Die Frau, die die Welt zusammenfügte - Eva Tind - E-Book

Die Frau, die die Welt zusammenfügte E-Book

Eva Tind

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Beschreibung

Ein epochales Forscherinnenleben - und der Alltag einer Mutter von vier Kindern. Kopenhagen 1948: Maries kleiner Sohn Peder ist noch ein Baby, der Gedanke, ihn für viele Monate zu verlassen, schmerzt. Aber Marie muss fort, sie wird auf einer strapaziösen Expedition Beweise suchen für ihre These, dass die Kontinente ursprünglich einmal zusammenhingen.Pangaea ist ihr Lebenszweck, von nichts und niemandem lässt sie sich einschränken. Sie ist Forscherin, verheiratet und hat vier Kinder. Ihre Dissertation schreibt sie am Küchentisch, die Kindern um sich – das Familienleben ein ebenso großes Abenteuer wie ihre Expeditionen. Manchmal wird die Sehnsucht nach ihrer Familie übergroß, doch hartnäckig verfolgt Marie ihr Ziel. Dabei erforscht sie nicht etwa die imposantesten Lebewesen, sondern winzig kleine Moosmilben, die die Existenz Pangaeas beweisen sollen. Die Biologin und Zoologin Marie Hammer hat die Geschichte unserer Welt umgeschrieben, trotzdem ist sie heute fast vergessen.Ein mitreißender, lebenspraller und eigensinniger Roman über Kompromisslosigkeit, über ein Leben außerhalb gesellschaftlicher Normen, über eine Frau, die Großartiges erreicht hat.

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Eva Tind

Die Frau, die die Welt zusammenfügte

Roman

 

 

Aus dem Dänischen von Ursel Allenstein

 

Über dieses Buch

Ein epochales Forscherinnenleben – und der Alltag einer Mutter von vier Kindern. Kopenhagen 1948: Maries kleiner Sohn Peder ist noch ein Baby, der Gedanke, ihn für viele Monate zu verlassen, schmerzt. Aber Marie muss fort, sie wird auf einer strapaziösen Expedition Beweise suchen für ihre These, dass die Kontinente ursprünglich einmal zusammenhingen.Pangaea ist ihr Lebenszweck, von nichts und niemandem lässt sie sich einschränken. Sie ist Forscherin, verheiratet und hat vier Kinder. Ihre Dissertation schreibt sie am Küchentisch, die Kindern um sich – das Familienleben ein ebenso großes Abenteuer wie ihre Expeditionen. Manchmal wird die Sehnsucht nach ihrer Familie übergroß, doch hartnäckig verfolgt Marie ihr Ziel. Dabei erforscht sie nicht etwa die imposantesten Lebewesen, sondern winzig kleine Moosmilben, die die Existenz Pangaeas beweisen sollen.

Die Biologin und Zoologin Marie Hammer hat die Geschichte unserer Welt umgeschrieben, trotzdem ist sie heute fast vergessen.Ein mitreißender, lebenspraller und eigensinniger Roman über Kompromisslosigkeit, über ein Leben außerhalb gesellschaftlicher Normen, über eine Frau, die Großartiges erreicht hat.

Vita

Eva Tind, geboren 1974, lebt heute in Kopenhagen. Die Autorin, bildende Künstlerin und Filmemacherin hat mehrere Gedichtbände und Romane veröffentlicht. Sie wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem Debütpreis der Dänischen Akademie und dem dreijährigen Arbeitsstipendium des dänischen Kunstfonds. Die Frau, die die Welt zusammenfügte wurde von der dänischen Kritik hochgelobt und erscheint in mehreren Ländern. 

Ursel Allenstein, 1978 geboren, übersetzt u. a. Sara Stridsberg, Kjersti Skomsvold und Christina Hesselholdt. 2011 und 2020 erhielt sie den Hamburger Förderpreis, 2013 den Förderpreis der Kunststiftung NRW und 2019 den Jane Scatcherd-Preis für ihre Übersetzungen aus den skandinavischen Sprachen.

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel «Kvinden der samlede verden» bei Gyldendal, Kopenhagen.

Die Übersetzung wurde von der Danish Arts Foundation gefördert.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, April 2023

Copyright © 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

«Kvinden der samlede verden» Copyright © 2021 by Eva Tind and Gyldendal

Das Zitat auf S. 87 stammt aus: Knud Rasmussen, Mythen und Sagen aus Grönland. Übersetzt von Julia Koppel, Anaconda Verlag, München 2022, S. 21

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung Anzinger und Rasp, München

Coverabbildung Marie Hammer, 1933, Fotograf unbekannt (Knud Rasmussens Hus og Arkiv); commons.wikimedia.org/CC0 1.0

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-01270-7

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Prolog, 1948

Peder liegt wie ein warmer Klumpen an Maries Brust. Die Brustwarze ist aus seinem Mund geglitten, an seiner Wange hängen winzige Milchtropfen, die Zerbrechlichkeit der ganzen Welt ruht in seinem runzeligen kleinen Gesicht. Maries Blick wandert weiter, durch das Fenster hinaus in den Garten, wo das Gras und die Pflanzen immer noch grün sind, obwohl sich die Blätter der Bäume schon gelb färben und sich bald lösen werden, sodass der Wind sie zu Boden wehen kann. Der Himmel liegt über allem. Es gibt zwei Wege, das Universum zu studieren, denkt sie, man kann ins All reisen und sein Leben riskieren oder in die unsichtbare Mikrowelt, deren Raum genauso groß und unendlich ist. Als junges Mädchen hätte sie es für ausgeschlossen gehalten, dass sie sich einmal mit solch kleinen, fast unsichtbaren Nebensächlichkeiten beschäftigen würde wie Moosmilben, doch unmerklich wurde sie immer besessener von ihnen.

«Wenn man sein Leben nicht für das nutzt, was einen am meisten interessiert, wird man nie glücklich», flüstert sie Peder zu. Die Wärme strahlt von seinem kleinen Kopf ab wie von einer Sonne. Der Gedanke, dass sie jetzt wegreisen wird, versetzt ihrem Herzen einen Stich, aber sie hat keinen Zweifel: Sie weiß, dass sie aufbrechen muss.

1907–1921Kopenhagen, Kokkedal, Nivå

1907

Marie und Aase liegen frisch gewaschen und rotwangig auf der Matratze. Das weiße Baumwolllaken ist glatt und steif. Sie sind aus einem Ei entstanden, das sich dreizehn Tage nach der Befruchtung teilte. Trotzdem wird Marie als die Ältere angesehen, weil sie zuerst geboren wurde. Am Ende werden sie insgesamt sieben Schwestern und ein lebender Bruder sein. Løn ist mit drei Jahren die Älteste, Trolden elf Monate jünger als Løn, Bitten ein Jahr jünger als Trolden, dann kommen die Zwillinge. Nach ihnen wird Alma den toten Bruder auf die Welt bringen und nach ihm Manse, den lebenden Bruder, dann Søster und am Ende Tutsi.

 

Marie bewegt sich ruckartig, sie weint in Aases Gesicht, und Aase weint in Maries, ihr Weinen lässt sich nicht unterscheiden, sie weinen mit einer Stimme, und ihr Weinen schwillt an und ebbt ab, doch niemand tröstet sie, ihre Geschwister springen überall herum, streicheln und kneifen die hilflosen Zwillinge, die Köpfe der anderen baumeln über ihnen wie Medaillons, und Marie und Aase strampeln und weinen, bis ihnen der Schlaf eine kleine Keule über den Kopf zieht und die Muskeln und Sehnen und alles andere zur Ruhe kommen. Die eine kann sich noch nicht von der anderen unterscheiden.

1911

Marie und Aase sind noch klein, als ihre Eltern Niels und Alma mit den fünf Töchtern aus der Großstadt in eine weiße Villa nördlich von Kopenhagen ziehen. In diesem Jahr hat es außergewöhnlich viel geschneit. Der Schnee hat sich gesetzt, der Frost kriecht aber immer noch über die Fenster und zeichnet Muster, die als Schneeblumen zwischen den Scheiben erstarren. Das Haus wurde im italienischen Stil erbaut. An der Nordseite hängen die Eiszapfen wie nadelspitze Zähne von den Dachrinnen. Aus dieser verputzten Villa mit den großen weißen Säulen stammt Maries erste Erinnerung, wie ein etwas unscharfes Foto. Die Konturen von Niels, ihrem Vater, tauchen auf. Marie hat sich dieses Bild so oft in Erinnerung gerufen, dass es sich in ihr Gedächtnis eingebrannt hat, es kann nie wieder gelöscht werden. Ihr Vater, rauchend in einem Sessel. Er hält den Rücken gerade, auf dem einen Oberschenkel ruht ein Buch. Die Kleidung sitzt steif am Körper, sie sieht unbequem aus. Durch die Lippen bläst er blauen Rauch, der wie eine dichte Wolke um seinen Kopf herum aufsteigt.

