Die Freiheitsfalle - Mathias Döpfner - E-Book

Die Freiheitsfalle E-Book

Mathias Döpfner

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Beschreibung

Wir leben in einer ziemlich heilen, freien Welt. Die Freiheit scheint auf dem Vormarsch zu sein. Der arabische Frühling weckt Hoffnungen. Die Generation Facebook schafft reale Freiheitsbewegungen. Mehr Freiheit schien nie. Und doch ist die Freiheit bedroht. Mathias Döpfner gehört zu den wenigen Managern, die sich regelmäßig an gesellschaftlichen Debatten beteiligen. In »Die Freiheitsfalle« beschäftigt er sich mit der Freiheitsvergessenheit des Westens. Statistiken zeigen: Die Freiheit war in den letzten Jahren weltweit auf dem Rückzug. Am Beispiel von drei Zäsuren – Mauerfall, Nine Eleven und Finanzkrise – analysiert Döpfner Triumphe, Bedrohungen und Exzesse freiheitlicher Gesellschaften. Freiheit muss täglich neu erkämpft, verteidigt und verantwortet werden. Demokratische Gesellschaften tun das nicht entschieden genug. Sie sitzen in der Freiheitsfalle. Neben der Macht der Freiheit in Politik und Wirtschaft betrachtet Döpfner den Geist der Freiheit in Musik, Literatur und Malerei anhand dreier zentraler Werke von Richard Wagner, Thomas Mann und Gustave Courbet. Das Buch schließt mit einer Analyse der digitalen Welt. Das Internet – autoritätskritische Plattform und autoritätsgesteuertes Überwachungsinstrument, Freiheitschance und Freiheitsbedrohung zugleich – ist im doppelten Sinne ein »Netz der Freiheit«. »Die Freiheitsfalle« ist ein politisches und sehr persönliches Buch.

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Mathias Döpfner

Die Freiheitsfalle

Ein Bericht

Propyläen

Propyläen ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbHwww.propylaeen-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden

ISBN: 978-3-8437-0092-4© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2011Alle Rechte vorbehaltenSatz und eBook: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

»Das Geheimnis des Glücks ist die Freiheit, und das Geheimnis der Freiheit ist der Mut.« (Perikles)

INHALT

I. MEINE FREIHEIT

Nein

»Imagine«

»Na, dann gehen Sie doch gleich zu Springer«

Die Freiheitsfalle

Trotzdem

II. FREIHEIT! FREIHEIT?

Warum Unternehmer und Künstler im selben Boot sitzen

Flüchtige Freiheit

Die Angst der Deutschen vor der Freiheit

III. MACHT DER FREIHEIT, GEIST DER FREIHEIT

Triumph der Freiheit – 9. November 1989

Klang der Freiheit – Richard Wagner: »Die Meistersinger von Nürnberg«

Bedrohung der Freiheit – 11. September 2001

Sprache der Freiheit – Thomas Mann: »Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull«

Exzess der Freiheit – 15. September 2008

Bild der Freiheit – Gustave Courbet: »L’Origine du monde«

IV. IM NETZ DER FREIHEIT

V. BALANCEAKT

DANK

I. MEINE FREIHEIT

Nein

Nein.

Nein ist das Wort der Freiheit. Widerspruch ist Selbstbestimmung. »Nein, ich sehe das anders.« Was für ein befreiender Satz! Die Freiheit, Nein sagen zu können, steht im Gegensatz zu der Unfreiheit, Ja sagen zu müssen.

Demokratien sind Neinsager-Gesellschaften. Diktaturen sind Jasager-Gesellschaften.

Kinder sind frei. Deshalb sind sie Neinsager. Je komplizierter, je widersprüchlicher die Lebensverhältnisse, desto größer die Sehnsucht nach einer kindlichen, archaischen Haltung. Kinder sagen, was ist. Kinder stellen die ganz einfachen, die wesentlichen Fragen. So wie der junge Emil Sinclair in Hermann Hesses Entwicklungsroman »Demian« fragt: »Ich wollte ja nichts als das zu leben versuchen, was von selber aus mir herauswollte. Warum war das so schwer?« Weil wir nicht den Mut haben, Nein zu sagen?

Es gibt das störrische Nein: Nein, ich will diese Suppe nicht essen. Oder das mutige Nein: Nein, ich werde meinen Nachbarn nicht an die Stasi verraten.

