Die Freimaurer und ihr Geheimnis - Martin Haidinger - E-Book

Die Freimaurer und ihr Geheimnis E-Book

Martin Haidinger

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Beschreibung

»Dann ist es wie von Geisterhand passiert …« Seit mehr als 300 Jahren ist die Freimaurerei mit ihren Geheimnissen die bekannteste aller diskreten Gesellschaften. Geschichten und Gerüchte ranken sich um sie, von sagenhaftem Einfluss auf Politik und Gesellschaft ist dabei die Rede, aber auch von Weisheit und Wohltätigkeit. Die reguläre Freimaurerei betreibt keine Öffentlichkeitsarbeit zumindest nicht in Österreich. Sie kennt keine Tage der offenen Tür, veranstaltet keine Nachwuchsseminare. Die Gründe dafür sind vielfältig: Stellt man sich als harmloser Herrenclub dar, wird man banal und uninteressant. Betont man zu sehr das Geheimnisvolle, könnten falsche Erwartungen geweckt werden. Und auf Verschwörungstheorien und andere teils absurde Anwürfe von außen reagiert die Freimaurerei erst recht nicht. Welcher eingefleischte Gegner würde ihr auch Glauben schenken? Umso bemerkenswerter ist es, dass sich der amtierende Großmeister der Großloge von Österreich Georg Semler den kritischen Fragen eines Journalisten stellt, der sich seit Jahren in Büchern und Medienprodukten mit Männerbünden beschäftigt, die öffentlich oder unter der Haut der Gesellschaft existieren und arbeiten.

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MARTIN HAIDINGER

DIE FREIMAURER UND IHR GEHEIMNIS

12 FRAGEN AN DEN GROSSMEISTER GEORG SEMLER

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Autors unzulässig.

© Erhard Löcker GesmbH, Wien 2023

Umschlagmotiv, Fotos: B. M.

Umschlaggestaltung, Layout, Satz: Fhöni Klapper

Transkript: Ing. Michael Mossgöller

Lektorat: Martin Bruny

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH

ISBN 978-3-99098-179-5

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Prolog

Der Autor und der Grossmeister

Zum Geleit

Das Geheimnis

Der Zweck der Arbeit

Wer ist würdig? Und wer nicht?

Die Loge als Raum

Die Loge als Ereignis

Das Ritual

Die Grade

Erkenntnis statt Glaube?

Der Weltenbund

Hochgrade: Mythos und Realität

Falsche Flaggen und fremde Federn

Verklärte Macht: Anspruch und Einfluss der Freimaurerei und ihre Grenzen

Epilog

PROLOG

„Dann ist es wie von Geisterhand passiert …“ Seit mehr als 300 Jahren ist die Freimaurerei mit ihren Geheimnissen die bekannteste aller diskreten Gesellschaften. Geschichten und Gerüchte ranken sich um sie, von sagenhaftem Einfluss auf Politik und Gesellschaft ist dabei die Rede, aber auch von Weisheit und Wohltätigkeit. Die reguläre Freimaurerei betreibt keine Öffentlichkeitsarbeit – zumindest nicht in Österreich. Sie kennt keine Tage der offenen Tür, veranstaltet keine Nachwuchsseminare. Die Gründe dafür sind vielfältig: Stellt man sich als harmloser Herrenclub dar, wird man banal und uninteressant. Betont man zu sehr das Geheimnisvolle, könnten falsche Erwartungen geweckt werden. Und auf Verschwörungstheorien und andere, teils absurde Anwürfe von außen reagiert die Freimaurerei erst recht nicht. Welcher eingefleischte Gegner würde ihr auch Glauben schenken? Umso bemerkenswerter ist es, dass sich der amtierende Großmeister der Großloge von Österreich Georg Semler den kritischen Fragen eines Journalisten stellt, der sich seit Jahren in Büchern und Medienprodukten mit Männerbünden beschäftigt, die öffentlich oder unter der Haut der Gesellschaft existieren und arbeiten.