 

Obwohl Niels ein recht junger Vater ist, hat er einen langen, ergrauenden Bart, seine Augen sind tiefe Löcher, in die man nicht hineinstolpern möchte. Er versucht stets, den Stimmen der Kinder auszuweichen, die in seinen Ohren kratzen und kribbeln, und ihren fettigen Fingern, die seine steife Kleidung beflecken und aus der Form bringen. Wenn er mit den Kindern spricht, verwendet er kühle, nüchterne Wörter; Wörter, die die Pforte zu einem unfassbaren Wissen öffnen, die ihn erheben, bis weit über die blaue Rauchwolke ganz oben unter der Decke. Niels ist Mathematiker. Er unterrichtet am Gymnasium und verteilt sein Wissen an die Kinder wie weiße Zuckerwürfel. Kleine raue Würfel, die sich langsam im Mund auflösen, zu einem süßen Meer verschmelzen, das durch den Körper tobt und die Augen zum Glänzen bringt.

 

Marie wünscht sich nur eins: das Meer im Mund zu behalten.

 

Vor dem Fenster schweben weiche Schneeflocken herab, der Wind bleibt ruhig.

«Komm mit», sagt Løn und bürstet helle kleine Schuppen von Maries dunkelblauem Kleid.

«Wohin?», fragt Marie.

«Es ist Sonntag.»

 

Løn nimmt Marie bei der Hand. Sie flitzen den Gang hinunter. Sonntags dürfen sie in die Hausbibliothek, und die Zeit löst sich wie das Fleisch von den Knochen im Topf, der auf dem Herd in der Küche steht. Aus dem Topf steigt Dampf auf und sammelt sich in Wasserperlen unter der Decke, ein Tropfen nach dem anderen fällt herab: ein Jahr, zwei Jahre, drei Jahre – die Sonntage werden wie Perlen auf eine Schnur gezogen, und Løn, Trolden, Bitten, Aase und Marie werfen sich auf die türkischen Teppiche in der Bibliothek, rollen sich auf den Bauch und stecken ihre Gesichter so tief in die dicken Bücher, dass sich der satte Geruch von Papier und Staub in ihren Nasen festsetzt. Sie blättern sich einmal rings um die Erde, Seite für Seite wandern sie durch die Bilder, hinein in die Sitten und Bräuche anderer Länder und Menschen. Maries Herz klopft im selben Rhythmus wie Aases, zwei Steine, die aneinanderschlagen, Funken sprühen, ein Gedanke nimmt Form an in Marie: Ich werde um die Welt reisen.

Sie blickt zu dem Globus auf dem Schreibtisch.

«Kann man um die Erde laufen?»

«Nein», murmelt Trolden, «zwischen den Kontinenten liegt Meer.»

«Was sind Kontinente?»

«Riesige Inseln, die aus dem Wasser aufragen», antwortet Trolden.

Marie schließt die Augen, sie drehen sich unter den Augenlidern. Die Erde ist eine leuchtende Kugel, die direkt hinter ihrer Stirn hängt. Sie prägt sich alles ein, öffnet die Augen, schließt sie. So macht sie weiter, öffnet die Augen, blättert, schließt sie wieder und speichert alle Bilder aus Brehms Tierleben im Kopf ab, um sie jederzeit auf der Innenseite ihrer Lider heraufbeschwören zu können.

«Siehst du, was ich sehe?», fragt sie Aase.

«Ja.»

Hinter ihren Augenlidern sieht Marie direkt in einen Traum hinein: Sie geht allein, den ganzen Weg um die Erde herum.

«Ich will nicht allein um die Welt reisen», sagt Aase.

«Warum nicht?»

Ihre Augen bewegen sich unruhig unter den Lidern. Aber sie bleiben geschlossen.

«Ich möchte nur mit jemandem zusammen reisen.»

«Du zerstörst meinen Traum», sagt Marie.

«Du zerstörst meinen Traum», wiederholt Aase.

Jetzt dreht sich die Erdkugel schneller.

«Ich sehe grünes Wasser, Korallen und Pilze mit dicken braunen Stielen, runzelig wie Palmenstämme, einige haben orangefarbene Flecken, andere sind hautfarben oder genoppt und mit Haarmähnen.»

Marie schwimmt.

«Zwischen den Steinen liegen Seesterne und Wasserblumen und schmücken sie, sie sickern hervor wie Aquakorallen», sagt Aase.

«Aquarelle oder Korallen», sagt Trolden.

«Korallen», wiederholt Marie. Das Wort schmeckt wie Eiscreme. Die Erde dreht sich noch schneller.

«Wenn du reist, komme ich mit. Wir müssen immer zusammenbleiben», sagt Aase.

Marie blickt in Aases Augen, als wären es ihre eigenen.

«Ja», sagt Marie.

Aber sie sieht Aase und sich nicht zusammen gehen, sie ist allein.

 

«Wer ist das?», fragt Aase und deutet auf ein Bild von einer Marmorbüste.

«Thales von Milet, der ungefähr 500 Jahre vor Jesus lebte», erklärt Niels und beugt sich über sie.

Der Bart des Vaters kitzelt, ein weiches Kissen, an dem man sein Gesicht ausruhen kann.

«Thales von Milet hat gesagt: Aus Wasser ist alles! Statt die Natur für etwas Mystisches zu halten, hat er sie als etwas betrachtet, das beobachtet werden muss, damit man es verstehen kann.»

Marie starrt das Bild von Thales von Milet an, dessen Augen weiß und rund sind wie gepellte Eier, und jetzt riecht es im Zimmer danach.

«Es riecht nach Ei», sagt Aase.

«Ist er blind?», fragt Marie.

«Alle Statuen sind blind», antwortet Løn.

 

Marie muss mal. Sie verlässt die Bibliothek, geht den Flur entlang, aus der Tür, zur Toilette. Obwohl die Blase drückt, bewegt sie sich langsam und mit geschlossenen Augen. Ihre Fingerspitzen kennen alle Zimmer des Hauses und alle Oberflächen, doch wenn sie wie eine Blinde hier entlanggeht, fühlt es sich an, als ginge sie den Weg zum ersten Mal. Sie beschleunigt das Tempo. Ihre Finger gleiten über die gekalkten Wände. Wie dunkel ist es eigentlich im Kopf eines blinden Mannes? Ein dunkler Schatten fährt in sie hinein, und die Augenlider huschen nach oben. Sie will lieber doch nicht blind sein. Sie öffnet den Klodeckel, der Gestank schießt aus dem Loch empor wie eine Peitsche. Sie atmet durch den Mund und lässt ihren Urin in einem dicken, warmen Strahl hinauslaufen. Der Geruch bleibt in ihren Nasenhaaren hängen. Jetzt rennt sie über den Flur zurück zur Bibliothek, der Luftstrom bläst ihr die Nase sauber. Sie wirft sich neben Aase und bohrt ihr den Finger in die Seite, aber Aase reagiert nicht, rückt nur von ihr ab, und das Buch, in dem sie liest, zieht sie mit.

 

«Was ist ein Strohräuber?», fragt Marie.

«Einer, der anderen Leuten das Stroh raubt?», schlägt Bitten vor.

«Ein Strohräuber ist Bernstein», sagt Løn. «Das steht da.»

«Wenn man Bernstein poliert, wird er magnetisch und zieht kleine Strohhalme an. Deshalb heißt Bernstein auf Persisch ‹Strohräuber›», erklärt Niels.

«Was bedeutet magnetisch?», fragt Marie.

Das Wort erinnert sie an Magna, die Nachbarsfrau, unter deren Kinn immer drei lange, störrische Haare wachsen, widerspenstiges Stroh, vom Schatten des Kinns verborgen.

«Wenn sich zwei voneinander getrennte Dinge gegenseitig anziehen, sind sie magnetisch. Stell dir einen kleinen Stab vor, der an der einen Seite einen Nordpol hat und an der anderen einen Südpol. Wenn der Nordpol des Stabs zum Südpol eines anderen solchen Stabs zeigt, wird die Anziehung aufgrund ihrer Gegensätzlichkeit so stark sein, dass sie wie ein einziger Stab zusammenkleben. Dreht man den Stab jedoch um, sodass der eine Südpol zum anderen Südpol zeigt oder der Nordpol zum Nordpol, werden sich die Stäbe abstoßen», sagt Niels.

