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Ghana 1892: Die Zwillingsschwestern Hassana und Husseina sind zehn Jahre alt, als ihr Dorf von Sklavenhändlern überfallen und niedergebrannt wird, obwohl Sklaverei bereits verboten ist. Dieses traumatische Ereignis ist jedoch nicht das Ende, sondern der Beginn ihrer Geschichte – eine Geschichte, die sie an fremde Orte und in unbekannte Kulturen führen wird. Die Mädchen werden getrennt und entwickeln sich in Brasilien und an der Goldküste Westafrikas zu ganz unterschiedlichen jungen Frauen. Trotz allem verbindet ein unsichtbares Band die Zwillinge, selbst über tiefe blaue Wasser hinweg. Doch wird das Schicksal sie jemals wieder wirklich zusammenführen?
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Seitenzahl: 327
Zum Buch
Ghana 1892: Die Zwillingsschwestern Hassana und Husseina sind zehn Jahre alt, als Sklavenhändler ihr Dorf überfallen. Dieses traumatische Ereignis ist jedoch nicht das Ende, sondern der Beginn ihrer Geschichte – eine Geschichte, die sie an fremde Orte und in unbekannte Kulturen führt. Weit voneinander entfernt entwickeln sich die Mädchen in Brasilien und an der Goldküste Westafrikas zu ganz unterschiedlichen jungen Frauen. Immer aber sind sich die Zwillinge in ihren Träumen und Gedanken nahe, selbst über tiefe blaue Wasser hinweg. Wird das Schicksal sie jemals wieder zusammenführen?
Zur Autorin
Ayesha Harruna Attah wurde in Ghana geboren, studierte in den USA u.a. an der Columbia University und der NYU und lebt heute mit ihrer Familie im Senegal. »Tiefe Wasser zwischen uns« ist nach »Die Frauen von Salaga« ihr zweiter Roman im Diana Verlag.
Ayesha Harruna Attah
TiefeWasserzwischenuns
Roman
Aus dem Englischen von Christiane Burkhardt
Von Ayesha Harruna Attah sind im Diana Verlag erschienen:
Die Frauen von Salaga
Tiefe Wasser zwischen uns
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Copyright © 2020 Ayesha Harruna Attah
Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel The Deep Blue Between bei Pushkin Press, London.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2021 by Diana Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Antje Steinhäuser
Umschlaggestaltung: © Christian Otto, Geviert, München
Umschlagmotive: © Valeriya Simantovskaya / Stocksy United; Shutterstock.com (olgers; Daiquiri; MUDRIKILLIA)
Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
Alle Rechte vorbehalten
ISBN: 978-3-641-27803-8V001
www.diana-verlag.de
Für Tumi und Tami
In unseren Träumen sitzt der Vater in einem Zimmer, das keine Farben aufweist. Unsere Mutter stillt ihr Baby, aber die beiden sind wie erstarrt, als wäre die Zeit stehen geblieben. Feuer verbrennt unser Dorf, erstickender Rauch schnürt uns die Kehle zusammen, Flammen versengen unsere Haut. Wir rennen. Unsere Hände umklammern sich, kleben förmlich aneinander. Ihre Finger sind meine Finger; meine Finger sind ihre. Unsere Umklammerung hat schon im Mutterleib begonnen, vor der ersten Trennung. Wir haben unser Zuhause schon einmal verloren, aber das hat uns nicht gebrochen. Jetzt verlieren wir es erneut, aber noch haben wir uns. Wir rennen. Gejagt von Hufen, Geschrei und geflügelten Männern. Eine von uns stolpert. Schweiß bildet einen dünnen Film zwischen unseren Händen. Ihre Finger rutschen aus meinen. Wir haben uns getäuscht. Diesmal ist es endgültig. Sie entgleitet mir.
Hassana
Ich könnte damit beginnen, wie mein Baba nach Dschenne aufgebrochen ist, um dort seine Schuhe zu verkaufen, und nie mehr zurückkam. Oder damit, wie unser Dorf in Schutt und Asche gelegt wurde und dass ich nicht weiß, was aus meiner Mutter und meiner Großmutter geworden ist. Damit, wie meine ältere Schwester Aminah und ich unseren Bruder in einer Menschenkarawane verloren haben. Oder aber ich könnte vom schlimmsten Tag meines Lebens erzählen, als mir meine Zwillingsschwester entrissen wurde. Doch ich werde mit dem Moment beginnen, ab dem ich nicht länger zuließ, dass andere bestimmen, was ich tue, wohin ich gehe oder was mit mir geschieht. Ich werde mit dem Moment beginnen, in dem ich mich befreit habe.
1892 – ich war damals zehn – war ich gezwungen, auf einem Stück Land zu leben, wo die Bäume so dicht nebeneinander wuchsen, dass es mir die Sprache verschlug. Wofa Sarpong, ein Mann, der gerade mal so groß war wie ich, hatte Aminah und mich gekauft und uns mit in sein Haus auf einer Lichtung genommen, die von bis zu den Wolken reichenden Bäumen gesäumt wurde. Jedes Mal, wenn ich an ihnen emporschaute, fragte ich mich, wie die Bäume es bloß schafften, so groß zu werden, ohne umzufallen, und jeden Tag drückte der Wald meine Brust platt wie einen leeren Trinkschlauch aus Kuhleder. Nacht für Nacht wachte ich schweißgebadet und mit Herzrasen auf, jedes Mal völlig außer Atem. Ich war ein Kind der Savanne, der offenen Weite mit niedrigen Bäumen. Am Horizont konnten wir die Kamele der Karawanen näher kommen sehen. Die Welt erschien uns riesig und grenzenlos. Der Wald hingegen ließ die Welt schrumpfen und damit mein ganzes Leben.
Es gibt nichts, was ich an Wofa Sarpong und seiner Familie mochte. Höchstens, dass Aminah damals noch bei mir war. Sie schlug sich etwas wackerer als ich und meinte, die Speisen von besagtem Wofa Sarpong seien recht schmackhaft, ihr Tuo, das sie Fufu nannten, sei süßer als unseres. Sie achtete darauf, dass ich ein paar Schlucke von ihren Suppen mit Fisch und Pilzen nahm, aber genauso gut hätte ich Baumrinde essen können. Alles lag mir schwer im Magen, alles war ohne jeden Geschmack. Ich aß, weil Aminah es mir befahl. Aber ich war nur noch ein Schatten meiner selbst.
