mit kurz geschorenen Haaren trat zu ihm. »Doktor Hellberger möchte mit Ihnen sprechen.«
Reggie folgte ihr ins Dienstzimmer zu einem großgewachsenen Mann im weißen Kittel, der an einem Stehpult in einer Akte blätterte.
»Herr Heim?« Er schüttelte ihm die Hand. »Ich bin der behandelnde Arzt Ihrer Tante.«
»Was fehlt ihr denn?« Hatte er die Berechtigung, das zu erfahren?
Der Arzt schien ihn für einen besorgten Angehörigen zu halten.
»Sie ist die Treppe hinuntergestürzt und hat sich einen Oberschenkelhalsbruch zugezogen, das Übliche in diesem Alter. Sie braucht künftig unbedingt Betreuung, bei der Grunderkrankung hätte sie ohnehin in absehbarer Zeit nicht mehr allein zu Hause leben können.«
»Grunderkrankung?«
»Sie wissen es nicht?« Der Arzt runzelte die Stirn und schien unschlüssig, ob er weitersprechen sollte.
»Wir hatten längere Zeit keinen Kontakt mehr.«
»Verstehe.« Seiner missbilligenden Miene nach zu schließen, tat er das nicht. »Reden Sie selbst mit Ihrer Tante und besprechen Sie mit ihr, welches Pflegeheim infrage kommt.«
»Wie lange muss sie im Krankenhaus bleiben?«
»Sie sollten baldmöglichst einen Pflegeplatz organisieren. Akutbetten sind hochpreisig und mehr als ein paar Tage zahlt die Krankenkasse nicht.«
Völlig vor den Kopf gestoßen ging Reggie ins Krankenzimmer zurück. Widerstand regte sich in ihm. Konnte man ihm das aufhalsen? Er hatte mit Tante Hanna gebrochen, aus nachvollziehbarem Grund. Jos wäre auf hundert, wüsste er, dass er hier stand und sich ernstlich bemühte, eine Lösung zu finden.
»Bist du ernsthaft krank, Tante Hanna? Abgesehen von diesem Unfall?«
»Das spielt keine Rolle.«
»Tut es. Du benötigst eine Betreuung.«
»Der Bruch heilt irgendwann. Ich werde jemanden anstellen, der sich um mich kümmert für die nächsten paar Wochen.«
»Und danach? Abgesehen davon kannst du dir das nicht leisten.« Tante Hanna erhielt lediglich eine geringfügige Rente. Das Geld, das sie sich von Reggies und Jos’ Erbe erschlichen hatte, hatte sie zurückzahlen müssen.
»Ich hoffe auf deine Unterstützung, Reginald. Du bist mein Neffe.«
»Soll ich dich daran erinnern, wie du mich genannt hast? Missratenes Pack oder so ähnlich?«
Standen in diesem Augenblick Tränen in ihren Augen?
»Es tut mir entsetzlich leid, bitte, glaube mir. Euer Vater hat mich niederträchtig behandelt, dennoch war es falsch, das an euch auszulassen. Ich wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen.« Ihre Stimme klang zittrig, sie schien zu bereuen. Ihre glänzenden Augen unterstrichen den Eindruck.
Reggie ballte die Fäuste. Er hasste diese Ohnmacht, die Möglichkeit der Wahl zwischen Pest und Cholera.
Tante Hanna hatte sich ihnen gegenüber heimtückisch verhalten. Sie hatten ihre Lügen abgekauft. Jos hatte überdies die Liebe seines Lebens ziehen lassen. Er und Dani waren erst über ein Jahr später durch ihr autistisches Kind wieder zusammengekommen. Keine Spur von Reue hatte ihre Tante damals gezeigt und überdies noch Jos’ Frau und seinen Sohn Noah beleidigt.
Damit hatte sie es sich für immer mit dem Jüngeren ihrer beiden Neffen verscherzt. Auch Reggie wollte seine Tante nie mehr wiedersehen.