«So wie ihr», sagt Løn zu Marie und Aase. «Ihr benehmt euch wie zwei kleine Stäbe, ihr klebt die ganze Zeit aneinander.»

«Wenn du sie trennst, werden sie den Rest ihres Lebens damit verbringen, einander zu suchen», sagt Niels zu Løn, als wären Aase und Marie nicht mehr im Zimmer.

Die Wörter flattern von seinen Lippen und Niels hinterher, fast so, als würde er abheben.

«Der griechische Philosoph Empedokles behauptete im 5. Jahrhundert vor Christus, die Erde und das Universum bestünden aus vier Elementen, nämlich Erde, Feuer, Luft und Wasser, die wiederum zwei anderen Kräften unterworfen seien: Liebe und Streit. Vereinigung und Trennung sind zwei zusammenhängende Kräfte.»

«Wir sind keine Stäbe, wir sind Menschen», sagen Marie und Aase wie aus einem Mund.

«Und wir meinen nicht dasselbe», sagt Marie.

«Genau», sagt Aase.

 

Marie hält sich die Ohren zu und steckt ihr Gesicht in ein Buch über die «Völker der Erde». Die Wilden in Neuguinea erstehen von den Buchseiten auf, mit Wildschweinzähnen in der Nase und Paradiesvögeln als Kopfschmuck. Auf der nächsten Seite tanzen Afrikaner, deren ölige Zöpfe über die nackten Pos baumeln. Sie lässt sich in die fremde Welt hineingleiten, und jetzt ist sie diejenige, die Paradiesvögel als Kopfschmuck trägt.

 

«Ist das …?», fragt Aase und zeigt auf das Buch.

«… ein echter lebendiger Vogel», antwortet Marie und nickt.

«Guck mal da, Marie!» Aases Stimme klingt laut.

 

Direkt vor ihnen stehen die Wilden, quicklebendig mit ihren Wildschweinzähnen in der Nase. Aase zieht sich aus. Sie steht nackt vor Marie. Jetzt wickelt sie sich lange Grashalme um die Oberarme wie große Pompons und bindet sich Farnwedel über das Steißbein. Sie stehen ab wie ein großer buschiger Schwanz. Um ihren Hals baumeln Perlenketten, und sie greift sich einen Hut und setzt ihn auf.

«Du hast einen Paradiesvogel auf dem Kopf», sagt Marie mit runden Augen.

Der Vogel breitet seine strahlend bunten Flügel aus. Wenn er blinzelt, wippt der Wildschweinzahn in Aases Nase, aber es kitzelt in Maries Nasenlöchern.

Aase wackelt mit der Hüfte, Marie legt den Kopf zurück und gluckst vor Lachen, dann ändert sich ihr Blick und wird scharf wie der eines Adlers, sie sammelt die Finger zu einem Schnabel und hackt zu.

«Au», sagt Aase. «Hör auf!»

Sie kreischt und schlägt nach Marie.

«Das bestimmst nicht du», zischt Marie und schlingt die Arme um Aase wie eine Schlange.

Sie wälzen sich auf dem Boden zwischen Grashalmen und Farnwedeln, der Paradiesvogel flattert krächzend auf, und Alma kommt angerannt.

«Jetzt ist aber Schluss!», ruft sie. «Steht auf. Wie benehmt ihr euch denn?»

«Wir spielen bloß», sagt Marie.

«Alles nur Spaß», sagt Aase.

Alma kneift die Augen zusammen und blickt von der einen zur anderen.

«Seht zu, dass ihr euch wieder anzieht», sagt sie.

1912

Die Nacht ist ein Wolf mit nur einem gelben Auge, das nie blinzelt. Wenn er aufsteht, schlüpft der Tag zwischen seinen Beinen hindurch, wie alle anderen Tage zuvor. Schlaftrunkene Körper wälzen sich trotzig im Licht. Kalte, feuchte Lappen waschen den Schlaf und Schmutz aus allen Ecken des Körpers. Die Kinder pinkeln, kacken, gurgeln, kämmen sich die Haare und ziehen sich an, um sich dann an den langen Tisch in der Küche zu setzen, wo alle so unablässig reden, dass es aussieht, als stünden ihre Münder die ganze Zeit offen.

«Ihr erinnert mich an Vogeljungen, nur dass eure Schnäbel nach unten hängen, sobald ihr gegessen habt, setzt euch gerade hin und streckt die Brust raus», sagt Alma.

«Wir haben eine Neuigkeit», sagt Niels.

«Wir werden umziehen», erklärt Alma.

In derselben Sekunde bleiben die Zeiger der alten Bornholmer um siebzehn Minuten nach sechs stehen. Die Standuhr, die normalerweise als Kribbeln im Gehörgang den Takt vorgibt, steht vollkommen stumm an der Wand.

«Umziehen?», fragen Marie und Aase wie aus einem Mund.

«Wohin?», fragt Løn.

«Auf dem Balkan ist ein Krieg ausgebrochen, der sich weiter ausbreiten könnte. Wir haben einen Hof gekauft, damit wir uns selbst versorgen können.»

Alma stützt sich den unteren Rücken, sie ist wieder schwanger. Manse hängt immer noch an ihrem Bein wie ein kleiner Kartoffelsack. Er ist zu schwer geworden, als dass sie ihn noch tragen könnte.

«Der Hof heißt Løvbjerggård», sagt Niels.

«Wo liegt er?», fragt Trolden und stochert in ihrem Brei herum.

Aase und Marie springen von ihren Stühlen auf.

«In Nivå.»

«Gibt es da Löwen?», fragt Marie und knurrt und fletscht die Zähne. Aase hat wieder ihren unsichtbaren Farnschwanz angezogen. Sie scharwenzelt um den Tisch.

«Løv wie Laub, nicht Löwe», sagt Løn.

«Das sind die Blätter, die an den Bäumen hängen», erklärt Bitten.

«Aber werden wir dort Tiere haben?», fragt Marie.

«Ja, wir müssen uns ja selbst versorgen können», antwortet Alma.

«Und sieben Torfmoore haben wir auch», sagt Niels.

«Sieben große Schlammlöcher mit Gekreuch und Gefleuch, hurra», sagt Trolden ironisch.

Niels wirft ihr nur einen kühlen Blick zu.

«Und Hühner!», sagt Aase.

«Und Eier», sagt Marie.

«Ja, die sind ja bei den Hühnern mit enthalten», sagt Løn lächelnd.

«Was ist mit unseren Sachen, wir können doch nicht mit dem ganzen Zeug umziehen?», fragt Marie.

«Wir packen alles bis auf die Möbel in Kisten, und dann kommt ein großer Lastwagen und transportiert es dorthin», sagt Alma.

«Und wie nehmen wir das Haus auseinander?»

«Mariechen, das Haus bleibt natürlich stehen. In dem neuen Haus sammeln wir nur uns und unsere Sachen.»

Marie hebt den Blick und sieht sich um, auf dem Tisch stehen sieben Teller mit dunkelbraunem Brei. Sieben Schlammlöcher sind sieben Moore, denkt sie. Dann beugt sie sich über ihre Brotsuppe und leckt den Rand des Tellers sauber. Ein glänzend weißer Rand umrahmt die braune Grütze.

1915

Der Løvbjerggård hat weiß gekalkte Mauern und ein neugedecktes Strohdach. Eine weitläufige Moränenlandschaft wellt sich grün um Wohnhaus und Scheune. Die Felder liegen zwischen den sieben Moorseen. Alle Rübenreihen enden an einem See, und die Natur ist jetzt kein Ausflugsziel mehr, sie wächst um die Familie herum, um den Hof und die Tiere, polstert sie alle von außen und innen aus. Sie ernähren sich von den Tieren des Hofs und der Ernte der Felder. Ihre Zähne zerreißen, zerteilen, zerkauen, der Mund schluckt alles. Die Kinder binden Weidenruten zusammen und reiten darauf wie Indianer auf dem Kriegspfad, und ab und zu dürfen sie auf den großen Pflugpferden sitzen, wenn sie vom Feld nach Hause trotten. Das lebendige Fell zwischen den Beinen, die Vorstellung, dass sich diese enorme Kraft dem menschlichen Willen unterwirft.