Als sich mein Leben von Grund auf änderte, war gerade Hauptsaison bei der Kolaernte. Wie immer befahl uns Wofa Sarpong, in mehr Kolabäume zu klettern, als ich zählen konnte. Wir Jüngeren – seine Kinder und diejenigen, die er gekauft hatte – huschten daran hinauf wie Eidechsen, immer auf der Suche nach Plätzen, an denen wir weit genug voneinander entfernt waren, um so viele Nüsse wie möglich ernten zu können. Wofa Sarpong behauptete, Kola sei ein Geschenk Gottes, und Gott werde wütend, wenn wir nicht nähmen, was er uns schenke. Ich war wütend auf meinen Gott Otienu, weil er mich an einen solchen Ort geschickt hatte, ohne dass ich etwas falsch gemacht hätte. Manchmal fragte ich mich, wie Wofa Sarpongs Gott wohl war. Er schien ihn mit einer Fülle an Kolanüssen zu segnen. Ich werde nie vergessen, wie sehr ich die Arme recken musste, um sie ganz unten abschneiden zu können, während ich mit nackten Füßen gefährlich auf den Ästen balancierte und jedes Mal befürchtete hinunterzufallen. Ich fiel nie und schaffte es, meine Angst so weit in Schach zu halten, dass ich weiterhin nach den Früchten greifen konnte, die ich Kwesi, Aminah und den anderen Älteren zuwarf. Die legten sie in große Körbe, die sie später tragen würden. Tag für Tag arbeiteten wir vor- und nachmittags, ohne dass sich Wofa Sarpong auch nur einmal bedankt hätte.
Wenn er »Fertig!« rief, hieß das, dass wir wieder runterklettern sollten. Wir ließen unsere Messer in die großen Körbe fallen, auf die Kolanüsse mit ihren höckrigen Schalen. Wir liefen auf einem Pfad zurück, der alle paar Schritte von Ameisen gekreuzt wurde. Ich hätte den Ameisen tagelang dabei zuschauen können, wie sie eine nach der anderen ihrer Arbeit nachgingen und wie sie, sobald eine von ihnen in Schwierigkeiten geriet, sich gegenseitig zu Hilfe eilten. An diesem Tag wurde ich unglaublich traurig, als ich mir vor Augen führte, wie sogar solch winzige Geschöpfe freundlich zueinander sein können, während Leute wie Wofa Sarpong und die Männer, die uns entführt hatten, von nichts als Grausamkeit erfüllt waren.
Wir erreichten Wofa Sarpongs aus vier Langhütten bestehendes Gehöft, in dem er, seine Frauen und seine kleinen Kinder lebten. Zwei standen abseits, sie waren für seine erwachsenen Kinder und für diejenigen, die er gekauft hatte. Unweit der Tür seiner Wohnstatt befand sich eine kleine Hütte, in der Töpfe, Mörser und Stößel aufbewahrt wurden. Während Aminah mit ihrem Korb vorneweg ging, suchte ich diese für sich stehende Hütte auf und nahm einen schwarzen Tontopf, um ihn Wofa Sarpongs erster Frau zu bringen. Ich fühlte mich schwer, so als hätte man mir den Amboss eines Schmieds auf den Rücken gebunden. Wofa Sarpongs Frau schaufelte zwei glänzende Tuo-Klöße in den Topf und reichte die Schale ihrer Nebenfrau, die Kellen mit Palmsuppe und zwei Stückchen Fisch dazugab.
»Mach nicht so ein Gesicht!«, befahl sie.
Normalerweise hätte ich ein halbherziges Lächeln aufgesetzt, damit sie mich in Ruhe ließen, aber an diesem Tag brauchte ich es gar nicht erst zu versuchen.
Ich stellte den Topf Aminah und den anderen Mädchen hin, die ihre Finger in den Eintopf steckten und zu essen begannen. Noch bevor ich mich entscheiden konnte, ob ich es ihnen gleichtun wollte oder nicht, hielt Aminah den Tuo bereits an meine Lippen.
»Iss deinen Fufu«, sagte sie.
Ich weigerte mich, deren Worte zu benutzen. Ich würde das nicht Fufu nennen wie Aminah.
Ich nahm den Klumpen gelbe Kochbanane und Maniok in den Mund, und es schmeckte nach nichts. Sekunden später hatte ich Sodbrennen. Mir würde bloß alles wieder hochkommen, wenn ich mich weiterhin zum Essen zwang, deshalb stand ich auf und setzte mich unter den Katappenbaum. Ich wollte nur noch, dass das alles endlich aufhörte.
Es war jetzt ungefähr ein Jahr her, dass man uns hergebracht hatte, und der Lärm jener Nacht ließ mich immer noch zusammenzucken. Wofa Sarpong schlich häufig in unser Zimmer, um Aminah zu besuchen, und wenn er wieder weg war, lag ich lange wach und lauschte auf das Weinen meiner Schwester neben mir. In dieser Nacht schlief ich jedoch wie ein vollgefressener Python, obwohl ich wegen der auf mir lastenden Traurigkeit nicht das Geringste gegessen hatte.
Wir sind von Wasser umgeben. Darin spiegelt sich ein Blau, das noch intensiver ist als das des Himmels. Wir sind von Menschen umgeben, die aufs Wasser schauen. Das erstreckt sich hinter uns bis in alle Winkel der Erde und noch darüber hinaus. Stoffe bauschen sich wie riesige weiße Tücher im Wind, und wir stehen auf einer hölzernen Plattform. Vor uns liegt Land, das gleichzeitig fremd und vertraut wirkt, mit Bäumen, die an Palmen erinnern und sich im Wind biegen. Die Bäume werden zunehmend größer. Wir bewegen uns.
