Die Frauen von Salaga - Ayesha Harruna Attah - E-Book

Die Frauen von Salaga E-Book

Ayesha Harruna Attah

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Beschreibung

Westafrika, Ende des 19. Jahrhunderts. Aminah, ein verträumtes junges Mädchen, wird brutal aus ihrem Zuhause gerissen und als Sklavin verkauft. Wurche ist eine privilegierte Frau, doch ihr Vater zwingt sie, eine ungewollte Ehe einzugehen. Als Aminah und Wurche sich auf dem Sklavenmarkt von Salaga begegnen, verbinden sich ihre Schicksale unwiderruflich miteinander. Beide hadern mit den Grenzen, die ihnen Zeit und Gesellschaft auferlegen. Beide riskieren ihr Leben. Und beide verlieben sich in denselben Mann.

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Seitenzahl: 326

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Zum Roman

Westafrika, Ende des 19. Jahrhunderts. Aminah, ein verträumtes junges Mädchen, wird brutal aus ihrem Zuhause gerissen und als Sklavin verkauft. Wurche ist eine privilegierte Frau, doch ihr Vater zwingt sie, eine ungewollte Ehe einzugehen. Als Aminah und Wurche sich auf dem Sklavenmarkt von Salaga begegnen, verbinden sich ihre Schicksale unwiderruflich miteinander. Beide hadern mit den Grenzen, die ihnen Zeit und Gesellschaft auferlegen. Beide riskieren ihr Leben. Und beide verlieben sich in denselben Mann.

»Ein meisterhaftes Porträt des Lebens im vorkolonialen Ghana. Harruna Attah schreibt mit einem genauen Blick für zwischenmenschliche und historische Details.«

The Guardian

Zur Autorin

Ayesha Harruna Attah wurde in Ghana geboren, studierte in den USA u. a. an der Columbia University und der NYU und lebt heute im Senegal. Ihr Roman Die Frauen von Salaga ist von dem Schicksal ihrer Ururgroßmutter inspiriert.

AYESHA HARRUNA ATTAH

DIE FRAUEN VON SALAGA

Roman

Aus dem Englischen von Christiane Burkhardt

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2018 Ayesha Harruna Attah Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel The Hundred Wells of Salagabei Cassava Republic Press, Abuja/London Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019 by Diana Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Redaktion: Antje Steinhäuser Karte: © Cassava Republic Press Umschlaggestaltung: Christian Otto, Geviert, München Umschlagmotiv: plainpicture/Moa Karlberg - Kollektion Rauschen; SF Stock/Shutterstock.com Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck Alle Rechte vorbehalten ISBN: 978-3-641-23900-8V002 www.diana-verlag.de

© Cassava Republic Press

Ein Clan reich an Mitgliedern

ist auch reich an Kraft.

– Sprichwort der Gurma –

Aminah

Die Karawanen konnten bei Tagesanbruch eintreffen. Die Karawanen konnten eintreffen, wenn die Sonne am höchsten stand. Die Karawanen konnten auch gegen Mitternacht eintreffen, wenn die ganze Welt in samtenes Blau gehüllt war. Fest stand nur, dass die Sokoto-Karawanen weit vor Ende der Trockenzeit eintreffen würden. Nicht so dieses Mal: Seit Wochen waren sich Aminah und die übrigen Einwohner von Botu nicht einmal mehr sicher, ob die Karawanen überhaupt noch eintreffen würden. Auch wenn sich die dunklen Wolken nach wie vor nicht abgeregnet hatten, zuckte in der Ferne ein Blitz über den Himmel, und es donnerte. Das Gras stand bereits hoch. Außerdem hieß es, Reiter seien im Anzug, die alles dem Erdboden gleichmachten. Reiter, die die Karawanserei in die Flucht schlugen. Reiter, die Menschen raubten. Das war gar kein gutes Zeichen. Aminahs Vater musste nach Dschenne, um Schuhe zu verkaufen. Und Aminahs Familie die von ihr erzeugten Lebensmittel an den Mann bringen.

Eine Woche bevor der Regen kam – Aminah bereitete gerade das Abendessen zu –, hörte sie die Trommeln. Sie ließ die Zwiebeln fallen, dankte ihrem Gott Otienu, dass er sie vor Unglück bewahrt hatte, und eilte in die Hütte ihrer Mutter zu ihren Zwillingsschwestern. Die Mädchen beeilten sich, einer ganzen Schar von Dorfschwestern und Dorfbrüdern zu folgen, die Willkommensgesänge schmetterten. Sie konnten ihre eigenen Lieder allerdings kaum verstehen, weil sie von den Trommeln der Karawane übertönt wurden. Aminah und die Zwillinge zwängten sich durch die Menge, um weiter nach vorn zu gelangen.

Kamele und ihre Reiter zogen vorbei, bewegten sich fast im Gleichschritt zum Rhythmus der Trommeln, gefolgt von Frauen, die riesige, wolkenförmige Bündel auf den Köpfen balancierten. Ihre Nachhut wurde von Eseln gebildet, bepackt mit turmhohen Lasten. Dann kamen die Träger, Mitleid erregende Männer und Frauen, die unter schweren Körben und Töpfen gebückt gingen – in nichts als Stoffstreifen gehüllt, die ihre Genitalien bedeckten. Hassana, die ältere der Zwillinge, zeigte aufgeregt auf eine Gestalt in der Ferne, die alle anderen in dieser endlosen Prozession zu überragen schien. Der Madugu! Aminahs Herz hüpfte vor Aufregung. Der Karawanenführer, eine majestätische Gestalt auf einem riesigen Pferd, hob die Hand, um die Menge zu grüßen. Wenn er vorüberzog, schien die Erde zu beben. Das lag an seiner Kleidung, an seinem Pferd, an seinen eleganten Bewegungen – daran, dass er Orte auf der Welt gesehen hatte, an denen niemand von ihnen je gewesen war. Das lag an seiner Macht. Er war der Höhepunkt der Karawane. Den Schlusspunkt bildeten zerlumpte Jungen, die auf Kalebassen eintrommelten und Geld von denen erbettelten, die bereit waren, ihnen welches zu geben. Ihr Anblick stimmte Aminah traurig. Als die Menge die Bettler sah, drängte sie nach vorn, um auf Höhe des Madugu zu bleiben. So als würde allein durch seinen Anblick etwas von seiner Pracht auf sie übergehen. Die Luft war von Regen, herbem Viehgeruch, Gewürzen und dem Duft brodelnder Suppen erfüllt. Als sich der Abendhimmel rosa verfärbte, wuchs die Erregung der Menge.

