Die Freundinnen vom Strandbad - Julie Heiland - E-Book
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Die Freundinnen vom Strandbad E-Book

Julie Heiland

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Beschreibung

Ein berührender Sommerroman über die Zeit der deutschen Teilung  Ost-Berlin, an einem heißen Julitag 1956: Ein dramatischer Badeunfall lässt drei junge Mädchen zu unzertrennlichen Freundinnen werden. Obwohl sie aus sehr unterschiedlichen Verhältnissen kommen, teilen sie von nun an alles miteinander: Claras Träume von einem Leben im Westen, Bettys Liebe zum Film und einem regimetreuen Regisseur und Marthas Begeisterung für die FDJ. Die drei erleben die Höhen und Tiefen der ersten Liebe und streben gemeinsam nach Freiheit und Glück — nichts bringt sie auseinander. Bis schließlich der Bau der Mauer ihre Heimatstadt teilt und sie  vor der schwersten Entscheidung ihres Lebens stehen:  fliehen oder bleiben?   Große Gefühle für alle Fans von Weissensee und Charité *Besondere Ausstattung mit strukturiertem Umschlagpapier* Das Lesevergnügen geht weiter: Band 2: Die Freundinnen vom Strandbad. Wogen der Freiheit, August 2022

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Die Freundinnen vom Strandbad

Die Autorin

JULIE HEILAND hat Journalistik studiert und eine Schauspielausbildung absolviert, gibt sich mittlerweile aber voll und ganz dem Autorinnendasein hin. Sie lebt in Süddeutschland und kann sich im Sommer nichts Schöneres vorstellen als mit einem guten Buch im Strandbad zu liegen. Bei Ullstein ist von ihr bereits die Romanbiografie Diana. Königin der Herzen erschienen.

Julie Heiland

Die Freundinnen vom Strandbad

Wellen des Schicksals. Roman

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage Juni 2022© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2022Umschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, MünchenTitelabbildung: © SZ Photo / Scherl / Bridgeman ImagesAutorenfoto: © Heike UlrichE-Book-Konvertierung powered by pepyrusISBN 978-3-8437-2681-8

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Inhalt

Titelei

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

 

Prolog

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Rezepte

Danksagung

Leseprobe aus Band 2: Die Freundinnen vom Strandbad

Wogen der Freiheit

Betty

Anhang

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Prolog

Anmerkung

Anmerkung

Auch wenn dieser Roman vor dem Hintergrund wahrer politischer Ereignisse spielt, handelt es sich hierbei um eine fiktionale Erzählung.

Prolog

1956

Martha

Feierabend im Strandbad Müggelsee, schrieb Martha auf ihren Block und unterstrich die Überschrift.

17.45 Uhr: Das Strandbad leert sich, notierte sie. Eine junge Mutter packt Badetücher, Spielsachen und Sonnencreme in ihren Korb.

17.50 Uhr: Die Gymnastikgruppe macht Kniebeugen am Ufer.

17.51 Uhr: Uschi, Angestellte im kleinen Kiosk, ordnet die Auslage. Sie dreht das Radio lauter. Der Sprecher kündigt eine gewisse Mona Babtiste an.

»Heut liegt was in der Luft, in der Luft, in der Luft«, sang diese Mona.

17.52 Uhr: Uschi schwingt die Hüften.

Martha verlor sich im Anblick des Fischreihers, der am Rande der Anlage, dort, wo die Nackten lagen, am Wasser entlangstakste.

»Natürlich darfst du heute Nachmittag ins Strandbad Müggelsee«, hatte ihre Mutter gesagt. »Da spricht nichts dagegen, denn ich kenne mein kleines Mädchen und weiß, dass du so gewissenhaft bist, dort zu lernen. Vergnügen sollte immer mit Pflicht verbunden werden.«

»Protokolliere doch das Geschehen«, hatte ihr Vater vorgeschlagen. Wie immer hatte er großes Talent dafür bewiesen, in die Tageszeitung vertieft zu sein und sich trotzdem am Gespräch zu beteiligen. »Beobachte die Leute ein bisschen, hör hin, was sie untereinander reden. Du schreibst doch gern. Das ist sicher eine gute Übung. Ich würde das Protokoll dann auch lesen und dir Tipps geben.«

Martha mochte es, »Augen und Ohren offen zu halten«, wie ihr Vater sie angewiesen hatte. Sie stand nicht gern im Mittelpunkt, sondern beobachtete lieber. Nur leider schien sie immer das Falsche aufzuschnappen. »Fischreiher und Mode sind nicht von Interesse. Nimm dir doch ein Beispiel an deinem Bruder Ronny. Er weiß, welche Details man wie zusammenfasst«, würde es heute Abend wieder heißen.

Aber ihr ging es auch gar nicht darum, fremde Gespräche zu belauschen. Rezepte von Eisbein mit Erbspüree und Sauerkraut, Beschwerden über unfreundliche Verkäuferinnen oder halb leere HO-Läden waren nicht gerade das, was sie interessierte. Ihr ging es um die Menschen. Sie wollte ihr Verhalten ergründen, wollte unter die Oberfläche blicken.

»Ich könnte weinen und lachen und lauter Unsinn machen«,sang Uschi mit und traf die Töne eher schlecht als recht.»Heut liegt was in der Luft, ein ganz besonderer Duft, der so verlockend ruft!«

Es duftete wirklich verlockend, und zwar nach dem Prasselkuchen, den Uschi heute im Angebot hatte. Martha lief das Wasser im Mund zusammen. Sie seufzte, dann kratzte die Spitze ihres Füllers wieder über das Papier.

17.55 Uhr: Drei Frauen kommen von den Umkleiden. Sie tragen dasselbe gepunktete Kleid, aber an jeder von ihnen sieht das Modell ganz anders aus. Sie hakten sich beieinander ein, kicherten über etwas und stiegen die Freitreppe hinauf zur Dachterrasse. Wäre sie doch nur schon erwachsen, dann könnte sie auch hohe Schuhe und Lippenstift tragen und sich die Haare beim Friseur legen lassen, und Männer würden ihr die Tür aufhalten. Und ganz sicher würde sie ganz oft den Sonnenuntergang am Müggelsee bewundern, vielleicht sogar an einer der »wilden« Badestellen abseits vom Strandbad, die keine Öffnungszeiten kannten. Ihre Eltern hatten ihr natürlich verboten, dort schwimmen zu gehen.

17.57 Uhr: Ein Mädchen taucht an der großen Freitreppe auf und lässt den Blick schweifen.

Betty Reinhart. Tochter des Strandbad-Leiters.

Marthas Mutter predigte immer, dass im Sozialismus alle Menschen gleich seien. Aber das stimmte nicht. Betty war … Sie war wertvoller als alle anderen. Wenn sie den Schulflur entlanglief, dann waren die Wände nicht mehr ganz so grau, und auch das Rot des Pionierhalstuchs sah an ihr leuchtender aus als an allen anderen. Betty war stets von einer Blase von Mädchen umgeben. Wenn die Sportlehrerin in der Schule fragte, ob sie zum Abschluss Völkerball oder Volleyball spielen wollten, sahen sie alle zu Betty hin, und was sie sagte, wurde gemacht. Steckte eine hübsche Spange in Bettys dickem blonden Haar, sah man am nächsten Tag überall im Schulflur Haarspangen, die meisten aus Suralin oder bunter Pappe selbst gebastelt.