Ich wachte auf, klatschnass, so als hätte man einen Eimer Wasser über mir ausgekippt. Der Wald hatte mir nicht nur die Sprache verschlagen, sondern mich auch bis in meine Träume verfolgt, das enge Band zwischen meiner Schwester und mir durchtrennt. Als unser Baba verschwand, wussten wir, dass er noch lebte, weil sowohl Husseina als auch ich träumten, dass er in einem Zimmer war. Ich sah die Dinge aus einer Perspektive und sie aus einer anderen. Wo ich ein Gesicht erkannte, erkannte sie einen Rücken. Gemeinsam nahmen wir das Ganze wahr. Der Wald hatte dafür gesorgt, dass unsere Träume nicht mehr zueinanderfanden. Bis jetzt …
Ich rüttelte Aminah wach und erzählte ihr von dem Traum.
»Das sind ihre Träume«, sagte ich. »Husseina lebt.«
Die nächsten Tage waren anders. Die Traurigkeit ließ nach, wich einer verwirrenden Mischung aus Aufregung und furchtbaren Bauchschmerzen. Die wurden doppelt so schlimm, wenn ich die Wäsche der Sarpongs wusch und in die Kolabäume kletterte. Ich konnte weder stillsitzen noch mich konzentrieren, schon gar nicht, als Wofa Sarpong uns antreten ließ und uns etwas sagte, auch nicht, als Aminah mich ansprach. Meine Zwillingsschwester lebte, sie war an einem Ort, der vom blauesten Wasser umgeben war, das ich je gesehen hatte. Einerseits wollte ich losrennen und alle umarmen, die Neuigkeit verkünden. Andererseits wurde ich von Angst regelrecht überrollt – was, wenn wir uns nie mehr wiedersehen würden und nur noch durch unsere Träume miteinander verbunden wären? Würde ich damit leben können? Die Frage quälte mich und rumorte wild in meinen Eingeweiden.
Eines Nachmittags rief Wofa Sarpong, in Begleitung eines Mannes, den ich noch nie auf dem Gehöft gesehen hatte, alle im Hof zusammen, wo seine Kinder Stöcke und Steine versteckten und wir gerade im Sitzen Hirse lasen. Der Fremde trug kurze Hosen, die von einem Lederband über der Taille zusammengehalten wurden. Er trug auch einen weißen Hut und marschierte auf und ab, während er darauf wartete, dass Wofa Sarpong uns Aufstellung nehmen ließ. Der Mann ging herum und fragte alle nach ihrem Namen, doch ich hörte kaum hin. Ich beobachtete Rüsselkäfer zwischen den Steinen und konnte nicht aufhören, an Husseina zu denken.
Jemand stieß mich in die Seite.
Der Mann mit den kurzen Hosen und dem Hut fragte nach meinem Namen.
»Hassana«, erwiderte ich.
Wofa Sarpong sah mich an, als hätte ich ihm das letzte Stück Fisch aus der Suppe geklaut.
Der Mann fragte mich noch einmal.
»Hassana.« Diesmal sagte ich es ganz bewusst. Denn mir fiel wieder ein, dass Wofa Sarpong uns im Vorfeld hatte antreten lassen, um uns neue Namen zu geben. Er wollte nicht als Sklavenhalter erwischt werden. Unsere Namen verrieten uns. Ich erzählte dem Mann, dass ich aus Botu stammte, die Zweitgeborene von Baba Yero und Aminah-Na sei.
Wofa Sarpong folgte dem Mann, verneigte sich so tief, dass er regelrecht zu kriechen schien, und zum ersten Mal, seit ich auf seinem Gehöft war, war mir zum Lachen zumute. Ich widmete mich wieder meinen Rüsselkäfern und Steinen.
Als ich sieben war, brachte ich mir bei, unter Wasser die Luft anzuhalten. Keine der Frauen in Botu konnte schwimmen, aber es war, als wüsste ich, dass ich in meinem Leben noch oft die Luft würde anhalten müssen. Einst hatte mich das zum mutigsten Mädchen von ganz Botu gemacht: Die anderen und ich waren frühmorgens am Wasserloch gewesen, um Wasser zu holen. Plötzlich hörte ich ein Kreischen. Ein Wort kristallisierte sich aus dem Stimmengewirr heraus: Krokodil. Bei uns am Wasserloch gab es keine Krokodile. Nachdem die Mädchen aus dem Wasser geeilt waren, hielt ich die Luft an und tauchte unter. Erst stiegen Schlammpartikel auf und trübten das Wasser. Ich hielt weiterhin die Luft an und wartete, dass sie sich wieder legten. Das Wasser wurde klarer, und ich sah Menschenbeine unter der Krokodilhaut. Ich streckte den Kopf aus dem Wasser. Die Mädchen schrien.
»Hassana, komm raus!« Eine besonders laute Stimme übertönte die anderen.
Ich sah zu, wie die Krokodilhaut näher kam, und drehte mich um, fing Husseinas Blick auf, deren Gesicht ganz verzerrt war, so als würde sie jeden Moment in Tränen ausbrechen. Dann wandte ich mich wieder dem Krokodil zu, das sich jetzt direkt vor mir befand. Mal gucken, wie lange sich dieses Spiel fortsetzen ließ. Die Schreie der Mädchen gellten in meinen Ohren: »Komm-raus-komm-raus.« Die Sonne brannte mir auf den Rücken. Die Schnauze des grauen Geschöpfes hob sich, und die Mädchen kreischten auf. Die Krokodilhaut trieb nach oben, drehte sich und fiel ins Wasser, enthüllte Motaaba und seine großen Zähne. Er krümmte sich vor Lachen, als ich das Wasser verließ und Husseinas Hand nahm. Die lehnte den Kopf an meine Schulter und sagte den ganzen Heimweg über kein einziges Wort.
Nachdem Wofa Sarpong den Inspektor verabschiedet hatte, kehrte er mit der Peitsche zurück, mit der er seinen Esel traktierte. Er zerrte mich von meiner Hirseschale weg. Als er damit begann, mich auszupeitschen, schrie ich. Doch als ich dann die schrecklichen Laute der Niederlage aus meinem Mund hörte, hielt ich die Luft an. Seine Hiebe machten mir nicht das Geringste aus. Wenn überhaupt gaben sie mir die Kraft, die ich brauchte. Ich würde keine Sekunde länger an diesem Ort bleiben, um mich von ihm wie einen seiner Esel behandeln zu lassen. Ich würde weglaufen und nach Husseina suchen. Aminah konnte ja mitkommen, aber wenn sie sich wie Vieh schinden lassen wollte, sollte sie eben bleiben.