Als Berthold Beitz im April 1945 in Berlin-Spandau den Befehl erhält, als Schütze eines Exekutionskommandos Deserteure zu erschießen, weigert er sich: »Ich habe ihm (dem Oberfeldwebel) gesagt: Nein. Nein, das mache ich nicht. Ich erschieße nicht einfach so Leute.« Beitz hat nicht nur in diesem Moment Mut bewiesen, er hat während der Kriegsjahre Hunderten von Juden im galizischen Boryslaw das Leben gerettet und dabei das eigene Leben und das seiner Frau und seiner kleinen Tochter riskiert. Was trieb ihn, den späteren Karrieremenschen, in dieser existenziellen Situation so zu handeln? Als ich dem 97-Jährigen im August 2011 in seinem Büro gegenüber der »Villa Hügel« diese Frage stelle, zuckt er mit den Schultern: »Ich habe es als meine Pflicht angesehen. Ich musste helfen.« Am Ende war es also ein intuitiver moralischer Imperativ. Die innere Freiheit zur Entscheidung. Die Freiheit zum Nein. Beitz sagt es ausdrücklich: »Es gibt im Leben Momente, in denen man den Mut haben muss, Nein zu sagen.« Jede Biographie wird von ganz wenigen Augenblicken bestimmt, auf die es wirklich ankommt. Es sind dann fast immer Fragen, auf die es nur eine knappe Antwort gibt: Ja oder Nein. Nein kann heroisch sein. Nein kann Leben retten. Und: Ein Nein kann die eigene Würde wahren.

Das Nein befreit. Zum Wesen der Freiheit gehört der Widerspruch. Vorausgesetzt, er wird nicht zum Selbstzweck. Nein kann auch nur bockig sein. Der Geist, der stets verneint, der Nein-Nörgler und Nihilist ist kein Freiheitskämpfer. Er wagt nicht, er ist nur verbissen oder destruktiv. Er wagt das Nein nicht, er spielt mit dem Nein. Die echte Freiheit zum Nein aber ist immer ein Risiko. Sie kann Verlust bedeuten: Harmonie, den Besitz, das Leben. Wer den Mut zum Nein hat, ist ein Freund der Freiheit; der nickende Befehlsempfänger und der unterwürfige Jasager sind ihre Feinde. Freiheit ist nicht bequem. Freiheit ohne Verantwortung ist keine Freiheit.

Als ich anfing zu schreiben, wollte ich die Freiheit durchsetzen wie ein trotziges Kind seinen Willen. 1983 bot ich als freier Musikkritiker der Frankfurter Allgemeinen einen Artikel über den Reggae-Sänger Peter Tosh an. In meinem nur mäßig gelungenen Text kritisierte ich die Entscheidung der Stadt München, den Auftritt von Peter Tosh zu verbieten, der in seinen Songs den Konsum von Drogen verherrlichte. Drogenverharmlosung fand ich nicht in Ordnung, Auftrittsverbote erst recht nicht. Der diensthabende Redakteur bat mich, diese Sätze herauszustreichen, weil sie die Leser der FAZ irritieren könnten. Man könne das Auftrittsverbot doch gut nachvollziehen. Ich sagte: Nein. Der Artikel erschien, ungekürzt. Für mich, den gerade 20-Jährigen, ein Sieg, wenn auch ein etwas unreifer. Eine Petitesse, die mir damals aber alles bedeutete.

Zweieinhalb Jahrzehnte nach diesem Schlüsselerlebnis – ich war inzwischen Vorstandsvorsitzender der Axel Springer AG – beschwerte sich bei mir ein Leser über einen Leitartikel in der Welt. Mit gutem Grund, wie ich fand, die Meinung des Kommentators hatte mich genauso geärgert wie den Briefschreiber. Ich antwortete: »Sie sprechen mir mit Ihrer Kritik aus dem Herzen. Aber glücklicherweise schreiben in diesem Hause nicht immer alle, was ich für richtig halte.« Rosa Luxemburg hat einfach recht: »Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden.«

Freiheit ist autoritätskritisch. Sie erlaubt und fördert den Widerspruch. Freiheit ist die beste Freundin des Nein.

»Imagine«

Ich warte auf Nathan Scharansky.

Die goldene Kuppel des Felsendoms leuchtet am frühen Abend über der Jerusalemer Altstadt wie die untergehende Sonne. Ich sitze unten auf der Terrasse des King David Hotels und beobachte drei Kinder, die sich mit einem Computerspiel beschäftigen. Ein Liebespaar blickt schweigend in den blauen Himmel, der Kellner schreibt eine SMS.

