Die Frauen vom Nikolaifleet Band 1-3 - Katharina Lansing - E-Book
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Die Frauen vom Nikolaifleet Band 1-3 E-Book

Katharina Lansing

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Beschreibung

** Drei Frauen, drei Generationen und ein Kolonialwarenladen in der Hamburger Speicherstadt. Band 1-3 in einem E-Bundle zum attraktiven Sonderpreis. ** Band 1: Der Traum von Übersee Hamburg, 1899: Für Leonore gibt es keinen schöneren Ort als den Kolonialwarenladen ihres Vaters mit seinen deckenhohen Regalen, der klingelnden Kasse und den vielen exotischen Gerüchen. Sie würde am liebsten den ganzen Tag Kunden bedienen, aber davon will ihr Vater nichts wissen. Denn er sieht Leonores Platz im Haushalt - bald an der Seite des Bäckers Mathias. Als Leonore den Künstler Julius aus Lübeck kennenlernt, spürt sie zum ersten Mal die Kraft der Liebe und ist bereit, dafür zu kämpfen. Aber kann sie ihr Glück mit ihm finden, wenn sie dafür ihrem geliebten Laden den Rücken kehren muss? Band 2: Der ferne Glanz Hamburg, 1925: Von klein auf ist Leonores jüngste Tochter Ada in dem Kolonialwarenladen am Nikolaifleet aufgeblüht. Doch als es darum geht, offiziell in das Familiengeschäft einzusteigen, flüchtet sich Ada vor der Verantwortung nach Berlin und stürzt sich dort in eine leidenschaftliche Affäre zu einem Schriftsteller. Als sie auch noch eine Anstellung in einem Delikatessenhaus bekommt, könnte ihr Glück perfekt sein. Aber schon bald muss Ada erkennen, dass sie sich vom Glanz der großen Stadt hat täuschen lassen und ihr Herz das Nikolaifleet nie verlassen hat …   Band 3: Die schätze der weiten Welt Hamburg, 1955: Nach den Entbehrungen der Kriegsjahre wollen sich die Leute wieder satt essen: Masse statt Klasse ist die Devise, und ein Delikatessladen wie Konradi & Grieve hat es da schwer. Als Eliane, Leonores Enkelin, probeweise ihre köstlich duftenden Törtchen im Laden anbietet, ist abends zum ersten Mal seit langem das Schaufenster leer und die Kasse gefüllt. Eliane steigt in die Geschäfte ein und sprudelt vor Ideen, aber wird sie es damit schaffen, den Laden aus der Krise zu retten?  Lassen Sie sich ins Hamburg der Vergangenheit entführen!

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Die Frauen vom Nikolaifleet Band 1-3

Die Autorin

Katharina Lansing ist gebürtige Westfälin und lebt seit vielen Jahren in Niedersachsen. Hamburg und das besondere Flair dieser Stadt haben sie schon immer fasziniert. Sie erzählt leidenschaftlich gerne von Frauen, die heute wie damals für ihre Träume kämpfen.

Das Buch

Drei Frauen, drei Generationen und ein Kolonialwarenladen in der Hamburger Speicherstadt. Band 1-3 in einem E-Bundle zum attraktiven Sonderpreis.Band 1: Der Traum von Übersee

Hamburg, 1899: Für Leonore gibt es keinen schöneren Ort als den Kolonialwarenladen ihres Vaters mit seinen deckenhohen Regalen, der klingelnden Kasse und den vielen exotischen Gerüchen. Sie würde am liebsten den ganzen Tag Kunden bedienen, aber davon will ihr Vater nichts wissen. Denn er sieht Leonores Platz im Haushalt - bald an der Seite des Bäckers Mathias. Als Leonore den Künstler Julius aus Lübeck kennenlernt, spürt sie zum ersten Mal die Kraft der Liebe und ist bereit, dafür zu kämpfen. Aber kann sie ihr Glück mit ihm finden, wenn sie dafür ihrem geliebten Laden den Rücken kehren muss?Band 2: Der ferne Glanz

Hamburg, 1925: Von klein auf ist Leonores jüngste Tochter Ada in dem Kolonialwarenladen am Nikolaifleet aufgeblüht. Doch als es darum geht, offiziell in das Familiengeschäft einzusteigen, flüchtet sich Ada vor der Verantwortung nach Berlin und stürzt sich dort in eine leidenschaftliche Affäre zu einem Schriftsteller. Als sie auch noch eine Anstellung in einem Delikatessenhaus bekommt, könnte ihr Glück perfekt sein. Aber schon bald muss Ada erkennen, dass sie sich vom Glanz der großen Stadt hat täuschen lassen und ihr Herz das Nikolaifleet nie verlassen hat …  Band 3: Die schätze der weiten Welt

Hamburg, 1955: Nach den Entbehrungen der Kriegsjahre wollen sich die Leute wieder satt essen: Masse statt Klasse ist die Devise, und ein Delikatessladen wie Konradi & Grieve hat es da schwer. Als Eliane, Leonores Enkelin, probeweise ihre köstlich duftenden Törtchen im Laden anbietet, ist abends zum ersten Mal seit langem das Schaufenster leer und die Kasse gefüllt. Eliane steigt in die Geschäfte ein und sprudelt vor Ideen, aber wird sie es damit schaffen, den Laden aus der Krise zu retten? Lassen Sie sich ins Hamburg der Vergangenheit entführen!

Katharina Lansing

Die Frauen vom Nikolaifleet Band 1-3

Roman

Ullstein

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Sonderausgabe im Ullstein Taschenbuch Januar 2023© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2023

Der Traum von Übersee:

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020 Umschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, München Titelabbildung: Arcangel / © Ildiko Neer (Frau); akg-images (Hamburg, Speicherstadt um 1890/1900); www.buerosued.de

Der ferne Glanz:

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2021 Umschlaggestaltung: bürosüd GmbH, München Titelabbildung: Trevillion Images / © Lee Avison (Frau); www.buerosued.de (Hintergrund)

Die Schätze der weiten Welt:

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2021 Umschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, München Titelabbildung: Arcangel / © Joanna Czogala (Frau); akg-images (Hamburg, Jungfernstieg um 1940); www.buerosued.de

E-Book powered by pepyrusAlle Rechte vorbehalten. ISBN 978-3-8437-2982-6

Emojis werden bereitgestellt von openmoji.org unter der Lizenz CC BY-SA 4.0.

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Inhalt

Titelei

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

Die Frauen vom Nikolaifleet – Der Traum von Übersee

Personen

I. TEIL

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

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10.

11.

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13.

14.

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18.

II. TEIL

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20.

21.

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26.

26.

27.

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29.

30.

31.

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33.

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36.

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III. TEIL

38.

39.

40.

41.

42.

43.

44.

45.

46.

47.

48.

49.

50.

Rezepte

Die Frauen vom Nikolaifleet – Der ferne Glanz

Personen

I. Teil

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

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II. Teil

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36.

37.

III. Teil

38.

39.

40.

41.

42.

43.

44.

45.

46.

47.

48.

49.

50.

51.

Rezepte

Danke

sDie Frauen vom Nikolaifleet – Die Schätze der weiten Welt

Personen

Die Schätze der weiten Welt

1.

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9.

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Rezepte

Nachwort

Anhang

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Die Frauen vom Nikolaifleet – Der Traum von Übersee

Die Frauen vom Nikolaifleet – Der Traum von Übersee

Die Kolonialwaren-Saga 1

Widmung

Für meine Eltern Ruth & Wolfgang

Motto

Ihr aber seht und sagt: Warum?Aber ich träume und sage: Warum nicht?

– George Bernard Shaw –

1.

Hamburg im Oktober 1899

Leonore riss sich vom Anblick der sacht flackernden Kerze los. Je länger sie in die kleine Flamme gestarrt hatte, desto mehr war sie gedanklich abgeschweift. Viel war ihr im Kopf herumgeschwirrt – nur an ihren Geburtstag hatte sie keinen Gedanken verschwendet. Sie hoffte, dass auch ihr Bruder und ihr Vater es so halten würden.

Noch vor dem Frühstück war sie zur St.-Nikolai-Kirche gegangen, um eine Kerze für ihre Mutter anzuzünden. Auf den Tag vor drei Jahren war sie gestorben. Es war Leonores sechzehnter Geburtstag gewesen. Ein rabenschwarzer Tag.

Seitdem hatte sie beschlossen, keinen Geburtstag mehr zu feiern.

Leonore wandte sich ab und ging zum Ausgang. Als sie die schwere Eichentür öffnete, musste sie blinzeln, um ihre Augen an das helle Licht zu gewöhnen.

Heute war Markttag auf dem Hopfenmarkt, und die ersten Händler hatten sich bereits versammelt, um ihre Waren feilzubieten.

Früher hatten die Bierbrauer hier ihren Hopfen eingekauft, und es war hoch hergegangen, wie Leonore von ihrem Großvater wusste. Jetzt zogen Männer mit Tragjochen an ihr vorbei, und Frauen stellten laut schwatzend ihre voll beladenen Körbe auf. Der süßliche Geruch von überreifen Äpfeln und Birnen hing in der Luft. Ein Mann mit zwei Wassereimern drängte sie beiseite, schimpfte, sie solle nicht im Weg herumstehen, und eilte ohne Entschuldigung weiter.

Leonore war auf ihren Rocksaum getreten und gestolpert. Sie blieb kurz stehen und überlegte. Sollte sie den direkten Weg nach Hause nehmen oder einen kleinen Umweg über den Rödingsmarkt machen?

Sie entschied sich für den längeren Weg. Der kleine Spaziergang in der kühlen Morgenluft würde ihr guttun.