Warum also ertappte er sich dabei, wie er auf dieses Häuflein Elend starrte und in seinem Kopf Überlegungen herumkreisten, wie er ihr helfen könnte?
Er kaute auf seiner Unterlippe. Tante Hannas Stimme war kaum zu hören.
»Ich habe Nierenkrebs. Eine bösartige Form. Meine Lebenserwartung beträgt ein paar Monate, ein halbes Jahr maximal.« Sie seufzte. »Ich möchte meine letzte Zeit nicht in einem dieser schrecklichen staatlichen Heime verbringen mit überlastetem, gehetztem Personal.«
Reggie schwieg minutenlang geschockt und trat ans Fenster.
»Hilf mir, bitte, Reginald.« Er schloss kurz die Augen.
»Hast du vergessen, was du uns angetan hast?«
»Ich habe aufregende Ausflüge mit euch unternommen. Erinnerst du dich an die Zoobesuche oder die Freizeitparks …«
»Du hast unsere Seelen vergiftet. Dabei warst du durchtrieben bis ins Detail! Mit vorgetäuschtem Verständnis hast du uns sukzessive suggeriert, dass wir beide die Keime einer Geisteskrankheit in uns trügen.«
»Ihr habt auf euren Vater eingestochen.«
»Es war Notwehr, das weißt du.«
»Ihr fühltet euch schuldig. Es war wesentlich besser, euch zu sagen, dass euer Vater nicht richtig im Kopf war, damit ihr euch weniger verantwortlich fühlen musstet.«
»Wir dachten, wir dürften keine Kinder haben. Jos hätte womöglich nie von seinem Sohn erfahren, weil er aus diesem Grund mit seiner Freundin gebrochen hatte.«
»Glaube mir, ich habe niemals solche Konsequenzen erwartet« Tante Hanna wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. »Ich habe euch eine Menge Kummer gemacht, aber das war nie meine Absicht. Zum Glück ist für Jos alles erfreulich ausgegangen.«
Das war es tatsächlich. Doch es hatte gedauert, bis seine Schwägerin Dani und Jos sich hatten versöhnen können. Die Liebe zu ihrem Sohn Noah, der beide gleichermaßen brauchte, hatte ihnen geholfen.
»Du wolltest ohnehin nie Kinder.«
Das riss Reggie wieder aus seinen Gedanken und er ballte die Fäuste. Kinder waren ein Thema, über das er sich nachzudenken verboten hatte. Er räusperte sich.
»Also, Tante Hanna, was stellst du dir vor, das ich für dich tun kann?«
»Hilf mir, ein Heim zu finden. Du hast recht, zu Hause wird es nicht mehr gehen. Ich will in kein düsteres Loch und die annehmbaren Pflegestätten kann ich mir nicht leisten. Bitte unterstütze mich.«
Reggie zuckte zusammen. War er dazu verpflichtet? Rechtlich wohl nicht. Lediglich die moralische Keule hing über ihm. Schaffte er es, seine Tante in diesem erbärmlichen Zustand im Stich zu lassen?
»Kannst du mir aus meiner Wohnung ein paar Sachen bringen?«
Er seufzte. Jos würde ihn erschlagen, aber er konnte nicht aus seiner Haut. Da war dieser Teil in ihm, der sich ein winziges Stück Zuneigung für seine Tante bewahrt hatte.
Genau dieser Anflug von Rest-Empathie hielt ihn zurück, ihr die Hilfe zu verweigern. Aus seiner Tasche angelte er einen Kugelschreiber und griff nach dem Krankenhausblock, der auf dem Tisch lag.
»Was brauchst du?«
In der Wohnung seiner Tante sammelte er all die Dinge ein, die er notiert hatte. Er fand ihre Medikamente, zu seinem Entsetzen auch schwerste Analgetika. Tante Hanna hatte nicht gelogen, sie würde vermutlich nicht mehr lange leben. Er horchte in sich hinein, da war … nichts. Heftige Liebe hatten weder er noch Jos für ihre Tante verspürt, aber eine gewisse Verbundenheit war vorhanden gewesen. Sie war die einzig lebende Verwandte ihrer Mutter.