»Macht Platz für das Oberhaupt aus Botu, macht Platz für Obado«, sagte eine Stimme, die nur Eeyah, Aminahs Großmutter, gehören konnte.

Eeyah und ihre Griottes, die anderen Sängerinnen, hatten sich so dicht um Obado geschart, dass er kaum noch zu erkennen war. Aminah stellte sich seinen flatternden Kaftan, seine schief sitzende Kappe, seine ernste Miene und seine kurzen Arme vor, mit denen er selbstgefällig wackelte. Als Obado dann auftauchte, trug er zwar einen Kaftan, aber keine Kappe. Er setzte sich an die Spitze des Zuges, den großen Lederbeutel quer vor seinem kleinen beleibten Körper, zum Zeichen, dass er gekommen war, um Geld einzutreiben.

Der Madugu lenkte sein Pferd zu Obado, um über den Karawanenzoll zu verhandeln. Der von der Sokoto-Karawane geforderte war höher als der aller anderen Karawanen zusammen. Er war auch am schwierigsten auszuhandeln. Einmal war die Karawane über eine Woche in Botu geblieben, weil sich der Madugu und Obado nicht hatten einigen können.

Mit seinen Gewändern in satten Blaulilatönen, seinem weißen Turban und seiner dunkel schimmernden Haut federte der Madugu bei jedem Trommelschlag nach links und nach rechts, und seine geballte Faust schien die Luft über seinem Kopf mit jedem Schritt seines Pferdes regelrecht zu punktieren. Aminah fragte sich, wie es sich wohl anfühlte, so viel Macht zu besitzen. Sie sorgte dafür, dass er sich auf eine Art in seiner Haut wohlfühlte, die Obado abging. Aber das war auch kein Wunder: Er führte Tausende von Reisenden an, während Botu nur ein paar Hundert Einwohner besaß.

Als der Madugu von seinem Pferd sprang und sich vor Obado aufbaute, wirkte Botus Anführer – der Mann, zu dem die Leute gingen, damit er für Frieden sorgte – wie ein kleines Kind. Das Getrommel erreichte einen Höhepunkt und wurde anschließend leiser.

Die beiden Männer umarmten sich, und der Madugu beugte sich vor, um mit Obado zu reden. Gleichzeitig wies er seine Leute an, die Karawane in den Zongo, den von Muslimen gegründeten Stadtteil, zu führen. Gemeinsam gingen sie zu Obados Haus, gefolgt von Eeyah und ihren Griottes, die mit hohen Stimmen ein Loblied auf den Madugu und Obado sangen.

Aminah zerrte die Zwillinge nach Hause. Na würde bestimmt verärgert sein, weil die Mädchen nicht schon gekocht und damit begonnen hatten, der Karawane Essen zu verkaufen.

Aminah sah zu, wie sich ein Klumpen Sheabutter zu goldenem Öl verflüssigte – in Gedanken nach wie vor bei der Karawane, beim Madugu. Eeyah hatte ihr einmal gesagt, dass er zwanzig Frauen habe und stets nach neuen Ausschau halte. Als sie das ihren Freundinnen erzählte, wollten die ihm absichtlich über den Weg laufen … und seine einundzwanzigste Frau werden. Doch was war daran eigentlich so erstrebenswert? Aminah stellte sich lieber vor, zu Kamel oder zu Pferd mit einem Sack Schuhe auf Reisen zu gehen, dieselbe Arbeit zu machen wie Baba, also etwas von Hand herzustellen, um es dann auf weiten Reisen zu verkaufen. Das Öl bildete Blasen und spritzte, gab sein nussiges Aroma ab. Aminah stützte den Kopf in die Hände und starrte ins Öl. Keine Frau in Botu stellte Schuhe her. Frauen arbeiteten ausschließlich auf dem Feld. Sie musste mit Baba reden. Was, wenn sie Schuhe nähte?

Ein Schlag traf ihren Hinterkopf, und sie zuckte zusammen. Das war bestimmt Na, ihre Mutter, die Aminahs Tagträumerei nicht leiden konnte. Oder Eeyah, die sie gerne erschreckte. Aminah drehte sich um und fing Issa-Nas kühlen Blick auf. Die Augen der Frau waren von einem durchbohrenden Weiß, ihr wie Stacheln vom Kopf abstehendes Haar mit Bändern verflochten. Stachelschweine tauchten vor Aminahs innerem Auge auf, sobald sie Issa-Na sah. Sie war nur die Zweitfrau, was sie mit Verbitterung erfüllte. Mehr brauchte Aminah gar nicht, um zu wissen, dass es alles andere als wünschenswert war, zur einundzwanzigsten Frau genommen zu werden.

Aminah sah ihre Stiefmutter an, die auch Issas Mutter war, die ihres einzigen Bruders. Sie versuchte, ihre Gesichtszüge zu kontrollieren, um so respektvoll wie möglich zu wirken.

»Du wirst die Maasa noch verbrennen«, sagte Issa-Na. »Es gibt nichts Schlimmeres als verbrannte Maasa.«

Die Frau hatte recht. Das Sheaöl warf am Rand schwarze Blasen. Aminah nahm den Topf vom Feuer. Issa-Na machte auf dem Absatz kehrt und verließ die Küche, noch bevor Aminah sich bei ihr bedanken konnte.

Aminah stellte den Topf zurück aufs Feuer und formte Bällchen aus dem Reis-Hirseteig. Als sie sie ins Öl gab, wurde sie ganz aufgeregt. Die Maasa nahmen eine goldbraune Färbung an. Man wusste nie, was die Karawanen so brachten. In ein breites Messinggefäß stellte sie einen großen Topf mit Hirsebrei, Honig und Kefir sowie mehrere Kalebassenhälften. Die Maasa kamen auf ein kleineres Tablett. Anschließend trug sie alles nach draußen, wo Na, eingehüllt in Dampf, der aus einem riesigen Topf aufstieg, in ihrem Tuo rührte. Nas Tuo war beliebt, weil er so schön locker war. Das Geheimnis ihres Familienrezepts bestand darin, Reismehl in den Hirseteig zu geben.