Die Sonne war gerade aufgegangen und spiegelte sich im Wasser des Nikolaifleets – ein zauberhafter Anblick, der Leonore kurz innehalten ließ, auch wenn sie ihn schon unzählige Male genossen hatte.

Dann ging sie mit raschen Schritten weiter, sie wollte nicht zu spät heimkommen. Der Vater wartete bestimmt schon auf sein Frühstück.

Sie war froh, dass der Sommer vorbei war. Er war in diesem Jahr früh gekommen und lange geblieben. An manchen Tagen war es so unerträglich heiß gewesen, dass die Luft auf dem Kopfsteinpflaster der schmalen Gässchen geflimmert und man gemeint hatte, nur noch Staub einzuatmen. Selbst die Möwen hatten nur träge auf den Holzpfählen gehockt und gedöst, während sich auf dem Wasser riesige Mückenschwärme getummelt hatten, die nachts in die stickigen Häuser gedrungen und über die Bewohner hergefallen waren.

Leonore bog rechts ab in die Deichstraße, bis zu ihrem Elternhaus waren es nun nur noch ein paar Schritte.

Vor mehr als einem halben Jahrhundert war an dieser Stelle ein Feuer ausgebrochen; die Flammen hatten sich so rasend schnell ausgebreitet, dass man etliche Gebäude hatte sprengen müssen, um den Brand wenigstens einigermaßen in Schach zu halten. Leonores Großvater hatte ihr oft davon erzählt und davon, wie er damals geholfen hatte, die Flammen zu löschen. »Füer, Füer!«, hatte er während des Erzählens ausgerufen, derweil sie sich zitternd vor Aufregung und mit schreckgeweiteten Augen an ihn gekuschelt hatte. »Die Leute sind um ihr Leben gerannt, mien Deern. Es war grauenvoll.«

Drei Tage und zwei Nächte brannte es damals, unzählige Häuser und Kirchen lagen danach in Schutt und Asche. Keiner wusste, wie es danach weitergehen sollte. Der russische Zar spendete schließlich eine hohe Geldsumme, um Hamburg wieder auf die Beine zu helfen.

Leonore fuhr zusammen, als eine Stimme sie aus ihren Gedanken riss. »Moin, Leonore! So früh schon unterwegs?« Gertraude Fink, ihre Nachbarin, stand auf ihren Reisigbesen gestützt und blickte sie freundlich an. Sie sah müde aus, dunkle Ringe lagen unter ihren Augen.

»Morgen, Gertraude. Du bist ebenfalls früh auf den Beinen.«

Die ältere Frau zeigte auf das Kopfsteinpflaster zu ihren Füßen. »Es juckt niemanden, ob der Weg gefegt ist. Aber ich kann wohl nicht aus meiner Haut. Und du? Wo bist du gewesen?«

»In St. Nikolai.«

Die Nachbarin nickte. »Ich will nachher auch hin.« Sie streckte die Hand aus und legte sie Leonore auf den Unterarm. »Sie fehlt dir, ich weiß, mien Deern. Aber es wird besser. Jeden Tag ein bisschen. Glaub einer Frau, die schon in jungen Jahren ihren Mann zu Grabe tragen musste.« Gertraudes Ehemann war nur wenige Jahre nach der Hochzeit gestorben. Er war während der Arbeit im Hafen einfach umgefallen. Die Ehe war kinderlos geblieben. »Wie geht es deinem Bruder? Hab ihn seit einer Ewigkeit nicht zu Gesicht bekommen.«

»Carl arbeitet viel«, gab Leonore zur Antwort. Doch wenn es nach Vater geht, arbeitet er niemals genug, fügte sie im Stillen hinzu.

»Euer Vater hat ihn ziemlich an der Kandare. Mir tut der Junge leid«, brummelte Gertraude und begann weiterzufegen.

»Ich muss weiter, Gertraude.«

Bevor die Nachbarin noch etwas erwidern konnte, war Leonore weitergegangen. Sie schloss die Tür des Kolonialwarenladens auf, der sich im Erdgeschoss eines Fachwerkhauses befand. Ihr Großvater hatte den Laden eröffnet, und seit seinem Tod führte ihr Vater ihn weiter. Sie trat ein und blieb stehen, um zu horchen, ob sich bereits etwas tat. Doch alles war still, offenbar war ihr Vater noch nicht aufgestanden.

Während Leonore langsam den breiten Tresen entlangschritt und den Duft von Kaffeebohnen einatmete, strich sie zärtlich über das dunkle, glänzende Holz. Sie liebte diesen Laden. Aus deckenhohen Regalen schauten ihr Kaffee, Tee, Havanna-Zigarren, Waschmittel, Seifen, Pfeffer, Gewürznelken und Muskatblüten entgegen. Weiter unten fand sich Werkzeug: Hämmer, Äxte und Beile, Spindelbohrer und Nägel in allen Größen. Daneben stapelten sich Schachteln mit Bindfäden, Knöpfen und Nähgarn in allerlei Variationen. Auf dem verschrammten Holzfußboden stand eine große Waage; dahinter hingen an großen, inzwischen etwas verrosteten Nägeln Leinen- und Papiersäcke für Salz, Zucker und Mehl, die hier abgewogen wurden. Auf dem stets blank polierten Tresen schließlich thronte eine bildschöne glänzende Kasse, die einen glockenhellen Ton von sich gab, sobald das Geldfach geöffnet wurde.

Das frühe Sonnenlicht drang durch eins der beiden Fenster, und man konnte die feinen Staubkörnchen durch die Luft tanzen sehen.

Wenn besonders viel zu tun war, stand auch Leonore hinter dem Tresen und bediente die Kundschaft. Sie erfüllte diese Aufgabe stets mit Hingabe und Leidenschaft. Meistens aber bestand ihr Vater darauf, dass sie sich um den Haushalt kümmerte. Etwas, womit sie seiner Meinung nach voll und ganz ausgelastet war.

Aber sie würde nicht aufhören davon zu träumen, eines Tages den Laden selbst zu führen.

Leonores Bruder Carl war erst nach Mitternacht nach Hause gekommen und hatte sich bis zum Morgengrauen unruhig im Bett herumgewälzt, getrieben von einer Mischung aus Enttäuschung und Schuldgefühlen. Man hatte ihn über den Tisch gezogen. Dabei hatte Leopold behauptet, es sei eine sichere Sache, ein garantierter Gewinn. Carls Enttäuschung war schließlich einer unbändigen Wut gewichen, und er hatte auf sein Kopfkissen eingedroschen. Zum Teufel mit Leopold! Das war das letzte Mal, er würde nie wieder wetten. Nie wieder!

Er hatte diesen Vorsatz sogar mit einem feierlichen Schwur bekräftigt, der ihm später kindisch vorgekommen war. Zu guter Letzt hatte sich Selbstmitleid eingestellt, das kannte er bereits. Er hatte sich in den Handballen gebissen, um nicht zu heulen wie ein kleiner Junge. Schließlich war er in einen unruhigen Schlaf gefallen und hatte von Leopold geträumt, der mit einer Peitsche in der Hand hinter ihm stand und ihn wie einen Ackergaul antrieb.

Carl schreckte hoch, als er eine Tür zuschlagen hörte.

Plötzlich war er hellwach. Er wusste, was ihm blühte, wenn er verschlief. Er hatte seinem Vater versprochen, die Apfellieferung entgegenzunehmen, und musste sich sputen. Wenn es nicht schon zu spät war und sein alter Herr sie selbst angenommen hatte.

Ich hätte Nora bitten sollen, mich rechtzeitig zu wecken, dachte er.

Carl schwang die Beine aus dem Bett, spritzte sich kaltes Wasser aus der Emailleschüssel ins Gesicht und strich mit den Fingern sein wirres Haar nach hinten. Seine Hände zitterten leicht, er hatte am Abend zuvor eindeutig zu tief ins Glas geschaut.

Was war er doch für eine erbärmliche Kreatur!

Als er Stimmen hörte, lief er zur Tür und legte das Ohr daran. Der Vater sprach mit Leonore. »Was mache ich nur mit dir? Anstatt dich in aller Herrgottsfrühe irgendwo rumzutreiben, solltest du dafür sorgen, dass das Frühstück pünktlich auf dem Tisch steht.« Es klang ungehalten, aber auch ein wenig resigniert.

»Ich habe mich nirgendwo rumgetrieben, ich war in St. Nikolai und habe eine Kerze angezündet.«

Es entstand eine Pause, und Carl konnte sich vorstellen, wie die beiden voreinander standen und sich anfunkelten.

»Ich gehe später auch hin«, brummte sein Vater.

»Möchtest du Brot?« Die Stimme seiner Schwester kam nun aus der Küche.

»Warte, Nora …« Sein Vater räusperte sich.

Carl hob überrascht die Augenbrauen. Hatte sein Vater vor, sich zu entschuldigen? Diesen Tag würde er im Kalender anstreichen.

»Alles Gute zum Geburtstag.«

Verdammt! Er hatte Noras Geburtstag vergessen. Was könnte er ihr schenken? Bestimmt würde sie sich über einen Strauß Blumen freuen. Was waren ihre Lieblingsblumen? Fieberhaft dachte er nach. Waren es Veilchen?

»Danke, Vater. Aber ich wollte eigentlich nicht …«

»Ich weiß, Nora. Trotzdem finde ich nicht, dass du für den Rest deines Lebens deinen Geburtstag ignorieren solltest.«

Die Stimmen wurden leiser, und Carl schlüpfte in seine Hose, die er in der Nacht nachlässig über den Stuhl geworfen hatte, und zog Hemd und Weste über. Ein rascher Blick in den Spiegel genügte, um ihm zu beweisen, dass er genauso aussah, wie er sich fühlte.