An diesem Nachmittag trug Betty einen gepunkteten Badeanzug mit Rüschen an den Seiten. Eigentlich war Martha stolz auf ihr dunkelblaues Modell gewesen, das ihre Mutter vor zwei Wochen ergattert hatte. Der Moment, als Martha die Überraschung aus der Tüte gezogen hatte, war wie Geburtstag und Weihnachten gleichzeitig gewesen! Aber jetzt kamen ihr der gewöhnliche Schnitt und die Einfarbigkeit langweilig vor. Wo bitte bekam man einen solchen Badeanzug her? »Die kaufen bestimmt im Westen ein«, würde ihre Mutter sagen.

17.59 Uhr: Der letzte Dampfer des Tages schippert vorüber. Ein angenehmer Wind überzieht den See mit feinen Rillen, die ans Ufer rollen. Ich schiebe meine nackten Füße in den Sand. Meine Haut spannt leicht von dem Tag in der Sonne.

Sie strich die letzten zwei Zeilen durch. Wie oft hatte ihr Vater ihr gepredigt: »Deine persönlichen Befindlichkeiten tun nix zur Sache! Das interessiert niemanden!«

Weiter.

Eine Gruppe Jungs spielt Wasserball, wobei sie sich eigentlich nur gegenseitig nass spritzen. Laut, ungehemmt. Schräg von ihnen zwei junge Frauen. Beide splitterfasernackt. Das lange Haar reicht ihnen bis zum Po. Sie sitzen im Sand, ohne Decke, ohne alles, wie gestrandete Nixen. Nur eine Gitarre haben sie dabei, auf der die eine zupft, die andere singt dazu. Es dauert nicht lange, bis eine ältere Dame sie darauf hinweist, dass sie gern in Ruhe ihr Rätsel lösen würde, aber die beiden zucken gleichgültig mit den Schultern und lachen laut.

Ganz schön dreist! Für eine freche und respektlose Reaktion wie diese würde Martha von ihrem Vater eine saftige Ohrfeige kassieren, bei der danach Sternchen vor ihren Augen tanzen würden. Die Frau guckte zu Martha, woraufhin sie geflissentlich den Kopf schüttelte, so wie ihre Mutter es immer tat, wenn man schon wusste, wie ihr nächster Satz lauten würde: »Über manche Menschen kann man sich nur wundern!« Aber eigentlich verstand sie nicht, was so schlimm an ein bisschen fröhlichem Gesang war.

Weiter im Protokoll.

18.02 Uhr: Ein Pärchen schlendert an dem bunt bepflanzten Beet mit der Statue einer nackigen Frau darin vorbei und das Gebäude entlang, das sich als flacher Bogen an das leicht abschüssige Gelände anpasst. »Kleiderbügel« nennt man das Gebäude wegen seiner Form, und ebenso wenig wie ein Kleiderbügel etwas Besonderes ist, ist dieses Gebäude etwas Besonderes. Es ist ein Zweckbau, dessen Zweck es ist, den Menschen einen Ort zu schenken, wo sie zusammenkommen, entspannen und ihre Freizeit genießen können. Und weil es mit dem Café auf der Dachterrasse aus Stahlbeton sowie dem Laden für Badebedarf im Erdgeschoss diesen Zweck wunderbar erfüllt, ist es eben doch etwas ganz Besonderes.

»Von Martha Asseln«, vollendete sie ihren Text und spürte lächelnd der Gänsehaut nach, die ihre Unterarme überzogen hatte und nun langsam wieder verschwand. Dieses Gefühl, wenn die Worte regelrecht Besitz von ihr ergriffen und nur so aus ihr herausströmten, war berauschend. Es gab sie eben doch, die Magie des geschriebenen Wortes, auch wenn ihr Vater darüber immer despektierlich lachte. Er war der Ansicht, das geschriebene Wort wäre allein dafür da, etwas zu dokumentieren, und zwar am besten so sachlich und knapp wie möglich.

Auf einmal legte sich ein Schatten auf ihr Notizheft. Martha zuckte vor Schreck zusammen, aber es war nur Uschi, die ihr ein Stück Prasselkuchen brachte, weil das Bad in einer Stunde schloss und sie noch so viel übrig hatte. »Du bist ja von einem Sommer zum anderen ein richtijes Frollein geworden«, sagte sie. »Haste denn schon deine Jugendweihe jehabt?«

»Ich bin doch erst dreizehn«, antwortete Martha. »Die Jugendweihe hat man mit vierzehn.«

»Na denn. Bist immer so fleißig«, sagte Uschi und wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab. »Die anderen Kinder vergnügen sich im Wasser, und du sitzt hier auf der Bank und lernst. Bist ’n braves Mädchen.«

Martha lächelte. Was sollte sie auch darauf erwidern? Eigentlich würde sie viel lieber im Wasser Ball spielen. Aber ihr wurde allein bei der Vorstellung, die Jungs zu fragen, ob sie sich ihnen anschließen durfte, mulmig zumute. Am Ende passierte ihr noch etwas Tollpatschiges, und alle würden sie auslachen.

Platsch. Schon wieder hatte das Mädchen vom Ende des langen Stegs einen Köpper ins Wasser gemacht. Schon seit einer halben Stunde ging das so. Sie konzentrierte sich, sprang, kletterte wieder auf den Steg, konzentrierte sich, sprang … Trainierte sie für einen Schwimmwettbewerb?

Die Sportgruppe beendete nun ihre Stunde. Ein Chor aus »Mach’s jut, Gudrun! Mach’s besser, Heike! Bis nächste Woche! Immer schön fit bleiben!«, setzte ein.

»Was is mit dir, Horst?«, rief eine der älteren Frauen.

»Ick bleib noch, Mädels«, antwortete er. »Ick will mir noch ’n bisschen im Wasser abkühlen.« Horst kam vom Ufer zurück und stolzierte mit eingezogenem Bauch und erhobenem Kopf zu einer Frau, die in einem blauen Trägerkleid und Clogs schon abreisebereit war. Wie ein echter Gentleman hob er ihren Dederonbeutel mit bunten großen Plaste-Druckknöpfen auf, klopfte mit der Hand den Sand ab und bot ihr den Arm, um sie die Freitreppe hinaufzubegleiten, aber davon wollte sie nichts wissen.

Horst, das Müggelsee-Urgestein. Jeder hier kannte ihn. Er erzählte gern Geschichten von früher, und alle begannen sie mit: »Ick bin hier schon schwimmen jejangen, da war allet noch Wildnis! Da war von ’nem Strandbad noch keene Rede!«

Oft hatte er wirklich spannende Geschichten auf Lager. Entweder saugte er sich all die Abenteuer aus den Fingern und war ein hervorragender Schwindler, oder in den Tiefen des Müggelsees lagen wirklich so einige unglaubliche Geheimnisse verborgen …

»Dann sei mal lieber vorsichtig, wenn du noch ’ne Runde schwimmen willst, wa? Du bist auch nich mehr der Jüngste.«

»Nu werd mal nich frech!«

»Na, so alt wie det Strandbad bist du zumindest. Du sagst doch immer, dass du tüchtig jeholfen hast, die ersten schilfgedeckten Holzhäuser auf dem Gelände zu bauen. Det war ja noch vor dem Ersten Krieg.«

»Det hast du junges Huhn alles nich erlebt«, erwiderte Horst und zog seine Badehose hoch, die auch schon einige Sommer erlebt hatte und immer wieder verrutschte, weil der Bund ausgeleiert war und Schlüpfergummi Mangelware. »Du kennst det Strandbad ja nur picobello.«

»Ja, ja, Horst«, sagte die Frau. »Aber eh du mir wieder erzählst, dass das Gebäude ursprünglich aus den Zwanzigern ist – ich muss los. Mein Mann wartet. Wir sehn uns nächste Woche.«

»18 Uhr, die Rentner-Sportgruppe löst sich auf«, seufzte Martha und wollte ihre Beobachtung festhalten, aber der Füller kratzte nur auf dem Papier. Die Tinte war eingetrocknet. Das kam davon, wenn man nicht bei der Sache war! Sie befeuchtete die Spitze mit Spucke.