DER AUTOR UND DER GROSSMEISTER

Prof. Mag. Martin Haidinger, geboren 1969 in Wien, Historiker und Journalist, Wissenschaftsredakteur des ORF-Radios, Leiter der Ö1-Sendereihen „Salzburger Nachtstudio“ und „Science Arena“, beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Männerbünden und diskreten Gesellschaften. Zahlreiche Buchpublikationen (darunter: „Unter Brüdern“), Vorträge und Beiträge für internationale Medien (Deutschlandfunk, WDR, NZZ, „Die Presse am Sonntag“, „Kurier“, „Wiener Zeitung“, „Die Furche“ …).

Dr. Georg Semler, geboren 1958 in Wien, Unternehmer, ist seit mehr als 30 Jahren Freimaurer, war mehrmals Meister vom Stuhl (Vorstand) seiner Loge und ist seit 2014 Großmeister der Großloge von Österreich (GlvÖ). Er vertritt die Interessen von 3800 Freimaurern in 83 Logen im ganzen Bundesgebiet.

ZUM GELEIT

„Wirklich? Wollen die das?“, fragt mich ungläubig mein Freund, ein bekannter Wiener Schauspieler, nachdem ich ihm erzählt habe, dass ich dabei bin, ein Buch über die Freimaurer und ihr Geheimnis zu schreiben. Ja, tatsächlich, die wissen davon und sind gesprächsbereit!

Aber wie veröffentlicht man das Geheimnis eines „Geheimbundes“? Ist das nicht ein Widerspruch in sich? Gewiss, es wäre nicht der erste in der mehr als 300 Jahre alten, offiziell bekannten Geschichte dieser diskreten Gesellschaft „freier Männer von gutem Ruf“. Und gibt’s da nicht bereits genug Literatur, die das ganze Spektrum von nüchterner Datenaufzählung bis hin zu wildesten Verschwörungstheorien bedient? 2.150.000 Nennungen zeitigt das Wort „Freimaurer“ allein in der deutschsprachigen Wikipedia. Muss da nicht schon längst alles irgendwo irgendwie von irgendwem gesagt worden sein?

Nun, wer sich tiefer in die Materie begibt, merkt bald, dass die Flut an Büchern, Daten und Gerüchten das Bild nicht klarer, sondern zusehends unschärfer macht. Vor allem im Internet mischt sich bemerkenswert offen Erzähltes aus dem „Inner Circle“ der Wissenden mit erkennbarem Schwachsinn, realistisch Erscheinendes mit offenkundig Erfundenem. Dazu kommen noch reine PR-Artikel masonischer (das heißt freimaurerischer) Institutionen, vor allem aber die umfangreichen Publikationen der geschworenen ideologischen Gegner der Freimaurerei, die mehr oder weniger offen mit einem Kampfauftrag agieren – meistens betulich, polemisch, wenig informativ und für den Wahrheitssucher unbefriedigend. Wie um alles in der Welt soll man da zum wahren Kern vordringen?

Freimaurerei: Die große Unbekannte nannte der Jesuit Michel Dierickx sein berühmtes Buch, das 1967 in den Niederlanden erschienen ist und seither in viele Sprachen übersetzt wurde. Und auch wenn dieser Autor als katholischer Geistlicher aus historischen Gründen eine spezielle, in seinem Fall durchaus nicht abschätzige Haltung zur Freimaurerei hatte, so gibt es doch ein buntes Spektrum von Autoren jeder Religion, Ideologie und Weltanschauung, die nicht derart um Objektivität in der Sache und Sorgfalt in den Details bemüht sind wie Dierickx und die offensichtlich im Dunkeln tappen. Ja mehr noch: Könnte es sein, dass die Freimaurerei Rätsel birgt, die vielleicht nicht einmal alle Freimaurer selbst für sich gelöst haben?