Doch Wofa Sarpong kam mir zuvor. Noch bevor ich einen Fluchtplan schmieden konnte, spannte er seinen Esel vor den Wagen, auf dem sich die Kolanüsse türmten, und befahl Kwesi, mich zu diesem Karren zu schleifen. Aminah warf mir einen Zweig zu und wies mich an, seine Blätter zu kauen, sie mir auf die Haut zu legen, um meine Wunden vom Auspeitschen zu behandeln. Kurz überlegte ich, Wofa Sarpong anzuflehen, den Wagen zu wenden, bei Aminah bleiben zu dürfen. Aber als ich den abweisenden Buckel des Mannes sah, merkte, wie er wütend mit derselben Peitsche auf den Esel eindrosch, die mich gezüchtigt hatte, und »Ko! Ko!« rief, war ich in gewisser Weise erleichtert, dass er mich fortbrachte.
Der Wagen rumpelte über Geröll, und mehrmals glaubte ich hinunterzufallen. Je weiter wir kamen, desto dichter wurde der Wald, und ich rang nach Luft. Hätte ich doch nur mit Aminah fliehen können!
Wir erreichten eine kleine Hütte auf einer Palmenlichtung. Wir hatten kaum angehalten, als ein riesiger Mann aus der Tür trat.
»Dogo«, sagte Wofa Sarpong.
»Wofa, du kommst zu früh«, erwiderte der riesige Mann.
»Die hier ist einfach zu dickköpfig. Die macht mir bloß Ärger. Nimm du sie.«
»Ich habe nichts, was ich gegen sie tauschen könnte. Etwas Salz vielleicht.«
»Einverstanden.«
Wofa Sarpong stieg vom Wagen, zerrte mich so brutal an den Ohren hinunter, dass ich fast gestürzt wäre. Doch ich schaffte es, mich wieder zu fangen, und richtete mich zu meiner vollen Größe auf. Am liebsten hätte ich ihm ins Gesicht gespuckt, doch dann würde er mich mit Sicherheit schlagen, und mein Körper war noch zu wund. Auf der Lichtung roch es nach abgestandenem Wasser. Eine Henne gackerte am Eingang zur Hütte, eine Schar von Küken hinter sich.
»Gib mir die Hühner dazu«, sagte Wofa Sarpong.
»Die brauche ich, wegen der Eier.«
»Ich bring dir hier gutes Geld, und du redest von Eiern.«
Noch ein Huhn kam heraus, ein grau-grüner Hahn, der stolz auf und ab marschierte, ohne zu ahnen, dass er in Wofa Sarpongs Fängen landen würde. Ich sah Dogo an, den riesigen Mann, dem das ebenfalls klar war und der mit den Schultern zuckte, bevor er den Vögeln nachlief. Die kreischten und gackerten, während sich Dogo wiederholt aufrichtete und den Schweiß abwischte. In der Zwischenzeit ging Wofa Sarpong in Dogos Hütte und kam mit Stoffballen und verrostetem landwirtschaftlichem Gerät wieder heraus.
»Der Stoff ist nicht für mich«, sagte Dogo und legte flehend die Hände zusammen.
»Sag ihm, er soll zu mir kommen«, erwiderte Wofa Sarpong und marschierte auf und ab wie der Hahn, den er sich gleich schnappen würde.
»Bitte!«, fuhr Dogo fort, doch Wofa Sarpong starrte ihn nur böse an, sodass der riesige Mann verstummte.
Ich wollte lachen und staunte, dass so ein Hüne klein beigab, wenn der winzige Wofa Sarpong etwas befahl. Dogo ließ Wofa Sarpong machen, was er wollte, was entweder bedeutete, dass er ihm etwas schuldete oder dass der Hüne nicht besonders schlau war.
»Komm, und nimm die Kolanüsse«, sagte Wofa Sarpong, als redete er mit einem seiner Kinder.
Die Hühner rannten immer noch umher.
Der Mann ging in seine Hütte und kehrte mit drei großen Körben zurück.
»He, du!«, rief Wofa Sarpong.
Ich zuckte nicht mit der Wimper. Ich ließ mir Zeit und sah ihm dann direkt in die Augen. »Hassana.«
»Komm, und hol die Kolanüsse.«
Ich nahm einen Korb und füllte ihn mit Nüssen von dem Wagen. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Wofa Sarpong Jagd auf den Hahn machte. Er stürzte sich auf ihn und griff daneben. Ich konnte nicht anders, ich musste kichern.
Irgendwann erwischte er Hahn und Henne und hievte sie mitsamt dem Stoffballen, dem landwirtschaftlichen Gerät und einem Sack Salz auf den Wagen.
»Du hast ja noch die Küken«, sagte Wofa Sarpong. »Die werden groß und legen Eier. Aber was die hier angeht … wer will schon ein so dickköpfiges Mädchen wie das hier?«
»Die Weißen entlang des Volta-Stroms sind weiterhin nicht wählerisch«, erwiderte Dogo. »Aber an der Goldküste lässt sich so kein Geld mehr verdienen. Ich gehe jetzt nach Osten.«
»Fast hätte sie dafür gesorgt, dass mich der Inspektor erwischt. Sorg dafür, dass die Obroni sie weit fortbringen. Bis bald.«
Ich hatte Wofa Sarpongs Sprache eigentlich nicht lernen wollen, aber auch ohne es überhaupt zu versuchen, konnte ich fast alles verstehen, was er sagte.
Wofa Sarpong stieg auf seinen Wagen und ließ mich bei Dogo zurück, zu dessen Füßen sich die verwaisten Küken inzwischen zitternd versammelt hatten.
Rasch brach der Abend herein, und alles wurde grau.