Na rief sie zu sich. »Hab ich richtig gesehen, dass dich diese Frau geschlagen hat?«

Aminah nickte langsam. Der Schlag hatte sie nur zusammenzucken lassen – wehgetan hatte er nicht. Und so gemein Issa-Na auch zu ihr war, sie wollte ihr keinen Ärger machen. »Das Öl wäre beinahe verbrannt.«

»Das nächste Mal gibst du ihr keinen Grund, dich anzurühren«, sagte Na.

Na behauptete, dass Issa-Na fast immer ihren Willen bekäme, weil ihre Haut weißer war. Und auch, dass man den Leuten vor langer Zeit die dumme Idee in den Kopf gesetzt hätte, je heller die Hautfarbe, desto besser. Darüber hinaus sagte sie, dass Issa-Na halb gar aussehe und man Aminah in einer idealen Welt schöner fände als Issa-Na. Nicht ohne hinzuzufügen: »Aber Schönheit kann man nicht essen.«

Na starrte auf Issa-Nas Hütte und schaute dann wieder zu Aminah. »Worauf wartest du noch? Die Karawanenmitglieder haben Hunger. Los, beeil dich!«

Aminah zog die Zwillinge vom Gehöft. Die Mädchen begrüßten betagte Frauen, die sich zu alt fanden, um noch an dem Trubel teilzunehmen, aber auch keinen Klatsch verpassen wollten und deshalb ihre Hocker unweit des Zongo aufgestellt hatten.

Als es Abend wurde, waren die Zelte bereits aufgebaut und versprachen Bequemlichkeit – ganz so als hätten sie schon immer hier gestanden. Weitere Niederlassungen nahmen erst noch Gestalt an, während Karawanenmitglieder und Männer aus Botu hohes Gras schnitten. Andere holten Sand und Lehm vom Wasserloch und formten Blöcke daraus. Einige Frauen brachen Zweige ab, wieder andere flochten Wände aus Gras. Aus dem Zongo war ein Jahrmarkt geworden. Feuer knisterten, und Trommeln wurden geschlagen. Es roch nach Rauch, Fleisch und Alkohol. Aminah wollte, dass Na stolz auf sie war, sie wollte alles verkaufen, was sie dabeihatten. Aber als sie ihr Ziel erreichten, war jeder verfügbare Platz bereits von anderen Verkäufern besetzt. Da blieb ihnen nichts anderes übrig, als umherzulaufen und ihr Essen feilzubieten. Aminah teilte es auf, gab Hassana die Maasa und dem jüngeren Zwilling, Husseina, den Kefir. Sie selbst trug den Brei.

»Maasakokodanono«, sangen die Zwillinge, die Eeyahs musikalisches Talent geerbt hatten. »Maasakokodanono.«

Schmale Pfade trennten die Zelte voneinander. Überall auf dem Boden waren Tierknochen, Stofffetzen, Essensreste, kaputte Töpfe, Haarbüschel und Pfützen von irgendwelchen Flüssigkeiten. Vor einem der Zelte wurde Aminah von einer Frau wiedererkannt, die sagte, sie freue sich schon seit ihrer letzten Reise aus Kano darauf, ihre Maasa zu essen. Sie sprach Hausa, die Sprache der Karawanen, und nicht Gurma, die Sprache von Botu. Aminah fragte sich, wie es wohl in Kano aussah. War es genauso klein wie Botu? Oder so wie Baba Dschenne beschrieb: eine Stadt aus Lehmhäusern, mit Straßen, in denen man sich verlaufen konnte. Eine Stadt, die zwei Flussarme säumten. Eine Stadt mit einer Moschee, die weit in den Himmel ragte – groß genug, um Tausende von Gläubigen zu beherbergen. Ihre Gedanken eilten zu anderen Städten, in denen Baba gewesen war, um seine Schuhe zu verkaufen: Timbuktu, Salaga. Kano hatte er noch nie besucht.

Die Frau seufzte und riss Aminah aus ihrer Träumerei. Die Zwillinge waren bereits weitergegangen, weshalb sie der Frau dankte, Hassana und Husseina zu sich rief und sich gemeinsam mit ihnen weiter durch den Zongo schlängelte. Manche Reisende boten Waren feil, während andere ihre schmutzigen Füße auf Matten ausgestreckt und sich gleich schlafen gelegt hatten. Bei einem Zelt erregten Hunderte von funkelnden Lichtern Aminahs Aufmerksamkeit. Es war ein Verkaufsstand mit Spiegeln in allen Größen, manche davon genauso groß wie sie, andere so klein, dass sie gerade einmal ihr Gesicht darin betrachten konnte. Es kam nicht alle Tage vor, dass sie ihr Spiegelbild sah, und der Besitzer war nirgendwo zu entdecken. Deshalb stellte sie ihren Brei ab und warf einen kurzen Blick in einen kleinen silbernen Spiegel mit Elfenbeingriff, in den blühende Weinreben geschnitzt waren. Sein Rahmen zeigte zwei furchterregende, echsenartige Tiere mit ovalen Augen, schuppigen Körpern und zahlreichen ineinander verschränkten Gliedmaßen. Sie folgte dem Lockruf des Spiegels. Ihr Spiegelbild sah sie nur zu solch besonderen Anlässen im Dorf. Einzig und allein Obados Frau besaß einen Spiegel. Alle Dorfbewohner fanden sich vor ihrer Hütte ein, um sich das Haar und das Gesicht zurechtzumachen, bevor es zur Zeremonie ging. Aminah musterte ihre dichten Brauen, ihr überall vom Kopf abstehendes Haar. Ihre Nase war klein und wurde breiter, wenn sie die Nasenflügel weitete. Sie wollte gerade die Zunge herausstrecken, als sie im Spiegel jemanden hinter sich stehen sah. Fast hätte sie laut aufgeschrien. Das Herz rutschte ihr in die Kniekehlen. Doch ihre Mutter hatte ihr beigebracht, in der Öffentlichkeit niemals Angst zu zeigen. Sie drehte sich um und sah sich einem alten Mann gegenüber, dessen Haar die Farbe schwerer Regenwolken hatte.

»Wie ich sehe, gefallen dir meine Spiegel«, sagte er. Seine Augen erinnern Aminah an ihren Vater, ein freundlicher, fleißiger Mann.