Grund genug, sich mit kritischen Fragen zu dieser großen Unbekannten an einen Mann zu wenden, der schon aus seiner Funktion heraus Antworten geben kann, ja geben sollte. Denn ein Großmeister ist nicht nur das auf Zeit gewählte Oberhaupt einer Großloge, eines Dachverbands von Freimaurerlogen eines Landes oder einer Region, sondern auch als „Außenminister“ dieser Körperschaft das Sprachrohr nach außen, in die „profane“ Welt, wie die Freimaurer sie zu nennen pflegen.

Zwölf Gespräche mit Georg Semler, dem seit 2014 amtierenden Großmeister der „Großloge von Österreich der Alten, Freien und Angenommenen Maurer“, sollen Licht ins Dunkel einer Welt von Geheimnissen bringen, durchaus mit dem Anspruch des „Zauberlehrlings“ in den Worten des Freimaurers Johann Wolfgang von Goethe:

DENN ALS GEISTER RUFT EUCH NUR ZU SEINEM ZWECKE, ERST HERVOR DER ALTE MEISTER.

Und tatsächlich lichtet sich der Nebel von Kapitel zu Kapitel, werden immer mehr Konturen einer diskreten Gesellschaft erkennbar, die so viele Menschen seit Jahrhunderten positiv wie negativ fasziniert. Unser Rundgang in die Welt der Geheimnisse beginnt – ausgerechnet – in aller Öffentlichkeit!

DAS GEHEIMNIS

Wir treffen Georg Semler in einem Wiener Kaffeehaus, seit jeher der Tummelplatz jener, die laut dem Literaten Peter Altenberg nicht zu Hause und doch nicht an der frischen Luft sein wollen. Hier wird Zeitung gelesen, Privates wie Geschäftliches verhandelt und auch eifrig belauscht, was die Leute an den Nebentischen plaudern – es gibt kaum einen öffentlicheren, einen indiskreteren Verweilort. Semler ist im profanen Leben Unternehmer und wirkt vollkommen ruhig und souverän. Liegt es daran, dass das Extrazimmer des Cafés noch leer ist? Nein, auch dass wir hier bald von neugierigen Ohren umzingelt sein könnten, stört ihn nicht …

MARTIN HAIDINGER: Großmeister Semler, was dürfen Sie eigentlich in diesem öffentlichen Raum über die Freimaurerei erzählen? Sie ist doch mit einem geheimnisvollen Touch ausgestattet. Was von diesem Geheimnis dürfen Sie denn hier ausplaudern?

GEORG SEMLER: Geheimnisvoll heißt nicht, dass alles einem Geheimnis unterliegt, aber es führt natürlich dazu, dass Menschen darin auch eine Projektionsfläche finden. Was ist denn nun wirklich geheim? De facto geheim sind die Mitgliederlisten und die Namen der lebenden Brüder, der lebenden Freimaurer. Und selbst das ist nur bedingt geheim, denn jeder kann über sich selbst sagen, dass er Freimaurer ist. Es ist nur in unseren Kreisen nicht üblich, dass man es über einen anderen sagt, denn Freimaurer handeln immer auf eigenes Risiko, und es ist mitunter risikobehaftet, sich zu erkennen zu geben. Dieses Wagnis soll jeder für sich selbst beurteilen und einschätzen.

HAIDINGER: Nicht in allen Ländern sind die Mitgliederlisten geheim. In Norwegen kann man sie angeblich sogar in der Buchhandlung kaufen. Dort gibt’s aber auch an den Prozentzahlen der Bevölkerung gemessen sehr viele Freimaurer. Man liest von 18.500 bei einer Einwohnerzahl von 5.400.000. Doch bleiben wir mal bei den Verhältnissen in Mitteleuropa, in Österreich: Hier sind’s ja nur 3800 Freimaurer (oder 4500, wenn man jene außerhalb der Großloge von Österreich mitrechnet) bei über neun Millionen Einwohnern …

SEMLER: Es hängt nicht so sehr mit den Mitgliederzahlen zusammen, sondern mit den historisch-politischen Verhältnissen. In Ländern mit katholischen Herrschern oder mit katholischer Staatsreligion stellte das Geheimnis eine Schutzfunktion dar. Denn die römisch-katholische Kirche hatte bekanntermaßen Probleme, nennen wir es Missverständnisse, mit der Freimaurerei. In evangelischen Ländern war und ist das weniger der Fall, weil es kaum Spannungsverhältnisse zwischen evangelischen Kirchen und der Freimaurerei gab, zumindest nicht in der lutherischen oder anglikanischen Variante. Dort konnten sich Freimaurer als solche meistens frei bewegen, und es brauchte kein Geheimnis als Schutz.