Als er die Tür öffnete, hörte er seinen Vater fragen: »Wo steckt eigentlich Carl?«

»Er wird schon unten sein.«

Wenn er bereits im Laden wäre, hätte Nora ihn beim Hereinkommen sehen müssen.

Ein warmes Gefühl von Zuneigung und dem Bedürfnis, seine Schwester beschützen zu wollen, durchströmte ihn.

Seinem Vater entging die Unlogik offenbar, denn er sagte nichts weiter.

»Ich sehe rasch nach.« Leonore kam aus der Küche, und Carl wäre um ein Haar mit ihr zusammengestoßen. Sie legte den Finger auf die Lippen und schüttelte den Kopf.

Er nickte und huschte auf Zehenspitzen zur Treppe, die nach unten in den Laden führte. Die Holzstufen waren rutschig, man musste sehr aufpassen.

Leonore folgte ihm, und als sie unten angekommen waren, packte Carl sie und wirbelte sie durch die Luft. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Schwesterchen!«

»Mir wird schwindelig, Carl.« Trotzdem musste sie lachen.

Er hatte dieses fröhliche Lachen eine ganze Weile nicht mehr gehört.

»Du hast einen Wunsch frei.«

Sie tippte sich an den Nasenflügel, wie so oft, wenn sie nachdachte. »Ach, mir wird schon irgendwas einfallen. Du solltest dich beeilen.« Sie scheuchte ihn vor sich her.

»Joost wird gleich da sein.«

»Jawohl!« Carl schlug die Hacken zusammen. »Wie sehe ich aus? Kann ich ihm so unter die Augen treten?«

»Meinst du Joost oder Vater?«

»Beide.«

Sie richtete seinen Kragen. »Du siehst aus, als hättest du nicht besonders viel geschlafen. Ist wohl gestern spät geworden, was?«

Er ging nicht darauf ein, stattdessen ahmte er die Stimme seines Vaters nach. »Der frühe Vogel fängt den Wurm, Carl, merk dir das.«

»Schsch!« Leonore presste die Hand vor den Mund, um nicht laut loszulachen.

Carl hingegen war nicht nach Lachen zumute. Mit einem Mal fühlte er sich so elend und schuldbewusst, dass er die Hand auf den Arm seiner Schwester legte. Ständig machte er ihr Kummer, und sie musste für ihn in die Bresche springen. Er würde es wiedergutmachen. Wenn er erst mal reich wäre.

»Warum siehst du mich so seltsam an, Carl?«

»Weil … Ach, nichts.«

Sie schaute ihn prüfend an. »Du hättest dich rasieren sollen.«

»Keine Zeit.«

»Ich muss wieder hoch«, raunte sie und nahm gleich zwei Stufen auf einmal.

Nachdenklich schaute er ihr hinterher. Dann fuhr er sich erneut übers Haar und ging zur Ladentür, um aufzuschließen.

Leonore war in die Küche zurückgekehrt und gab ihrem Vater die Zeitung. Bürgerschaft diskutiert über zunehmende Wasserverschmutzung, lautete die Schlagzeile. Die Elbe war durch das Dieselöl der Motorschiffe stark verschmutzt und das Fischen im Hafen zum Problem geworden.

»Aber alle wollen essen und trinken.« Ihr Vater schnaubte. »Und wo sollen die ganzen Waren herkommen? Fallen sie etwa vom Himmel?«

Leonore gab keine Antwort. Sie war mit dem Abwasch beschäftigt und hing dabei ihren Gedanken nach. In ein paar Minuten würde ihr Vater aufstehen, sein Jackett anziehen und etwas wie »Dann wollen wir den Tag mal beginnen« murmeln.

Ihr Tag würde aussehen wie immer: Sie würde die Wohnung auf Hochglanz putzen – obwohl sie schon jetzt vor Sauberkeit strahlte –, dann würde sie sich um die Wäsche kümmern, Carl seine Sachen hinterherräumen und anschließend das Mittagessen zubereiten. Sie seufzte leise. Bei dem Gedanken daran, dass ihr Leben auch in Zukunft von diesen Tätigkeiten bestimmt sein würde, während Vater und Bruder im Laden mit der Kundschaft plauderten, zog sich ihr Herz zusammen. Wie gern würde sie ebenfalls Salz und Zucker abwiegen, Knöpfe in Tütchen abzählen, mit Lieferanten verhandeln und auf dem Speicher die neuen Waren verstauen.

»Ist Carl unten?«

Die Frage ihres Vaters riss sie aus ihren Gedanken. »Ja.«

Sie wünschte, er würde Carl ein bisschen mehr zutrauen, ihn öfter mal Entscheidungen treffen lassen. Wie sollte ihr Bruder ein würdiger Nachfolger werden, wenn er ständig kontrolliert und an der Leine gehalten wurde? Es war nicht sein Traum, in die Fußstapfen des Vaters zu treten, er fügte sich aber.

Seine Spiel- und Wettleidenschaft war eine Geißel, auch wenn er das nie zugeben würde. Wie viel Geld er bereits verspielt hatte, wusste Leonore nicht und wollte es auch gar nicht wissen. Manchmal fragte sie sich, ob er hin und wieder in die Kasse griff, weil er Nachschub brauchte. Wenn ja, war es nur eine Frage der Zeit, wann ihr Vater dahinterkäme.

»Hoffentlich denkt er an die drei Kisten Goldparmäne. Er ist oft so gedankenlos.« Sie hörte, wie ihr Vater die Zeitung auf den Tisch legte.

»Du wirst ihn daran erinnert haben.« Es hatte spitzer geklungen, als sie beabsichtigt hatte. »Wenn du möchtest, laufe ich rasch hin und sage ihm Bescheid.«

»Wenn du meinst …« Er trank seinen Kaffee, und sie schenkte ihm nach, damit er noch ein bisschen beschäftigt war.

Dann lief sie nach unten, wo sie aber nicht ihren Bruder, sondern Joost Klein antraf, den Apfellieferanten.

»Moin, Nora.« Er nahm seine Kappe ab und schwenkte sie galant.

»Guten Morgen, Joost. Ist Carl auf dem Speicher?«

Er nickte, fasste in seine Jackentasche und zog eine köstlich aussehende Birne heraus. »Hier, für dich. Lass sie dir schmecken. Ach, und alles Gute zum Geburtstag.«

Mussten heute eigentlich alle an ihren Geburtstag denken?

»Danke, Joost.« Sie schwenkte rasch um. »Hat Carl an die Goldparmäne gedacht?«

Joost hob die Augenbrauen. »Mir hat er nichts gesagt.«

»Wir brauchen drei Kisten«, raunte sie und zeigte an die Decke. »Er wird toben, wenn er hört, dass Carl es vergessen hat.«

»Dafür hat er ja dich.«

»Als würde er einen Pfifferling darauf geben«, murmelte sie.

Joost kannte sie und ihren Bruder, seit sie Kinder gewesen waren. Er war einer ihrer ältesten und treuesten Lieferanten, hatte als Apfelpflücker angefangen und sich hochgearbeitet, mit dem Ziel, eines Tages die Plantage seines Onkels zu übernehmen. Leonore mochte ihn, Joost hatte immer ein freundliches Wort für sie, scherzte mit ihrem Bruder und bot ihrem Vater Paroli, wenn auch stets so, dass er niemals in die Bredouille geriet und die Grieves als Kunden verlor.

In einer schwachen Stunde hatte Leonore ihm anvertraut, wie sehr sie sich wünschte, eines Tages den Kolonialwarenladen führen zu dürfen. »Dein Vater wird schon irgendwann begreifen, dass du dazu auch hervorragend geeignet wärst«, hatte Joost gemeint. Und sie hatte es so stehen lassen.

»Tut mir leid, Nora, Goldparmäne ist aus«, sagte er nun.

Leonore seufzte. Ach, herrje. Und jetzt?

»Wie wär’s mit Pfannkuchenäpfeln?«

»Gute Idee. Die Kunden lieben sie. Sie sind wunderbar für Kompott und Kuchen geeignet.«

»Und für Pfannkuchen«, ergänzte Joost trocken, und sie musste lachen.

»Und für Pfannkuchen, ja.«

»Drei Kisten?« Als sie nickte, schlug er vor: »Du kannst mir den Lieferschein unterschreiben, dann könnte ich mich wieder auf den Weg machen.«

»Ich weiß nicht«, meinte sie zögernd. »Vielleicht warten wir lieber, bis Carl zurückkommt.« Andererseits kannte sie seine Unterschrift und könnte ihre eigene einfach anpassen. Ihrem Vater würde es nicht auffallen. »Na schön, gib her.« Sie nahm den Lieferschein und setzte ihren Nachnamen darunter, wobei sie auf das schwungvolle G verzichtete.

»Danke, Nora. Ich wette, euer alter Herr wird früher oder später begreifen, was er an dir hat.«

»Darauf solltest du lieber nicht wetten.«

Joost tippte sich an die Mütze und zog die Tür hinter sich zu.

Sie würde ihrem Vater erklären müssen, dass sie, ohne ihn zu fragen, Pfannkuchenäpfel geordert hatte. Nein, am besten sie tat so, als sei es Carls Idee gewesen.