Meine Eltern haben mich zum Pazifisten erzogen. Mein Vater ist gegen Ende des Zweiten Weltkrieges als 16-jähriger Flakhelfer von einem Erschießungskommando an die Wand gestellt worden. Im letzten Moment rettete ihn ein amerikanischer Offizier. Stop it, das ist doch noch ein Kind, muss er gerufen und die Aktion der in Rage geratenen Soldaten abgebrochen haben. In einem Gefangenenlager in Cherbourg an der französischen Atlantikküste verbrachte mein Vater beinahe ein Jahr, er wäre fast verhungert. Ich wurde konsequent antimilitaristisch erzogen. Immer wieder erzählte mein Vater unter Tränen von seinen Erlebnissen. Er lehnte jede Form des Krieges, auch den sogenannten gerechten Krieg, grundsätzlich ab. Es war ein in schwarzen, bitteren Nächten gereiftes Credo, ein biblisches Familiengebot: Gewaltfreiheit steht über allem. Ich halte mich bis heute daran. Auf die Haltung meines Vaters bin ich stolz. Auf die Konsequenzen, die ich daraus gezogen habe, keineswegs. In einen Krieg könnte ich nicht ziehen. Ich schäme mich für diese Einstellung. Denn im Grunde sage ich damit: Andere sollen die Kastanien aus dem Feuer holen.

Da kommt Nathan Scharansky. Er ist nicht sehr groß, so dass es bei meiner Länge immer ein bisschen komisch wirkt, wenn wir uns begrüßen. Wir schütteln die Hände und lachen über uns, das ungleiche Paar.

Nathan Scharansky, von 2001 bis 2003 stellvertretender Regierungschef in Israel, wuchs in der Sowjetunion auf. Er ist Mathematiker und Schachspieler. Einmal besiegte er sogar Garri Kasparow. Er arbeitete für Andrej Sacharow und schloss sich früh der russischen Bürgerrechtsbewegung an. 1977 wurde er wegen »antisowjetischer Agitation und Propaganda« zu insgesamt 13 Jahren Haft und Arbeitslager verurteilt, wovon er neun Jahre im sibirischen Gulag Perm 35 verbrachte. Was er erleben und erdulden musste, übersteigt jede Vorstellungskraft. Unerträgliche Kälte, Einsamkeit, Hunger, Schmerzen. Jeden Tag psychische und physische Torturen: gezielt, grausam, erbarmungslos. Und immer lauerte die Verlockung, dass alles sofort zu Ende und ausgestanden sein könnte, wenn er sich nur zu einer winzigen Kleinigkeit bereit erklären würde.

Scharansky erzählt mir an diesem Abend, dass ihm im Lager immer wieder ein Geschäft angeboten wurde: Man könne ihm die Folter ersparen, ja sogar die Freiheit schenken, wenn er nur bereit sei, ein paar relativierende, entschuldigende Sätze über seine »antisowjetischen Aktivitäten« zu sagen. Ein Satz nur, ein Zitat. Warum hat er es nicht getan? Was gab ihm die Kraft dazu?

Ich wusste, sagt Scharansky, dass ich jeden Tag umgebracht werden konnte. Ich spürte in jedem Moment die Bedrohung. Der Tod war ganz nah. Aber ich wusste auch: Mit einem einzigen Satz würde ich das verlieren, was mich wirklich am Leben gehalten hat: meine innere Freiheit. Die zu verlieren, hat mich am meisten geängstigt.

Der teuflische Deal, den man ihm anbot, war ein Tausch: die geistige Freiheit gegen die körperliche Freiheit, seine Würde gegen sein Leben. Es war ein Machtspiel. Die Supermacht Sowjetunion gegen den kleinen Dissidenten. Scharansky aber verweigerte nicht aus Trotz jeden Kompromiss, sondern weil er wusste: Meinen Körper, mein Leben können sie mir nehmen, jederzeit – meine innere Freiheit, meine Selbstachtung dagegen nie. Das, nur das hat mich damals am Leben erhalten, sagt Scharansky. Für meine innere Freiheit nahm ich den Tod in Kauf.

Und dann sagt Scharansky etwas für mich Unfassbares: John Lennons Song »Imagine« ist ein Antifreiheits-Lied. Ich antworte: Ich verstehe nicht ganz, dieses wunderbare Lied ist doch die Hymne einer ganzen Generation, die sich Frieden, Freiheit und Freizügigkeit auf die Fahnen geschrieben hatte. »Imagine« ist definitiv ein Freiheits-Song. Scharansky hält dagegen: Freizügigkeit ja, Freiheit nein. In Lennons Lied heißt es: Stell dir vor, es gibt nichts, für das es wert ist zu sterben! Für Lennon war das der Wunschtraum. Für mich, sagt Scharansky, ist es der Alptraum. Er sieht in dieser Zeile von Lennon eine gefährliche Form von Kulturrelativismus. Das Ende der Freiheit, eine Kapitulation des selbstbestimmten Lebens vor der schieren biologischen Existenz. Unfreiheit ist Sterben vor dem Tod.