 

Marie wird groß auf dem Land, vom Land. Das Korn sprießt in ihr, und dann kommt der Herbst. Alma und die Mädchen schuften, schwitzend schleppen sie die Getreidegarben, unter Staubwolken, die aufsteigen wie ein undurchdringlicher Nebel nach einer Explosion. Der Staub kriecht in Nase und Ohren. Sie waten in Hunderten von Mäusen und Ratten umher, die sich den ganzen Winter über mit Korn vollgestopft und vermehrt haben. Mäuse flitzen über den Boden, krabbeln in Hosenbeine und unter Kleider. Løn, Trolden und Bitten stehen mit dem Spaten bereit.

«Au, verdammt!», ruft Trolden, als eine Maus an ihrem Bein emporklettert, als wäre es ein Baum, und kleine blutige Schrammen hinterlässt.

Die Kinder laufen über den Boden und schlagen die Tierchen mit Spaten und Schaufeln nieder, sie schlagen sie bewusstlos, hacken ihnen die Köpfe, Schwänze und Beine ab. Die Stümpfe winden sich. Der Scheunenboden ist blutbefleckt.

Als die Mädchen zum Mittagessen gehen und die letzte Maus ins hohe Gras geflüchtet ist, steckt Manse den Kopf in die Scheune. Er geht zwischen den Mäuseleichen umher und pikst mit einem Stock hinein, um zu sehen, ob er sie zum Zappeln bringen kann. Dann hält er inne, beugt sich herab, hebt etwas auf und verschwindet aus der Scheune.

 

«Wo ist Manse?», fragt Aase.

«Ich suche ihn», sagt Trolden.

«Ich auch», sagt Marie und folgt Trolden auf den Fersen.

 

Manse sitzt hinter der Scheune. Sein Körper krümmt sich wie ein Vordach über das, was er verbirgt: ein Pelzstummel in einer Pfütze aus Blut und winzigen Eingeweiden, die als schleimiger Klumpen vor ihm auf der Erde liegen.

«Manse, was ist das?», fragt Trolden.

«Eine Maus», antwortet er.

«Das ist eklig», sagt Trolden. «Lass sie in Ruhe.»

«Sie ist doch tot», erwidert er.

«Ja», sagt Trolden, «ebendrum.»

Manse wendet sich von ihnen ab.

«Und was ist das da?», fragt Marie und zeigt auf den Klumpen.

«Die Gedärme», antwortet er.

Manse stochert mit dem Stock in einer kleinen, dunklen, blutigen Schnur. Marie stupst sie mit dem Finger an, Aase tut dasselbe.

Es ist Wochenende, aber Alma hat Obst einzukochen. Die hungrigen Tiermägen müssen gefüllt werden, die Jaucherinne im Stall ausgekratzt.

«Die Kühe haben immer Hunger, egal welchen Tag wir haben», sagt sie.

Alma ergreift den Besen, und Niels nimmt die Kinder mit auf einen Sonntagsausflug. Heute geht es ins Moor Malmmosen. Die langen Gräser lecken wie feine, dünne Zungen nach den Beinen. Hier ist es im Juni am schönsten, wenn das Wollgras blüht und ein Flor aus weichen weißen Bäuschen die großen grünen Flächen bedeckt.

«Sie sehen aus wie winzige Schafherden auf Stängeln», sagt Marie. Wenn Niels lächelt, breitet sich Wärme in Maries Brust aus. Sie merkt, wie ihr Vater ruhig und still wird, wenn sie alle ausschwärmen, um Blumen und Insekten zu entdecken.

«Haltet mal nach dem Sonnentau Ausschau», sagt Niels, «der versteckt sich zwischen den Torfmoosen.»

«Ist er das?», fragt Trolden und zeigt auf einen Stängel mit bläulichen Spitzen an den Kronblättern.

«Nein, die Kronblätter des Sonnentaus haben einen roten Rand. Und er ist eine fleischfressende Pflanze», antwortet er.

«Ich hab einen», ruft Trolden und streckt dem Vater die kleine Pflanze entgegen.

«Und die isst Fleisch?»

Marie verbirgt die Hände hinter dem Rücken. Trotzdem hat sie das Gefühl, der Sonnentau würde an ihren Fingerspitzen zupfen.

«Die Zuckerstoffe locken Insekten an. Wenn sie dort in der Pflanze sitzen und davon abgelenkt sind, den süßen Nektar in sich hineinzusaugen, merken sie nicht, wie sich die Kronblätter um sie schließen.»

Marie erschaudert, die kleinen Haare auf ihren Armen erheben sich wie ein flaumiger Wald, und genau in dem Moment flattern sieben Sumpfohreulen in zwei Formationen auf. Die Eulen kreisen eine Weile, ehe sie über den Wald hinweg und außer Sichtweite fliegen. Es ist nicht sein Körper, der Niels antreibt, er lebt vom Lesen und Denken. Seine Muskeln sind wie lange und schlaffe Gummibänder, die sich um seine Knochen wickeln. Seine Handflächen sind nicht rau wie bei anderen Männern, sondern weiche Kissen, glatt wie eine Kinderhand, und jetzt ergreift er unverhofft die ihre. Seine große Hand ist ein Handschuh, der ihre kleine umschließt. Aase sieht es sofort und steckt ihre Hand in die andere Faust. So geht er dann, ein Vater mit seinen beiden kleinen Mädchen in kreideweißen Kleidern, die hellen Zöpfe hüpfen auf ihrem Rücken, und das Glück bimmelt wie Glocken den ganzen Tag und bis spät in die Nacht in Maries Brustkorb.

Maries Notizbuch, 1916

Die Erde ist rund.

Der einzige Planet, auf dem es Leben gibt.

Die Erde hängt in einem Honigtopf und schenkt der Sonne Leben.

Auch der Mond ist wichtig.

Er zieht die Gezeiten über die Erde,

einen Teppich aus Fischen und anderen Tieren.

Marie, Aase und Bitten langweilen sich in der Dorfschule oder auch Bauerntrampelschule, wie die Mädchen sie nennen. Marie vertreibt sich die Zeit damit, alles Mögliche in ihr kleines Notizbuch zu schreiben. Das, was ihr nicht wieder entwischen darf, woran sie sich erinnern oder worüber sie nachdenken will. Ab und zu legt sie auch etwas zwischen die Buchseiten. Fotos oder Dinge aus der Natur. Die gepressten Blumen, Grashalme und kleinen Tiere haben eine verblassende Schönheit und zerfallen leicht wie nichts. Sie geht vorsichtig mit ihnen um.

 

Marie, Aase und Bitten schuften sich durch die endlosen Rübenreihen, die älteren Schwestern helfen nur selten, weil sie lernen müssen, und die jüngeren sind zu klein, um richtig anzupacken. In Turnanzügen und mit gebeugtem Rücken arbeiten sie sich durch den Sommer. Rüben müssen gesät werden, ein kleinerer Kartoffelacker gehäufelt, die grünen Gewächse mit Erde zugeschüttet, bis zusammenhängende Kämme entstehen.

 

«Dass wir hier stehen und schwarze Zehen bekommen, ist eine Zumutung», sagt Aase zu Trolden.

«Jede von uns hat nur ein Paar Schuhe, willst du, dass wir uns die versauen? He, Tutsi, du musst auch die kleinen Kartoffeln aufsammeln», sagt Trolden.

«Warum?», fragt Tutsi.

«Tu einfach, was ich dir sage.»

«Warum nennen wir dich Trolden?»

«Weil ich ein Troll bin.»

«Aber was ist das?»

«Ein Menschenfresser mit übermenschlichen Kräften», antwortet Trolden.

«Bin ich dann auch ein Troll?»

Tutsi sieht bekümmert aus.

«Ja.»

«Und Mama?»

«Mama ist auch eine Menschenfresserin», sagt Marie.

«Ein Mensch, der Menschen frisst», erklärt Aase und fletscht die Zähne.

«Sind wir alle Menschenfresser?»

«Im Prinzip schon, Mama hat uns ja geboren. Aber wir haben so viele Kartoffeln, dass wir keine anderen Menschen essen müssen. Die Frauen in unserer Familie geben sich damit zufrieden, ungeahnte Kräfte zu besitzen», antwortet Trolden lachend.

«Und Manse?»

«… der ist ein Waschlappen.»

«Wenn wir solche Kraft haben, warum müssen wir dann Kartoffeln sammeln?»