Ihr Bruder stand breitbeinig vor der geöffneten Ladeluke auf dem Speicher und hievte eine Kiste mit rotbackigen Äpfeln auf eine andere. Er fluchte vor sich hin, offenbar hatte er sich den Daumen geklemmt. »Verdammt und zugenäht!«

»Nicht erschrecken, Carl«, sagte Leonore leise, als sie zur Tür hereinkam. Nicht, dass er aus der Luke fiel. »Ich habe drei Kisten Pfannkuchenäpfel geordert, weil Goldparmäne aus war.«

»Danke, Nora. Die Goldparmäne hatte ich vollkommen vergessen.«

Sie nahm die Birne aus der Schürzentasche, wischte sie ab und biss hinein. Sie war süß und saftig. »Möchtest du?«

Er schüttelte den Kopf. »Mir ist übrigens ein Geschenk für dich eingefallen.«

»Ach, Carl, nun lass doch meinen Geburtstag …«

»Nichts da. Wie alt bist du eigentlich geworden? Neunzehn, nicht wahr? Du siehst keinen Tag älter aus als achtzehn.«

Sie knuffte ihn lächelnd und beugte sich vorsichtig aus der Luke.

Unten schaukelten mehrere Schuten auf dem Fleet. Stimmen, die durcheinanderredeten, und lautes Gebrüll waren zu hören.

»Macht Platz da! Zur Seite!«

»Macht doch selbst Platz!«

»Fiete, pass auf den Steg auf, Deibel noch eins!«

Sie hatten schon erlebt, dass Männer im allgemeinen Gerangel auf dem Fleet über Bord gegangen waren.

»Soll ich die Luke schließen?«, fragte Leonore.

»Besser nicht. Mein Schädel brummt, die frische Luft tut mir gut.« Carl schob mit der Fußspitze eine sperrige Kiste beiseite. »Willst du gar nicht wissen, was ich mir überlegt habe?«

»Nein.«

Er drehte sich zu ihr um und sah richtig empört aus, sodass sie lachen musste. »Na schön, nun sag schon.«

»Unser alter Herr ist heute Nachmittag nicht da. Er muss rüber ins Salzlager. Was hältst du davon, wenn du meine Stelle im Laden einnimmst? Ich habe noch etwas Wichtiges zu erledigen.«

Leonore schluckte rasch ihren letzten Bissen hinunter.

»Sehr gerne!«

2.

Seit dem Tod der Mutter machte Carl sich Sorgen um seine Schwester. Früher hatte sie viel gelacht, war heiter und unbeschwert gewesen, doch nun war sie meist still und in sich gekehrt. Sie und ihre Mutter hatten viel gemeinsam gehabt, unter anderem die Leidenschaft für Musik. Sonntags hatten sie immer zusammen am Klavier gesessen und vierhändig gespielt. Auch äußerlich waren sie sich sehr ähnlich gewesen, mit dem gleichen haselnussbraunen Haar und den grünen Augen.

Auch er vermisste seine Mutter, sie war nachgiebig und sanft gewesen, während sein Vater streng und aufbrausend sein konnte.

»Nora wird Mathias heiraten«, hatte sein Vater eines Tages verkündet, und seine Schwester war genau wie Carl aus allen Wolken gefallen. »Ich muss euch wohl nicht erklären, was für eine gute Partie Mathias ist. Er wird eines Tages die Bäckerei erben.«

»Und was sagt Mathias dazu?«, hatte Carl gefragt und einen bitterbösen Blick des Vaters geerntet.

»Ich finde, er kann sich keine bessere Frau wünschen«, hatte dieser erwidert.

Das klang nicht, als sei Mathias, Carls bester Freund, darauf vorbereitet oder gar gefragt worden.

»Grieve und Kölling.« Zufrieden hatte sein Vater genickt. »Wir werden alle davon profitieren, glaubt mir.« Er hatte auf ihn gezeigt. »Wenn du erst mal den Laden übernommen hast, wirst du mir dankbar sein, mein Sohn.«

Carl hatte sich abwenden müssen, um seine Wut zu bändigen. Ihm war der Laden vollkommen gleichgültig, er hatte ganz andere Wünsche, was seine Zukunft betraf. Aber das interessierte den Vater herzlich wenig. Genauso wie es ihn nicht interessierte, dass Nora sehr viel besser geeignet war, den Laden zu übernehmen.

Jetzt, als sie zu dritt am Mittagstisch saßen, warf Carl seiner Schwester einen Blick zu. Sie stocherte in ihrem Essen und hielt den Kopf gesenkt.

»Die Rinderrouladen sind dir wieder sehr gut gelungen.« Vielleicht würde er ihr mit dem Lob ein Lächeln entlocken.

»Das freut mich.«

Sein Vater schob den leeren Teller weg. »Ich muss gleich noch zu Köllings. Bei der Gelegenheit werde ich das Thema Heirat auch noch mal auf den Tisch bringen.«

Nora hielt den Blick weiterhin gesenkt.

Carl wartete darauf, dass sein Vater die Küche verließ, dann sagte er leise: »Er mag dich, Nora.«

Sie schnaubte. »Natürlich. Deshalb will er ja nur das Beste für mich.«

»Ich meinte Mathias.«

Sie errötete. »Und wenn schon.«

»Nicht die schlechteste Voraussetzung für eine Ehe.«

»Willst du mich gerade trösten, oder willst du mir erklären, dass wir Frauen nun mal hinnehmen müssen, dass Männer uns sagen, was wir zu tun und zu lassen haben?« Sie stand hastig auf und stellte die Teller in die Spüle. »Das kannst du dir sparen, das weiß ich nämlich schon.«

»Wir haben alle unseren Platz im Leben.«

»Lass gut sein, Carl.«

»Fragt mich wer, ob ich den Laden übernehmen will?«

Sie sah ihn ernst an. »Warum glaubt ihr Männer eigentlich, dass wir Frauen nur in die Küche gehören? Warum traut ihr uns nicht zu, dass auch wir unseren Kopf zum Denken und nicht nur für hübsche Frisuren gebrauchen?«

Carl hob die Hände. »Ihr? Ich habe nie behauptet, dass Frauen nur für Hausarbeit zu gebrauchen sind.«

»Auch wir Frauen können etwas schaffen«, redete seine Schwester unbeirrt weiter. »Wenn man uns nur lässt.«

»Mir musst du das alles nicht sagen«, meinte er sanft. »Ich bin auf deiner Seite, das war ich immer.«

Sie ließ die Schultern hängen. »Ich weiß, entschuldige. Ich habe mich ein bisschen in Rage geredet.«

»Du bist eine gescheite junge Frau, du bist zu weit mehr fähig, als einen Eintopf zu kochen und die Wäsche sauber zu halten.« Er sprach deutlich leiser weiter. »Und ich glaube, auch Vater weiß das.«

»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Wenn er es wüsste, ließe er mich machen.«

»Das ist Unsinn, Nora.«

»Ich will mir wenigstens meinen Mann selbst aussuchen«, stieß sie hervor und stellte den Wasserkessel so hart auf die Herdplatte, dass es schepperte.

Carl wusste nicht, was er erwidern sollte. Er verstand sie nur zu gut.

»Ich liebe den Laden. Ich kann mit der Kundschaft und mit Zahlen umgehen.« Er sah das Feuer in ihren Augen, das er so lange vermisst hatte. »Ich würde den Laden so gerne führen, Carl. Ich könnte es! Ich wäre gut darin.«

»Ich weiß. Aber hier geht es nicht um den Laden, hier geht es …«

»Oh doch!«, fiel sie ihm aufgebracht ins Wort. »Es geht auch um den Laden.«

Die Tür wurde geöffnet, und ihr Vater erschien auf der Schwelle, seinen Hut in der Hand. »Was ist hier los?«

»Nichts, Vater«, sagten beide gleichzeitig.

»Ich bin zum Abendessen zurück.« Damit ließ er sie wieder allein.

Am Nachmittag war Leonore in ihrem Element. Sie trug eine frisch gestärkte, blütenweiße Rüschenschürze und hatte ein strahlendes Lächeln im Gesicht, als einer ihrer ältesten Kunden den Laden betrat. »Tag, Herr Wedekind. Was darf’s denn sein?«

»Ich nehme ein Stück Glycerinseife.«

Leonore zeigte hinter sich. Sie hatte das Regal abgestaubt und die Seifen hübsch nebeneinander arrangiert. »Und wie wäre es zusätzlich mit Rasier- oder Kernseife?«

»Habt ihr auch Parfümseife?«

»Leider nein.« Parfümseife, notierte sie sich im Geiste. Sie würde den Vater darauf ansprechen.

»Ach, wie schade. Es gibt so hübsche Seifen, die nach Rosen und Veilchen duften, sagt meine Frau.« Wedekind schmunzelte. »Ich nehme noch ein Pfund Kaffee, ein halbes Pfund Zucker, eine kleine Tüte Salz und ein Dutzend Holzknöpfe.«

Rasch suchte Leonore alles zusammen und ging zur Waage, um Zucker und Salz abzuwiegen. Das feine Rieseln und leise Rascheln der Papiertüte machte sie stets aufs Neue glücklich. Es fühlte sich herrlich an, im Laden stehen und Kunden bedienen zu dürfen. Würde sie das doch nur jeden Tag tun können!

»Das hätte ich beinahe vergessen. Hier.« Wedekind bat sie, die Hand auszustrecken, und legte ihr etwas hinein.

»Marzipan.« Sie verdrehte seufzend die Augen. »Das habe ich ewig nicht mehr gegessen.« Das letzte Mal, als sie zwölf oder dreizehn gewesen war. Eine Kundin hatte es aus Lübeck mitgebracht, wo es in einer Manufaktur hergestellt wurde. Beim ersten Bissen hatte Leonore innegehalten und mit der Zungenspitze nachgefühlt. Es schmeckte nach Mandeln und noch etwas anderem, und es war weich, saftig und cremig. Später hatte sie erfahren, dass Rosenwasser das Geheimnis dieser Köstlichkeit war, und sie hatte sich fest vorgenommen, den wundervollen, ganz und gar einzigartigen Geschmack niemals wieder zu vergessen.