Imagine: Wenn es nichts gäbe, für das es sich lohnte zu sterben, würde es längst kein Israel mehr geben. Imagine: Wenn es nichts gäbe, für das es sich lohnte zu sterben, hätte es keinen Aufstand im Warschauer Ghetto gegeben, der bis heute Millionen von Juden auf der Welt Selbstachtung und Stolz vermittelt. Imagine: Wenn es nichts gäbe, für das es sich lohnte zu sterben, hätte es auch das Attentat auf Adolf Hitler vom 20. Juli 1944 nicht gegeben, und wenn es Claus Schenk Graf von Stauffenberg und andere nicht wenigstens versucht hätten, hätten die Deutschen ihren Respekt vor sich selbst gänzlich verloren.

Wenn Nathan Scharansky, der nach neun Jahren im Gulag am 11. Februar 1986 auf der Glienicker Brücke zwischen Berlin und Potsdam gegen Ost-Agenten ausgetauscht und in die Freiheit entlassen wurde, vergnügt lächelnd bei einer Portion Hummus seine Geschichte erzählt, hat das nichts Heroisches, nichts Pathetisches, nichts Triumphales. Es ist einfach so. Was er gedacht hat, in diesem Moment, als er auf der Brücke den »weißen Strich«, die Grenzlinie in die seit Jahrzehnten ersehnte Freiheit überschritt? Nun, ich hatte im Lager statt eines Gürtels nur eine Schnur bekommen, sagt Scharansky, um meine viel zu weite Hose festzubinden. Und ausgerechnet auf der Glienicker Brücke riss diese Schnur, als ich aus dem Auto stieg. Beim letzten Schritt in die Freiheit hatte ich also nur einen Gedanken: Hoffentlich rutscht mir jetzt nicht die Hose. Scharansky lacht über das ganze Gesicht, er freut sich einfach über sein nun schon seit vielen Jahren andauerndes neues Leben.

Scharansky lebt seit seiner Freilassung in Israel. Er geht früh an diesem Abend. Er möchte noch Zeit mit seiner Frau verbringen, die anderthalb Jahrzehnte auf ihren Mann gewartet und um ihn gekämpft hat. Ich kenne wenige Menschen, die so glücklich und zufrieden sind und in sich ruhen wie dieser Mann, der immer lacht, manchmal übers ganze Gesicht, und immer auch mit den Augen. Seine Botschaft ist einfach: Verteidigt Eure Freiheit mit allen Mitteln. Die Kapitulation vor der Unfreiheit ist der Tod. Freiheit ist Leben.

Imagine: Wenn der amerikanische Offizier damals, am D-Day, nicht sein Leben im Kampf gegen deutsche Unfreiheit riskiert hätte – dann hätte er auch meinem Vater nicht das Leben retten können.

»Na, dann gehen Sie dochgleich zu Springer«

Im Büro des Vorstandsvorsitzenden von Gruner + Jahr herrschte Unmut. Die Wochenpost hörte nicht auf, Verluste zu machen. Alle Konzeptänderungen und Chefredakteurswechsel der ehemaligen DDR-Wochenzeitung konnten daran nichts ändern. So könne es nicht weitergehen, wusste das Controlling. Man müsse das Blatt einstellen, war die Mehrheitsmeinung im Vorstand. Nur der Vorstandsvorsitzende Gerd Schulte-Hillen wollte noch nicht so richtig. Endlich mal eine Zeitung, die man selbst gerne liest. Und ich, seit zwei Jahren sein Assistent, bestärkte ihn darin. Das Blatt sei fabelhaft, seine Geschichte, seine gesamtdeutsche Rolle, seine Autoren, man dürfe nicht den Marktforschern glauben, man könnte, man müsste nur mal … »Dann probieren Sie es doch selbst«, sagte Schulte-Hillen, als man lange und erfolglos einen neuen Redaktionsleiter gesucht hatte. So wurde ich, gerade 31 Jahre alt, Chefredakteur der Wochenpost. Eine Fehlbesetzung, meinten die einen. Ein Himmelfahrtskommando, sagten die anderen. Recht hatten beide. Johannes Gross kommentierte die überraschende Personalie: Grämen Sie sich nicht, der Herr schickt seine liebsten Schafe auf die magersten Weiden.