Platsch. Wie lange wollte dieses Mädchen denn noch Kopfsprünge üben? Wurde ihr nicht langsam schwindelig? Sie ging in Marthas Parallelklasse, aber sie sprach mit niemandem. Ihr Haar war rostrot und reichte ihr gerade mal bis knapp über die Ohren. Dazu dieser sehr gerade, kurze Pony.

Die Tochter des Strandbad-Leiters warf ihre dicken blonden Zöpfe über die Schultern, zog eine Zeitschrift aus ihrem Campingbeutel und machte es sich in einem der Strandkörbe bequem. Martha hatte es noch nie gewagt, sich in einen der Strandkörbe zu setzen. Irgendwie hatte sie immer gedacht, dass sie den Erwachsenen vorbehalten waren.

Martha griff nach ihrer Waldmeister-Limonade, die neben ihr auf der Holzbank stand, und fischte den Strohhalm heraus, der etwas tief gerutscht war.

Auf einmal sah sie etwas auf sich zufliegen. Keine Sekunde später wurde sie von einem Ball getroffen. Die Limonade landete auf ihrem Heft, ein blauer Fleck breitete sich auf dem Papier aus. Dahin war die Arbeit von Stunden. Oh nein! Ihr Vater würde unzufrieden mit ihr sein, selbst wenn sie ihm die Seite zeigte und ihm erklärte, dass sie nichts dafür konnte …

»’tschuldigung«, sagte jemand.

Martha sah von ihrem Heft auf. Vor ihr stand ein Junge. Leuchtend rote Badehose. Braune Haut. Blaue Augen.

»Tut dir was weh?«, fragte er. Die schräg stehende Sonne ließ sein nasses blondes Haar glitzern.

Sie schüttelte den Kopf. »Nein.«

Er deutete auf ihr Heft. »War das wichtig?«

Erneut schüttelte sie den Kopf. Klemmte sich eine Haarsträhne hinters Ohr. »Nein.«

Sie wollte etwas Lockeres sagen, etwas wie: »Ach, war nur für die Schule, nicht weiter wichtig«, aber ihr Kopf war wie leer gefegt.

Er deutete auf sein Kinn. »Du hast da Tinte.«

»Oh.« Hastig befeuchtete Martha ihren Zeigefinger mit Spucke und wischte über ihr Kinn.

»Also dann«, sagte der Junge. »Viel Spaß noch.« Er nahm den Ball und ging weg.

»Pass halt besser auf, Alex«, wies Betty ihn zurecht. War der Junge ihr Bruder? Alex war also sein Name.

Alex katapultierte eine Ladung Sand mit dem Fuß auf Betty. Ja, definitiv Geschwister.

»Du bist so doof! Das sage ich Papa!«

»Mach doch, Petze!« Er gab seinen Freunden ein Zeichen, und die Clique zog ab zu Uschis Kiosk.

Platsch. Wann gab dieses Mädchen endlich auf? Nahm sie denn nicht wahr, dass sich das Strandbad leerte? Und wo war überhaupt Horst? Martha suchte das Wasser ab. Kein alter Mann weit und breit. Oder halt … Sie kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Weit draußen ruderte doch jemand hilflos mit den Armen! Sie sprang auf und rief: »Hilfe! Da ertrinkt jemand!«

Wo waren nur all die Erwachsenen auf einmal?! Oder die Jungs?

Platsch. Das Mädchen war ins Wasser gesprungen und kraulte dem Ertrinkenden entgegen. Alleine wäre sie niemals stark genug, ihn die ganze weite Strecke aus dem Wasser zu ziehen. Gemeinsam jedoch könnten sie es schaffen.

Martha rannte los. Erst über den Strand, dann bis ans Ende des Stegs. Kopfsprung ins Wasser. Horst strampelte panisch mit Armen und Beinen. Immer wieder verschwand der alte Mann unter der Wasseroberfläche. Was, wenn sie es nicht rechtzeitig schafften?

Kurzes Aufatmen, als das Mädchen ihn erreichte. Doch Horst klammerte sich an ihr fest und drückte sie unter Wasser.

»Horst! Lass sie los!«, rief Martha verzweifelt.

Das Mädchen schlug um sich, traf Horst am Kopf, und er ließ von ihr ab. Keuchend tauchte sie wieder auf. Der alte Mann schluckte eine Ladung Wasser. Hustete. Er klang fürchterlich, so, als würde er ersticken.

Endlich erreichte auch Martha die beiden. »Horst, ich bin’s! Martha! Beruhige dich!«, rief sie in sein Gepaddel und Gekeuche hinein. »Wir helfen dir!«

»Fieser … Krampf …«, presste er hervor.

»Wir sind jetzt bei dir. Gemeinsam schaffen wir es ans Ufer.« Das war ja Betty! Wo kam sie denn plötzlich her?

»Ich packe Sie jetzt unter den Achseln«, erklärte das Mädchen eindringlich, »und dann schwimmen wir gemeinsam auf dem Rücken ans Ufer. Verstanden?«

Eine an je einem Arm, eine bei den Beinen, und immer wieder mussten sie schnaufend innehalten – mit vereinten Kräften gelang es ihnen tatsächlich, Horst an Land zu hieven. Der alte Mann sank vor Martha auf den Sand, wo er mit schmerzverzerrtem Gesicht seinen Unterschenkel rieb und keuchte.

Im nächsten Moment war alles voller Leute. Uschi schrie, jemand solle einen Arzt rufen. Martha zitterte. Ihr Körper bebte richtig. Ihre Beine waren ganz weich. Neben ihr hockten die beiden anderen Mädchen. Irgendwie hatten sich ihre Hände gefunden. Sie hielten einander fest. Sahen mit an, wie zwei Sanitäter mit einer Trage auf sie zueilten. Wie Horst sich weigerte, ins Krankenhaus zu fahren. »Det war doch nur ein dummer Krampf!«, schimpfte er. »Unfug! Ich fahre nirgendwohin!«

Uschi sagte: »Ihr Süßen braucht jetzt Zucker. Ich hole euch was aus meinem Laden.«

Herr Reinhart, der Leiter des Strandbads, sagte: »Das war sehr tapfer von euch. Geht’s euch gut?«

Sie nickten.

Und schon waren alle wieder verschwunden, den Sanitätern und dem fluchenden Horst hinterher.

»Wie können die uns denn allein lassen?« An Bettys Lidern stauten sich Tränen, die sie tapfer fortblinzelte. »Wo ist Vati?«

»Die kommen sicher gleich wieder.« Martha wagte es, Betty tröstend über den Rücken zu streichen, und erinnerte sich an einen Satz, den sie vor ein paar Wochen in einem Roman gelesen hatte. Er hatte ihr besonders gut gefallen. Er hatte bedeutungsvoll gewirkt. »Und solange haben wir einander.«

Sie sah die Bank, auf der sie vorhin noch friedlich, ja sogar ein wenig gelangweilt gesessen hatte. Sah den Strandkorb, in dem Betty vor ein paar Minuten noch in einer Zeitschrift geblättert hatte. Sah den Steg, von dem das Mädchen wieder und wieder einen Köpper ins Wasser gemacht hatte, ohne auch nur einmal richtig durchzuatmen. Eine Blonde, eine Rothaarige, eine Brünette – ihre Leben waren in unterschiedlichen Bahnen verlaufen, doch von einer Sekunde auf die andere hatte das Schicksal sie zusammengeworfen. Und nun kauerten sie nebeneinander auf dem Boden, verbunden durch den Schock, dem Tod begegnet zu sein, und der Erleichterung darüber, dass alles gut gegangen war.