Jetzt brach sie ein winziges Stück ab und steckte es sich in den Mund. Wie wäre es, wenn wir auch Marzipan anbieten würden?, überlegte sie.

»Ich brauche noch Schuhcreme. Und Äpfel. Welche Sorte habt ihr da?«

»Wir haben heute Pfannkuchenäpfel bekommen.«

»Fein. Ich nehme eine große Tüte.«

Oben in der Wohnung rumpelte es, gleich darauf fiel etwas um.

Beide hoben den Kopf und blickten an die Decke.

»Nanu, habt ihr Heinzelmännchen?«

»Das wäre dann und wann gar nicht so schlecht. Nein, der Wind wird das Küchenfenster zugeworfen haben. Darf es sonst noch etwas sein?«

»Das wäre dann alles.«

Leonore tippte den Betrag in die Kasse, nahm das Geld entgegen und wünschte Herrn Wedekind noch einen schönen Tag.

Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, lief sie rasch nach oben, um nachzusehen, ob etwas zu Bruch gegangen war.

Aber es war ganz offenbar wirklich nur das Scheppern des Fensters gewesen.

Leonore hatte das Geld des letzten Kunden in die Kasse gelegt, als ihre Freundin Elis hereinkam, im Arm einen Strauß bunter Herbstblumen. Die beiden kannten sich seit Kindertagen, und Elis hatte noch nie ihren Geburtstag vergessen.

»Du hier?«, fragte sie überrascht. »Ist dein Vater gar nicht da?«

»Er musste zum Salzlager.«

»Und Carl?«

»Er hat mich gefragt, ob ich ihn vertreten möchte. Es ist sein Geburtstagsgeschenk.«

»Dann nehme ich an, du hattest einen schönen Geburtstag.« Elis umarmte sie. »Alles Gute, Nora.«

»Danke.« Leonore nahm die Blumen entgegen und roch daran. »Wie herrlich sie duften!«

Elis sah aus, als habe sie etwas auf dem Herzen. »Ich muss dir etwas sagen, Nora. Es geht um Fritz.«

»Fritz?«, fragte Leonore verwundert. »Welcher Fritz?« Sie lachte in sich hinein und tat so, als würde ihr erst jetzt einfallen, von welchem Fritz Elis sprach. »Ach, du meinst Fritz Merkur, den Sohn des Apothekers? Dieser gut aussehende Bursche mit den weizenblonden Haaren und den meerblauen Augen?«

Zu ihrer Belustigung errötete ihre Freundin. »Wir haben uns verlobt.«

»Verlobt? Du meine Güte! Und? Erzähl! War es sehr romantisch? Musstest du weinen? Hat er vor dir gekniet?«

»Es war furchtbar romantisch.« Elis seufzte. »Ich musste tatsächlich weinen. Hier.« Sie streckte Leonore die linke Hand entgegen. »Ich weiß, er ist schlicht …«

Leonore schnalzte mit der Zunge. »Und wenn schon. Fritz liebt dich, das ist wichtiger als ein funkelnder Ring.«

Ihre Freundin war eine der wenigen Frauen, die das Glück hatte, den Mann heiraten zu dürfen, den sie liebte. Die beiden Familien kannten sich seit Jahren, und der älteste Sohn der einen und die einzige Tochter der anderen Familie hatten sich ineinander verliebt. So etwas kam vor.

»Wann ist die Hochzeit?«

»Im Mai.«

»Wie schön.« Leonore drückte ihre Hand. »Ich freue mich so für euch.« Auch wenn sie gerade daran denken musste, dass ihr Vater womöglich in diesem Moment bei Bäcker Kölling auf ihre baldige Verlobung drängte. Sie verscheuchte den Gedanken und zwang sich zu einem Lächeln. Elis war zwar ihre Freundin, aber sie vertraute ihr längst nicht alles an.

Elis blickte sich im Laden um und zeigte auf das Regal hinter Leonore. »Habt ihr Perlmuttknöpfe da?«

»Selbstverständlich.« Nun war Leonore wieder ganz Verkäuferin. »Wie viele dürfen es denn sein?«

Am Abend wollte Leonore den Laden schließen und war kurz an der Tür stehen geblieben, um nach draußen zu schauen. Es hatte zu nieseln begonnen.

Ein junger Mann kam die Straße entlang. Leonore erkannte Mathias. Sie überlegte kurz, sich hinter dem Tresen zu verstecken. Sie mochte nicht mit ihm reden, nicht jetzt. Für ihren Geschmack war das Wort »Heirat« heute schon viel zu oft gefallen. Doch Mathias hatte sie bereits gesehen und grüßte sie schüchtern aus der Ferne. Kurz darauf stand er vor ihr, eine Hand hinter dem Rücken, als würde er dort etwas verstecken. Einen flüchtigen Moment lang dachte sie, es könnte ein Verlobungsring sein. Dann hätte ihr Vater ganze Arbeit geleistet.

»Die sind für dich.« Mathias zog einen Strauß roter und weißer Nelken hervor. »Alles Gute zum Geburtstag.«

»Danke«, stammelte Leonore überrascht und eine Spur verlegen.

»Meine Mutter sagt, Nelken sind Friedhofsblumen. Aber ich weiß, dass du Nelken magst.«

»Ja, und die roten mag ich am liebsten.«

Sie standen unbeholfen voreinander.

»Na, dann will ich mal wieder …« Mathias hatte sich bereits abgewandt, blieb dann jedoch unschlüssig an der Tür stehen. Ob er noch etwas sagen wollte?

Bitte nicht, flehte Leonore in Gedanken. Lass ihn einfach heimgehen!

Zögernd drehte er sich wieder zu ihr um. »Ist Carl da?«

»Nein, er hatte etwas zu erledigen.«

Mathias nickte, noch immer zögernd und unentschlossen. »Und dein alter Herr?«

»Ist er nicht bei euch?«, fragte sie zurück und hoffte, dass es gleichmütig klang.

»Er war am Nachmittag da. Er und mein Vater haben eine ganze Weile miteinander gesprochen.«

»Du weißt aber nicht, worum es ging?« Sie ärgerte sich über die unbedachte Frage. »Entschuldige, ich wollte nicht neugierig sein.« Es geht mich ja auch nichts an, fügte sie in Gedanken hinzu. Es geht ja nur um meine Heirat, nichts weiter.

»Nein, die beiden hatten sich in Vaters Hinterzimmer zurückgezogen«, antwortete er. Er nahm seine dunkle Kappe ab und fuhr sich durch sein rötliches Haar.

Leonore betrachtete ihn verstohlen. Mathias war ein netter junger Mann, immer höflich, nie unbesonnen. Sie mochte ihn, aber sie konnte sich nicht vorstellen, den Rest ihres Lebens mit ihm zu verbringen. Für den Rest ihres Lebens ihrem Vater den Haushalt zu führen, konnte sie sich allerdings genauso wenig vorstellen.

Schließlich räusperte Mathias sich und zeigte auf die Nelken in ihrer Hand. »Du solltest sie ins Wasser stellen.«

Sie bedankte sich erneut, weil sie nicht wusste, was sie sonst hätte sagen sollen.

»Gern geschehen.« Er räusperte sich wieder. »Ich würde gerne etwas mit dir besprechen, Nora.«

»Besprechen« klang nicht, als habe er vor, ihr einen Antrag zu machen.

»Es geht um Carl.« Er senkte die Stimme und trat etwas näher. »Ich mache mir Sorgen um ihn. Du weißt, dass er eine Menge Geld verspielt hat?«

»Ich habe es geahnt, ja.«

»Nicht nur das.« Er zögerte und trat unsicher von einem Bein auf das andere.

»Raus mit der Sprache, Mathias. Ich bitte dich.« Über seine Schulter hinweg sah sie ihren Bruder die Straße entlangkommen. »Schsch! Er kommt!«

Mathias drehte sich genau in dem Augenblick um, als ihr Bruder die Tür öffnete.

Carl schüttelte sich wie ein Hund. »Ein Wetter ist das!« Er klopfte seinem Freund auf die Schulter und fragte Leonore, ob ihr Vater schon da sei.

»Nein.«

»Gott sei Dank. Bist du zurechtgekommen?«

Sie nickte.

Mathias stand betreten neben ihnen, den Blick auf seinen Schuhen.

»Ich ziehe mich rasch um.« Carl ging an ihnen vorbei.

»In einer Stunde gibt’s Abendessen«, rief sie ihm nach.

»Ist gut.« Er hob nur kurz die Hand und eilte weiter.

Als seine Schritte auf der Treppe zu hören waren, die nach oben in die Wohnung führte, nahm Leonore den Faden wieder auf: »Was wolltest du mir erzählen?«

Mathias wand sich ein wenig und sagte dann leise: »Er schuldet ein paar ziemlich üblen Burschen Geld.«

»Ach du Schreck!«

»Er hat es nur am Rande erwähnt, und ich weiß nicht, ob er das ›Problem‹, wie er es nannte, schon gelöst hat.«

»Weißt du, um wie viel Geld es sich handelt?«, flüsterte sie.

»Um viel, nehme ich an.«

So tief war ihr Bruder also schon gesunken.

»Ich habe ihm Geld geliehen, aber ich vermute, er hat es gleich wieder verspielt. ›Irgendwann werde ich reich sein, Mathias, dann bekommst du alles dreifach zurück‹, hat er gesagt. Er glaubt wirklich daran.«

Sie schluckte gegen den Kloß in ihrem Hals an.