»Komm, und iss«, sagte Dogo auf Hausa, eine der Sprachen, mit denen ich aufgewachsen war. »Morgen wirst du deinen neuen Herrn kennenlernen.«
Schon dass er Hausa sprach, sorgte dafür, dass ich mich entspannen, mich setzen und die Schale mit gekochten Bohnen essen konnte, die er mir anbot. In der Hütte breitete er eine Matte für mich aus und davor eine für sich.
In dieser Nacht bekam ich kein Auge zu. Jedes Rascheln, jeder Ruf eines Vogels und jedes Flüstern des Windes hielt mich wach. Gegen Morgen musste ich dann doch irgendwann eingeschlafen sein.
»Ich bade zuerst, danach kommst du dran«, sagte Dogo, während er den Kopf durch die Tür steckte. Davon wachte ich auf.
Dogo war nicht besonders helle. Kein Wunder, dass Wofa Sarpong so mit ihm umsprang. Obwohl ich Angst vor der Dunkelheit hatte, hätte ich mich leicht in die Nacht flüchten können. Jetzt ließ er mich allein, damit er baden konnte. Vermutlich weil er mich angeschaut und nur ein kleines, machtloses Mädchen in mir gesehen hatte. Ich spähte aus der offenen Tür, und als er aus meinem Blickfeld verschwunden war, rieb ich mir den Schlaf aus den Augen, klaute ein paar von den Bohnen, die in einer Ecke seiner Hütte standen, und knotete sie in mein Wickeltuch. Wofa Sarpong hatte Dogo nur noch drei Werkzeuge dagelassen, darunter eine kleine Machete, nach der ich griff.
Dogo bespritzte sich summend mit Wasser, und ich schlüpfte aus der Hütte, eilte in die Gegenrichtung davon und tat, was Aminah und ich längst hätten tun sollen. Auf Zehenspitzen trat ich nur dorthin, wo ich feuchten Boden erkennen konnte. Ich bewegte mich schnell und lautlos fort, blieb nur auf Pfaden mit Fußspuren, weil die mich zu Menschen und nicht zum Bau eines Leoparden führen würden. Ich lief und lief, und mir knurrte der Magen. Wie ich die Bohnen zubereiten sollte, war mir nicht ganz klar gewesen, als ich sie genommen hatte, und jetzt konnten die rohen Bohnen meinen Hunger nicht stillen. Ich marschierte weiter, wollte so viel Abstand wie möglich zwischen Dogo und mich bringen und dann nach diesem Ort mit dem blauen Wasser fragen, an dem Husseina gelandet war.
Ich folgte dem Pfad und erreichte einen Teil des Waldes, in dem ungewöhnlich viele Palmen wuchsen. Sie sahen nicht so wild und ungleichmäßig aus wie der Rest des Waldes, hier musste es also Menschen geben. Ich wusste nicht, ob ich ihnen trauen konnte, würde jedoch versuchen, ein paar Bohnen oder die Machete gegen Essen und Informationen einzutauschen, und meinen Weg anschließend fortsetzen. Ich schlug mich durch den Wald bis zu einer Lichtung, so ähnlich wie die, auf der Wofa Sarpongs Gehöft stand. Nur dass es hier Hütten aus weißem Stoff gab, die an den Stoff in Husseinas Traum erinnerten. Aufgrund dieser Ähnlichkeit bekam ich Gänsehaut. Ich war so schnell herbeigeeilt, dass die Menschen, die dort lebten, innehielten und mich anstarrten.
Es waren etwa fünf, alles Männer, drei davon hellhäutiger als die weißen Bohnen, die ich Dogo geklaut hatte. Sie sahen aus wie ganz normale Menschen mit zwei Armen und zwei Beinen, doch ihre Haut schien völlig farblos zu sein. Zwei Männer kamen auf mich zu, einer davon war farblos. Ich wusste nicht, was sie mit mir vorhatten, deshalb hob ich die Machete. Auf diese Weise verschaffte ich mir Zeit. Ich konnte kehrtmachen und zu Dogo zurückeilen, behaupten, ich hätte mich verlaufen. Ich konnte auch bleiben und gegen sie kämpfen, doch sie waren in der Überzahl. Oder aber ich konnte mit ihnen verhandeln.
Sie kamen nicht näher, und der farblose Mann, der ungefähr so alt zu sein schien wie mein Vater, ging in die Hocke. Er ließ die Arme herabhängen und winkte mich anschließend zu sich. Ich saß in der Klemme, ich konnte nirgendwohin. Also ließ ich die Machete fallen, führte die Finger zusammen und hob sie zum Mund. Wenn sie etwas zu essen für mich hatten, würde ich schon irgendwie die Kraft finden, sie zu überlisten. Der farblose Mann schien mich verstanden zu haben und bellte seinem Begleiter etwas zu. Er trug einen Hut, der aussah wie der des Inspektors bei Wofa Sarpong. Er kam, nahm meine Hand, und ich ließ ihn gewähren. Seine Handflächen waren ganz weich und erinnerten mich an den Bauch eines Geckos. Vertrauen ist ein seltsames Tier. Ich ließ meine Hände in seine sinken. Ich traute ihm.
Er führte mich vor eine der Stoffhütten und bat mich, auf einer Matte Platz zu nehmen. Die Hütte war mit Schnüren am Boden befestigt und sah aus, als könnte sie vom kleinsten Windstoß umgeweht werden. Ein Junge brachte zwei Kalebassen – eine mit Stücken grüner Kochbanane, die andere mit Wasser. Ich biss in die Kochbanane und schlang sie ohne zu kauen hinunter. Mein farbloser Freund sagte etwas, und ein Mann, der aussah wie ich, übersetzte in Wofa Sarpongs Sprache.
»Wie heißt du?«
»Hassana«, sagte ich, ohne mir klarzumachen, dass das verwendet werden konnte, um mich zu Dogo oder Wofa Sarpong zurückzubringen.
»Wohin willst du?«
Was sollte ich ihm sagen? Ich wusste das Wort für Blau nicht. Ich konnte nur Wasser sagen.
Die beiden Männer tauschten sich aus, dann versuchte es der Dolmetscher erneut.