Mutter! Als ob die Frau, die sie geboren hatte, jemals diese Bezeichnung verdient hätte. Nach Jos’ Geburt hatte sie an einer postnatalen Depression gelitten und ihre Söhne vernachlässigt. Und sein Vater …
Nein, schau nicht zurück.
Auf keinen Fall. Nicht im Moment.
Nie!
Er brachte die Tasche ins Krankenhaus. Tante Hanna schlief, und er war froh, denn er brauchte Zeit, seine Gedanken zu ordnen.
Wie sollte er weiter vorgehen? Er wollte nicht sein Erspartes investieren, um seiner Tante ein Luxusheim zu finanzieren. Mit wem konnte er darüber sprechen? Jos’ Reaktion war zu ahnen, ohne mit ihm gesprochen zu haben. Seine anderen drei Brüder, streng genommen seine Cousins, waren mit Tante Hanna nicht verwandt.
Da fiel ihm der Zettel mit der Telefonnummer wieder ein. Zum Glück lag er nach wie vor auf dem Küchentisch. Eine neutrale Person. Iolanthe war nicht wie seine sonstigen Barbekanntschaften. Sie erschien ihm um etliches reifer und intelligenter.
Iolanthe saß in ihrer Wohnung am Computer und arbeitete an der Testreihe. Obwohl es Sonntag war, musste sie das tun. Zeit war alles. In der Wissenschaft zählte: Wer zuerst eine Entdeckung machte, der durfte den Ruhm für sich beanspruchen. Sie war zu einem Vortrag beim Kongress in Berlin eingeladen – den wollte sie halten, auf keinen Fall konnte sie das Werner anvertrauen. Ihr Handy meldete sich.
Eine fremde Nummer. Reggie? Jetzt schon? Sie hätte eher vermutet, dass ein Frauenheld seine Opfer länger zappeln ließ. »Hallo«, meldete sie sich ohne Namen.
»Hier ist Reggie.« Räuspern. »Ich möchte dich um einen Rat bitten.«
Halleluja! Damit hatte sie nicht gerechnet. Der Mann schien eine ungewohnte Masche drauf zu haben. Anders als all die Schwerenöter, mit denen sie es jemals zu tun gehabt hatte.
Vorsicht! Sie durfte die Regie bei Reggie … sie lachte kurz innerlich über das Wortspiel … nicht aus der Hand lassen.
»Ausgerechnet von mir?«
»Ich brauche eine neutrale Meinung.« Seufzen. Er klang, als hätte er definitiv ein Problem.
Freilich glaubte sie keine Sekunde daran.
»Ich möchte dich gerne zum Abendessen einladen. Am Telefon mag ich darüber nicht reden.«
Aha! Das klang eher nach Frauenverführer.
»Essen, da bin ich sofort dabei. Wo?«
»Ich hole dich ab.«
Auf keinen Fall!
»Ich bin nicht zu Hause.« Eine dreiste Lüge. »Sag mir das Restaurant und ich komme hin.«
»Möchtest du etwas vorschlagen?«
»Das ›Napoli‹. Ich habe eine Vorliebe für die mediterrane Küche. Es ist in der Amalienstraße, Nähe Bayerische Staatsbibliothek.«
»Ich kenne es. Zufällig gehört es zu meinen Favoriten. Ich reserviere uns einen Tisch. Um acht Uhr?«
»Prima.«
Phase zwei konnte beginnen. Dass Reggie das ›Napoli‹ schätzte, hatte ihr Janine verraten. Seine Schuld, wenn er Tischbestellungen seiner Sekretärin überließ. Die Sache entwickelte sich zum Selbstläufer. Erfreulich. Im Nullkommanix fräße er ihr aus der Hand. Der Wettgewinn war ihr sicher. Und danach würde sie ihn zum Teufel schicken wie alle Liebhaber zuvor, bevor er die Chance hatte, ihr den Laufpass zu geben.