Das Blatt prosperierte in der DDR als systemtreue Zeitung mit latent systemkritischen Untertönen, jetzt im wiedervereinigten Deutschland bestand die Redaktion zur Hälfte aus alten SED-Mitgliedern und aus versprengten Alt-68ern. Die einen forderten statt Reisefreiheit nun die Bleibefreiheit, die anderen wollten ihren gestauten Revolutions-Elan jetzt bei einer ehemaligen DDR-Zeitung ausleben. Dazwischen ein paar Begeisterungsfähige aus Ost und West. Die Atmosphäre in der Redaktion glich einer Wohngemeinschaft. Die Arbeit war »ein Projekt«. In jeder Diskussion ging es »ums Ganze«. Auf einen komplett unerfahrenen Chefredakteur wie mich hatten alle gerade noch gewartet. Der Leiter des Auslandsressorts gab nach ein paar Wochen einen Artikel über den Nahostkonflikt in Auftrag, der an Einseitigkeit schwer zu übertreffen war. Die Palästinenser wurden in einem Schwarz-Weiß-Gemälde als die alleinigen Opfer geschildert, die Israelis gleichsam als Stoßtrupp einer jüdischen Weltverschwörung, die den Palästinensern an die Existenz wollten. Ich empfand den Text als undruckbare, ziemlich unverblümt antisemitische Propaganda. Ich sagte: Nein. Den Artikel veröffentlichen wir nicht. Auf der folgenden Redaktionskonferenz gab es einen gut vorbereiteten Aufstand: Hiermit, so erklärte mir in schönster ostwestdeutscher Einmütigkeit das Redaktionskollektiv, sei nun endgültig eine Grenze überschritten. Eine Betriebsrätin, als strammes SED-Mitglied seit der Wende vorsichtshalber in der Leserbriefredaktion geparkt, deklamierte unter Tränen, die Pressefreiheit sei in Gefahr, der Text müsse erscheinen. Ich ging in die Offensive und sagte: Meinungsfreiheit und Vielfalt können kein Vorwand für Engstirnigkeit sein. Wir drucken alles, was klug ist, es sei denn, es widerspricht der deutschen Verfassung. Hinzu kommen drei Grundwerte, für die diese Zeitung, allein schon aufgrund ihrer Geschichte, stehen sollte: für die deutsche Wiedervereinigung, für die Marktwirtschaft und für die Bekämpfung jeder Form von Antisemitismus. Deshalb halte ich diesen antiisraelischen und antisemitischen Text für undruckbar. Im Konferenzraum stieg der Adrenalinspiegel. »Na, dann gehen Sie doch gleich zu Springer, da steht so was in den Verträgen«, bellte ein Ressortleiter in die Runde. Ich war verdutzt. Denn dass es bei Axel Springer Präambeln gab, die etwas sehr Ähnliches formulierten, davon hatte ich damals keine Ahnung. Dass ich deshalb später zu diesem Verlag ging, wäre Legendenbildung. Aber ich wurde neugierig.

Die Freiheitsfalle

Wir leben in einer ziemlich heilen Welt, in einer freien Welt. Und die Freiheit scheint auf dem Vormarsch zu sein, in Ägypten, in Libyen und anderswo. Der arabische Frühling weckt Hoffnungen. Der Tod Osama Bin Ladens ist ein symbolischer Sieg der freien Welt. Eine Befreiung von einem Mann, der Inbegriff des Terrorismus war. Die Generation Facebook schafft reale Freiheitsbewegungen, soziale Netzwerke werden zu Foren der Transparenz und Toleranz. Mehr Freiheit schien nie.

Und doch ist die Freiheit bedroht, vor allem durch die Schwächung Europas, den radikalen Islamismus, den Staatskapitalismus Chinas und die Abschaffung der Privatsphäre im Internet.

Europa war die Wiege der Freiheit. Es waren Europäer, die auf der Flucht vor feudaler Willkür und religiöser Intoleranz nach Amerika ausgewandert sind, um dort ihre Freiheitsideen und ihren »pursuit of happiness«, ihr Streben nach Glück, zu verwirklichen. Aber Europa ist nicht mehr das, was es zu sein glaubt. Europa ist führungslos und konzeptlos. Europa ist wirtschaftlich geschwächt und kämpft um das Überleben seiner Währung. Europa ist – im globalen Maßstab – keine erstrangige Ordnungsmacht und auch keine moralische Instanz. Europa ordnet nichts mehr, auf dem Balkan nicht, im Nahen Osten nicht, in Afrika nicht, in Asien sowieso nicht. Als es etwa in der Libyen-Frage darauf ankam, enthielt sich Deutschland vorsichtshalber, Seit an Seit mit China und Russland. Die Europäer bestaunen und kommentieren, wie Amerikaner, Chinesen, Inder, Brasilianer oder Araber die Welt verändern. Die Verteidigung der Freiheit als universaler Wert hat in Europa kaum noch eine kraftvolle Stimme. Die alte Welt ist alt geworden.