HAIDINGER: Was außer die Mitglieder gibt es denn überhaupt geheim zu halten? Die Rituale allein sagen ja für den Außenstehenden wahrscheinlich noch nicht viel darüber aus, worin das Geheimnis der Freimaurerei besteht.

SEMLER: Unsere Rituale sind immer wieder in die Öffentlichkeit gebracht worden, doch diese wusste damit nichts anzufangen. Es ist vielleicht wie beim Lesen einer Partitur. Selbst wenn man sehr gut Noten lesen kann, hört man deshalb noch lange nicht die Philharmoniker spielen. Das geschriebene Wort, die Beschreibung des Ablaufs, ist etwas völlig anderes als das gemeinschaftliche Erleben eines Rituals. Und das führt auch schon zu dem Geheimnis, das nicht verraten werden kann. Es besteht in der magischen Form, wie Brüder miteinander umgehen, wie sie das Gemeinsame erleben, erlebbar machen. Diese Atmosphäre, diese Emotion kann nicht verraten, die kann eben nur erlebt werden.

HAIDINGER: Das glauben Ihnen aber viele nicht, die argwöhnen, dass durchaus auch im rituellen Geschehen ein Geheimnis liegt. Sie haben gerade die Magie angesprochen, es muss doch mehr dahinter sein, denken sich viele Menschen, da muss doch etwas sein, was es offensichtlich um jeden Preis vor der Öffentlichkeit zu verbergen gilt.

SEMLER: Rituale verfolgen mehrere Ziele. Eines davon ist, Geborgenheit zu schaffen. Das liegt in der Redundanz und der Wiederholung der Gesten und Worte. Andererseits sollen Rituale Denkanstöße liefern, und das gelingt auch. Durch im Ritual aufgeführte Episoden werden Bilder geliefert, die in den Köpfen derer, die sich das anschauen und sich darauf einlassen, etwas machen. Es sind Impulse, die ausstrahlen. Diese Impulse können nicht verraten, sondern nur erlebt werden. Dazu ein Vergleich: Die Kunst bemüht sich seit Jahrhunderten, den Begriff Liebe zu beschreiben. Wir alle wissen, was Liebe ist, wenn wir sie erlebt haben, doch der noch so talentierteste und begnadetste Schriftsteller oder Musiker kann sich mit seinen Methoden dem Begriff Liebe bestenfalls annähern – er kann ihn aber nie endgültig erklären. Verstehen wird man das alles nur, wenn man es erlebt hat.

HAIDINGER: Nun hat aber jeder Mensch, ohne irgendwo initiiert zu sein, ohne in einen Kreis aufgenommen worden zu sein, die Chance, Liebe zu erfahren. Die Freimaurer sind allerdings ein exklusiver Verein, eine Vereinigung, wo das nicht jedem zuteilwird – nur wenn man „drin“ ist, nicht, wenn man „draußen“ ist.

SEMLER: Die Exklusivität wird oft missverstanden und mit einem sozialen Status verwechselt oder mit der wirtschaftlichen Situation, die jemand mitbringen muss. Um das geht es aber in der Freimaurerei überhaupt nicht. Hier kommen Menschen herein, die moralische Standards einhalten.

Es ist auch der Begriff „Eliten“ oft in einem rein negativen Zusammenhang konnotiert. Wenn man sie aber als moralische Eliten definiert, als Menschen, die ihre Werte ernst nehmen und ernsthaft leben und das auch in ihrem Leben verkörpern wollen, verliert dieser Begriff der Elite – der moralischen Elite – jeden negativen Beigeschmack, und es bleibt nur etwas Positives übrig.