Es waren noch drei Stunden bis dahin. Sie dehnte und streckte sich, dann fuhr sie den Computer herunter und begab sich vor ihren Kleiderschrank. Die weinrote Hose mit der gemusterten Bluse, dezenter Kristallschmuck – ja, das war das Richtige.
Ihr Handy läutete. Was wollte denn ihre Schwester?
»Adriane, es ist jetzt ein ungünstiger Zeitpunkt. Ich bin auf dem Sprung.«
»Es ist Sonntag.«
»Ernsthaft? Das ist mir gar nicht aufgefallen.«
»Ich dachte, du kommst wieder einmal vorbei. Deine Nichten und Neffen vermissen dich. Wir feiern den Geburtstag der Zwillinge nach.« Iolanthe verdrehte die Augen, Gott sei Dank konnte Adriane es nicht sehen.
»Wir sind mitten in einer aussagekräftigen Testreihe …«
»Das höre ich ständig.«
»Möglicherweise begreifst du die Bedeutung meiner Tätigkeit hier nicht.« Iolanthes Verhältnis zu ihrer Schwester war bestenfalls als unterkühlt zu bezeichnen. »Ich kann nicht einfach alles stehen und liegen lassen …«
»… wegen so etwas Banalem wie dem Geburtstag deiner Neffen. Hast du nicht versprochen, dabei zu sein?« Zitterte Adrianes Stimme etwa?
Hatte sie das?
Iolanthe straffte sich. Weich werden war keine Option. Die Wunden ihrer Kindheit waren vernarbt, verschwanden aber niemals.
»Das geht leider nicht.«
»Das habe ich vermutet.« Seufzen.
Iolanthe atmete durch. Warum begriff ihre Schwester nicht, dass sie nie zur Familie gehört hatte?
»Ich bin heute Abend bereits verabredet.«
»Dann komm davor.«
»Es geht leider auch nicht. Das verstehst du doch?« Sie sprach betont langsam, weil sie wusste, dass Adriane das hasste.
»Schade.« Die Stimme ihrer Schwester kletterte einen Tonfall höher. »Es hätte die Zwillinge gefreut.«
Das sollte sie für bare Münze nehmen? In Iolanthe sammelte sich das altbekannte Brodeln, das sie mit Gewalt zurückdrängte. Sie hatte vor langer Zeit eine dicke Eisschicht um ihr Herz aufgebaut.
Sie war kein bettelndes Kind mehr.
»Grüß Janosch und Fredi. Die Geschenke habe ich dir schon letzte Woche gegeben, nicht wahr?«
»Es geht doch nicht um Geschenke!«
»Mehr habe ich nicht zu verschenken.«
»Wie du meinst.« Kein Abschiedsgruß.
Warum versuchte Adriane es immer von Neuem? Iolanthe wollte den Kontakt so schmalspurig wie möglich halten. Ostern, Weihnachten, Geburtstag und noch ein, zwei zusätzliche Termine mussten genügen. Sie hatte mit ihrer Schwester nichts gemein, es lagen Welten zwischen ihnen. Schon der Gedanke an ihre Nichten und Neffen, vier an der Zahl, überzog ihren Rücken mit Gänsehaut. Ihr Schwager hatte ganze Arbeit geleistet, bevor er fremdgegangen war und seine Familie verlassen hatte. Adriane war seit zwei Jahren allein und aus diesem Grund hatte der Tod ihrer Mutter im letzten Jahr sie hart getroffen. Die beiden waren eine Einheit gewesen. Iolanthe hatte nie dazugehört.
Sie lebte für ihre wissenschaftlichen Studien. Da wäre keine Zeit für Windelwechsel und Fläschchen kochen gewesen.