Auf ein derart geschwächtes Europa trifft der Islamismus: So sehr sich die Menschen über die Revolutionen in der arabischen Welt freuen und das Ende Osama Bin Ladens als Genugtuung empfinden: Der Islamismus, also die radikalisierte Form des Islam, ist nicht am Ende. Er missbraucht und verzerrt den Koran für seine gewaltverherrlichenden Ziele. Die religionsfanatischen Terrorkommandos ähneln einer Hydra. Zahlreiche Nachwuchs-Bin-Ladens warten auf ihre Chance. Und in den Ländern des arabischen Frühlings droht die demokratische Legitimation des Totalitären: Was, wenn in freien Wahlen – etwa in Ägypten – nicht friedliche Freiheitsfreunde, sondern radikale Islamismus-Parteien Mehrheiten bekommen? So sehr soziale Netzwerke ein Freiheitsverstärker sein können: Ein Facebook-Islamismus der jüngeren Generation ist nicht weniger gefährlich. Der fundamentalistische Teil der muslimischen Welt will unverändert eine andere, unfreiheitliche Gesellschaftsordnung, in der das Individuum nichts, das Kollektiv alles ist. Westliche Freiheitswerte sind in diesem Weltbild ein Ausdruck von Dekadenz und Gottlosigkeit. Freie Meinungsäußerung, freie Wahlen, freier wirtschaftlicher Wettbewerb, Glaubensfreiheit und freie Sexualität sind in der Weltordnung des Islamismus zu bekämpfen, zu Hause und weltweit. Dies geschieht durch totalitäre, religiös geführte Regimes, durch Parallelgesellschaften, die Demokratien unterminieren, und durch Terrorismus gegen »Ungläubige« auf der ganzen Welt. In einem tragischen Freiheitsmissverständnis wird dieser Kreuzzug gegen die Freiheit in weiten Teilen der westlichen Welt verharmlost. Und die Tatsache, dass ein Massenmörder in Oslo seinen Hass auf Muslime als Tatmotiv nennt, ermutigt die Verharmloser. Nach dem Motto: Wenn auch Christen zu so etwas fähig sind, kann es mit dem islamistischen Terror ja nicht so schlimm sein. Toleranz gegenüber der Intoleranz aber ist immer und überall das Ende von Toleranz und Freiheit.

Bedroht ist die Freiheit immer mehr auch durch den totalitären Staatskapitalismus Chinas: Mit dem spektakulären wirtschaftlichen Aufstieg einer großen Kulturnation ist in Asien eine hocheffiziente Alternative zum bewährten Modell einer demokratisch geordneten Marktwirtschaft entstanden. Galt bisher, dass Marktwirtschaft ohne Demokratie, also ohne Freiheit, nicht funktioniert, hat China den eindrucksvollen Gegenbeweis angetreten. Eine undemokratische, gelenkte Marktwirtschaft scheint sogar noch besser zu funktionieren. Der Architekt Norman Foster erzählt gerne und voller Begeisterung, wie schnell das von ihm entworfene neue Terminal des Pekinger Flughafens realisiert wurde: Baubeginn drei Monate nach der Wettbewerbsentscheidung, vier Jahre später Eröffnung. In dieser Zeit wäre in London oder in Berlin noch nicht einmal über das erste Bürgerbegehren gegen die Ausrichtung einer Landebahn entschieden worden. Nur: In Peking wurden keine Anwohner gefragt, ob und unter welchen Bedingungen sie dem Flughafen weichen wollen. Die Bagger rollten einfach an und rissen die Häuser ab. Freie Marktwirtschaft ist langsam und umständlich. Totalitäre Marktwirtschaft erscheint schnell und effizient. Schon beginnen in der bürgerlichen Mitte westlicher Industriegesellschaften hinter vorgehaltener Hand ernsthafte Diskussionen darüber, ob die Demokratie wirklich noch die optimale Gesellschaftsform im globalen Wettbewerb sei. Man sehe es doch: Mit gelenkter Demokratie – oder genauer: mit dem Staatskapitalismus Chinas – verkaufe ein Land mehr Autos eigener Hersteller als die »demokratische Quasselbude« Europa. Die Behandlung des Schriftstellers und Friedensnobelpreisträgers Liu Xiaobo oder die Verhaftung des Künstlers Ai Weiwei? Na ja, ähnliche Willkürakte gebe es doch in anderen Ländern auch. Die Frage ist: Wird sich in einer Generation das totalitärkapitalistische China der demokratischen westlichen Welt angenähert haben oder eher umgekehrt die westliche Welt dem großen Vorbild China?