«Nicht alle Menschen mögen Trolle, deshalb müssen wir uns normal benehmen und hart arbeiten.»

«Kommt, es gibt Essen», sagt Løn.

Trolden nimmt Tutsi an der Hand, sie stiefeln zwischen den langen Reihen von grünen Spitzen zum Haus.

Alma steht davor und späht über die Felder. Vom Hof aus kann sie die Mädchen nicht sehen.

Marie gibt Aase ein Zeichen. Sie laufen in ihren selbst genähten Kleidern auf das größte Moor zu, aus einem Troll werden zwei. Ihre Hände sind voller Blasen, ihre Schultern schmerzen, die Sonne leckt ihre Haut, bis sie wie Feuer brennt. Aase wirft sich ins Gras, Marie sammelt einen großen Arm voller Blätter und presst sie in das kühle Moorwasser. Dann legt sie die feuchten Blätter auf Aases verbrannte Schultern und den Nacken. Sie bedeckt erst den Rücken, dann die Stirn, die Wangen, die Nase. Die Blätter trocknen schnell in der Sonne. Aase liegt vollkommen still, ihre Muskeln entspannen sich, und das Gesicht wird wieder glatt.

 

Marie und Aase liegen vis-à-vis mit dem kleinen Moorgetier im Gras. Maries Augen erhaschen eine große Gruppe von tanzenden Rückenschwimmern, die unter der Oberfläche hängen und Luft einsaugen, ehe sie ins dunkle Wasser abtauchen und verschwinden. Die pfeilschnellen Taumelkäfer glänzen silbrig auf den Moorpflanzen, die wie eine dunkelgrüne Mähne unter der Wasseroberfläche wogen. Marie versucht, ihnen mit dem Blick zu folgen, aber ihr wird schwindelig, die Augen drehen sich wie Spiralen.

«Sie sehen aus wie winzige Motorboote», sagt sie zu Aase. «Flitzen so schnell, dass sich die Augen überschlagen.»

«Trolden sagt, sie würden auch ‹Teufelsenten› heißen, denn als der Teufel entdeckte, dass Gott die Enten erschaffen hatte, war er ganz vernarrt in sie und wollte selbst so etwas zustande bringen, deshalb schuf er die Taumelkäfer. Sie sind zwar etwas zu klein geraten, aber dafür haben sie ein zweigeteiltes Auge, mit dem sie sowohl über als auch unter Wasser sehen können», erklärt Aase.

«Guck mal, was ist das denn?» Marie zeigt auf ein merkwürdig langes Hinterteil, das aus dem Wasser aufragt.

«Das sieht aus wie ein Skorpion, der kopfsteht», sagt Aase.

«Glaubst du, der sticht?», fragt Marie.

«Nein, ich glaube, er atmet damit.»

«Wie durch einen Strohhalm?»

«Ja. Marie, wenn du alle Tiere liebst, liebst du auch den da, obwohl er so eklig ist?»

 

Jetzt pfeift die Dampflok, das Geräusch ist ein spitzer Luftpfeil, der sich ins Trommelfell bohrt. Die unsichtbare Linie zwischen dem Zug und dem Ohr ist ein Fluchtweg.

 

«Ich will einfach nur von hier weg», sagt Marie.

«Ich möchte meine Zeit nicht mit Rüben vergeuden», sagt Aase.

«Lass uns abhauen.»

«Wohin?»

«Einfach nur weg.»

«Man braucht einen Plan.»

«Warum?»

«Man muss wissen, was man will», antwortet Aase.

«Ich weiß, was ich will», erwidert Marie.

«Und was?»

«Studieren.»

«Ich auch, ich kann es kaum erwarten», sagt Aase.

«Und reisen», sagt Marie, «um die ganze Welt.»

«Du hast so viele Flausen im Kopf, wie willst du dir das leisten?»

«Mama ist nach Griechenland gereist, als sie achtzehn war, ihr einer Bruder war in Südamerika und der andere in Nordamerika. Ich werde schon von hier wegkommen.»

«Du darfst nicht verreisen, wir müssen für immer zusammenbleiben. Das musst du mir schwören!»

«Indianerehrenwort», sagt Marie.

«Das reicht nicht.»

Aase zieht ein kleines Messer aus der Tasche ihres Kleides und klappt es auf. Die Schneide funkelt. Sie packt blitzschnell Maries Handgelenk und bohrt ein Loch hinein. Das Blut sickert heraus.

«Was zum Teufel machst du da?»

Aase starrt sie kühl an. Oder ist es Marie, von der die Kälte abstrahlt? Dann sticht sie die Messerspitze in ihr eigenes Handgelenk.

«Aber wir sind doch schon Blutsschwestern», sagt Marie.

«Als wir geboren wurden schon, aber später nicht mehr. Wir entfremden uns, wenn wir nicht aufpassen.»

«Die Wunde ist nicht tief», sagt Marie und presst ihr Handgelenk auf Aases.

«Für immer Schwestern.»

«Du bist verrückt», sagt Marie mit Aases Stimme.

Maries Notizbuch, 1917

Eines Tages zog man die Erde

aus dem Urmeer,

doch wo kam sie eigentlich her? Wurde sie empor-geschossen

aus dem Erdinneren

wie Feuervulkane?

Oder sickerte sie aus den Ohren

der Erde,

die wie seltsame Fleischblumen gepresst liegen

zwischen den Seiten meines Notizbuchs?

Die Vulkanlippen.

Dem Erdflüstern lauschen, ohne zu weinen,

Menschentränen

sind aus demselben Wasser gemacht

wie das Urmeer, sagt mein Vater.

 

Ich laufe weg von zu Hause.

Doch obwohl ich so schnell davonflitze, wie ich kann,

kommt Aase mit.

«Wir lernen doch überhaupt nichts in der Bauerntrampelschule», sagt Marie.

«Wir müssen Alma überreden, dass wir auch auf die Schule in Rungsted gehen dürfen, wie Løn und Trolden», sagt Aase.

«Genau. Es ist ungerecht, dass nur die Großen etwas lernen dürfen, während wir Erde an den Kopf geschmissen und ungewaschene Kartoffeln in den Mund gestopft kriegen», sagt Marie.

«Vielleicht kann Vater mit Mutter reden?» Aase zieht eine listige Miene.

«Wir können ihnen ja versprechen, dass wir genauso hart auf dem Feld arbeiten wie jetzt.»

«Und uns die Bücher teilen.»

«Ja.»

«Aber vergiss nicht, dass es meine Idee war», sagt Aase.

«Unsere.»

Marie runzelt die Stirn.

«Nein», sagt Aase. «Meine.»

«Unsere.»

«Meine.»

«Unsere.»

1918

Und das Leben folgt dem ewigen Kreislauf, denn obwohl der Erste Weltkrieg tobt, ist ihr Alltag kaum davon betroffen, und jetzt kommt der Herbst. Niels hat eine neue Bibliothek im Wohnhaus eingerichtet und hält die Tür hermetisch verschlossen. Er bereite den Mathematikunterricht für die neuen Schüler vor und müsse sich konzentrieren, sagt er. Wieder schleppen Alma und die Mädchen die Kornähren, leeren die Scheune, pflücken die letzten Beeren und Äpfel. Ein Monat vergeht, dann noch einer und noch einer, inzwischen schläft Niels auch in der Bibliothek, er sieht keinen Grund mehr herauszukommen, aber es gebe Schlimmeres, sagt Søster und schluchzt, sie hat allen Tieren Namen gegeben, und jetzt sollen sie geschlachtet werden. Die Mädchen sind damit beschäftigt, die toten fetten Gänse zu überbrühen und anschließend zu rupfen.

«Man ist trauriger darüber, dass sie sterben, wenn sie einen Namen haben», sagt Marie.

«Genau», sagt Aase.

Marie weiß, wovon sie redet, denn auch sie tauft die Tiere, aber im Gegensatz zu Søster erzählt sie niemandem davon.

 

Daunen schweben über ihren Köpfen wie weiche Schneeflocken, die genoppten Gänse liegen in Zinkwannen rings um sie herum, die Fliegen sind bereits da. Eine einzelne Daune setzt sich auf Maries Wange. Aase lacht, dann leckt sie ein paar Daunen nass und klebt sie auf Maries Oberlippe, die Wangen und das Kinn. Die weißen Daunen sind ein Vollbart um Maries Mund. Die anderen kugeln sich vor Lachen, Bitten muss die Beine überkreuzen, um sich nicht in die Hose zu machen. Für einen kurzen Moment verschwindet das Lächeln von Aases Mund, und ein Ausdruck, der an Triumph erinnert, flackert in ihren Augen auf, ehe das Lächeln wieder zum Vorschein kommt. Marie zupft sich den Daunenbart vom Gesicht. Der Geruch von rohem Fleisch sticht ihr in der Nase.