»Ich kann noch immer nicht glauben, was gerade passiert ist«, brachte Betty mit unsicherer Stimme hervor.

Martha nickte. Sie sehnte sich nach einer Umarmung. Sie stellte sich vor, wie sie nach Hause kam und erzählte, was vorgefallen war. Würde ihr Vater stolz auf sie sein? Wahrscheinlich würde er davon ausgehen, dass sie maßlos übertrieb. Ihre Mutter würde ihr Mitgefühl dadurch ausdrücken, dass sie Martha die restlichen Hausaufgaben erließ und ihr gestattete zu lesen.

Martha nahm die Wärme wahr, die die Mädchen zu ihren beiden Seiten ausstrahlten, und wurde tatsächlich etwas ruhiger. Erging es ihnen vielleicht gerade ähnlich? Sehnten sie sich nach dem Schutz und der Geborgenheit ihres Zuhauses? Sie stellte sich Bettys Eltern wie aus der Bino-Werbung vor: Familie Reinhart versammelt am Esstisch in einem hübschen Haus, das mit modernen, hellen Plastemöbeln eingerichtet war.

Und das fremde Mädchen? Sie hatte die Hände auf ihre angewinkelten Knie gelegt und starrte aufs Wasser hinaus.

Martha wusste nichts über sie. In der Schule war sie wie ein Schatten. Sie war da, aber man nahm sie kaum wahr. Nur einmal war sie Martha deshalb aufgefallen, weil Mitschüler sie gehänselt hatten. Fast jeden Tag hatte sie ein anderes Buch dabei, in dem sie in der Pause las, anstatt Anschluss zu suchen. Sie war auch nicht bei den Pionieren, was Martha nicht in den Kopf wollte. Es machte doch Spaß, gemeinsam zu basteln, zu singen oder Ausflüge in die Natur zu unternehmen.

»Jemand sollte sich auch um dich kümmern«, fiel Betty auf einmal ein. »Du wurdest unter Wasser gedrückt. Du hast sicher …«

»Schon gut«, unterbrach das Mädchen sie. Jäh erhob sie sich vom Boden, klopfte sich den Sand von den Beinen und sagte: »Ich muss los.«

»Was?« Aus einem Reflex heraus griff Martha nach ihrem Handgelenk. Sie konnte jetzt nicht einfach gehen. Nicht nach dem, was sie miteinander erlebt hatten. »Wie heißt du denn eigentlich?«

Das Mädchen sah sie an, die Augenbrauen zwei misstrauische Striche. Ihr Blick ging durch und durch, und kurz befürchtete Martha, etwas Falsches gefragt zu haben, doch da huschte so etwas wie ein Lächeln über ihre Lippen. »Clara.«

»Ich bin Betty«, sagte das beliebteste Mädchen der Schule. Dabei wusste doch jeder, wie sie hieß.

Martha hatte gar nicht gemerkt, dass Betty erneut ihre Hand genommen hatte. Als sie aufstand, zog Martha sie mit auf die Beine. Der Boden unter ihren Füßen hatte aufgehört zu schwanken.

»Und ich bin Martha«, sagte sie. »Ich bin froh, dass wir drei gleichzeitig zur Stelle waren. Wir sind die drei tollen Lebensretterinnen vom Müggelsee.«

Betty nickte, holte tief Luft, und als sie sprach, hatte ihre Stimme an Sicherheit gewonnen. »Sind wir denn jetzt Freundinnen?«

Martha konnte kaum glauben, was sie da gerade gehört hatte. Hatte Betty Reinhart sie wirklich gefragt, ob sie Freundinnen waren?

»Freundinnen«, wiederholte Clara leise.

»Ich könnte mir nichts Schöneres vorstellen, als dass ihr meine Freundinnen seid«, sagte Martha.

Später fuhr Bettys Vater Clara und sie in seinem Wagen nach Hause. Martha dankte, stieg aus und sah den Wagen davonfahren. Eine wohlvertraute Melancholie überkam sie.

Als sie am nächsten Morgen den Schulhof betrat, sah, dass Betty wie immer von ihrem Gefolge umgeben war und Clara ihren Kopf in ein Buch steckte, sagte eine Stimme in ihr: Du hast es doch gewusst.

Sie drückte ihr Mathematikbuch fester an die Brust und wollte sich ins Klassenzimmer zurückziehen, als Betty sie bemerkte. Sie winkte ihr, sagte etwas zu den Mädchen, die sie umringten, und kam dann auf Martha zu. »Endlich, ich habe schon auf dich gewartet. Ah, dort drüben sitzt Clara. Lass uns zu ihr gehen.«

Martha entging nicht der verstohlene Blick aus dem Augenwinkel, den Clara ihnen zuwarf. Als sie vor ihr standen, fragte Betty: »Was liest du da?«

Clara klappte ihr Buch zu. Das Universum stand darauf.

»Ah.« Betty nickte. »Wollen wir gemeinsam nach der Schule zum Strandbad fahren?«, schlug sie vor.

Wieder dieser scheue, aber auch neugierige Blick. Clara steckte ihr Buch in ihre Schultasche. Das erste Mal überhaupt sah Martha sie lächeln.

»Das würde mich sehr freuen«, sagte sie förmlich, als wäre sie eine erwachsene Frau und nicht ein Mädchen knapp vor der Jugendweihe.

Gemeinsam betraten sie das Schulgebäude, und es war Martha, als würde sie die beiden Mädchen an ihrer Seite schon seit Jahren kennen.

1

1960

Betty

Das Meer von Berlin. Betty rekelte sich zufrieden in der Sonne. Ihr Vater hatte den Ausdruck stolz aus einem Zeitungsartikel vorgelesen. Darin war über das Strandbad, das er seit zehn Jahren leitete und das sein Ein und Alles war, berichtet worden. »Das Meer von Berlin« – das klang nach Urlaub, nach Salz auf der Haut, nach Sand zwischen den Seiten einer Zeitschrift und langen, lauen Nächten mit geflüsterten Liebesbeschwörungen. Da konnte man fast vergessen, dass dahinter nur ein See im Südosten der Stadt Berlin steckte, wenn auch der größte.

In der Ferne schipperten Boote über den Müggelsee. Wie die Sardinen lagen die Besucher des Strandbads nebeneinander im Sand, schwitzten in der prallen Sonne oder beobachteten, wie ihre Kinder vergnügt am Ufer planschten. Die alten Leutchen standen in ausgeblichenen Badesachen bis zu den Waden im Wasser, um sich abzukühlen, die jungen Damen schlenderten das Ufer entlang und benetzten ihre Dekolletés mit ein paar Tropfen. Von Uschis Kiosk her duftete es nach Bratwurst. Dazu der Geruch der Sonnencreme, mit der Clara gerade ihre durchscheinende bleiche Haut einschmierte. Und so viele Geräusche! Der Ausflugsdampfer in der Ferne hupte zweimal laut, Schlagermusik vom Kiosk-Radio, Kinderlachen, ein paar Enten flogen quakend über das Bad hinweg, dazu das Rauschen unzähliger Gespräche. Ist denn det Restaurant Neu-Helgoland an der Müggelspree noch so jut wie vor ein paar Jahren? Am Ostbahnhof gibt’s jerade Schleifpapier zu kaufen! Überall sind die Gummiringe für Einweckgläser aus, wie soll ick denn jetzt Marmelade kochen?