»Entschuldigung …«

»An manchen Orten sagt man, dass einem der Spiegel die Seele raubt, wenn man zu lange hineinschaut«, ließ er sie wissen. »An anderen, dass man eitel wird, wenn man sich über Gebühr darin bewundert. Wer hat recht?«

Aminah sah sich um, um sich zu vergewissern, ob er jemand anders ansprach. Jemand, der sich mit Rätseln auskannte.

»Na, was glaubst du?«

Plötzlich fielen ihr die Zwillinge wieder ein. Sie hatte ganz vergessen, dass sie gemeinsam aufgebrochen waren.

»Es tut mir leid.« Sie bückte sich nach ihrem Topf mit dem Brei. Wenn sie ihre Schwestern verlor – was sollte sie dann bloß ihren Eltern sagen?

Sie schlängelte sich drei Mal durch den Zongo, bevor sie mehreren Männern mit Turban begegnete, die um ein Feuer saßen und lachten, als hätten sie keinerlei Sorgen. Neben ihnen hockten die Zwillinge auf einer Bastmatte vor einem Berg aus Holzpuppen, die mit Perlen und Kaurimuscheln in allen Regenbogenfarben verziert waren. Als sie auf sie zuging, hörte einer der Turban-Männer auf zu reden, musterte sie und hob dann seine beringte Hand, um sie herbeizuwinken. Sämtliche Härchen an ihrem Unterarm stellten sich auf, und sie warf einen flüchtigen Blick auf die Zwillinge, die ganz in den Anblick der Puppen vertieft waren. Aminah war sich sicher, dass sie dem Mann rasch etwas verkaufen und ihre Schwestern anschließend wieder einsammeln konnte. Sie war hier, um Essen feilzubieten, ermahnte sie sich, und das war ein potenzieller Kunde. Sie ging zu ihm.

»Was verkaufst du, Schönheit?«, fragte der Mann. Er lächelte, und seine Zähne funkelten weiß. Die von seinem türkisfarbenen Turban verschatteten Augen ruhten weiterhin auf ihr. Er schien permanent zu grinsen.

»Maasa, Kefir und Hirsebrei.«

»Meine Mutter macht den besten Hirsebrei. Mal gucken, ob deiner mithalten kann.«

Aminah stellte ihren Topf ab, aber die Hände zitterten so sehr, dass der Mann sie am Handgelenk packte und sanft, aber bestimmt zu sich hinabzog.

»Entspann dich«, flüsterte er und rief dann: »Wer will vom Brei dieser Schönheit kosten?«

Alle Männer wollten das. Aminah begann, denjenigen zu bedienen, der sie herbeigewinkt hatte, aber er zeigte auf die anderen, wies sie an, sich zuerst um seine Freunde zu kümmern und sich ihn für den Schluss aufzuheben. Das lodernde Feuer sorgte dafür, dass ihr ganz heiß wurde, dass ihr Herz raste, dass ihr der Schweiß ausbrach und ihr schwindlig wurde. Sie sah zu den Zwillingen hinüber, die nach wie vor mit den Puppen spielten. Dabei kleckerte sie Brei auf das weiße Gewand eines Mannes. Als sie entsetzt auf den Fleck starrte, fuhr er mit einem anderen Teil des Gewands darüber und scheuchte sie fort. Sie bediente alle, nahm ihre Kaurimuscheln und kehrte dann zu dem Mann mit dem türkisfarbenen Turban zurück. Als sie seine Portion Brei in eine Kalebasse goss, spürte sie seinen Blick. Sie gab sie ihm.

»Setz dich zu mir, Schönheit.«

Er hatte ihr einige Kunden verschafft, und sie musste ihre Schalen wieder einsammeln, deshalb gab sie nach. Sie setzte sich und versuchte, sich ihre Angst nicht anmerken zu lassen. Wieder sah sie sich nach den Zwillingen um. Die hatten sie noch nicht mal bemerkt. Der Mann legte seinen sehnigen Arm um Aminahs Taille und zog sie an sich. Er war klein, aber kräftig und schlürfte seinen Brei, während seine Freunde aßen und plauderten.

»Da bin ich anderer Meinung: Babatus Krieger handeln unüberlegt«, rief einer. »Es gibt Menschen, die für ein Sklavendasein geschaffen sind, und solche, die man lieber in Ruhe lassen sollte. Doch diese Männer stellen jedem nach. Ganz gleich ob man von hoher oder niedriger Geburt ist – vor ihren Raubzügen ist niemand gefeit. Außerdem bringen sie alle Reiter in Verruf.«

»Entspann dich, Mus«, sagte der Mann, der Aminah herbeigerufen hatte, und lachte. Dabei zeigte er sämtliche Zähne. »Babatu und seine Krieger sind auf uns angewiesen. Wenn er und seine Sklavenräuber anfangen, Kaufleute anzugreifen – woher wollen sie dann ihre Waren beziehen? Wir sind ihr Bindeglied zu den Europäern und ihren Erzeugnissen. Außerdem: Wie viele Menschen kaufen jetzt noch Sklaven, wo die Europäer sagen, dass sie die Sklaverei verboten haben?«

»Er hat recht«, meinte ein anderer. »Doch es gibt noch genug Europäer, die Sklaven wollen.«

»Fast alle meine Träger sind von Babatus Soldaten gefangen genommen worden«, sagte ein Dritter.

Der Mann neben Aminah krümmte seinen Zeigefinger, an dem ein genoppter Silberring steckte, und nahm einen letzten Klumpen Brei aus der Kalebasse. Sie wartete auf sein Urteil, in der Hoffnung, anschließend gehen zu können.

»Wie heißt du?«, fragte er.

»Aminah.«

»Schöne Königin Aminah!« Wieder strahlte er sie an, was sie allerdings keineswegs beruhigte.

»Hat der Brei geschmeckt?«, fragte sie.

Er legte seine Hand auf ihren Schenkel, und seine Fingerkuppen ruhten auf ihr wie Füße, die Halt auf ungewohntem Gelände suchen: erst »auf Zehenspitzen«, dann mit ihrem vollen Gewicht. Mit Daumen und Zeigefinger nahm er das Tuch, das ihre Schenkel bedeckte, und fand den Schlitz, woraufhin sein Daumen Hautkontakt bekam. Er beschrieb kleine Kreise damit. Wärme breitete sich aus und drohte höher zu steigen, aber sie zwang die Hitze, unter seinen Fingern zu bleiben. Sie verstand nicht, warum ihr Körper sein Tun genoss, obwohl es sich verboten anfühlte. Seine Finger wanderten immer weiter ihre Schenkel hinauf. Seine Freunde unterhielten sich und bekamen nichts davon mit oder ließen es sich zumindest nicht anmerken. Sie konzentrierte sich auf den auf und ab gleitenden Stoff, während er seine Hand bewegte. Sein Gesicht kam näher, und sein heißer Atem war nur noch wenige Zentimeter von ihr entfernt.