Als weitere Freiheitsbedrohung erweist sich die totale Transparenz im Internet: Die Errungenschaften der digitalen Revolution, das World Wide Web, Suchmaschinen, soziale Netzwerke sind eigentlich große Verbündete der Freiheit. Der antiautoritäre Charakter, die niedrigen Eintrittshürden – jeder kann jedem jede Information jederzeit zur Verfügung stellen – stärken Meinungsfreiheit, Informationsvielfalt und Transparenz. Die Schattenseite: Datenschutz und Privatsphäre sind de facto abgeschafft. Von der Kreditkartennummer über Konsumgewohnheiten bis zu höchst privaten Hobbys wird fast alles beobachtet, überwacht und gespeichert. Insbesondere in den Händen unfreier politischer Systeme kann das Internet leicht als hypereffiziente Geheimpolizei und Spitzelinstanz missbraucht werden.

Neben Schwarmintelligenz befördert die Beschleunigungs- und Verstärkungsmaschine Internet auch die Schwarmdummheit, das virtuelle Ressentiment. Immer mehr rechts- und linksradikale, rassistische, antisemitische Dumpfheit und Hysterie drängen ins Netz. Unfälle werden zu Katastrophen, und Katastrophen werden zu seriellen Apokalypsen – was auf die Dauer nicht zur Sensibilisierung, sondern zur Abstumpfung des Publikums beiträgt. Die Möglichkeit, Kommentare abzugeben, die Basisdemokratie der Blogs oder Postings sind Segen und Fluch. Kontrolliert man sie, rufen die einen Zensur, kontrolliert man sie nicht, rufen die anderen Volksverhetzung. Das Netz ist Freiheitschance und Freiheitsbedrohung zugleich. Die digitale Welt ist janusköpfig.

Wir unterschätzen diese und viele andere Bedrohungen – aus naheliegenden Gründen. Je freier die Deutschen und die Europäer geworden sind, desto unwichtiger wurde ihnen die Freiheit. Das ist psychologisch verständlich. Was man nicht hat, will man erringen. Was man hat, nimmt man als gegeben, also selbstverständlich hin. Gesellschaftspolitisch ist diese Selbstzufriedenheit höchst gefährlich. Denn das, was man nicht aktiv verteidigt, kann leicht wieder abhandenkommen. Wir glauben, die Freiheit für immer zu besitzen. Und wir merken nicht, wie die Freiheit uns unter den Händen zerrinnt.

Wir Deutschen und wir Europäer sitzen in der Freiheitsfalle: Die Selbstverständlichkeit der Freiheit lähmt uns bei der Bekämpfung von Unfreiheit. Wir sind freiheitsträge. Vitale Demokratien sind wehrhafte Demokratien. Demokratien in Europa aber wirken immer häufiger wehrlos. Oder einfach müde.

Das Fatale an der Freiheitsfalle ist, dass man nicht merkt, wenn man in ihr gefangen ist. Denn sie schnappt nicht zu, sie tut nicht weh. Zum Wirkungsmechanismus der Freiheitsfalle gehört es, dass sie ihren Gefangenen das Gefühl vermittelt, es sei alles in Ordnung. Man muss nicht strampeln, um frei zu sein oder frei zu kommen. Man ist es ja. Noch.

Die Freiheitsfalle fängt uns mit zwei Mechanismen. Zum einen: Der Freiheitsbesitzer genießt die Freiheit, er nimmt sie als Naturgesetz hin und verkennt oder verharmlost oder merkt nicht, dass man ihm nehmen könnte, was er besitzt. Zweitens: Sobald er es merkt, also dann, wenn Freiheitsberaubungen evident sind, verteidigt er die Freiheit mit einem strukturellen Nachteil gegenüber denjenigen, die sie angreifen: Freie Gesellschaften können entweder mit demokratisch-freiheitlichen Mitteln kämpfen, also ohne Zensur, ohne Folter, ohne Terror – dann besteht die Gefahr, dass sie machtpolitisch (oder militärisch) unterlegen sind. Oder sie benutzen die Mittel ihrer Feinde – siehe Guantanamo –, dann geben sie sich moralisch auf und verraten ihre eigenen Werte.

Das Gift der Freiheitsvergessenheit wirkt wie ein Opiat: Es betäubt, es schläfert ein, es schafft die schönsten Gefühle. Und wenn man wach wird, ist es zu spät, dann fehlt die Kraft.