Ein Partner an ihrer Seite, davon hatte sie allerdings geträumt. Als sie noch mit Werner zusammen gewesen war, hatte sie sich eine Zukunft zu zweit ausgemalt, die von gemeinsamer Arbeit und Sex geprägt gewesen wäre.
Eine Menge Sex. Eines musste sie ihrem Ex lassen, im Bett war sie fast jedes Mal auf ihre Kosten gekommen.
War sie keine normale Frau, weil sie sich nicht danach sehnte, Mutter zu werden? Sie fühlte sich wohl, wenn sie sich in ihre Arbeit vergraben konnte, Fortschritte spürbar waren und ein neues Medikament herausgebracht werden konnte. Das Gen, um sich auf Kinderebene zu begeben, besaß sie einfach nicht.
Rasch stieg sie unter die Dusche und nahm sich ausgiebig Zeit für Make-up und Frisur für Stufe zwei, einem Frauenhelden eine Lektion zu erteilen.
Das Spiegelbild gefiel ihr. Sie drehte sich rundum und lächelte sich selbst zu. Ihr Erscheinungsbild wirkte geschmackvoll und nicht zu aufgemöbelt. Die weinrote Hose betonte ihre schlanke Figur, die Bluse hing lose darüber. Passend für einen Restaurantbesuch, der unmissverständlich das bleiben würde. Keine Bar und kein Tanz hinterher, und vor allem keine weitere Nacht. Das musste sie von Anfang an klarstellen. Sex musste wohldosiert eingesetzt werden, damit das Interesse des Auserwählten wach blieb.
Männer! Vorhersehbar wie die Wochentage. Mit ein wenig Strategie kippten sie um.
Reggie erwartete sie am Tisch und erhob sich sofort. Iolanthe musste zugeben, dass sein gutes Benehmen und sein weltmännisches Aussehen sie ansprachen: anthrazitfarbener Anzug, dezent gemusterte Krawatte und beiges Hemd. Sie konnte sich nicht entscheiden, ob er angezogen oder nackt besser aussah.
Ups, ihre Gedanken wanderten zu weit.
»Bin ich zu spät? Tut mir leid, meine Schwester hat angerufen.« Was für eine lahme Ausrede. Das Telefonat war über zwei Stunden her.
»Alles im grünen Bereich.« Sein Lächeln ließ Schmetterlinge in ihrem Magen flattern. Der Mann hatte es wirklich drauf. »Du siehst umwerfend aus.«
»Danke.« Sie glitt in den Stuhl ihm gegenüber.
»Ich hoffe, deine Schwester war nicht enttäuscht, dass du das Gespräch abbrechen musstest?«
»Woher …« Er brachte sie aus dem Konzept. Rasch griff sie zur Speisekarte. »Sie wollte mich zum Abendessen einladen, aber wie du weißt, bin ich anderweitig verpflichtet.«
»Da bin ich froh, dass ich vor deiner Schwester rangiere.«
»Darf es ein Aperitif sein?« Der Kellner stand neben ihnen.
»Einen trockenen Sherry bitte.«
»Für mich ebenfalls.« Reggie legte die Speisekarte beiseite. »Und bringen Sie mir die Weinkarte.«
»Entschuldigung, natürlich sofort.« Das Gesicht des Kellners rötete sich leicht, während er hastig zum Pult zurücklief.
»Schon gewählt?«
»Ich nehme die Linguini mit Scampi.«
»Ausgezeichnete Wahl. Ich werde den Thunfisch bestellen.«
Reggie nahm die Weinkarte. Sie gaben ihre Essensbestellung auf, waren wieder kurz unter sich.
»Was bevorzugst du? Rot oder weiß?«
»Rot im Winter. Sie haben hier einen ausgezeichneten Zweigelt aus Österreich.«
Reggie starrte sie sekundenlang an, dann räusperte er sich. »Das ist zufällig einer meiner Lieblingsweine.«
»Wirklich?« Sie biss auf ihre Unterlippe, sein Gesichtsausdruck war zu komisch. Ob Chefs im Allgemeinen bewusst war, wie viel ihre Sekretärinnen aufschnappten? Janine hatte das Telefongespräch seines Weinlieferanten angenommen und die Lieferung bestätigt.