»Ich sag dir etwas zu deinem Brei, wenn wir kurz woanders hingehen«, flüsterte er.

Seine Hand fuhr ihren Schenkel hinauf, und seine Finger standen kurz davor, ihre Scham zu berühren, als sie aufsprang. Sie packte seine Schale und beeilte sich, die aufzusammeln, die noch auf dem Boden standen.

»Hassana, Husseina«, rief sie und eilte zu ihnen. »Los, nach Hause!«

Während sie auf die Zwillinge zuging, konnte sie die zitternden Hände kaum beruhigen.

»Schöne Aminah«, murmelte der Mann und lehnte sich zurück, wobei er sie nicht aus den Augen ließ.

»Können wir nicht noch ein wenig bleiben?«, flehte Hassana.

Aminah ging nicht weiter auf sie ein. Sie wollte sich am liebsten unsichtbar machen. Als sie sich ihren Weg aus dem Zongo hinausbahnte, sang, rauschte, zirpte, ächzte, pfiff, raschelte, tanzte und bog sich das Gras. Vor lauter Panik, was sich darin verbergen konnte – Leoparden, Schakale, Krokodile, Reiter, Männer mit Turban –, befahl sie den Zwillingen, den ganzen Heimweg im Eilschritt zurückzulegen.

Sie scheuchte sie in Nas Hütte und ließ die Töpfe und Kalebassen ungewaschen stehen. Na würde ihr die Unordnung bestimmt noch den ganzen nächsten Tag vorwerfen und sagen, dass Essensreste Ratten anlockten und Ratten Schlangen. Aber nach diesem Erlebnis von heute Abend würden Nas Worte die reinste Wohltat sein. Als sie auf die Hütte zuging, die sie sich mit Eeyah teilte, hörte sie ein Klirren: Etwas Metallenes war zu Boden gefallen. Baba. Immer ließ er etwas fallen. Sie ging zu ihm.

Ein kleines Feuer erhellte den Raum, umschlossen von der schönen Laterne mit gefächerter Krone und dem kunstvoll verschlungenen Drahtgeflecht, die der Schmied Baba geschenkt hatte.

»Wie findest du den hier?« Er hielt einen großen braunen Stiefel hoch, den er rot bestickt hatte. Er hatte schon besser gestickt, aber Aminah wurde immer ganz warm ums Herz, wenn er sie um ihre Meinung bat, und der Stiefel war wirklich ein Prachtstück.

»Schön.« Sie nahm auf dem einzigen Hocker Platz. »Baba, ich habe Angst«, sagte sie nach einer kurzen Pause.

»Warum?«

Das mit dem Turbanmann konnte sie ihm unmöglich erzählen – das konnte sie niemandem erzählen. Doch die belauschte Unterhaltung über Babatu und seine plündernden Reiter bot ihr genug Gesprächsstoff.

»Diese Reiter. Was, wenn sie kommen, während du fort bist?«

Baba schwieg. Nachdenkliche Stille machte sich breit – nicht die beklemmende, nervöse eines Menschen, der keine Stille erträgt. Diese Gelassenheit war typisch für ihn und schaffte es, alles gleich weniger bedrohlich wirken zu lassen. Baba hatte ein graues Tuch auf dem Boden ausgebreitet, darauf türmten sich seine Schuhe. Er griff nach einem Messer, schnitt ein loses Ende von einem Stiefel ab und legte ihn ebenfalls auf den Stapel.

»Wirklich in Sicherheit ist man nirgendwo«, sagte er nach einer Weile. »Aber wir können nicht ständig in Angst leben. Die Leute hören nicht auf, von den Reitern zu reden, als wären sie etwas ganz Neues. Und wenn es nicht die Reiter sind, dann irgendeine Krankheit oder Dürre. Es wird immer Unbekanntes auf uns warten. Und was die Reiter angeht: Das liegt an den Städten, in denen es Könige und Königinnen gibt. Aber in Botu, wo alle gleich sind, finden sich keine Sklaven. Nur dass Botu nicht mehr viele Einwohner hat. Alles, was wir tun können, ist, zu Otienu zu beten, dass er uns auch weiterhin Schutz gewährt. Pass bitte für mich auf deine Mütter auf. Du hast hier das Sagen, bis ich zurück bin, also träum nicht so viel.«

Seine schweren Lider senkten sich, und der Schatten der Laterne fiel darauf. Es war, als hätte Otienu all seinen Zügen Sanftheit verliehen.

Drei Tage später ging er fort, als wilde Trommelwirbel im Morgengrauen den Aufbruch der Karawane ankündigten. Aminah und die Zwillinge nahmen Abschied von ihm, mit ihren dünnen Ärmchen winkten sie ihm nach, bis Baba und sein Albino-Esel von der Menge verschluckt wurden. Wir werden unseren Alltag einfach fortsetzen, dachte Aminah, bis er in wenigen Monaten wieder zurück ist.

Wurche

Damit ihnen der Trubel Salagas nicht zu nahe kam, hatte die Dynastie der Zwillingsstadt Salaga-Kpembe verfügt, dass nur Mitglieder der königlichen Familie in Kpembe wohnen durften. Alle anderen lebten in Salaga. Aber für Wurche war Salaga so etwas wie die Suppen, die ihre Großmutter häufig zubereitete und in denen alle möglichen Fleisch- und Fischsorten durcheinanderkochten. In Salaga waren Mossi, Yoruba, Hausa, Dioula und Dagomba zu Hause. Bei ihren Besuchen bewunderte sie oft sehnsüchtig die europäischen Waffen, die von der Küste kamen. Die Pferde, die die Mossi mitgebracht hatten. Dann lauschte sie dem Geplänkel zwischen den Reitern, die ihre Waren loswerden wollten, und den Käufern, die es einfach nur liebten zu handeln. In Salaga gab es einfach alles. Etuto, ihr Vater, ging mit ihr oft zum Freitagsrennen. Doch Anfang der Woche hatte er ihre Brüder zu einem wichtigen Treffen mitgenommen, auf dem sie die anderen Chiefs von Kpembe kennenlernen sollten – in Kete-Kratschi, einer Stadt mit einem mächtigen Orakelpriester, der zu einem Mittler zwischen den umliegenden Reichen geworden war. So kam es, dass jetzt Wurche und ihre Großmutter, Mma Suma, die Familie in Abwesenheit der Männer repräsentierten. Die Frauen gingen zur Rennstrecke, vorbei an Sheabutterbäumen, deren Äste von den ovalen Körpern Tausender Störche besetzt waren. Die Frauen setzten ihren Weg fort, kamen an verfallenen Hütten und unzähligen Brunnen vorbei.