1921–1926Nivå

1921

Bitten hat ein ganzes Jahr bei einer fremden Familie gearbeitet, jetzt ist sie wieder bei ihnen. Das Jahr in dem anderen Haus habe einen Schatten in ihr hinterlassen, erklärt sie Aase und Marie. Denn obwohl sie bei einer netten Familie wohnte, war sie ein Fremdkörper, der jeden Moment abgestoßen werden konnte. Deshalb sei es gut, wieder daheim zu sein. Marie nickt, wenn Bitten erzählt, weiß aber nicht genau, was sie sagen soll. Obwohl sie ein Jahr älter ist als die Zwillinge, werden sie alle gemeinsam in der Realschule anfangen. Der Plan, den Marie, Aase und Bitten geschmiedet haben, ist aufgegangen. Aase hat ihren Vater überredet, das Schulgeld zu bezahlen, und Marie hat Alma wie ein böser Geist geplagt, bis sie widerstrebend ebenfalls eingewilligt hat.

«Solange es mich nichts kostet», lautete ihre endgültige Antwort.

Die drei Mädchen haben der Mutter geschworen, dass ihre tägliche Arbeit auf dem Feld und im Haushalt den Vorzug vor den Hausaufgaben haben werde, und ein Satz Bücher, den sie sich teilen müssen, wurde gekauft. Es ist also kein zweiköpfiges Wesen, sondern eine Dreieinigkeit, die erwartungsvoll auf dem Hof der Schule in Rungsted steht.

 

Marie, Aase und Bitten stehen gebeugt in den Rübenreihen. Sie blicken in die Kamera. Løn stellt Belichtung und Zeit ein und drückt den Auslöser.

 

Sie tragen Röcke. Die Strümpfe sind bis zur Mitte der Schienbeine hochgezogen. Hinter ihnen steht ein dunkles Pferd und schlägt mit dem Schweif. Wenn sie auf dem Feld arbeiten, sind sie immer schlecht gelaunt, doch als sich das Auge der Kamera auf sie richtet, lächeln sie.

«Wir sind entkommen», sagt Marie.

«Ja», sagt Bitten und setzt sich zwischen die Rüben.

«Auf Nimmerwiedersehen, Bauerntrampelschule», ruft Aase laut.

 

Sie johlen und springen umher, heben die Knie an, strecken die Arme aus und lassen sie kreisen wie Mühlenflügel. Drei Schmetterlinge fliegen auf.

«Tagpfauenaugen», sagt Marie. Sie formt die Hände zu zwei Schalen und versucht, eines der flatternden Insekten zu fangen.

«Die Flügel sind so schön», sagt Bitten.

«Das runde Muster erinnert an die Augen eines großen Tieres, das schreckt die Vögel ab», sagt Marie.

«Glaubt ihr, dass die Kinder dieser Leute uns Bauerntrampel akzeptieren werden?», fragt Aase.

«Natürlich», antwortet Marie. «Sie haben ja auch Løn und Trolden akzeptiert. Und wir haben uns. Die sollen bloß kommen.»

 

Das Echo ihrer Schritte, als sie den Flur entlanggehen, erzeugt einen Widerhall im Körper. Sie dachten, sie würden die Schule in Rungsted schon aus den Erzählungen der Schwestern kennen, aber jetzt, wo sie selbst hier entlanggehen, wirkt alles neu und exotisch. Die frisch gestrichenen Fenster sind noch nicht getrocknet, der Duft von Linoleum streift die Nase.

«Haltet in den nächsten Wochen die Hände von den Fenstern fern», sagt der Direktor, und die Kinder nicken, woraufhin sie sofort ihre Finger in die Farbe drücken. Die Schulpulte sind rein gescheuert, die Körper frisch gewaschen, die Haare glatt frisiert oder stramm geflochten. Aase und Bitten dürfen nebeneinandersitzen. Marie hat einen Platz neben einem Mädchen bekommen, das Helene heißt. Sie duftet anders als alle anderen Menschen, die Marie bisher getroffen hat, wie ein frischer Baum. Helene hat einen unverwandten Blick, und wenn sie lächelt, strömt Wärme aus ihren Augen. Alle in der Klasse kämpfen darum, dass sich Helenes Blick auf sie richtet, aber selbst wenn sie hüpfen und tanzen, sieht Helene nur Marie. Ihr Blick ist eine Flamme, die Glas zum Schmelzen bringt. Nach einer Woche ist Marie ein glühender Klumpen, aus dem Helene alles Mögliche formen kann. Helene hat Marie gewählt, und alle sind neidisch, Bitten nicht mehr als die anderen, Aase hingegen giftig eifersüchtig.

Marie hat vorher noch nie eine beste Freundin gehabt.

«Komm», sagt Helene, und Marie folgt ihr hinter den Schuppen auf dem Schulhof. Sie setzen sich dicht nebeneinander, Haut berührt Haut, es fühlt sich an, als hätten sie schon immer so dagesessen. Sie ähneln sich nicht äußerlich, so wie Aase und Marie, aber innerlich verschmelzen sie miteinander. Marie wäre am liebsten immer mit Helene zusammen. Gemeinsam mit Helene kann sie alles überstehen, sowohl Krieg als auch Hunger und die langen Tage auf dem Kartoffelacker. Solange es Helene gibt, gibt es auch sie selbst. Aase ist dagegen ein richtiger Quälgeist geworden.

«Mir geht es genauso», sagt Helene.

«Was meinst du?», fragt Marie.

«Aase, sie ist so negativ», sagt Helene.

Helene kann ihre Gedanken lesen. Marie lächelt vor sich hin.

«Woher wusstest du, dass ich an Aase gedacht habe?», fragt sie.

Jetzt lächelt Helene.

«Ihr seht euch ähnlich, aber ihr seid wie Tag und Nacht. Aase ist so schnell beleidigt. Du blickst nach vorn, und du bist ehrlich. Das ist es, was zählt.»

Die Worte landen sanft in Marie. Bislang hat sie andere Kinder mit ihrer direkten Art immer verschreckt.

 

Im Gegensatz zu allen anderen hat Helene einen weiten Horizont. Sie weiß, wovon sie spricht, ihr Vater reist um die ganze Welt und arbeitet auch in den ärmsten Ländern. Er weiß, was wichtig ist.

«Man sollte den Armen und den Reichen den gleichen Respekt entgegenbringen. Das sagt mein Vater, und ich finde das auch.»

Helene ist voller Worte, die eine trockene Stelle in Marie bewässern, von deren Existenz sie bislang gar nichts wusste. Gleichzeitig wächst in ihr auch die Furcht, das alles wieder zu verlieren.

Helene kann jeden zum Schweigen bringen, selbst die Lehrer. Doch sie ist von zarter Gesundheit, es bedarf nur eines Windstoßes oder einer Klassenkameradin, die hustet, ohne sich die Hand vor den Mund zu halten, schon wird sie krank. Selbst wenn sie im Bett liegt, hat sie etwas Gelassenes an sich, beinahe wie eine Königin. Marie zeichnet Helene mit dem Blick: Ihr Haar ist dunkelbraun, ihr Körper groß und dürr, ihre Handgelenke sind so schmal und schön, und heute duftet sie nicht nur nach frischem Baum, sondern auch nach Flieder, süß und säuerlich.

 

«Guck mal, was für eine ausgehungerte Katze.»

Helene deutet auf die Böschung.

«Es macht mich so traurig, wenn Tiere leiden», sagt sie.

Marie nickt, ihr geht es genauso. Sie folgen der abgemagerten Katze mit den Augen. Sie rasselt davon wie ein Skelett, dann setzt sie zum Sprung an und verschwindet in einem Zementrohr, das aus der Erde ragt. Ihr Schwanz ist das Letzte, was sie von ihr sehen.