Endlich hatte der Ober auch die Weinbestellung aufgenommen und sie konnten reden.
»Es tut mir leid, dass ich dir die Einladung deiner Schwester verdorben habe.«
»Das spielt keine Rolle.« Sie entfaltete die Serviette und legte sie neben ihren Teller. Dieses Thema wollte sie um nichts auf der Welt vertiefen. »Wer zu spät kommt … du hattest doch ein Problem?«
Jetzt war sie gespannt. Welche Story tischte er ihr auf?
»Ja. Es geht um meine Tante Hanna. Sie ist über siebzig und sterbenskrank, wie ich heute erfahren habe. Zusätzlich hat sie sich einen Oberschenkelhalsbruch zugezogen, ist also in höchstem Grad pflegebedürftig.«
Ah, die Mitleidstour!
»Das tut mir leid.« Iolanthe beugte sich vor. Worauf wollte er hinaus? Sie war gespannt, wie er den Faden weiterspinnen würde.
»Das Problem ist, dass ich seit zwei Jahren keinen Kontakt zu ihr hatte.«
Der rothaarige Kellner kam zurück und stellte die beiden Sherrys vor sie hin. Sie bedankten sich. Kaum war er weg, brachte ein Mädchen ein Brotkörbchen und einen Aufstrich in einem Schälchen.
»Das ist Paprika-Zitronen-Butter.« Sie lächelte liebenswürdig, dann waren sie wieder ungestört.
Was war noch mal das Thema? Seine Tante … kein Kontakt.
»Ihr habt euch zerstritten?«
»Schlimmer. Sie hat uns, meinen Bruder Jos und mich, hintergangen. Das ist eine lange Geschichte.«
Offenbar war doch etwas Wahres dran. Iolanthe breitete ihre Serviette über den Schoß, holte sich ein Brötchen aus dem Korb und griff nach dem Buttermesser.
»Wir haben Zeit.«
Auch Reggie bestrich sich ein Gebäckstück.
»Unsere Eltern starben bei einem Flugzeugunglück, als ich sieben war.«
Iolanthes Messer rutschte aus ihrer Hand. Rasch nahm sie es wieder auf. Hatte Janine ihr das absichtlich verschwiegen, nicht daran gedacht oder wusste sie es einfach nicht?
»Wir wuchsen im Haus meines Onkels auf. Der einzige Kontakt zu früher war Tante Hanna. Sie ist die Schwester unserer leiblichen Mutter. Wir sahen sie alle paar Wochen einmal.«
»Und das war unangenehm?«
»Nein. Sie unternahm mit uns Ausflüge, kochte für uns und sprach mit uns über unsere Eltern. Aber …«
Der Ober brachte den Wein und hielt ihn Reggie hin.
»Darf ich ihn dekantieren?«
»Gerne.«
Zum Glück hantierte er zwei Meter weiter weg mit der Weinflasche, sodass sie das Gespräch fortsetzen konnten. Iolanthe packte eine Dosis Mitgefühl in ihre Stimme.
»Das muss bitter für dich gewesen sein, deine Eltern so früh zu verlieren.«
Reggies Gesichtszüge wurden zu einer Maske.
»Dass meine leiblichen Eltern starben, war das Beste, was uns hat passieren können. Sie waren nicht … nett.«
Ein eisiger Knoten bildete sich in Iolanthes Magen. Gab es da Parallelen zu ihrer Kindheit? Unsinn! Das typische herzzerreißende Geschwafel eines Frauenhelden.
Reggie trank sein Sherryglas mit einem Schluck leer. »Auf jeden Fall hat uns Tante Hanna jahrelang eingeredet, dass unsere Eltern geisteskrank gewesen wären und wir ebenfalls gefährdet seien. Dabei war das gelogen, mein Vater war ein Choleriker und meine Mutter hatte eine postnatale Depression.«
Konnte das stimmen?