Und das ist der Filter, nach dem wir unsere Mitglieder aufnehmen. Wir haben diese Standards seit über 300 Jahren, sie haben sich bestens bewährt. Daher wollen wir diese Standards und legen auf diesen moralischen Kompass, den jeder, der zu uns kommt, in sich haben muss, großen Wert. Alle anderen Dinge sind belanglos und spielen kaum eine Rolle.

HAIDINGER: Das Stichwort „Moral“ hängt mit dem Geheimnis insofern zusammen, als man, wenn man einem Moralbegriff anhängt, auch ein Wertesystem haben muss. Und das legt wiederum nahe, dass man einen Wertekanon erstellt hat, eine Art Katechismus. Dann kommt sogleich die Verdächtigung auf, dass die Freimaurerei so etwas wie eine Pseudoreligion sei, eine Sekte gar. Es gibt andererseits auch welche, vor allem aus dem katholisch-traditionalistischen Bereich, die behaupten: Das ist eine Antikirche! Wie begegnet man dem als Freimaurer, wo man doch nichts outen kann? „Nein diese Unterstellungen stimmen nicht, weil …“ – und bei diesem „weil“ stockt der Maurer schon, weil er ja keine Details erzählen darf, oder?

SEMLER: Es ist zugegebenermaßen etwas holprig, wenn man eine Sache in einem negativen Ausschlussverfahren erklären will, in dem man immer darauf herumreitet, was sie nicht ist. Natürlich kann ich Ihnen leicht begründen, warum die Freimaurerei keine Religion ist: Die katholische Kirche hat in den Anfängen der Maurerei geglaubt, dass das eine neue Modereligion wird, weil so viele – auch politisch einflussreiche – Menschen diesen Gedanken angehangen sind. Nur ist es keine Religion, und es ist alles andere als eine Sekte. Freimaurerei ist vielmehr so etwas wie ein Sammelbecken von Individualisten und viel weniger konform, als die meisten Menschen annehmen würden.

Ich werde manchmal gefragt, ob es zu einem bestimmten Thema eine Meinung der Freimaurer gibt, und ich erwidere, dass es dazu keine „Meinung der Freimaurer“ geben kann! In Österreich darf ich für 3800 Freimaurer sprechen, und deren Meinungen sind ganz unterschiedlich. Wenn ich sie alle zusammenfasse, kommt entweder als Kompromiss eine belanglose Plattitüde heraus, oder es ist eben ein differenziertes Bild mit 3800 Einzelmeinungen. Das erklärt schon, dass es bei aller Gemeinsamkeit sehr viel Individuelles gibt.

HAIDINGER: Aber diese Gemeinsamkeit bleibt ja doch ein wirkliches Rätsel – vielleicht auch für die Freimaurer selbst. Wenn Sie sagen, Sie haben 3800 Einzelmeinungen – was ist denn dann das tatsächlich Verbindende dieser Individualisten?

SEMLER: Das wirklich Verbindende sind einige Grundprinzipien, die Freimaurer einzuhalten gewohnt sind. Das ist der moralische Wertekompass, den sie haben …

HAIDINGER: Worin besteht der? Bei „Moral“ entstehen sofort Bilder im Kopf. Die strengen Christen sagen zum Beispiel so wie die Muslime: Kein Sex vor der Ehe! Das versteht man gemeinhin unter Moral. Haben auch die Freimaurer so strikte, ausschließende Richtlinien, die besagen: Wenn du das oder das tust, dann kannst du kein Freimaurer sein …

SEMLER: Auch das ist sehr individuell. Der Gradmesser für die Moral ist das persönliche Gewissen. Jeder reflektierte Mensch hat so etwas wie einen inneren Kompass. Wir sagen: Das Gewissen, diesen unerbittlichen Richter, der in deiner Brust wohnt, das kann dir niemand anderer oktroyieren. Es ist das Ergebnis deines Lebensweges, deiner Schule, die du durchlaufen hast, deiner Einflüsse, die du erfahren hast, und auch des Einflusses der Freimaurerei, dich in die richtige Richtung zu bringen, dass du ein „anständiges Leben“ führst, deine Entscheidungen nach anständigen Kriterien ausrichtest, dass es kein korrumpiertes System ist, sondern dass es auf den Menschen bezogen ist und auf das, was menschliche Moral ausmacht: die Humanität, das Verständnis für andere Menschen, Toleranz. Das sind die Grundprinzipien, die wir in unserer Brust tragen.