Nicht zu vergessen der alte Horst, der zwar nicht mehr ins Wasser ging, aber noch jede Menge Geschichten auf Lager hatte. »Gar nich weit von hier ham se während des Bombenkrieges so ’ne Art künstliche silberne Inseln ins Wasser montiert«, erzählte er gerade einem Jungen, der eine Sandburg baute. »Det waren Radarfallen. Die sollten die Orientierung der alliierten Streitkräfte stören, denn die mussten sich ja bei Nachtangriffen auf ihren Radar verlassen. Durch Metallplatten haben die aber ’nen völlig anderen Eindruck vom Gelände bekommen, und det viele Metall haben die außerdem für ein kriegswichtiges Ziel gehalten. Ick will nich wissen, wie viele Bomben auf dem Grund des Müggelsees liegen!«

Der Junge hatte inzwischen aufgehört, feuchten Sand in seinen kleinen Eimer zu schaufeln. Gerade als Horst mit »Später hat die Rote Armee det Strandbad dann als Lazarett jenutzt …« weitermachte, rauschte die Mutter des Jungen heran und baute sich vor Horsts Campingstuhl auf.

»Sie schüchtern meinen Jungen ja komplett ein mit Ihren Räuberpistolen.«

»Der Sommer gibt sein Bestes«, dröhnte das Radio aus Uschis Kiosk über die gepflasterte Terrasse des Strandbads. »Das Thermometer ist heute auf heiße einunddreißig Grad gesprungen, und das geht in den nächsten Tagen so weiter! Und nun tanzen Sie zu Bärbel Wachholz’ Das ist so wunderbar in den wohlverdienten Feierabend.«

»Können die denn nicht mal ordentliche Musik im Radio spielen?« Betty blätterte die Seite in der Sibylle um. Die neue Frauenzeitschrift war beliebt und schwer zu ergattern, die Mode-Fotografien darin unschlagbar! Und in den Texten versuchte man ihr nicht weiszumachen, dass Mode praktisch und pflegeleicht zu sein hatte anstatt, wie der Name eigentlich ausdrückte, modisch.

»Also meine Mutter sagt immer, Bärbel Wachholz ist eine tolle Künstlerin«, sagte Martha, die dabei war, ein Kreuzworträtsel zu lösen.

»Na, wenn deine Mutter das sagt.« Betty zwinkerte ihrer Freundin zu. »Ich hör lieber Peter Kraus aus’m Westen. Sugar Baby ist ein echter Ohrwurm! Aber sag’s nicht weiter. Apropos Westen: Habt ihr eigentlich schon den Fragebogen ausgefüllt, der für das Abitur im nächsten Jahr ausgegeben worden ist? Da wird gefragt, ob wir Verwandte im Ausland haben. Muss ich da meine Tante in München reinschreiben?«

»Dann schreib aber bitte dazu, dass diese Tante erst seit dem siebten Oktober 1949 im Ausland lebt.« Clara zog vielsagend die Augenbrauen hoch und drückte eine Ladung Sonnencreme auf ihre Unterschenkel.

Was würde ich dafür geben, auch eine solche Alabasterhaut zu haben, dachte Betty.

Mit ihren grazilen Bewegungen, auf die sie sich im Gegensatz zu Betty nicht konzentrieren musste, sondern die bei ihr unbeabsichtigt und ganz natürlich waren, erinnerte Clara an eine Katze. Aber vor allem mit diesen intensiven grün-braunen Augen. Clara redete wenig, ließ eher Blicke sprechen. Sie hatte etwas ganz Besonderes an sich.

»Ich lasse es lieber«, seufzte Betty. »Nicht, dass ich mir damit am Ende noch meine Zukunft verbaue.«

Durch ihre rot umrandete Sonnenbrille sah sie alles intensiver. Das Wasser war eine gigantische Ansammlung funkelnder Diamanten, der Himmel leuchtete blau, wie mit Glanzlack überzogen, und die Wolken waren rosarot schimmernde Wattebäusche.

»Oh Mist, hatten wir nicht in Mathe was auf?«, fiel ihr auf einmal siedend heiß ein. Sie rollte sich auf den Rücken und schenkte ihren beiden Freundinnen ihr bezauberndstes Lächeln. Bei wem darf ich abschreiben?, fragte dieses Lächeln.

»Wenn du magst, kannst du mich nach Hause begleiten, dann gebe ich dir mein Heft mit«, bot Clara an.

»Und wie soll sie den Stoff dann für die Prüfung können?«

Martha meinte es nur gut, trotzdem streckte Betty ihr die Zunge raus. Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass ihre Freundin auch nur einmal die Hausaufgaben vergessen hatte oder nicht vorbildlich für eine schriftliche Arbeit vorbereitet gewesen war. Neben Martha war jeder faul und Betty ganz besonders.

»Ist doch wahr.« Martha hatte ihre Brille abgenommen und putzte sie mit dem Zipfel ihres Sommerkleids, das sie sorgsam auf ihrem Campingbeutel zusammengelegt hatte. »Eine Woche vorher gerätst du dann wieder in Panik, und deine Mutter muss dir eine Entschuldigung schreiben und darum bitten, dass du die Prüfung nachholen kannst.«

Sie hatte ja recht … Trotzdem. »Was interessiert mich Mathe? Oder was nützt es mir, wenn ich russische Gedichte auswendig kann?«

Martha gab nicht auf. »Na ja, Clara beispielsweise braucht beides, weil sie davon träumt, irgendwann mit den Russen ins Weltall zu fliegen. Tagsüber berechnen sie Flugbahnen, und nachts unterhalten sie sich damit, dass sie einander Gedichte vortragen.«

»Ich träume nicht davon, ins Weltall zu fliegen«, verbesserte Clara sie und setzte sich kerzengerade hin. »Ich werde ins Weltall fliegen. Und mit welcher Nation, ist mir egal.«

Betty bewunderte Clara für ihr Selbstbewusstsein. War Martha hauptsächlich fleißig, war Clara fleißig und klug. Ein wandelndes Lexikon. Sie las auch jeden Tag das Neue Deutschland. Bettys Vater sagte immer, für Frauen wäre es nicht gut, die Zeitung zu lesen. Es würde ihr zartes Gemüt nur aufwühlen, und am Ende kämen sie noch auf dumme Gedanken, wie diese Flintenweiber, die behaupteten, Frauen wären unterdrückt. »Sieh dir deine Mutter an. Tut den lieben langen Tag, was ihr Spaß macht. Morgens zieht sie eines ihrer hübschen Kleider an, geht einkaufen, kocht und dekoriert die Wohnung. Ist sie etwa unterdrückt?«

Clara war so schlau, dass sie leicht ein Jahr hätte überspringen können, aber das wusste man an ihrer Schule zu ignorieren. Betty ahnte den Grund: Claras Eltern waren weder in der Partei, noch war ihre Freundin in der FDJ.

Betty kam sich nicht selten dumm vor neben den beiden Überfliegerinnen, mit denen sie befreundet war. Dabei hatte sie durchaus auch ihre Qualitäten. Sie musste sich nur darauf besinnen. Sie verschränkte die Hände unter dem Kopf und blickte in den wolkenlosen Himmel. »Eines Tages wird Clara ins Weltall fliegen und ich nach Hollywood. Denn das ist das Universum, für das ich mich interessiere.«

Als wäre es gestern gewesen, erinnerte sie sich an den Tag, an dem sie das erste Mal in einem Kino gewesen war. Das kalte Herz war gezeigt worden. Es war einer der schönsten Tage ihres Lebens gewesen: Die mit Samt bezogenen Sitze, die riesige Leinwand, der glänzende Vorhang davor und dann der Gong, als das Licht erlosch und der Film begann! Sie hatte mit dem armen Peter gelitten, der die schöne Lisbeth liebte, aber keine Chance bei ihr hatte. Hatte gezittert, als er mit dem bösen Geist einen Pakt geschlossen hatte. Und am Ende war sie völlig erschöpft nach Hause gegangen, als hätte sie selbst dieses Abenteuer erlebt. An diesem Tag hatte sie gewusst, dass sie Schauspielerin werden wollte.