Iolanthe sah auf das Gebäck in ihrer Hand. Der Appetit war ihr momentan vergangen. »Was ist vor zwei Jahren passiert?«
»Die Frau meines Bruders, Dani, hat den Stein ins Rollen gebracht und nachgeforscht. Weder Jos noch ich hätten ihr zugetraut, dass sie uns dermaßen belügen könnte. Wir waren zuerst beide wütend auf Dani, weil sie es unserer Mutter – für uns ist unsere Tante unsere Mutter geworden – erzählte … egal, ich schweife ab. Auf jeden Fall hat Tante Hanna angesichts von erdrückenden Beweisen eingestanden, dass sie jahrelang Geld vom Kunsthandel meines Vaters abgezweigt und das Geschäft mit Absicht ruiniert hätte. Mittlerweile haben wir als Erben alles zurückerhalten. Und aus diesem Grund hat sie keine Mittel für eine angemessene Pflege.«
»Springt in diesem Fall nicht der Staat ein?« Was war sein Problem? Wenn diese Hexe sie so mies behandelt hatte, verdiente sie ihr Schicksal.
»Sie möchte nicht in ein staatliches Pflegeheim. Die meisten sind überlastet mit zu wenig Personal und unzureichenden Räumlichkeiten.«
Iolanthe legte das Brötchen ab. Was konnte sie ihm sagen? Für sie wäre es kein Problem, die Alte ihrem Schicksal zu überlassen.
»Du hast keinerlei gesetzliche Verpflichtung, sie zu unterstützen. Nur eine moralische, nicht wahr? Dein eigenes Gewissen, das dich dazu treibt.«
»Ja.«
»Was sagt dein Bruder? Ihn betrifft es schließlich auch.«
»Ich habe ihn nicht gefragt. Wegen Tante Hanna hätte er bald seine Familie verloren und daher verzeiht er ihr nicht.«
Ein Bursche mit Grips im Kopf.
»Und du?«
»Ich habe meinen Frieden mit der Situation gemacht.«
»Das klingt wie auswendig gelernt aus einem historischen Roman.«
»Ich hatte es in den hintersten Winkel meines Gehirns verdrängt.« Er rutschte auf seinem Stuhl hin und her. »Bis heute war ich der Ansicht, das Kapitel wäre abgeschlossen. Als jedoch am Morgen das Krankenhaus anrief, bin ich sofort, ohne zu zögern, hingegangen. Was bedeutet das?«
Dass du ein Idiot bist?
»Dass du dir für deine Tante trotz allem im hintersten Winkel ein Stück Zuneigung bewahrt hast.«
Ging es ihr nicht genauso? Iolanthe hatte sekundenlang Schleier vor den Augen. Es spielte keine Rolle, ob man verzeihen konnte oder nicht, bei gewissen Bindungen war es unmöglich, sich von ihnen ganz zu lösen. Adriane … nein, sie schob die unerfreulichen Gedanken von sich.
Der Ober stellte die Weingläser auf den Tisch und goss Reggie einen Testschluck ein. Er probierte und nickte. »Ausgezeichnet, wie immer.«
»Dankeschön. Darf ich schon einschenken?«
»Gerne.«
Sie schwiegen, während der junge Mann die Gläser füllte. Sie prosteten sich zu.
»Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was ich tun soll.«
Was wollte er hören? Sie kalkulierte in Sekundenschnelle, dann war die Antwort problemlos.
»Doch, Reggie, das weißt du längst.« Iolanthe steckte sich ein Stückchen Brot in den Mund und kaute.
»Wie meinst du das?«
»Wenn es dir leichtfallen würde, deine Tante fallen zu lassen, dann säßen wir nicht hier. Im Grunde genommen möchtest du ihr helfen, hast aber Angst, wie deine Familie reagiert, vor allem dein Bruder.«