Wer die Freiheit nicht verteidigt, verliert sie. Wer die Freiheit mit den falschen Mitteln verteidigt, verrät sie. Von diesem Dilemma handelt mein Buch. Es soll Freiheit nicht definieren, es will Freiheit nicht interpretieren, es kann auch keine Handlungsanweisungen geben. Es analysiert Freiheitsgefährdungen und schildert subjektive Freiheitserlebnisse: meine Freiheit.

Trotzdem

Wenn Meinungen und Überzeugungen zu eindeutig daherkommen, reizt es mich, das Gegenteil von dem zu sagen, was mein Gegenüber erwartet, oder das Gegenteil von dem, was die Mehrheit für richtig hält. Es ist ein Reflex nach dem Prinzip Thomas Manns: »Ich lehne mich instinktiv nach links, wenn der Kahn rechts zu kentern droht – und umgekehrt.«

Wie neulich in Berlin bei einem gepflegten bürgerlichen Abendessen außerordentlich netter, allgemein als konservativ eingestufter Gastgeber: Unter den Hauptwerken einer beachtlichen Sammlung zeitgenössischer Kunst plätscherte das vom Weißwein beförderte Tischgespräch dahin und nahm Kurs auf die in diesen Tagen verbreitete Klage über die Prinzipienlosigkeit unseres politischen Führungspersonals. Ich wüsste ein Gegenbeispiel, warf ich plötzlich, wie vom Hafer gestochen, in die Runde. Irritierte Blicke. Aber ich kann es nicht nennen, man wird mich sonst nie wieder einladen. Erleichtertes Lachen. Auffordernde Zurufe, nicht länger hinterm Berg zu halten und den geheimnisvollen Prinzipien-Politiker zu nennen. Nein, nein, kokettierte ich weiter, es geht nicht, wirklich. Die Nennung des Namens würde mich den Rest meiner Reputation kosten und außerdem die gute Stimmung des Abends verderben. So ging es eine Weile hin und her. Bis ich schließlich den Namen des Leibhaftigen aussprach. Man darf in Deutschland fast alles, den Papst als Verbrecher beschimpfen, zusammen mit Anhängern der Hamas demonstrieren, nur eines darf man nicht, über ihn ein gutes Wort verlieren, den 43. Präsidenten der Vereinigten Staaten: George W. Bush.

Ein Botschafter schlug betreten die Augen nieder, die Gastgeberin entzog mir im Bruchteil einer Sekunde die mühsam aufgebaute Empathie, ein Journalist fiel mir barsch ins Wort, bevor ich auch nur den Hauch einer Begründung geliefert hatte, der Gastgeber rang um Fassung. Die höflichste Reaktion stammte von einem anwesenden Kunstsammler, der nur meinte, er wolle jetzt gar nichts dazu sagen und zunächst einmal in Ruhe nachdenken. Was erstens typisch für einen Kunstsammler war und zweitens diplomatisch ausgedrückt so viel hieß wie: Themenwechsel, aber sofort! Nach Witzen jedenfalls war niemandem mehr zumute. Die gute Stimmung war dahin, und ich fürchte, eingeladen werde ich auch nicht mehr.

Ich mag klare Thesen. Keine Gewissheiten. Gewissheiten sind oft autoritär. Und besonders unsympathisch sind sie, wenn sie als selbstgerechte Gewissheiten, also selbstgewiss daherkommen. Besser ist das Infragestellen, die Debatte, gerne auch der polemische Diskurs. Oder, wie der Schriftsteller Theodor Fontane seinen ebenso freiheitsliebenden Romanhelden Dubslav von Stechlin sagen lässt: »Unanfechtbare Wahrheiten gibt es überhaupt nicht, und wenn es welche gibt, so sind sie langweilig.«

Das vorliegende Buch ist in diesem Sinne anfechtbar. Schreiben ist für mich wie für andere Leute Sport. Ich spiele nicht Golf, ich laufe keinen Marathon, ich bezwinge keine Buckelpiste und ich klettere in keiner Steilwand. Ich schreibe gern. Ich formuliere manchmal überspitzt. Als ich Anfang der 1980er Jahre als Redaktions-Praktikant auf einem Flur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit Marcel Reich-Ranicki über eine Operninszenierung von Ruth Berghaus ins Gespräch kam, hatte der wie stets eine klare, in diesem Fall vernichtende Meinung. Aber ist das nicht etwas übertrieben, Herr Reich-Ranicki, fragte ich, weil mir kein Argument mehr einfiel. Natürlich, orgelte er, aber merken Sie sich, junger Mann: Man muss übertreiben, um verstanden zu werden! Ich habe es mir gemerkt. Einerseits-Andererseits ist meine Sache nicht. Ich liefere das Einerseits. Das Andererseits überlasse ich anderen.