»Kannst du nicht mit ihm reden, Nora? Du bist seine Schwester.«

»Und du bist sein bester Freund.«

»Auf dich hört er vielleicht«, sprach Mathias weiter. »Rede ihm ins Gewissen, ich bitte dich.« Es klang eindringlich und sehr besorgt.

»Ich glaube nicht, dass er auf mich hört«, erwiderte Leonore bedauernd. Wenn es wirklich schon so schlimm um ihren Bruder stand, dass er zwielichtigen Männern Geld schuldete, war es längst zu spät, um ihm ins Gewissen zu reden.

Schließlich nickte Mathias betrübt. »Ich gebe ihn trotzdem nicht auf.«

»Glaubst du, ich gebe ihn auf?« Sie hatte lauter gesprochen, als sie beabsichtigt hatte, weil sie aufgebracht war.

»Das habe ich damit nicht sagen wollen. Wiedersehen, Nora.«

Mit raschen Schritten lief Mathias die Deichstraße entlang, die Mütze ins Gesicht gezogen, damit ihm der aufkommende Wind den Regen nicht ins Gesicht peitschen konnte.

Wenn er seinem Freund doch nur helfen könnte!

Er schlug den Weg nach rechts ein und stieß beinah mit einem Mann zusammen, der ihm entgegenkam. »Können Sie nicht aufpassen?«, wurde er angefahren. Er murmelte eine Entschuldigung, anstatt den Mann daran zu erinnern, dass er genauso wenig achtgegeben hatte.

Mathias ging weiter über die Holzbrücke. Vielleicht ließ sich herausbekommen, wer die Kerle waren, die Carl auf den Fersen waren. Nur wie? Und was sollte er dann tun? Den Burschen auflauern und sie verdreschen? Ihnen sagen, dass sie Carl kein Geld mehr leihen sollten?

Es war nur eine Frage der Zeit, bis Carls Doppelleben zu seinem Vater vordringen würde. Und was dann? Sein alter Herr würde sicher wenig Verständnis für solche Machenschaften haben. Ganz zu schweigen von dem Ansehen der ganzen Familie, dem Carl damit schadete. Er war fleißig dabei, den Ruf der Grieves zu ruinieren.

Mathias rutschte auf dem glitschigen Pflaster aus, ruderte mit den Armen und fing sich wieder. Sein Hosensaum war bereits völlig verdreckt, seine Strümpfe klatschnass. Bei jedem Schritt quietschten seine Schuhe.

Hübsch hatte Nora heute ausgesehen, ganz besonders hübsch sogar. Ihre Augen hatten geleuchtet, es war ihr anzusehen gewesen, wie glücklich es sie machte, im Laden zu stehen.

Langsam spazierte er weiter, den Regen, der aus seinem Haar tropfte und ihm in den Kragen lief, bemerkte er kaum.

»Na, mein Schöner, so ganz allein unterwegs?« Eine lockende Frauenstimme, ungewöhnlich rau und dunkel.

Mathias drehte den Kopf und sah eine schwarzhaarige Frau mit kirschroten Lippen aus einem Hauseingang kommen. Oder hatte sie dort gestanden und gewartet? Auf ihn?

Lässig lehnte sie nun an einer Hauswand, den Kopf zur Seite geneigt, und musterte ihn. Schwer zu sagen, wie alt sie war, auf jeden Fall deutlich älter als er. Er spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. Für einen kurzen Moment hatte sich ihr Gesicht in Noras verwandelt.

»Wie wäre es mit ein, zwei netten Stündchen, mein Süßer? Nur wir zwei? Na, was meinst du?«, gurrte sie.

Er murmelte ein »Nein, danke« und schickte sich an, weiterzugehen.

»Warum so unhöflich? Du hast mich ja noch gar nicht richtig angesehen.« Sie lachte heiser.

Mathias nahm die Beine in die Hand und eilte an der Frau vorbei, ihr amüsiertes Lachen im Nacken. »Ja, lauf nur zu deiner Mama, mein Kleiner.«

Er bog in die Katharinenstraße, lief noch etwas schneller und schloss kurz darauf die Ladentür der Bäckerei auf. Die Wohnung lag über dem Geschäft, genau wie bei den Grieves.

»Mathias? Bist du das?«, hörte er seine Mutter rufen.

Hatte er so viel Lärm gemacht?

»Ja, ich bin’s, Mutter!«

»Pünktlich zum Abendessen!« Sie lachte.

Es roch nach Graupeneintopf, und sein Magen meldete sich. Seine Mutter kochte gut und reichlich. Zuweilen war es doch ein Segen, dass er noch zu Hause wohnte.

Sein Vater saß bereits am Tisch, als er hereinkam. »ʼn Abend, Junge. Du warst bei den Grieves?«

»Nora hat heute Geburtstag.« Er hatte seine nasse Jacke ausgezogen und über die Stuhllehne gehängt.

Seine Mutter schnalzte mit der Zunge und nahm sie he­runter. »Die gehört nicht an den Küchentisch. Du wirst einige Dinge ändern müssen, wenn du erst verheiratet bist.«

»Wozu?« Sein Vater grinste. »Wenn er verheiratet ist, wird seine Frau hinter ihm herräumen.«

Sein jüngerer Bruder Kurt kicherte, und seine Mutter murmelte etwas, das er nicht verstand.

»Wo bleibt das Essen, Mechthild? Ich hab Hunger.« Sein Vater warf ihm einen belustigten Blick zu und zwinkerte. »Mahlzeit!«

Leonores Vater kam spät, das Abendessen war längst fertig und stand im Ofen, als Leonore endlich seine Schritte im Flur hörte. Er trat in die Küche und ließ sich auf einen Stuhl fallen.

»Die Pfannkuchenäpfel gingen wie geschnitten Brot, und ich habe den letzten Spindelbohrer verkauft«, plapperte sie und biss sich sogleich auf die Zunge. Ach du Schreck!

»Sieh an, du warst also im Laden.«

»Ich habe Carl geholfen«, beeilte sie sich zu erklären.

»Und was war sonst noch?«

War er gar nicht verärgert? »Herr Tönning lässt fragen, ob wir noch einen Rechen besorgen können, der alte ist ihm kaputtgegangen«, sagte sie ein wenig zögernd.

»Ich nehme an, du hast alles ordnungsgemäß aufgeschrieben?«

»Natürlich.«

»Gut.« Er nickte. »Ich bin hungrig. Ist das Essen fertig?«

»Ja, Vater. Du siehst müde aus.«

»Ich bin müde. Musste mit Kleemeier feilschen, und er ist ein verdammt harter Knochen, das kann ich dir sagen.« Schwerfällig stand er wieder auf. »Ich ziehe mich rasch um.«

Leonore wartete, bis er in seinem Zimmer verschwunden war, dann klopfte sie an Carls Tür. »Das Essen ist fertig.«

Sie hörte, wie eine Schublade zugeschoben wurde. Kurz darauf stand ihr Bruder in der Tür. »Ist der Alte da?«

»Er ist gerade gekommen.«

»Wie ist seine Laune?«

»Er ist müde, weil er mit Herrn Kleemeier um die Salzpreise feilschen musste.«

Carl nickte. »Komm, ich helfe dir beim Tischdecken. Heute ist schließlich dein Geburtstag.«

»Ach, Carl.« Leonore seufzte kopfschüttelnd. »Das hab ich doch längst getan.«

Er zog seine Taschenuhr aus der Hosentasche. »Ich muss nach dem Essen noch mal weg.«

»Wohin?«, fragte sie, obwohl sie nicht damit rechnete, eine ehrliche Antwort zu bekommen.

»Geschäfte«, antwortete er kurz angebunden.

Leonore ahnte, was er mit »Geschäfte« meinte. »Bring dich nicht noch mehr in Schwierigkeiten, versprich’s mir.«

»Ich verspreche es.« Er tippte ihr mit dem Finger auf die Nasenspitze. »Heute ist ein guter Abend, ich hab’s im Gespür, Nora.«

Wie oft schon hatte er gemeint, es läge ein guter Abend vor ihm. Sie hatte schon darüber nachgedacht, ihre Aussteuer zu versetzen und ihm Geld zu geben, damit er seine Schulden begleichen konnte. Doch er würde sicher nichts davon wissen wollen und sich lieber weiter verschulden.

»Vergiss deinen Schlüssel nicht wieder.«

»Keine Sorge. Und jetzt lass uns zu Abend essen. Ich habe einen Bärenhunger.«

3.

Am Morgen darauf saß Leonore am Klavier und klimperte lustlos auf den Tasten. Seitdem ihre Mutter tot war, hatte sie die Freude am Spiel verloren.

»Wo bleibst du denn?« Die Stimme ihres Vaters ließ sie hochschrecken. »Ich schließe den Laden gleich auf, und du hast den Tresen noch nicht abgewischt. Und die Kasse muss …«

»Beides ist längst erledigt«, erklärte sie müde.

»So? Na dann …« Er räusperte sich und wollte sich abwenden.

»Vater?« Sie erhob sich und klappte den Klavierdeckel zu. »Ich habe mir etwas überlegt.«

»Du hast lange nicht mehr gespielt«, sagte er zur gleichen Zeit.