»Münzen aus aller Herren Länder!«

»Bestickte Lederschuhe!«

»Maasa, Maasa, Maasa!«

Am Eingang zur Rennstrecke tanzte ein Verrückter, während Männer breitrandige Trommeln schlugen – padada padada padada –, das Haar verfilzt, den gesamten Körper von Staub bedeckt. Pa pa pa padada pa pa. Er knetete seine Haut, ließ die Schultern zucken, zog langsam erst ein Knie an und dann das andere. Pa pa pa. Jede Muskelfaser seiner braunen Arme und Beine war in Aktion. Die Trommler schlugen auf die Häute ihrer Trommeln ein. Pa pa pa padadaada. Fiebriger Wahn blitzte in seinen Augen auf. Er schwankte nach links und nach rechts, sodass Wurche schon befürchtete, er würde stürzen.

Als Reiter auf ihren Pferden vorbeisausten, wurde die Rennstrecke in Staub gehüllt. Obwohl es herrlich war, nach Salaga zu kommen, konnte Wurche gut auf dieses Rennen verzichten, weil stets Shaibu gewann. Der Sohn des alten Kpembewura lag in Führung, sein graues Pferd war mit einer blausamtenen Satteldecke und dazu passender Haube geschmückt. Sie hob die Hand, um die anderen Reiter anzufeuern.

Mma kniff Wurche in die Armbeuge. »Genau das verhindert, dass du einen Mann findest.«

Die alten Frauen von Kpembe sagten, aus Wurche hätte eigentlich ein Junge werden müssen: Das Einzige, was ihr dazu noch fehle, sei dieses Ding zwischen den Beinen. Es hieß, sie habe winzige Kieselsteine statt Brüste und einen Po wie ein Brett. Etuto fand, Wurches zierliche Figur mache sie zu einer geborenen Rennreiterin. Trotzdem ließ er sie nie an den Freitagsrennen teilnehmen: Das gehöre sich einfach nicht. Die alten Frauen von Kpembe sagten auch, sie sei das Lieblingskind ihres Vaters, doch sie sah das anders. Er überlegte genau, was er ihr erlaubte und was nicht.

»Lächeln!«, befahl Mma. »Eine gerunzelte Stirn kleidet kein rundes Gesicht.«

»Das ist doch reine Zeitverschwendung. Ich sollte ebenfalls in Kete-Kratschi sein.«

»Dein Vater sagt, dass sich das für ein Mädchen nicht schickt, und er hat recht: Der Orakelpriester von Dente versteht keinen Spaß. Einst hat er die Aschanti zum Sieg geführt, indem er heftigen Regen gebracht hat. Er ist nicht Allah, aber er kann trotzdem für Regen sorgen, also gebührt ihm Respekt. Außerdem können die Unstimmigkeiten zwischen den Chiefs aus dem Ruder laufen, wenn der alte Kpembewura stirbt. Ich war noch ein kleines Mädchen, als der letzte Krieg ausbrach – nur weil sich die drei Königslinien nicht auf einen Nachfolger einigen konnten. Glaub mir, so etwas kommt immer wieder vor!«

Wurche hörte ihrer Großmutter kaum noch zu. Wenn sogar Dramani nach Kete-Kratschi gereist war, sollte sie auch dabei sein. Alles, was ihr Bruder konnte, konnte auch Wurche – vorausgesetzt, man gab ihr die Möglichkeit dazu. Mma hatte ihr einmal gesagt, dass Wurche vom Geist eines Mannes beseelt sei und Dramani von dem einer Frau. Mma glaubte, Wurches Mutter habe sich so an Etuto gerächt, weil sie bei der Geburt seines Kindes gestorben und nicht immer gut behandelt worden war.

Wurche beobachtete ihre Großmutter, die ebenfalls kein Auge für das Rennen hatte. Die alte Frau schaute sich bestimmt nach einem potenziellen Schwiegerenkel um. Wurche überflog die Menge: Würdenträger aus Dagomba in prächtigen indigoblau gestreiften Kaftanen, geformt wie Sanduhrtrommeln. Landlords aus Salaga, die nur zu gern die Etuto und den anderen Kpembe-Chiefs zustehenden Steuern hinterzogen. Hausa-Kaufleute, deren Köpfe in weiße Turbane gehüllt waren. Mossi-Männer in ihren langen, wehenden Gewändern, die ihre Esel festhielten. Einige Weiße und Dom Francisco de Sousa, der Brasilianer, der ab und zu von der Küste kam, um hier einzukaufen. Der ursprünglich aus Sokoto stammende Dom Sousa war als Sklave gehandelt worden und in einem Land namens Bahia gelandet, bis er sich freikaufen konnte und an die Goldküste zurückkehrte. Es hieß, er komme deshalb so gern zu den Rennen nach Salaga, weil ihn die Stadt an Sokoto erinnere. Es gab Frauen, die Maasa und Kefir verkauften. Männer, die Gewänder feilboten. Sklaven mit Halseisen, die Holz für ihre Herren holten. Fäulnisgeruch wehte zu ihnen herüber. Das war das Einzige, was sie an Salaga nicht mochte: überall Müll, sodass die Geier die Aufräumarbeiten übernehmen mussten.

Als ein Raunen durch die Menge ging, konzentrierte sich Wurche wieder auf die Rennstrecke. Jemand hatte Shaibu überholt. Sie beugte sich vor. Endlich wurde es interessant. Der neue Reiter schoss auf einem Schimmel vorbei, den eine Satteldecke aus Leopardenfell schmückte.