HAIDINGER: Das ist ja ein höherer Anspruch als so manche andere – sag ich einmal – Gesinnungsgemeinschaft hat. Denn wir sind doch umgeben von Parteien, Verbänden, politischen oder gesellschaftlichen Institutionen, die alle permanent auf dem Prüfstand stehen und von denen man oft sagt, sie seien verlottert, unmoralisch, korrupt … Schafft es die Freimaurerei, ihren hohen Standard einzuhalten?

SEMLER: Wir versuchen es. Freimaurerei ist die tägliche Arbeit an sich selbst, diesem Ideal näher zu kommen, wohlwissend, dass keiner von uns ein idealer Mensch ist. Wir haben das Bild des rauen Steins – das ist der Mensch, der sich noch nicht mit sich selbst beschäftigt und nach diesen Wertmaßstäben ausgerichtet hat. Dieser entwickelt sich zu einem glatten Stein – das ist ein Stein beziehungsweise ein Mensch, der eine derartige Moral in sich hat, dass er sich nahtlos in die Reihe moralisch geerdeter Menschen einfügen kann.

Was uns von anderen Organisationen, von Parteien, von Wirtschaftsverbänden oder was immer unterscheidet? Wir wollen keine Macht ausüben! Wir haben daher keine Zielsetzung in der Politik oder Wirtschaft, denn in diesen anderen Organisationen wird ja sehr oft nach dem Grundsatz verfahren: Der Zweck heiligt die Mittel. Wenn es um den Machterhalt oder den Machterwerb geht, ist sehr vieles zulässig. Wir aber streben nach keiner institutionellen Macht, nach keiner Weltherrschaft, keiner staatlichen Macht, sondern wollen in unserem Rahmen den Brüdern die Möglichkeit geben, sich mit sich selbst zu konfrontieren. Die Freimaurerei ist, richtig verstanden, eine Reise zu sich selbst, zu der man bereit ist, am Beginn seiner Tätigkeit aufzubrechen. Und schließlich stellt man fest, dass es eine unglaublich spannende Reise ist. Diese Reise zu sich selbst erfordert viel Mut, weil man mitunter draufkommt, dass man das eine oder andere in sich trägt, das vielleicht gar nicht so edel ist. Mit dem sollte man sich dann konfrontieren.

HAIDINGER: Kommen wir vielleicht wieder zurück zum Begriff des Geheimnisses. Sind die Freimaurer geheim, weil sie verfolgt wurden, oder wurden sie verfolgt, weil sie geheim sind?

SEMLER: Das ist eine spannende Frage … Es ist ein bisschen wie beim Henne-Ei-Problem, so wird wohl die Antwort lauten müssen. Möglicherweise haben sich die Freimaurer aufgrund der Verfolgung durch die katholische Kirche und dieses historischen Missverständnisses, dass sich hier eine neue konkurrierende Religion auftun wird, mehr nach innen gekehrt, weil sie sich von der Kirche nicht stören lassen wollten. Damit haben sie auch die Schotten dichtgemacht. Das wurde wiederum als Beweis dafür verwendet, dass sie etwas zu verbergen hatten, wobei es eine ganz normale menschliche Reaktion ist, dass man jemandem, der einem nicht gut gesinnt ist, nicht immer die Brust öffnet und ungeschützt gegenübertritt. Und das ist halt einfach ein Prozess gewesen, in dem sich beide Seiten wechselseitig aufgeschaukelt haben.