»Nein, mir ist die Lust daran vergangen.«

»Was hast du dir überlegt?«

»Was würdest du davon halten, wenn wir Parfümseifen anbieten?« Sie überhörte sein Schnauben und fuhr fort. »Und vielleicht Marzipan. Die Manufaktur in Lübeck …«

Er hob die Hand. »Zerbrich dir nicht den Kopf über Dinge, die dich nicht zu interessieren haben, Nora.«

Mit dieser Antwort hatte sie gerechnet. »Warum lässt du mich nicht den Einkauf machen? Ich könnte dafür sorgen, dass neue, praktische oder vielleicht auch nur hübsche Dinge angeschafft werden. Es gibt so viel …«

»Die Hartnäckigkeit hast du von deiner Mutter.« Ein flüchtiges Lächeln huschte über sein Gesicht, doch dann wurde er wieder ernst. »Carl und ich kümmern uns um die Geschäfte. Du hingegen wirst heiraten« – wie bald er das wünschte, verriet sein Blick – »und einen Stall voller Kinder bekommen. Dann und wann wirst du in der Bäckerei mitzuarbeiten haben. Damit hast du genug zu tun, glaub mir. Außer Mathias möchte, dass ihr euch die Hausarbeit teilt.« Er lachte lauthals, machte auf dem Absatz kehrt und stieg die Treppe hinunter in den Laden.

Kurz darauf verließ auch Leonore die Wohnung, um ihrer Nachbarin beim wöchentlichen Hausputz zu helfen.

Gertraude erwartete sie bereits, Putzlappen und Eimer in der Hand. »Auf dich ist Verlass, mien Deern, wie immer.«

»Ich fange in der Küche an, einverstanden?«

»Mir wäre es lieber, wenn du oben in der Schlafkammer beginnst. Wir lassen die Türen auf, dann können wir mitei­nander plaudern.« Gertraude zeigte nach draußen. »Er liegt schon wieder da und gafft.«

Ihr Nachbar Erich Heldt war als Spion der Deichstraße verschrien, seitdem er es sich zur Gewohnheit gemacht hatte, den lieben langen Tag im Küchenfenster zu lehnen und die Nachbarschaft zu beobachten. Offenbar hatte er nichts Besseres zu tun, im Grunde war der Mann zu bedauern.

Leonore nahm den Eimer und stieg die schmale Holztreppe hoch. Es war schrecklich düster im Treppenhaus, ein Wunder, dass Gertraude noch nie gestürzt war.

»Sei so gut, und putz das Fenster auch von innen!«, rief Gertraude ihr von unten zu.

Während Leonore die kleinen Butzenscheiben wienerte, summte sie leise vor sich hin und dachte daran, wie sie mit ihrer Mutter vierhändig Klavier gespielt hatte. Das gemeinsame Musizieren fehlte ihr. Ihre Mutter fehlte ihr.

Als sie in den oberen Räumen fertig war und wieder nach unten kam, hörte sie Gertraude mit ihrem Kanarienvogel sprechen.

»Du machst dich über mich lustig, stimmt’s? Wieso tust du nicht wenigstens so, als würdest du es versuchen? So schwer kannʼs doch nicht sein. Hör noch mal gut zu, Amadeus: ›Ich heiße Amadeus.‹ Komm, probier’s mal.«

Leonore kippte das dreckige Wasser in den Rinnstein und winkte Erich Heldt zu, der sie neugierig beobachtete.

Als sie ins Haus zurückkam, redete Gertraude noch immer mit ihrem Vogel. »Du sturer Esel. Du solltest dich schämen.«

Leonore musste lachen. »Amadeus scheint sich nichts aus dem Sprechenlernen zu machen. Er singt eben lieber. Und das macht er doch wirklich gut.« Sie steckte einen Finger durch die Stäbe.

Gertraude räusperte sich. »Ich, ähm, hab da was für dich.«

»Du kommst jetzt aber nicht auf den Gedanken, mich fürs Fensterputzen zu bezahlen?«

»Nein, nein, ich …« Ihre Nachbarin knüllte die Schürze mit beiden Händen zusammen. »Ich wollte sie dir schon länger geben, aber es gab noch keine …« Gertraude griff in ihre Rocktasche und nahm eine kleine Kamee heraus. »Hier.« Sie streckte sie Leonore entgegen.

»Sie gehörte meiner Mutter. Und da wir keine Kinder haben … Was ich sagen wollte, ist, ich möchte, dass du sie bekommst.«

Leonore betrachtete die Brosche in ihrer Hand. »Das kann ich nicht annehmen.«

»Doch, das kannst du. Deine Mutter hat zu mir gesagt: ›Wenn ich nicht mehr da bin, musst du dich um meine Nora kümmern.‹«

Leonore schluckte trocken.

»Du würdest mir einen großen Gefallen tun, wenn du sie nimmst.«

Sie nickte zögernd und überlegte, ob sie die Brosche anstecken sollte.

»Gefällt sie dir?«

»Sie ist wirklich hübsch.«

»Komm, ich stecke sie dir an.« Gertraude nestelte an Leonores Kragen herum, hielt sie danach etwas von sich und schien zufrieden. »Fein. Sie steht dir. Jetzt mache ich uns einen Kaffee. Keine Widerrede. Ich habe noch ein paar von den Mürbeplätzchen da, die du so gern magst.«

Nach der zweiten Tasse Kaffee verabschiedete Leonore sich hastig. Sie hatte sich mit Gertraude verplaudert, und sie musste noch das Mittagessen zubereiten.

»Danke für deine Hilfe, mien Deern.«

»Gern geschehen.«

Leonore ging zur Tür, und Gertraude folgte ihr. »Vielleicht ändert dein Vater eines Tages seine Meinung.«

»Wovon sprichst du?«

»Na, der Laden …«

Leonore schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht.«

»Wenn du erst mal verheiratet bist …«

Nicht schon wieder! Sie wandte sich ab. »Ich muss los.«

Während sie die paar Schritte nach Hause lief, überkam sie ein Anflug von Ernüchterung und Hoffnungslosigkeit. Sie würde Mathias heiraten und eine vermutlich langweilige, freudlose Ehe führen. Er würde sich nach Kräften bemühen, das wusste sie, immerhin kannte sie ihn lange genug, aber das würde nichts daran ändern, dass sie sich nach etwas anderem sehnte.

Ihr Vater stand hinterm Tresen. »Wo warst du denn so lange?«

»Bei Gertraude, das weißt du doch.«

»Du hast hier genug zu tun, Nora. Gertraude …«

»Braucht meine Hilfe«, unterbrach sie ihn unwirsch und ärgerte sich prompt über ihre Impulsivität. »Entschuldige, Vater. Aber ich habe Mutter versprochen, ihr zur Hand zu gehen.«

»Ich dulde diese Aufsässigkeit nicht, Nora.«

»Ich habe mich entschuldigt.«

Er sah sie mit gerunzelter Stirn an, und sie wartete auf ein Donnerwetter, doch es blieb aus. Erleichtert wollte sie an ihm vorbeihuschen.

»Warte.«

Sie blieb mit dem Rücken zu ihm stehen, die Fäuste geballt.

»Ich hoffe, dass Mathias dir bald einen Antrag macht.«

Sie erwiderte nichts.

»Gibt es etwas, das ich wissen sollte?«

»Nein, Vater.«

»Dann ist’s ja gut.«

Leonore wollte weitergehen, doch irgendetwas in ihr brachte sie dazu, sich noch einmal umzudrehen und ihren Vater anzufunkeln. »Es muss wunderbar sein, über andere bestimmen zu können.« Als es heraus war, schluckte sie. War sie noch ganz bei Trost?

»Ich bin dein Vater, und ich sage dir, was du zu tun hast. So ist das nun mal.«

Er sprach ruhig, aber sie wusste aus Erfahrung, dass seine Ruhe urplötzlich umschlagen konnte.

Langsam kam er näher, und für einen winzigen Moment glaubte sie, er würde sie ohrfeigen. Doch er blieb vor ihr stehen und schaute sie ernst an. »Glaubst du wirklich, es ist immer ein Zuckerschlecken, ein Mann zu sein?«

»Ja, das glaube ich.« Es klang trotzig.

»Dachte ich mir.« Er schnaubte. »Dann wärst du wohl auch ganz versessen darauf, in den Krieg zu ziehen und dein Leben zu riskieren, nicht wahr?«

»Was hat das jetzt mit Krieg zu tun, verflucht?«

»Hör auf zu fluchen, Nora.«

»Wir haben keinen Krieg.«

»Nein, aber es kann Krieg geben. Männer müssen Dinge tun, die beschwerlich und oft auch voller Entbehrung sind.«

»Du sprichst schon wieder vom Krieg.«

»Nein, ich spreche von den Pflichten eines Mannes, Nora, ganz gewöhnlichen Pflichten.«

»Und Frauen haben keine Pflichten?«

»Natürlich haben auch Frauen Pflichten. Das ist es ja, was ich meine. Jeder tut das, was er am besten kann und wofür er geschaffen ist.«

»Und alle sind glücklich und zufrieden?«

»Himmel Herrgott, von glücklich und zufrieden habe ich kein Wort gesagt. Weil es darum nicht geht.«

»Aber ich … Du darfst also auch fluchen, ja?«

Er blieb ihr eine Antwort schuldig, weil die Türglocke ertönte und Frau Walser den Laden betrat.

»Guten Tag, die Herrschaften! Leonore, dich habe ich ja eine kleine Ewigkeit nicht mehr gesehen. Gut schaust du aus.«

»Danke, Frau Walser. Vater.« Leonore nickte beiden zu und lief zur Treppe. Sie war so wütend, dass sie am liebsten mit der Tür geknallt hätte.

Aber sie tat es nicht. Sie wollte den Zorn ihres Vaters nicht noch weiter erregen.

In der Wohnung war es still, vermutlich war Carl auf dem Speicher.