»Dieser Mann ist entweder sehr mutig oder aber sehr dumm«, bemerkte Wurche. »Aber dass Shaibu endlich jemand zeigt, dass er kein Talent hat, gefällt mir sehr.«

Der tapfere Reiter ging deutlich in Führung. Die anderen fielen zurück und wagten es nicht, die Lücke zu Shaibu zu schließen. Als der Schimmel die Ziellinie überquerte, tobte die Menge. Wurche kreischte. Der Reiter saß ab und wartete, bis der Königssohn und die anderen die Ziellinie erreichten.

Eine kleine Schlange bildete sich vor Shaibu und schien bei jedem einzelnen seiner Worte eine Verbeugung zu machen, vor ihm zu katzbuckeln. Shaibu packte das Handgelenk des Siegers und hielt seinen Arm in die Luft. Wieder brach die Menge in Applaus aus. Shaibu nickte dem Sieger zu und wirkte kein bisschen verstimmt.

»Wer ist der Mann, der es geschafft hat, sich gegen Shaibu durchzusetzen?«, fragte Wurche.

»Moro«, erwiderte Mma. »Etuto hat erzählt, dass er erst gestern Hunderte von Sklaven nach Salaga gebracht hat. Wenn das so weitergeht, genießt er bald denselben Ruf wie Babatu und Samory Toure.«

»Ich habe noch nie von ihm gehört.«

»Du weißt auch nicht alles, Wurche – schon gar nicht wenn es um Salaga und den Handel geht. Für dich ist das unwichtig. Aber es sind Leute wie Moro, die Salaga am Leben halten. Du bist sogar mit ihm aufgewachsen.«

Als Wurche noch ein Kind gewesen sei, so Mma, habe Moro in Kpembe gelebt. Er sei Shaibus Schatten und stets in einen schmutzigen Sack gehüllt gewesen. Wurche zermarterte sich das Hirn, konnte sich aber nicht an ihn erinnern.

Sie gingen nach vorn, um dem Sieger zu gratulieren, so wie es die Tradition verlangte. Zum ersten Mal seit Langem war es nicht Shaibu, und Wurche konnte es kaum erwarten, Moro zu treffen. Sie warteten geduldig, bis Shaibu sie bemerkte. Wurche musste sich auf die Zunge beißen, sie wollte das mit Shaibu so schnell wie möglich hinter sich bringen.

Männer kamen und gingen, gaben Shaibu und Moro die Hand. Als Shaibu Mma und Wurche entdeckte, sagte er: »Guten Tag, Mma Suma. Guten Tag, wilde Königstochter von Kpembe, die du mir das Herz gebrochen hast.«

»Wie geht es der Familie deiner Mutter?«, fragte Mma, beugte ihr linkes Knie und verzog vor Schmerz das Gesicht. Wurche setzte einen finsteren Blick auf. Schon seit einem Monat klagte die Frau über schmerzende Knie. Eigentlich sollte sich Shaibu vor ihr verbeugen und nicht andersherum! Aber weil er ein Mann und Königssohn war, blieb Mma nichts anderes übrig.

»Sie erfreuen sich alle guter Gesundheit«, erwiderte Shaibu.

»Und die Familie deines Vaters?«

»Guter Gesundheit.«

»Und du?«

»Guter Gesundheit.«

»Allah sei gedankt.« Mma wandte sich an Moro. »Das war großartig, ein großartiges Rennen. Ich gratuliere.«

Shaibu, Mma und Moro schauten zu Wurche, die ganz vergessen hatte, ihre Glückwünsche zu überbringen. Etwas an Moros Gesicht, an seiner Art erschütterte ihr Selbstvertrauen.

»Meine Enkelin scheint ihre guten Manieren vergessen zu haben«, sagte Mma.

»Gut gemacht«, lobte Wurche.

Genau in diesem Augenblick durchbrach ein lauter, kehliger Schrei das Stimmengewirr. Einer, bei dem einem sämtliche Haare zu Berge stehen. Alle sahen sich verwirrt um. Eine kaum bekleidete Frau trat nach vorn, sie trug ein dickes Halseisen und kam auf sie zugerannt. Moro beendete ihren Wutausbruch, indem er blitzschnell hinter sie trat und ihr einen Schlag auf die Schulter versetzte. Als sie in sich zusammensackte, beugte er sich über sie, zog ihren Oberkörper in eine aufrechte Position, hob sie dann hoch und legte sie sich über die Schulter. Die Frau, deren dunkle Haut von roter Erde bedeckt war, wand sich vor Schmerz, und ein heiseres Knurren entrang sich ihrer Kehle. Wer war dieser Mann? Er redete leise auf die Frau ein wie ein Vater ein ungehorsames Kind ermahnt, und tätschelte ihr den Rücken. Ein Mann näherte sich aus derselben Richtung, aus der die Frau gekommen war. Er hatte eine Kette in der Hand und sah sich suchend um. Moro ging zu ihm.

»Eine von den Wilden«, erklärte Shaibu, um dann verärgert hinzuzufügen: »Ich verstehe nicht, wie sie entkommen konnte. Die Widerspenstigen müssen sich gut angekettet in der Sonne aufhalten. Man könnte meinen, sie hat von dem Treffen der Mitglieder des Königshauses gewusst und ist absichtlich zu uns gekommen.«

Den Rückweg nach Kpembe legte Wurche langsam mit Mma hinter sich auf ihrer Stute Baki zurück. Mma beschwerte sich, sobald sie schneller als Schneckentempo ritt.

»Salaga ist am Ende«, sagte Mma. »Ich komme nicht oft dorthin, aber von Mal zu Mal wirkt es heruntergekommener. Als ich noch ein junges Mädchen war, konnte man das Brunnenwasser trinken. Heute wollen nicht mal mehr Sklaven mit diesem Wasser in Berührung kommen. Und diese schreckliche Frau, die da auf uns zugestürmt ist … Ich sage das nur ungern, aber als wir noch unter den Aschanti gelebt haben, wäre so etwas nie passiert. Sie haben Salaga mit viel mehr Weitblick regiert. Seit sie vertrieben wurden, haben wir nichts mehr zuwegegebracht. Wir kennen nur noch interne Machtkämpfe.«