»Wo ist deine Familie?«
Ich schüttelte nur den Kopf. Ich hatte keine Lust, darüber zu reden. Ich schaute auf die Kochbanane und kaute weiter. Die Kochbanane war nahezu geschmacklos, besaß aber eine leichte Süße, sodass ich sie genoss.
Im ganzen Dorf waren Leute aus ihren Hütten gekommen wie Ameisen vor heftigem Regen. Frauen und Kinder starrten mich an, als wäre ich vom Himmel gefallen. Ich beschloss, einfach nur meine Kochbanane zu essen. Anschließend würde ich mich bedanken und weiterziehen. Eine Frau brachte mir noch eine Schale. Darin befand sich Kontomire, der knallgrüne Taroblätter-Eintopf, den Wofa Sarpongs Frauen häufig kochten. Ich hatte nur noch ein fingerlanges Stück Kochbanane, also brach ich es in mehrere Teile und tauchte sie in die tiefgrüne Suppe und leckte mir anschließend die Finger. Ich hörte ein Kichern. Kinder, die kleiner waren als ich, zeigten lachend auf mich. Ich bleckte die Zähne, und sie rannten kreischend zu ihren Müttern. Keine Ahnung, warum ich das getan hatte. Ich tauchte die Finger tief in den Eintopf und schmeckte das frische Palmöl, mit dem er angesetzt worden war, die goldbraun angebratenen Zwiebeln, die Blätter des Taro und den salzigen getrockneten Tilapia.
»Sie ist unverschämt«, hörte ich eine der Mütter sagen, die hörbar nach Luft schnappte.
In diesem Moment beschloss ich, für mich zu behalten, dass ich sie verstehen konnte. Ich würde mich taub stellen und diesen Umstand nutzen, um mich satt zu essen. Wüsste ich erst einmal, wo ich gelandet war und wo ich hinmusste, würde ich fortlaufen.
Ich leckte mir Palmöl und Eintopf von den Fingern, und wie aus dem Nichts entrang sich mir ein lautes Rülpsen. Auf einmal wurde mir klar, dass ich die Mahlzeit genossen hatte. Entweder die Speisen waren im Gegensatz zu denen bei Wofa Sarpong gut gewürzt gewesen, oder aber ich konnte endlich wieder schmecken. Mit den beiden Kalebassen erhob ich mich. Die zwei farblosen Männer hatten sich vor einem Gegenstand versammelt, der aussah wie eines der Räder an Wofa Sarpongs Wagen, das man auf Beine gestellt hatte. Alles hier war seltsam – die Häuser, die Farbe der Menschen –, doch ich fasste Mut. Ich ging zu der Frau, die mir den Eintopf gebracht hatte, klopfte mit der Rechten in meine Linke und kniete mich hin, um ihr meine Dankbarkeit zu erweisen.
»Ist schon gut«, erwiderte die Frau, nahm die Kalebassen und scheuchte mich fort.
Der ältere farblose Mann kam zurück und teilte den Stoff am Eingang seiner Hütte. Er legte die Hände zusammen, schmiegte sie an seine Wange und schloss die Augen. Schlafen!, sollte das heißen. Das war jetzt wirklich das Letzte, was ich wollte, aber ich tat wie befohlen und ließ mich in der Stoffhütte auf die Matte sinken. Ich merkte, dass ich meine Machete vergessen hatte. Noch bevor ich protestieren konnte, übermannte mich der Schlaf und umfing mich mit seinem warmen dunklen Fell.
Wir sind am Wasserloch, eine schnatternde Mädchenschar. Sie sitzt am Ufer und taucht die Zehen ins Wasser. Ich gehe ins Wasser und komme wieder heraus, winke ihr zu. Komm rein!, bedeute ich ihr. Sie zuckt mit den Schultern. Komm!, beharre ich. Sie weigert sich. Ein Tanz, den wir abwechselnd aufführen, bis ich zu ihr wate und sie ins Wasser ziehe. Noch berühren ihre Füße den Grund des Teiches, dann ziehe ich sie weiter ins Tiefe. Sie fällt und schlägt um sich, schnappt verzweifelt nach Luft. Sie wird vom Wasser verschlungen und verschwindet.
Dunkle, über mich gebeugte Gestalten weckten mich. Ich hatte wie so oft von Husseina geträumt, aber es war nicht ihr Traum. Wenn ich ihre Träume erleben wollte, war etwas dafür nötig, das ich noch nicht genau benennen konnte. Ich schüttelte meine Schläfrigkeit ab und merkte, dass das Gesicht vor mir das von Dogo war. Fast hätte ich laut geschrien. Er hielt mir den Mund zu und zerrte mich vor die Hütte.
»Warum hast du das getan?«, fragte er.
Ich sah mich um und versuchte, den Blick meines Freundes zu erhaschen. Der starrte Dogo an. Was hatte Dogo ihnen erzählt? Warum hatte ich dem Schlaf nachgegeben? Das war sehr dumm von mir gewesen.
»Du kannst nicht einfach so weglaufen. Du gehörst mir«, zischte Dogo.
Was, wenn ich ihn irgendeines Vergehens bezichtigte und behauptete, Dogo habe mich so behandelt wie Wofa Sarpong meine Schwester, wenn er zu ihr ins Zimmer schlich? Dann würden mich diese Leute vielleicht verstehen. Ich starrte Dogo mit weit aufgerissenen Augen an. Andererseits hatte Wofa Sarpong behauptet, wir gehörten zur Familie und seien nicht seine Sklaven. Es war also nicht in Ordnung, jemandes Sklave zu sein.
»Nein«, hob ich an. »Nein, nein, nein.« Ich hielt mir die Augen zu und spähte zwischen den Fingern hindurch.
»Lasst mich meine Tochter mitnehmen«, sagte Dogo.
»Ich bin seine Sklavin«, rief ich in Wofa Sarpongs Sprache.