Marie, Aase und Bitten sind zum Geburtstag der Reederstochter Anne eingeladen, die in einer herrschaftlichen Villa in Hørsholm wohnt, doch sie haben nichts, um sich zu schmücken. Zum Glück ist Alma erfinderisch und flicht Maries Haar am Vorabend zu einem langen, hellen Zopf, der feucht und stramm über ihren Rücken hängt. Als sie den Zopf am nächsten Morgen öffnet, fällt das Haar in Wellen herab. Maries einziges Kleid hängt frisch gebügelt im Schrank, weiß und weich. Anne trägt nach einer Kinderlähmung eine Schiene am Bein. Sie wird jeden Tag zu der feinen Schule gefahren. Annes Mutter ist Deutsche, und das Haus der Familie ist groß. Ein Überfluss von Himmelslicht fällt in den neu gebauten Wintergarten. In der Kaminstube liegt ein echtes Tigerfell mit Kopf und weit geöffnetem Schlund. Die Zähne stecken darin wie eine Falle, die jederzeit um den Knochen zuschnappen kann.

 

«Mein Opa hat ihn geschossen, als er in Asien wohnte», erklärt Anne. «Wer will Fangen spielen?»

«Du kannst doch gar nicht mitmachen», sagt Marie.

«Nein, aber ich finde es so lustig, wenn ihr um meine Ohren herumsaust.»

Es ist kein Vorschlag, sondern ein Befehl, und die Mädchen fangen sofort an zu spielen.

«Verwöhnte Göre», flüstert Aase so leise, dass nur Marie es hören kann.

Die Mädchen schlittern über die gebohnerten Böden, und im Gegensatz zu Maries Mutter schreit Annes Mutter nicht, bis sie einen roten Kopf bekommt, nein, Annes Mutter mit dem fremden Akzent sitzt im Erker und stickt. Ihr Haar ist lang und golden. Das Licht scheint schräg auf sie herab, als würde sie auf einer Theaterbühne sitzen. Sie lächelt geheimnisvoll und milde, wie eine Frau auf einem Gemälde.

«Stickt deine Mutter immer, kocht sie denn nie?», fragt Marie.

«Nein, wir haben ja Küchen-Karen», antwortet Anne.

«Hast du ein Glück …», sagt Aase.

«Selbst wenn die Schiene abgenommen wird, werde ich nie laufen können. Ich werde immer hinken», verkündet Anne.

«Dann ist es doch gut, dass ihr euch eine Kutsche leisten könnt», sagt Marie.

«Jetzt gibt es Fleisch und Grünzeug»,ruft Küchen-Karen auf Deutsch.

Das klingt so exotisch! Obwohl es sich bloß als gekochtes Gemüse erweist, hebt es den Zauber nicht auf, es schmeckt wundervoll, weil es Grünzeug heißt. Dieses fremde deutsche Wort, wie ein Geheimnis, das man unbedingt kennen muss, und die Mutter im Erker leuchtet wie ein Engel.

1922

Sie sitzen im Garten. Die Decke ist kariert, und die Vögel, die im Gras herumhüpfen, jagen Würmer und Insekten. Sie pellen hart gekochte Eier, schneiden sie in Scheiben und verteilen sie auf Brote. Die glatten Eischeiben richten ihre gelben Augen gen Himmel.

«Ich ziehe aus», sagt Niels.

Die Kinder spitzen die Ohren.

«Ach ja, wo ziehst du denn hin?», fragt Alma.

Ihre Stimme ist trocken wie ein Stück Knäckebrot.

«Ich habe ein Haus gekauft», sagt er, «und ziehe in einer Woche um.»

«Meinst du, dass wir in einer Woche umziehen?»

Alma sieht aus wie ein Fragezeichen.

Die Kinder sperren ihre Ohren weit auf.

«Nein, ich ziehe aus. Du und die Mädchen, ihr wohnt ja hier.»

Alma sitzt jetzt vollkommen reglos da, als wäre sie nicht lebendig. Sie blinzelt nicht mal. Die Kinder sind stumm, sie stehen in einem tiefen Grab und sehen zum Mann mit der Schaufel auf, der ruhig und bestimmt das Loch zuschüttet. Die Erde rieselt auf ihre Köpfe herab.

«Geht ins Haus, euer Vater und ich müssen miteinander reden», sagt Alma.

Marie blickt auf die Hände ihrer Mutter. Die Schwielen auf ihren Handflächen breiten sich bis auf den Handrücken aus. Ihr schäbiges Bauernkleid hängt an ihr wie eine schlotternde Haut.

 

Zwei Stunden später findet Marie Alma, die in der Bibliothek wütet. Sie zerrt Bücher aus den Regalen, schmettert sie an die Wand, reißt Seiten aus den Umschlägen wie Eingeweide aus einer Gans.

«Mama, hör auf damit», sagt Marie.

«Er verlässt mich», schluchzt Alma.

«Mama, hör auf, du machst die Bücher kaputt!»

Alma starrt sie an, als würde sie direkt in einen Abgrund blicken.

«Er hat in seinen wertvollen Büchern gelebt und nie auch nur einen Finger gerührt. Ich kenne ihn besser als er sich selbst, er überlebt nicht ohne mich, weil er nichts allein kann.»

 

Alma hat sich auf den Boden geworfen und ihr Gesicht zur Wand gedreht. Sie jault in diesem Körper, der nie wieder von einem Mann berührt werden wird. Marie spürt eine Abscheu gegenüber der Mutter in sich wachsen. Alma steht auf und sieht Marie in die Augen. Marie starrt zurück, doch sie sieht in zwei leere Höhlen, ehe plötzlich ein Feuer darin auflodert und ihr entgegenschlägt. Vor Almas innerem Auge steht Niels mitten in den Flammen, aber warum brennt er nicht?

 

«Ich bringe dich um», faucht sie in die Luft. Marie atmet erleichtert auf. Mit Zorn kann sie besser umgehen als mit Resignation. Alma wendet ihr das Gesicht zu.

«Verschwinde aus meinem Haus, du dummes Balg!»

Marie greift nach dem erstbesten Gegenstand, einer Kehrschaufel.

«Mama, hör jetzt auf!»

Alma stürmt auf sie zu, den Arm erhoben, die Faust geballt. Marie umklammert den Griff der Kehrschaufel. Das Metall summt, als sie den Kopf der Mutter trifft. Unter dem Haar läuft Blut hervor, ein dünnes rotes Rinnsal sickert den Hals hinunter und saugt sich in den Ausschnitt des Kleides.

«Sieh mich an», sagt Marie.

Langsam hebt die Mutter den Blick. Als sie Maries Augen sieht, zuckt sie zusammen, und in diesem Moment wird beiden bewusst, dass sich das Kräfteverhältnis zwischen ihnen verändert hat.

«Entschuldigung», sagt Marie. «Entschuldigung.»

Alma wirkt überrascht. Dann richtet sie sich auf.

«In unserer Familie gibt es eine hohe genetische Veranlagung zur Aggression», bemerkt Alma. Das Blut, das in den Stoff ihres Kleides hineinrinnt, zeichnet jetzt einen Fleck auf ihrer Brust, ein dunkles Herz. «Ich habe den Verstand verloren! Gut, dass du mir eins übergezogen hast, ich konnte gar nicht mehr klar sehen.»

Marie streckt den Rücken durch. Sie starren sich an, sie sind genau gleich groß. Plötzlich wirkt alles so absurd, Alma beginnt zu lachen, Marie auch, an Almas Wangen kullern die Tränen herab, als Aase zur Tür hereinkommt.

«Was ist denn hier los?» Ihre Stimme ist laut und scharf, und sie japst nach Luft, als würde sie von einem ungestümen Hund davongezogen. «Du blutest?»

«Ich bin gestürzt und habe mir den Kopf an der Kehrschaufel gestoßen», antwortet Alma.

 

Tags darauf pflanzt die Mutter einen Efeu an der Hauswand. Schon bald schlägt er seine Wurzeln tief in den Boden und breitet sich unnatürlich schnell aus. Die grünen Blätterschichten verweben sich miteinander. Nachts sprießen die Triebe durch Ritzen ins Haus, durch Fenster und Türen, klettern weiter über die Möbel, bedecken die schlafenden Körper wie grüne Bettdecken.