Martha zeichnete Wellenlinien in den Sand. »Im Vergleich zu euch beiden, mit euren besonderen Träumen, komme ich mir schrecklich gewöhnlich vor.«

Betty stupste sie aufmunternd in die Seite. »Aber du bist alles andere als gewöhnlich. Du wirst die beste Lehrerin sein, die sich Schüler nur wünschen können.«

»Viel besser als die Langweiler, mit denen wir uns jetzt rumschlagen müssen«, pflichtete Clara ihr bei.

»Ich könnte meine Fähigkeiten ja an dir testen und mit dir Mathe lernen«, schlug Martha Betty grinsend vor. »Ich muss später eh noch mal in die Schule zur Lernpatenschaft. Begleite mich doch einfach. Komm schon, in ein paar Wochen sind Ferien, bis dahin lernen wir gemeinsam.«

Martha war die Klassenbeste, weshalb sie von Frau Schubert, der Schuldirektorin, dazu angeregt worden war, schwächeren Schülern unter die Arme zu greifen. Eine Aufgabe, die sie mit Stolz erfüllte.

»Danke, ein andermal vielleicht.« Betty ließ den Blick schweifen, erfreute sich kurz am Anblick eines jungen Mannes, der mit einem Sonnenschirm kämpfte, und bemerkte dann ihren Vater, der mit einer jungen Frau die Freitreppe hinabschlenderte. Er führte sie wohl im Strandbad herum, denn er wies zunächst auf das Café auf der Dachterrasse und deutete dann, als sie am Fuß der Treppe angelangt waren, auf den gebogenen Gebäudekomplex, in dem die Wandelhalle lag, mit den Umkleiden, dem Kiosk und den kleinen Läden mit Bademode, Strandmatten und Sonnencreme. »Die Architektur des Gebäudes spiegelt exakt den Geist unserer Zeit wider«, dozierte er. »Nüchterne, klare Formen, Sachlichkeit anstelle des Theatralischen. Große Linien, weiter Raum. Die Parabel, die das Flugzeug beschreibt. Die Bahn, auf der das Auto gleitet.«

Die Frau ist hübsch, deshalb bekommt sie natürlich eine private Führung des Strandbad-Leiters, dachte Betty bitter. Wäre sie alt und dick, würde ihr Vater sie nicht beachten. Und ganz sicher würde er sie nicht am Oberarm berühren, woraufhin sie sich kokett eine Haarsträhne hinters Ohr klemmte. Betty konnte es ihr nicht verübeln. Ihr Vater war charismatisch und für sein Alter noch immer sehr attraktiv. Nur leider musste er sich seiner Wirkung auf Frauen regelmäßig versichern.

»Alles in Ordnung?«, fragte Martha. »Du bist auf einmal blass.«

»Alles bestens«, log Betty. In der Familie Reinhart war immer alles bestens. »Die Mathe-Hausaufgaben stressen mich nur.«

Sie wandte sich ab, erfüllt von einer Mischung aus Wut, Enttäuschung und auch Scham. War das zu glauben? Sie schämte sich dafür, dass ihr Vater ständig ohne den leisesten Anflug von schlechtem Gewissen jungen Frauen schöne Augen machte!

Betty ließ sich von den Jungs ablenken, die im Wasser tobten, sich gegenseitig nass spritzten und Schlamm vom Grund des Sees holten, um sich damit zu bewerfen. »Wie kann es sein, dass das alles ist, was unsere Schule an halbwegs brauchbaren Jungs zu bieten hat? Ich befürchte, mir bleibt gar nichts anders übrig, als irgendwann einen Mann aus dem Westen zu heiraten und mit ihm auszuwandern.«

»Sag das lieber nicht zu laut.« Martha sah sich um. Doch die Einzigen, die sie hätten hören können, waren ein Mann, der sich seinen Hut aufs Gesicht gelegt hatte und leise schnarchte, sowie ein Pärchen, das mit Küssen beschäftigt war. »Was soll bei denen da drüben überhaupt besser sein?«

Betty wackelte mit den Zehen im Sand. »Na, die fahren schicke Autos. Und die Läden drüben sind voll mit der neuesten Mode.«

Martha runzelte die Stirn. »Papa sagt immer, die im Westen sind alle Kapitalisten oder arme, ausgebeutete Schlucker. Nichts dazwischen.«

Clara streckte ihre langen, schlanken Beine aus und schlug sie übereinander. »Ich für meinen Teil will eh nicht heiraten. Wir leben erstmals in Zeiten, in denen Frauen ihr Leben allein bestreiten können. Wir können arbeiten gehen und Geld verdienen. Wir können uns Essen und eine eigene Wohnung leisten. Wir können alles, was Männer auch können.«

»Das ist vielleicht bei uns in der DDR so«, meinte Martha. »Drüben im Westen sind die Frauen, was das angeht, wieder in der Vorkriegszeit angekommen und stehen mit Schürze in der Küche. Das sagt meine Mutter.«

»Auch das wird sich hoffentlich bald ändern, einfach, weil es der Zeitgeist ist. So viele tolle Frauen haben es vorgemacht. Nimm Marie Curie, die zwei Nobelpreise für ihre Forschung bekommen hat, oder Amelie Beese, die bereits um die Jahrhundertwende die erste Pilotin Deutschlands geworden ist. Und ich will die erste Frau sein, die in den Kosmos fliegt.«

Martha lachte, verstummte aber schnell, als sie begriff, wie ernst es Clara war.

»Warum sollte ich weniger wollen?«, fügte Clara beinahe trotzig hinzu. »Wäre ich ein Mann, würdest du nicht lachen, du würdest Respekt vor meinen Plänen haben. Lieber denke ich zu groß als zu klein. Aber was ich eigentlich deutlich machen wollte: Wir brauchen nicht unbedingt einen Mann, um etwas darzustellen oder glücklich zu sein.«

Betty hatte auf einmal ein seltsames Gefühl. So als wäre ihre Haut dünn wie Seidenpapier. Sie straffte sich, strich sich Sand von den Unterschenkeln und warf dann ihr langes, blondes Haar hinter die Schultern. »Aber Männer sind nun mal leider unterhaltsam. Sie bringen einem Blumen, laden einen zum Essen ein und machen einem Komplimente.«

Clara rollte mit den Augen, konnte sich aber ein Schmunzeln nicht verkneifen. »Du hast zu viele Liebesfilme gesehen. Und jetzt denkst du, dass es den Prinzen auf seinem schneeweißen Pferd wirklich gibt. Aber diese mit Schlamm schmeißenden Knalltüten im Wasser sind die Realität. Nicht die Männer im Film.«

»Bist du dir da so sicher?« Betty legte den Kopf schief. »Vielleicht steckt ja in einer dieser Knalltüten im Wasser doch ein Prinz? Euer Prinz. Wie, ihr glaubt mir nicht? Vielleicht müssen wir die Kandidaten nur mal genauer unter die Lupe nehmen.« Sie schob ihre Sonnenbrille auf die Nasenspitze. »Da wäre einmal Fritz Hallberger, siebzehn Jahre alt. Sein Vater ist ein hohes Tier bei der Nationalen Volksarmee.«

Sie erwähnte nicht, wie sehr Fritz Bettys Onkel Theodor Kaiser verehrte, der Modedesigner war und in der Republik als »Der rote Dior« galt. Dass er Mode so sehr liebte, hatte Fritz ihr anvertraut, als er einmal im Sportunterricht wegen eines Sonnenstichs hatte aussetzen müssen und Betty sich um ihn gekümmert hatte. Sie hütete sein Geheimnis wie einen Schatz.