Zu meinem Erstaunen machte mein farbloser Freund – der nicht gerade dünn war – einen Satz nach vorn und ging Dogo an den Kragen, wobei er ihn in die Luft hob. Dogo versuchte, etwas zu erwidern, doch die Worte blieben ihm im Halse stecken. Der farblose Mann war kleiner als Dogo, trotzdem beutelte er den riesigen Mann wie die Puppen, mit denen Husseina und ich früher gespielt hatten. Er ließ Dogo los.
»Pikin dey lie«, brachte Dogo schließlich heraus. Er wiederholte es so oft, dass es sich mir unauslöschlich eingeprägt hat. »She my Pikin.«
Das Kind lügt, hieß das, wie ich später erfahren sollte. Sie ist mein Kind.
»Verschwinde!«, rief der farblose Mann und ließ weitere Beschimpfungen in seiner Sprache auf Dogo herabregnen.
Dogo starrte mich an, bevor er sich abwandte und ging. Ich sah keine Wut in seinem Gesicht, eher Erstaunen und Traurigkeit über das, was ich da gerade getan hatte. Mein Herz fühlte sich an wie ausgewrungen. Der falsche Mann wurde hier zur Rechenschaft gezogen. Nicht Dogo hätte von dem Farblosen in die Mangel genommen werden sollen, sondern Wofa Sarpong. Die Männer, die mein Dorf niedergebrannt und meine halbe Familie ermordet hatten. Aber allein dafür, dass Dogo sich mit Wofa Sarpong abgab, redete ich mir ein, verdiente er es, mich zu verlieren.
Ich erfuhr, dass der Mann, der zu meinem Beschützer geworden war, Richard Burtt hieß. Er wies mir eine eigene Stoffhütte zu und weigerte sich, mir meine Machete zurückzugeben. Trotzdem wusste ich, dass er jemanden erwürgen würde, um mir das Leben zu retten. Von diesem Tag an folgte ich ihm überallhin. Wir aßen vom selben Teller: Ich bestand darauf, weil ich nicht von den Dorfbewohnern vergiftet werden wollte, die mich misstrauisch beäugten. Bald merkte ich, dass sie ebenfalls auf Richard angewiesen waren – seine Anwesenheit schützte sie –, sodass sie mich weitgehend in Ruhe ließen.
Jeden Abend, wenn ich zum Schlafen in meine Stoffhütte ging – in mein Zelt, wie mich Richard verbesserte –, wünschte ich mir, dass Husseinas Traum zurückkehrte. Ich wollte die Augen schließen und mich in der Welt ihrer Träume verlieren. Ich presste die Lider zusammen, spannte die Kiefermuskeln an, zog die Knie an die Brust und wartete auf den Schlaf und seine Macht, mich zu entführen. Wenn er dann endlich kam, lockerte er meine Anspannung, verlangsamte meine Atmung und lullte mich mit seiner warmen Umarmung ein. Doch die Träume, die sich einstellten, waren nicht ihre Träume – es waren Träume, die von der Vergangenheit handelten.
Oft wachte ich mitten in der Nacht auf und verließ mein Zelt. Jede Nacht hielt jemand anderes Wache im Dorf. Nie einer von Richards Leuten. Immer solche mit meiner Hautfarbe. Richard erklärte mir, dass Leute mit meiner Haut »Schwarze« genannt würden und diejenigen mit farbloser Haut »Weiße«. Ich sah das anders, da meine Haut eher rot als schwarz war, und die Leute in diesem Teil von Kintampo waren dunkelbraun. Diejenigen wiederum, die »Weiße« genannt wurden, waren für mich rosa. Als ich ihm das sagte, lachte er.
Von Richard lernte ich Dinge, die mir sicherlich dabei helfen würden, Husseina zu finden. Richard war an der sogenannten »Goldküste« gewesen, um Pflanzen zu erforschen, herauszufinden, mit welchen man Krankheiten behandeln kann. All seine Erkenntnisse wollte er in einem Buch festhalten, und wenn ich ihm folgte, hielt ich eine Kiste mit Fächern, in die er seine Blattproben warf. Ich lernte die Pflanzennamen auf Twi und Begriffe, die laut Richard wissenschaftlich waren. Ich lernte die Namen auf Englisch, in seiner Sprache. Er half mir dabei, meine Bohnen einzupflanzen, die in wenigen Tagen keimten. Ich kam mir vor, als hätte ich Leben hervorgebracht. Er hatte seine Frau und seine zwei Töchter in einem Land namens Großbritannien zurückgelassen, um diesem Land zu dienen. Es war nobel, was er da tat – sich freiwillig von seiner Familie zu trennen. Meine Trennung von Aminah war anders verlaufen – ich musste unbedingt Husseina wiederfinden.
Während des Nachmittagsschlafs, wenn es im gesamten Gehöft still wurde, blieb ich oft auf und betrachtete den Winkel, in dem die beiden Stoffbahnen, die mein Zelt formten, aufeinandertrafen. Oder aber ich ging nach draußen und schaute nach meinen Bohnensetzlingen. Dann wiederholte ich alles, was ich gelernt hatte, wiederholte die Worte, damit sie mir so über die Zunge kamen, als wäre ich mit ihnen geboren worden.
»Das gehört sich nicht«, sagte mir eines Nachmittags eine Frau, als ich gerade die erste Schote berührte, die meine Pflanze hervorgebracht hatte. Sie hieß Ma’Adjoa und hatte mir an meinem ersten Tag hier Essen gebracht.
»Du bist ein Mädchen; und er ist ein Mann. Du setzt dich schlimmen Gefahren aus. Komm, bleib bei mir.«
Die kleinen Kinder sangen oft, Ma’Adjoa habe die Kinder in ihrem Bauch gefressen. Ich hatte Angst, es könnte wahr sein, spürte aber auch Mitleid. Es war nicht richtig, dass eine Person vom ganzen Dorf verurteilt wurde, deshalb dankte ich ihr, aß mit ihr zu Mittag und mit Richard zu Abend. Trotzdem schlief ich weiterhin in meinem Zelt.
Etwa drei Monde nachdem mich Richard adoptiert hatte, saß ich vor dem Zelt. Er hatte Buchstaben in den Sand gekritzelt, griff zu dem Stock, den er benutzte, wenn er in den Wald ging, um nach Pflanzen zu suchen, und zeigte damit auf den ersten Buchstaben: C.