Ohne Niels ist Alma eine Ruine, ein zerstörter Ort, den man zurücklässt. Ihr Haar hängt in fettigen Strähnen herab, und ihre Haut wird schlaff, während sich seltsame Flecken und Ränder auf ihrem Gesicht ausbreiten. Sie altert, sie nimmt ab, und ihr wachsen Stielaugen, damit sie alles besser verfolgen kann. Niels’ Aufbruch hat einen Fluch über die Familie gebracht, jetzt ist ihr Leben ein ewiges Hacken und Stechen und Neiden, was das Mitgefühl und die Strümpfe und Ellbogen verschleißt, sie aber auch abhärtet: Sie wollen den Absturz überleben, sie wollen sich durch die Trauer arbeiten wie durch einen Rübenacker. Jeden Tag schrubben die Mädchen mit einer harten Nagelbürste ihre Nägel, ihre Hände sind rot und rau, immer diese wunde, blutende Nagelhaut. Die Liebe sickert durch die Poren der Haut wie Schweiß, die Kinder bilden einen schützenden Kreis um Alma, deren Seele immer weiter in sich zusammenfällt, ihr Körper schrumpft, bis sie ihre neue Form ausgebildet hat; hart wie Stein, unbestechlich, rein und gerecht.

«Bis dass der Tod uns scheidet, was bin ich doch dumm und naiv gewesen. Die Lüge wird nie wieder in mein Haus Einzug halten.»

Und ich werde nie für einen Mann in der Erde scharren wie ein dummes Huhn, denkt Marie. In zwei Tagen wird sie fünfzehn.

 

Niels zieht ins Paradiesviertel, das am Waldrand in Holte liegt. Die Kinder besuchen ihn am Wochenende. Er hat eine Frau namens Jensen eingestellt, das ihm den Haushalt führt, die kleine Frau wohnt im Keller des Hauses. Marie weiß nicht, wie sie sich im neuen Heim des Vaters die Zeit vertreiben soll. Wenn die Mädchen und Manse bei Niels sind, sitzt Marie die meiste Zeit in der Küche und hört Frau Jensen zu, die über sich selbst, die Nachbarn und Maries Vater redet. Wenn sie von Niels spricht, wird Frau Jensens Stimme tief und langsam. Sie bringt all seinen Kindern unterschiedslos eine liebevolle Fürsorge entgegen, und obwohl sie sich weder unangemessen noch bösartig verhält, weckt sie nichtsdestotrotz einen Widerwillen in Marie. Obwohl sie Frau Jensens Schubladen und Schränke gründlich durchsucht hat, findet sie keine persönlichen Dinge, die ihr mehr darüber erzählen können, wer sie ist. Sie staunt lediglich über die riesige Menge an grauen Röcken.

 

Im Garten steht eine Glockenblume und nickt. Marie knickt ihr so leicht wie nichts den Kopf ab. Aus der Wurzel wird nächstes und übernächstes und überübernächstes Jahr eine neue Blume wachsen, mehrjährige Pflanzen haben unzählig viele Leben. Mehr als eine Katze. Marie geht es ein bisschen so wie den Blumen. Wenn das Frühjahr kommt und alle Winterdecken, schwer wie mit Erde gefüllt, in Kisten verpackt und auf den Dachboden gestellt wurden, schält sie ihren Winterkörper aus den dicken Lumpen. Doch in diesem Jahr erkennt sie sich kaum selbst. Die seltsam schwellenden Brüste, der langsam schwindende Platz zwischen den Oberschenkeln, ein Mädchen in einem Frauenkörper. Sie schneidet ihr Haar so kurz, wie sie kann, ohne dass die anderen sie für einen Jungen halten. Ihr Blick ist furchtlos und klar, ihre Zunge ruht in der Mundhöhle, weich und feucht, aber zum Angriff bereit.

1923

Auf dem Løvbjerggård ist die Maul- und Klauenseuche ausgebrochen. Die Kühe leiden, die Milchproduktion ist fast zum Erliegen gekommen, mehrere der rotbraunen Wesen haben entzündete Euter und fressen nichts mehr. Ihre Euter sind rot und geschwollen und müssen mehrmals am Tag geleert werden, weil keine Milch aus den Zitzen fließt, sondern wässriges Sekret. Sie müssen sauber und trocken gehalten werden, um Bakterien zu vermeiden, die Fliegen anziehen. Almas Gesicht ist von hektischen Flecken übersät. Sie steckt mitten in einer Katastrophe, aber sie weigert sich, klein beizugeben. Sie sammelt all ihre Kräfte und hält den Hof über Wasser, aber die Kinder bleiben sich selbst überlassen, und die Anarchie blüht. Ohne Alma gerät der Esstisch mittags außer Kontrolle, kleine und große Hände schieben und ziehen, Münder fauchen und höhnen.

 

«Haltet endlich den Mund!»

Marie schlägt mit der Faust auf den Tisch, dass die Gläser hüpfen.

«Halt doch selbst die Klappe», kläfft Manse.

Und ehe die Proteste von den anderen eifrigen Fingern aus der Luft gepflückt werden wie Hühnerfedern, ergreift Løn das Wort.

«Können wir nicht einmal in Ruhe essen?»

Bitten öffnet den Mund.

«Halt die Klappe», sagt Manse noch einmal.

«Klappe?», wiederholt Søster.

«Ruhe!», sagt Løn.

 

Am nächsten Tag ist Marie in der Schule mürrisch und schweigsam.

«Was ist denn bei euch zu Hause los?», fragt Helene.

«Nichts», antwortet Marie.

«Du bist leichenblass, warum?», sagt Helene.

«Die Tiere haben Maul- und Klauenseuche, der Hof steht unter Quarantäne.»

Marie lächelt mit dem Mund und weicht Helenes eindringlichem Blick aus. Doch sie entkommt ihr nicht.

«Du kannst für ein paar Wochen zu mir ziehen.»

«Aber ich möchte das Virus nicht verbreiten», sagt Marie.

«Wir haben keine Tiere mit Klauen, und Menschen werden davon nicht krank.»

«Möchtest du nicht zuerst deine Eltern fragen?»

«Doch», antwortet Helene, «aber die sagen Ja.»

 

Am nächsten Tag gießt es in Strömen. Marie radelt gegen den Wind zu Helenes Haus. Der Regen peitscht ihre Wangen rot, und sie lächelt und kann nicht mehr aufhören, doch als sie ganz durchnässt mit einer ebenso durchnässten Tasche in der Hand vor der Tür steht, verlässt sie beinahe der Mut.

«Komm rein, meine Eltern sind auf einem Fest, und wir haben zwei Gäste», erklärt Helene.

«Gäste?»

«Carl und Frederik, von denen ich dir schon erzählt habe, der Sohn einer Freundin meiner Mutter und sein Freund. Sie sind nett, ich glaube, ich könnte mich in Frederik verlieben. Obwohl er einundzwanzig ist, kann man so leicht mit ihm reden.»

Marie hat Helene noch nie kichern sehen.

«Ich suche ein paar trockene Klamotten für dich heraus. Du kannst dich in meinem Zimmer umziehen.»

 

Marie zieht ein lila Samtkleid an, das Helene ihr bereitgelegt hat. Der Stoff, weich wie ein Tierjunges, sitzt perfekt, betont die breiten Hüften und die runden Brüste, die sich unter dem Stoff heben und senken. Plötzlich sieht sie nicht mehr aus wie eine Siebzehnjährige, sondern wie eine Frau Mitte zwanzig. Marie leiht sich Helenes Parfüm, zeigt ihrem Spiegelbild ein ernstes Gesicht, holt tief Luft und öffnet die Tür zum Wohnzimmer.

 

«Habt ihr Zigaretten?», fragt Helene.

Sie gehen hinaus und setzen sich in den Garten, der Himmel ist mit weißen Sternen übersät, die feinen Staub auf die jungen Mädchen streuen, sodass sie aufleuchten; Carl hat weiches, lockiges braunes Haar, das ihm lustig ins Gesicht fällt. Seine Lippen sind breit, fast wie ein Froschmund, aber anziehend.

«Willst du eine?»

Carls Gesicht ist ganz nah an Maries, das Blut rauscht in ihrem Körper, in den Ohren, als würde das Herz viel zu schnell und fest schlagen.

«Ja, gern», antwortet sie.

Sie hat noch nie geraucht und eigentlich auch keine Lust dazu. Er reißt ein Streichholz an, ihre Gesichter werden erhellt. Sie tut, als würde sie rauchen, und ist froh über die Dunkelheit. Dann berührt Carl vorsichtig ihren Arm.

«Wer will sich verlieben?», fragt er.

Ihre Blicke sind nachtschwarz. Über ihnen schnurren die Sterne.

«Ich!», ruft sie.

Seine Hand lässt ihren Arm los.

«Dafür bist du noch viel zu grün», sagt Carl und lacht in der Dunkelheit.

Marie schnappt nach Luft.

«Das ist nicht lustig», sagt Helene. «Entschuldige dich bei Marie.»

«Entschuldigung», sagt Carl.

1925