»Dann wäre da noch Thomas Kubina«, fuhr Betty fort. »Ebenfalls siebzehn, von allen Waste genannt. Er ist absolut musikbesessen und handelt heimlich mit Platten.«

Wenn man ihn fragte, ob er die neue Scheibe von Elvis Presley besorgen konnte, bekam man grundsätzlich zur Antwort: »Was haste denn zu bieten?«, und aus seinem Genuschel war irgendwann der Spitzname Waste entstanden. Er benahm sich wie der König vom Kiez, stolzierte mit Nietenhosen herum, das lange Deckhaar mit Brillantine nach hinten gekämmt. Er wurde oft von der Polizei aufgehalten und musste sich ausweisen. Definitiv kein Vorzeigebürger – aber interessant.

»Und dann wäre da noch Tom …«, sagte Betty und spürte einen Stich in ihrer Brust.

Tom war der beste Freund ihres Bruders und so etwas wie der Anführer der Clique gewesen. Er hatte die sensationellsten Schuldiskos organisiert. Wenn Betty sich in der großen Pause bei der Schulspeisung eine Schokomilch geholt hatte, hatte er sich manchmal neben sie in die Warteschlange geschmuggelt und mit seinem Lächeln ihr Herz höherschlagen lassen. Eines Tages hatte er sie angesehen und gesagt: »Es ist längst überfällig, dass ich dich mal ausführe. Auch wenn Alex mich wahrscheinlich dafür umbringen wird. Das Risiko ist es mir wert.«

Aber dazu war es nie gekommen, denn von einem Tag auf den anderen war Tom spurlos verschwunden gewesen. Die verschiedensten Gerüchte kursierten. Der eine behauptete, ihn und seine Familie mit einem Koffer in der Hand im Zug nach Westen gesehen zu haben. Ein anderer meinte gehört zu haben, seine Eltern und er wären von der Staatssicherheit verhaftet worden. Wahrscheinlich würden sie nie herausfinden, was geschehen war. Wie jedes Mal, wenn Toms Name fiel, kriegte Betty kaum Luft.

Sie schüttelte die Trauer ab. »Und schließlich haben wir noch meinen werten Bruder Alexander Reinhart im Angebot.«

Der tauchte wie auf Kommando aus dem Wasser auf.

Auch Martha konnte sich nun endgültig von ihrem Kreuzworträtsel lösen und rollte sich auf den Rücken. »Heiliger Bimbam, hat dein Bruder sich den Winter über nur in der Turnhalle aufgehalten? An seinem Körper könnte ein Anatomiestudent problemlos sämtliche Muskeln studieren.«

Im Gegensatz zu Betty war Alex schon immer sportlich gewesen. Ihr Vater lag ihm die ganze Zeit in den Ohren, welch glänzende Aussichten ein Sportler in der DDR hatte, wenn er sich nur genug anstrengte. Eigentlich hatte Alex das nie groß interessiert, doch seit geraumer Zeit trainierte er fast jeden Tag wie ein Verrückter. Das war wohl seine Art, mit Toms Verschwinden umzugehen. Neuerdings tauchten auch ständig neue Freundinnen bei ihnen zu Hause auf. Betty hatte aufgehört, sich die Namen zu merken.

Alex winkte und joggte aus dem Wasser auf sie zu. Martha richtete sich auf, hob die Hand, um seinen Gruß zu erwidern – da begriff sie, dass er gar nicht sie angesehen hatte, sondern ein Mädchen, das am Fuß der Treppe stand und sich mit den zarten Riemchensandalen nicht in den Sand wagte. Als würde sie nichts wiegen, hob Alex sie hoch, drehte sich einmal mit ihr und küsste sie dann.

Marthas Anblick brach Betty das Herz.

»Hat dein Bruder schon wieder eine neue Freundin?«, fragte Martha. »Die geht nicht mal auf unsere Schule …«

Betty schob ihre Sonnenbrille wieder vor die Augen, damit sie die Neue von ihrem Bruder unauffällig beobachten konnte. »Ich gebe ihr höchstens drei Monate. Sie sieht genauso aus wie seine letzte Freundin. Hübsch, aber nichts Besonderes.«

»Interessiert mich eh nicht die Bohne.« Martha hob ihr Kreuzworträtsel vor ihr gerötetes Gesicht. »See in der UdSSR mit sechs Buchstaben …«

»Vielleicht meint der Himmel es ja gut mit uns und schickt uns einen neuen Schüler in die Klasse«, dachte Betty laut nach. »Einen, der das gewisse Etwas hat. Was meinst du dazu, Clara?«

»Baikal«, antwortete sie.

»Was?«

»See in der UdSSR mit sechs Buchstaben.«

»Nein, was sagst du zu den Jungs in unserer Klasse?«

»Jungs halt.« Clara sah sie verständnislos an, zuckte mit den knochigen Schultern und griff dann nach ihrem Kleid, um es sich über den Bikini zu ziehen. »Ich sollte langsam nach Hause. Ich habe meiner Mutter versprochen, ihr beim Entkernen der Mirabellen zu helfen.«

»Ich muss auch los. Der Lernkreis wartet.« Martha klappte das Rätselbuch zu und verstaute es in ihrem Campingbeutel.

»Ja, ich werde auch schon erwartet«, log Betty. Sie machte eine wegwerfende Handbewegung, als würde sie sagen: »Wie konnte ich das nur vergessen?«

»Ist wirklich alles gut bei dir?«, sorgte Martha sich, als sie vor dem Eingang des Strandbads standen und Clara sich bei ihr auf den Gepäckträger setzte.

»Wirklich. Es geht mir gut.«

Clara spreizte ihre langen Beine, damit ihre Füße nicht über den Boden schleiften, und dann fuhr Martha mit ihr in leichten Schlangenlinien davon. Betty winkte und sah ihnen nach, bis sie verschwunden waren. Du sagst, es geht dir gut. Du behauptest, alles ist bestens. Warum sträubt sich dann etwas in dir, nach Hause zu fahren?

Es war ihr, als legte sich eine kalte Faust um ihr Herz.

Klaviermusik war zu hören, als sie die Wohnungstür aufschloss. Die Mondscheinsonate. Hoffentlich gab das nicht schon wieder Ärger mit den Nachbarn in dem hellhörigen Neubau. Betty ließ ihre Tasche von den Schultern gleiten und überwand sich dann, ins Wohnzimmer zu gehen, wo ihre Mutter am schwarzen Flügel saß und so versunken in ihr Spiel war, dass sie ihre Tochter nicht bemerkte. Betty lehnte sich gegen den Türrahmen und lauschte der melancholischen Melodie. Rüschenvorhänge, Trockenblumen auf dem Tisch, an den Wänden kitschige Bilder in Pastellfarben, mit niedlichen Hunden oder Katzen darauf. In der Mitte des Raums ein bequemes Sofa mit Zierkissen. Alles bestens, behauptete auch das Wohnzimmer.

Auf dem Klavier eine Sammlung gerahmter Fotos. Die Bilderbuchfamilie, gekleidet in Weiß, Rosa und Hellblau und alle mit strahlendem Lächeln. Daneben ein Foto von Alex mit einem Sportpokal. Betty in Pionierbluse und rotem Halstuch. Zu den Pionieren war sie damals noch freiwillig gegangen, der FDJ hatte sie sich hingegen nur angeschlossen, um an die Erweiterte Oberschule zu kommen. Letzte Woche hatte sie sich einen Ruck gegeben und den Posten der FDJ-Schriftführerin in ihrer Klasse übernommen. Für ihren Traum, Schauspielerin zu werden, tat sie alles.

»Liebes! Du bist schon von der Schule zurück«, bemerkte ihre Mutter nun. Ihr Lächeln wirkte unbeteiligt.