»K«, sagte ich laut.
Zum nächsten sagte ich »Ah« und schließlich »Te«.
»Und jetzt alle zusammen«, forderte mich Richard auf.
»Cat.«
Er schrieb ein weiteres Wort. Ich hatte zu kämpfen, konnte aber »Dog« und »Ant« lesen.
Richard ließ seinen Stock fallen, klatschte laut, hob mich in die Luft und sagte: »Schlaues Mädchen!«
Ich war so stolz auf mich. Trotzdem hatte ich keine Ahnung, was ich da gelesen hatte.
»Wir müssen dir Bücher aus Accra kommen lassen«, sagte er. »Ich werde es dem Nächsten, der herkommt, auftragen.«
Es gefiel mir, Richards Englisch zu lernen. Boten brachten die Bücher, die Richard für mich bestellt hatte. Auch die Bücher bestanden aus einem ganz empfindlichen Stoff. Als ich das erste Mal eines anfasste, zog ich zu fest daran, sodass er riss.
»Behandle es wie ein rohes Ei«, erklärte mir Richard.
Ich hörte ihm zu und bewachte meine Bücher so eifersüchtig wie eine Glucke. Das nahm solche Ausmaße an, dass ich anderen Kindern aus dem Dorf, die meine Bücher anfassen wollten, mit Richards Stock auf die Finger schlug. Wenn ich schon nicht vorsichtig genug gewesen war – wie würden dann erst diese ungebildeten Kinder damit umgehen? Richard nannte mich »Buchhüterin«.
Kwasidas, Sonntage, wurden zu meinen Lieblingstagen. Es gab noch einen Weißen, den wir Osofopapa nannten und Richard Priester. Der machte morgens die Runde und schlug auf eine umgedrehte Metallschale, um Kinder und Erwachsene um sich herum zu versammeln. Als ich das erste Mal mitmachte, ging ich deswegen hin, weil Richard meinte, ich würde von einem Gott erfahren, der gut sei.
»Wer ist dein Gott?«, fragte ich.
»Der Schöpfer allen Lebens. Er ist der Grund, warum wir atmen, warum es Tiere, Pflanzen, Flüsse und Wälder gibt. Er ist hier und dort und überall.«
Sein Gott und Otienu schienen sich zu ähneln. Ich hatte viele Fragen an Otienu: Warum er zuließ, dass meiner Familie so viel Schlimmes passierte. Aber ich war mir sicher, dass wir Otienu in Botu zurückgelassen hatten, und darin unterschied er sich von Richards Gott – er war nicht hier und dort und überall. Ich wollte wissen, ob dieser gute Gott meine Fragen beantworten konnte.
An diesem ersten Tag hatte Osofopapa ein dickes Buch dabei, dicker als alle, die Richard mir gegeben hatte, und er sprach überwiegend Twi, weshalb mir einige Teile der Geschichte unklar blieben. Ich erfuhr, dass es vor Beginn der Welt keine Farben, keine Geräusche, keinen Geschmack, keine Formen und keinen Geruch gab. Es gab nichts als Dunkelheit, bis ihr Gott sagte: »Es werde Licht.« Anschließend formte er aus Lehm den Menschen. Diese Botschaft sprach mich nicht besonders an, fast wäre ich am zweiten Kwasida nicht mehr hingegangen, weil wir gar nicht dazu kamen, Osofopapa Fragen zu stellen. Außerdem konnte ich einfach Richard fragen, der nicht so streng wirkte wie Osofopapa mit seinem weißen Kragen und dem weißen Haar. Aber es war gut, dass ich hinging. Man könnte meinen, Osofopapa hätte gewusst, dass er eine Geschichte erzählen musste, um meine Aufmerksamkeit zu fesseln. Zunächst begann er, von Ntaafuo zu reden, und ich wusste nicht, was er meinte, bis er sagte, eine Frau namens Rebecca habe zwei Babys gehabt, die sich den Mutterleib streitig gemacht hätten. Ich wünschte mir, dass ich besser Twi spräche, um die ganze Geschichte zu verstehen. Aus den beiden Jungen wurden zwei Länder. Einer wurde rot geboren, der andere klammerte sich an die Ferse des Bruders. Yakubu und Esau. Ich bekam Herzklopfen. In Botu waren wir die einzigen Zwillinge gewesen, die ich kannte. Seitdem war ich keinen anderen Zwillingen begegnet. Als er sagte, dass sie getrennt werden würden, wollte ich aufspringen und schreien: »Genau das ist mit Husseina und mir auch passiert. Haben sie wieder zusammengefunden?« Ich musste sehr laute Geräusche von mir gegeben haben, weil mich plötzlich alle ansahen. Mein Blick huschte von links nach rechts und blieb dann an Osofopapa hängen. Die wussten ja nicht, wie wichtig das war!
»Die Brüder haben ständig gestritten«, erzählte Osofopapa. »Ihre Länder führten Krieg gegeneinander.«
Wir stritten auch manchmal, aber das war nicht typisch für unsere Beziehung. Ich beschützte Husseina.
Unsere Oma sagte, ich sei zuerst zur Welt gekommen und habe so laut gebrüllt, dass man mir den Mund habe zuhalten müssen. Sie erzählte auch, dass sie Kräuter vorbereitet hätten, um Na zu reinigen. Doch kurz bevor sie heißes Wasser aufgesetzt hätten, sei ein weiteres Baby herausgeflutscht. Es war so leise, dass sie es für tot hielten. Erst als meine Großmutter sie zwickte, gab meine Schwester einen leisen Schrei von sich.
»Wo ist der Ort mit dem blauen Wasser?«, fragte ich Richard nach der Predigt über die Zwillinge.
»Wasser, das blau ist?« Er schüttelte den Kopf.
»Dort gibt es hohe Palmen und Wasser, das so blau ist wie der Himmel, vielleicht sogar mehr Wasser als Land.«
»Auf keinen Fall in Accra. Dort ist das Wasser kein bisschen blau. Du bist aber neugierig! Wo hast du bloß dieses Bild her? Aus einem deiner Bücher?«