»Carl? Bist du da oben?«

»Nein, ich bin hier«, kam es aus seinem Zimmer.

Sie klopfte an seine Tür. »Ist alles in Ordnung?«

»Ja, alles ganz wunderbar.«

Sie glaubte ihm kein Wort, es hatte ganz und gar nicht wunderbar geklungen. »Mach bitte auf, Carl.«

»Nein, ich bin müde.«

»Was sagt Vater dazu, dass du mitten am Tage in deinem Zimmer bist und schläfst?«

»Er findet, es sei eine gute Idee.«

Jetzt musste sie lachen. »Mach schon auf, ich glaube dir ohnehin nicht.«

Sie hörte schlurfende Schritte, dann wurde die Tür geöffnet.

Und sie erschrak halb zu Tode.

Sein Gesicht war geschwollen und über und über mit bläulichen Flecken übersät. Besonders sein linkes Auge sah schlimm aus.

»Wer war das?«, wisperte sie und schob ihn vor sich her.

»Jemand, der nicht gut auf mich zu sprechen ist.«

»Wer?«

»Niemand, den du kennst.« Er ließ sich aufs Bett fallen und stöhnte dabei auf.

»Ist deine Nase gebrochen?«

»Woher soll ich das wissen? Es fühlt sich jedenfalls so an.«

»Herrgott noch mal, Carl.« Sie setzte sich neben ihn. »Das muss gesäubert und versorgt werden.«

»Es sind nur ein paar Blutergüsse, Nora.«

»Ein paar Blutergüsse? Hast du mal in den Spiegel gesehen?« Sie schnalzte mit der Zunge und stand auf, um Verbandsmaterial und eine Wundsalbe zu holen.

Als sie zurückkam, lag ihr Bruder noch genauso da, wie sie ihn zurückgelassen hatte, die Augen geschlossen. Sie begann, die Wunden zu säubern und Salbe auf die Blutergüsse zu reiben. Dabei ging sie sehr behutsam vor. Trotzdem zuckte Carl hier und da zusammen und verzog das Gesicht vor Schmerz.

»Wie lange soll das noch so weitergehen, Carl?«

»Bis ich eine Glückssträhne habe.«

»Du glaubst wirklich daran, nicht wahr?«

»Natürlich tue ich das, ansonsten hätte ich schon längst aufgehört.«

»Aufhören.« Leonore schnaubte und betastete vorsichtig seine Nase. »Ich glaube nicht, dass sie gebrochen ist. Du hast Glück gehabt.«

»Wenigstens hierbei.«

»Hat Vater dich gesehen?«

»Was glaubst du denn? Natürlich nicht. Er hat angeklopft, wo ich bleibe, und ich habe eine Magenverstimmung vorgetäuscht.«

»Und was willst du ihm morgen erzählen?«

»Mir fällt schon was ein. Am besten, ich sage, ich wäre gegen den Holzpfeiler auf dem Speicher gelaufen.« Er öffnete die Augen. »Hübsche Kamee übrigens. Ein Geschenk?«

Sie nickte.

»Von Mathias?«

»Nein, von Gertraude. Beantworte mir eine Frage: Glaubst du wirklich, dass du jederzeit aufhören könntest?«

Jetzt lachte er, zuckte dabei aber leicht zusammen. »Natürlich könnte ich.«

»Dann tu es, ich bitte dich. Nein, ich flehe dich an. Wenn Vater erfährt …«

»Schsch. Er wird nichts erfahren.«

»Es wird irgendwann herauskommen.« Allein der Gedanke verursachte ihr Übelkeit.

»Nein, es wird nicht herauskommen, Nora. Vertrau mir.« Es klang, als habe er sein ganzes Leben nichts anderes getan, als ihren Vater zu täuschen.

4.

Hamburg im Februar 1900

Das neue Jahrhundert hatte mit heftigem Schneegestöber und eisigem Wind begonnen, und es sah nicht so aus, als würde das Wetter bald umschlagen.

Wenige Tage nach Neujahr war eine ältere Kundin vor dem Laden ausgerutscht und hatte sich das Handgelenk verstaucht.

Leonores Vater war außer sich gewesen und hatte ihrem Bruder schwere Vorwürfe gemacht, dass er den Weg nicht besser gekehrt und gestreut hatte. Und Carl hatte nur dagestanden und es über sich ergehen lassen. Wie immer.

Leonore hatte noch nie erlebt, dass er aus der Haut gefahren war. Wieso sagte er ihrem Vater nicht, dass er mehrmals draußen gewesen war und den Weg freigefegt hatte? Er konnte nichts dafür, dass es den ganzen Tag weitergeschneit hatte.

Ein paar Tage später schoss sie morgens aus dem warmen Bett hoch. Draußen heulte der Wind, und einer der Fensterläden klapperte. Er hatte sich neulich gelöst, und Carl hatte vergessen, sich darum zu kümmern. Es war nur eine Frage der Zeit, wann ihr Vater es bemerken und ihn dafür tadeln würde.

Sie schob das dicke Plumeau zur Seite, schlüpfte in das Kleid vom Vortag, das über dem Stuhl hing, spritzte sich etwas kaltes Wasser ins Gesicht und richtete ihr Haar. Sie war viel zu spät dran, und sehr wahrscheinlich war sie heute diejenige, die ihr Vater tadeln würde.

Eilig lief sie nach unten. Die Tür zum Kontor war nur angelehnt, und sie hörte Papierrascheln. Hoffentlich saß Carl am Schreibtisch und nicht ihr Vater. Vorsichtig schob sie die Tür auf und atmete erleichtert auf. »Ich hab verschlafen, Carl. Ich mache gleich Frühstück.«

Er blickte auf. »Vater scheint auch verschlafen zu haben.«

»Was? Das ist ja noch nie vorgekommen. Ich wische schnell den Tresen und poliere die Kasse.«

»Das hab ich schon gemacht.«

Sie war bereits losgestürmt, blieb verdutzt stehen und drehte sich um. »Du?«

»Wieso nicht?«

Sollte sie ihm sagen, dass er dann vielleicht auch gleich den Fensterladen reparieren sollte? »Danke.«

»Da nich für.«

»Der Fensterladen … Er klappert furchtbar.«

Er nickte. »Ich weiß. Das mach ich später.«

Hoffentlich.

»Dann kümmere ich mich jetzt um das Frühstück. Und wecke Vater.«

Leonore lief wieder nach oben und klopfte an die Zimmertür ihres Vaters.

Nichts. Es blieb still.

Sie versuchte es erneut, und wieder blieb alles still.

Das war mehr als seltsam, und sie öffnete die Tür.

Ihr Vater lag bis zur Nasenspitze zugedeckt im Bett und schnarchte leise.

»Vater?«

Keine Reaktion.

»Vater? Es ist schon halb acht.«

Er schlug die Augen auf, blinzelte, setzte sich auf und starrte sie entgeistert an. »Was machst du hier?«

»Es ist schon halb acht«, wiederholte sie. »Du hast verschlafen.«

»Um Himmels willen! Das ist ja noch nie vorgekommen!« Erstaunlich behände sprang er aus dem Bett, und sie grinste verstohlen, weil er gerade genau das Gleiche gesagt hatte wie sie vor wenigen Minuten. »Was stehst du hier herum?« Er scheuchte sie weg, und sie ging in die Küche, um das Frühstück vorzubereiten.

Während sie darauf wartete, dass der Kaffee in die Kanne tröpfelte, ging ihr plötzlich durch den Kopf, wie es wohl wäre, wenn sie und Mathias verheiratet wären und gemeinsam frühstückten. Sie würde genau wie jetzt darauf warten, dass der Kaffee durchliefe, während Mathias hereinkäme und sich an den Tisch setzen würde. Vielleicht würde er sie mit einem Kuss begrüßen oder sie kurz umarmen.

Nein, wahrscheinlich nicht. Auch ihre Eltern hatten sich nie umarmt oder gar geküsst.

»Warum hast du mich nicht früher geweckt?« Ihr Vater war hereingekommen, und sie fuhr zusammen.

»Entschuldige, ich wusste nicht … Ich bin selbst …«

Doch er hörte ihr gar nicht zu, sondern setzte sich und schlug die Zeitung auf. »Ich hoffe, Carl ist unten.«

»Ja.«

»Gut.« Er blätterte die Seite um.

»Der Tresen ist gewischt, die Kasse poliert und die Scheibe in der Tür geputzt.« Sie schenkte ihm Kaffee ein. »Alles wurde brav erledigt.« Wenn auch nicht von ihr, sondern von Carl.

Neuerdings schoss sie dann und wann übers Ziel hinaus und gab schnippische Antworten. »Widerworte«, wie ihr Vater es nannte.

Eigentlich gefiel sie sich so gar nicht, aber hin und wieder konnte sie nicht anders.

»Du lernst schon noch, wo dein Platz ist.« Ihr Vater hatte nicht einmal aufgeblickt.

»Das weiß ich doch längst«, entgegnete sie ein wenig spitz.

Nun sah er auf, direkt in ihr Gesicht. »Und du lernst hoffentlich auch, dass es keinen Sinn hat, wieder und wieder mit dem Kopf durch die Wand zu wollen. Und jetzt will ich in Ruhe frühstücken«, kam er ihrem Protest zuvor.

Carl hatte am vorherigen Abend gewonnen, das erste Mal seit langer Zeit, und seinen Triumph kräftig begossen. So kräftig, dass zwei Freunde ihn nach Hause bringen mussten.

Immerhin erinnerte er sich noch daran.

Sie waren ein paarmal ausgerutscht und in den Schnee gefallen.