Gedankenverloren murmelte Wurche irgendeine Antwort. Moro weckte ihre Neugier. War es die Symmetrie seines Gesichts, das Blauschwarz seiner Haut? Oder lag es daran, dass sie eine gemeinsame Vergangenheit hatten – eine, an die sie sich nicht mehr erinnern konnte? Sie versuchte, die Bilder heraufzubeschwören, aber ihr Gedächtnis versiegte wie die Hälfte der Brunnen in Salaga. Wie sooft eilten ihre Gedanken von der Vergangenheit in die Zukunft – in eine Zukunft, die sie bald planen musste, ja, die immer bedrückender wurde, weil alle sie drängten zu heiraten. Sie hatte es geschafft, der langweiligen Hausarbeit zu entfliehen, ihren Vater überredet, sie bei einer Lehrerin in Salaga lernen zu lassen, aber auch das war ein wenig ins Stocken geraten. Der nächste Schritt wäre der, Frauen darin zu unterweisen, eine gute Muslimin zu sein. Aber das ging nur, wenn sie verheiratet war, und sie wollte nicht heiraten. Ihr größter Wunsch war der, ihr Volk, die Gonja, mitzuregieren. Sie war nicht umsonst auf den Namen Wurche getauft worden: Königin. Die ursprüngliche Wurche hatte eine Armee aus dreihundert Mann in Sicherheit gebracht. Dass so eine Frau zweihundert Jahre vor ihrer Geburt gelebt hatte, sollte ihr eigentlich Mut machen. Und was war mit Aminah aus Zazzau aus einer noch viel früheren Epoche, die sich geweigert hatte zu heiraten und ihre Liebhaber getötet hatte, damit niemand ihr den Thron streitig machen konnte? Aber auch das hatte Aminah aus Zazzau erst nach dem Tod der Eltern tun können. Wurche dagegen wollte ihre Familie nicht verlieren. Andererseits wusste sie, dass diese sie bald zu einer Heirat drängen würde. Was, wenn sie nachgäbe – wenn auch unter einer Bedingung, nämlich der, dass sie den Bräutigam selbst auswählen durfte? Normalerweise galt die Regel, dass Mitglieder von Königsdynastien nur untereinander heirateten. Was, wenn sie ihnen mitteilte, sie habe sich für jemanden wie Moro entschieden? Für einen gemeinen Mann aus dem Volk. Hätte er eines Tages den Rang eines Babatu erreicht, käme er vielleicht durchaus infrage.

Wieder in Kpembe, saß Wurche ab, half Mma vom Pferd und führte Baki in den Stall. Im Hof von Etutos Palast stand ein Weißer vor Wurches Vater und ihren Brüdern. Sie waren schneller zurück als erwartet. Ihr Vater saß als einer der drei rangniedrigeren Chiefs von Kpembe auf seinen zeremoniellen Leopardenfellen. Hatte es etwas zu bedeuten, dass die anderen zwei nicht mit dabei waren? Und diese Weißen! Sie fand sie noch unangenehmer und langweiliger als andere Männer. Ihr Sheabutterteint ließ eine schlechte Gesundheit vermuten, und das Misstrauen ihnen gegenüber saß tief. Jede Woche tauchte ein neuer Weißer auf, um Etuto und die anderen Chiefs zu treffen, ihnen seine Freundschaft anzubieten. Salaga, so erklärte ihr Vater, sei ein strategisch wichtiger Ort … an der Schnittstelle zwischen Wald und Dornstrauchsavanne, außerdem ganz in der Nähe des Zusammenflusses von Nakambe und Daka mit dem Adirri, der schließlich ins Meer mündete.

Man hatte Etuto Waffen, Flaschen mit braunem Alkohol und Salzsäcke zu Füßen gelegt. Neben dem Weißen und seiner Entourage befanden sich vier geschmückte Schafe, ein Berg Yamswurzeln und zwei große Elefantenstoßzähne.

»Ihr habt uns dabei geholfen, das grausame Joch der Aschanti abzuschütteln«, sagte Etuto gerade, »und dafür sind wir euch ewig dankbar. Aber seitdem ist in Salaga nichts mehr so wie zuvor.«

»Wir wissen um die Bedeutung von Salaga«, sagte der Dolmetscher des Weißen, ein großer kahlköpfiger Mann. »Deshalb überlegen wir ja, wie wir euch helfen können. Salaga ist für uns alle eine wichtige Stadt, und wir müssen sie zur Küste hin öffnen. Mit eurer Hilfe und Freundschaft natürlich.«

»Die Aschanti schicken keine Kolanüsse mehr, seit ihr sie geschlagen habt«, sagte Etuto. »Wir brauchen wieder Kolanüsse auf den Märkten von Salaga. Die Karawanen werden ausbleiben, wenn wir keine Kolanüsse mehr haben. Wenn ihr wollt, dass Salaga blüht und gedeiht, müsst ihr uns Kolanüsse bringen.«

In der Vergangenheit hatten die Gonja und andere Völker der Umgebung den Aschanti einen jährlichen Tribut an Sklaven entrichtet. Die Sklaven arbeiteten dann auf Gehöften der Aschanti oder wurden wie Dom Francisco de Sousa in Länder wie Bahia geschickt. Dann hatten die Briten die Aschanti besiegt. Als die Leute in Salaga davon erfuhren, metzelten sie jeden Aschanti in der Stadt nieder. Daraufhin hatten die Aschanti Salaga vom Handel mit Kolanüssen abgeschnitten, wovon sich die Stadt laut Mma nie mehr erholt hatte.

Mit dem Ärmel ihres Kaftans wischte sich Wurche den Schweiß von der Nase.

»Kolanüsse«, wiederholte Etuto.

Nachdem die Besucher gegangen waren, eilte Wurche an ihren Brüdern vorbei in Etutos Zimmer. Sie schlang die Arme um ihren Vater, der die Umarmung gern über sich ergehen ließ. Eine Flasche in seiner Tasche drückte gegen ihre Brust. Sie ließ sich auf einem Fell im Vorzimmer nieder und wartete darauf, dass er sich umzog. Er kehrte zurück, öffnete die Flasche, nahm einen großen Schluck und zog eine Grimasse. »Billiger Fusel.« Er neigte die Flasche in Wurches Richtung, doch die schüttelte nur den Kopf. Ein festes Ritual, obwohl Wurche keinen Alkohol trank.

»Warum empfängst du sie immer wieder?«

»Unsere Situation wird immer schwieriger. Ich muss jede Hilfe nehmen, die ich kriegen kann.«

»Liegt es an Kete-Kratschi? Ging es darum, wer Nachfolger des alten Kpembewura wird?«