»Es ist ja schon fast Abend«, antwortete Betty.

Jäh hörte ihre Mutter auf zu spielen. »Herrje. Ich habe die Zeit völlig vergessen. Der Makkaroni-Auflauf ist noch gar nicht im Ofen!«

»Nicht schlimm. Ich habe eh noch keinen Hunger.« Dabei hatte sie eigentlich einen ordentlichen Kohldampf. »Ich stelle den Ofen an, dann können wir später gemeinsam essen. Wann kommt Papa nach Hause?«

Ihre Mutter nahm einen Schluck der bernsteinfarbenen Flüssigkeit, die neben den Notenblättern stand. »Wer weiß das schon …«, seufzte sie und beugte sich wieder über das Instrument. »Der Arme hat doch immer so viel zu tun.«

Ja, mit den ganzen jungen Frauen um ihn herum … Betty gab sich einen Ruck, setzte sich neben ihre Mutter auf den breiten Klavierhocker und stimmte in ihr Spiel ein. »Wo hast du eigentlich so gut Klavier spielen gelernt?«

»Deine Oma hat es mir beigebracht.«

»War es nicht immer dein Traum, auf der großen Bühne zu spielen? So gut, wie du bist, hättest du leicht auftreten können.«

Ihre Mutter hielt inne. Ihre Augen waren auf einmal leer. Langsam, wie in Zeitlupe klappte sie die Abdeckung über die Tasten. Sie schwieg so lange, dass Betty schon dachte, sie würde nicht mehr antworten, doch dann sagte sie: »Ich war in etwa so alt wie du, als dieser schreckliche Krieg begann, und zweiundzwanzig, als er endete. Ich war heilfroh, als man deinen Vater mit nicht mehr als einem Beinschuss nach Hause schickte, und hätte den Teufel getan, ihn allein zu lassen, um mir eine Karriere aufzubauen.« Sie lächelte. Alles bestens. »Sei so gut, und stell schnell den Herd an, Liebes.«

Die Haustür fiel zu. Ihr Vater war heute früh nach Hause gekommen. Sämtliche Muskeln in ihr spannten sich an. Noch kannst du dich in dein Zimmer zurückziehen. Aber wenn sie anwesend war, würden ihre Eltern vielleicht nicht streiten.

Schritte kamen näher. Betty senkte das Kinn.

Dann war er da. »Wie geht es meinen beiden Damen?« Er sah das Glas, das vor ihrer Mutter auf dem Klavier stand, und sein Blick verfinsterte sich. »Gut, wie ich sehe.« Er fuhr mit dem Finger unter seine Krawatte und lockerte sie. »Was um alles in der Welt ist so schlimm an deinem Leben? Du kannst mein Geld ausgeben. Musst nicht arbeiten gehen. Kannst tun und lassen, was du willst. Und als Dank komme ich von der Arbeit nach Hause, und es ist nicht mal der Tisch gedeckt! Soll ich das etwa auch noch übernehmen?«

Etwas in Betty hoffte, ihre Mutter würde sich zur Wehr setzen. Aber sie schenkte ihm ihr befremdliches Mona-Lisa-Lächeln. Sagte: »Das Essen steht gleich auf dem Tisch, mein Liebster.«

Betty zog sich in ihr Zimmer zurück, ihren Zufluchtsort aus rosafarbenen Kissen, weichen Decken und Teddybären. Ihr Kleiderschrank war über und über beklebt mit Theaterkarten sowie Zitaten berühmter Schauspielerinnen. »Ich habe die Schauspielerei nicht gewählt, sie hat mich gewählt«, stand dort in ordentlicher Handschrift. Und darunter: Ingrid Bergman.

Sie sank auf den Stuhl vor ihrem Schminktisch und kämmte sich ihr langes Prinzessinnenhaar, wie ihre Mutter es genannt hatte, als sie klein gewesen war. Vor ihrem Spiegel waren, nach Farben sortiert, Haarspangen aufgereiht, die sie je nach Gefühlslage trug. Die schwarzen benutzte sie eigentlich kaum. Sie nahm die rosa Spange, die dezent glitzerte, und steckte sich damit die blonde Lockenpracht zurück.

Alles bestens.

Betty liebte ihre Mutter von ganzem Herzen, aber sie durfte nicht so enden wie sie. Eher würde sie sich die Pulsadern aufschneiden. Dass ihr etwas so Grausames auch nur in den Sinn gekommen war, bestürzte sie und machte ihr Angst.

Im Spiegel sah sie das Plakat von Audrey Hepburn, das über dem verschnörkelten Gestell ihres Betts hing. Daneben Artikel aus Westzeitschriften über Marlene Dietrich und Marilyn Monroe. Wenn man diese Frauen sah, dann fielen einem Begriffe ein wie wunderschön. Mysteriös. Elegant. Stilvoll. Sinnlich. Erotisch. Männer begehrten sie, Frauen wollten sein wie sie.

Müsste sie sich beschreiben, dann würden Worte fallen wie hübsch. Lieb. Faul.

Sie war weit davon entfernt, eine Frau wie diese Ikonen zu sein. Wie sollte sie es jemals schaffen, Schauspielerin zu werden?

Ihr Blick fiel auf den Zeitschriftenstapel am Rand ihres Schminktischs. Die Frauen, die darin gezeigt wurden, waren alle wunderschön. Gertenschlank. Makellos. Vor ihrem inneren Auge stellte Betty sich vor, wie sie ein perfektes Leben führten. Glücklich verheiratet waren. In einem schönen Haus wohnten. Vielleicht sogar ein Auto fuhren und dann und wann Urlaub machten. Und natürlich waren sie auch in ihrem Beruf erfolgreich.

Betty öffnete ihr Schmuckkästchen und holte zwei mit Kunstperlen besetzte auffällige Ohrringe daraus hervor, die ihr vor etwa einem halben Jahr auf einem Markt gut gefallen hatten, die sie aber nie zu tragen gewagt hatte. Sie steckte sie in ihre Ohrlöcher und betrachtete sich. Dann nahm sie einen roten Lippenstift zur Hand und trug ihn auf. Ihre Lippen wirkten durch die Farbe noch voller. Sie sah anders aus, aber ihr gefiel, was sie sah. Sie wirkte erwachsener. Fraulicher. Ein bisschen mehr wie die Stars in den Zeitschriften oder die Ikonen an ihrer Wand.

Sie sah in ihre blauen Augen und gab sich selbst ein Versprechen: Ab heute würde sie alles daransetzen, wie diese Frauen zu sein. Sie würde an sich arbeiten, um perfekt zu werden.

Und wer konnte ihr dabei besser unter die Arme greifen als der »Rote Dior«, der Modezar des Ostens, ihr wunderbarer Onkel Theodor?

2

Clara

Ein Geräusch. Stimmen. So laut und deutlich, als stünde jemand in ihrem Zimmer.

Clara blinzelte. Klopfte da jemand an ihre Tür?

»Raus aus den Federn!«, weckte sie die vom Rauchen raue Stimme ihrer Mutter.

Clara murrte und zog sich die Decke über den Kopf.

Geschirrklirren. Waren die Wände in dieser Wohnung denn aus Pappe?!

»Clärchen, heute ist doch der große Tag, und es is schon nach sieben!«

Was?! Sie fuhr in ihrem Bett hoch. Mist! Ausgerechnet heute, wo doch der Wissenswettbewerb an ihrer Schule war, verschlief sie! Sie sprang aus dem Bett, verhedderte sich in etwas und knallte gegen die Schrankwand, die kaum zwei Schritte von ihrem Klappbett entfernt war. Ein auf dem Boden liegender Pullover war ihr zum Fallstrick geworden. Oft genug ermahnte ihre Mutter sie, dass sie endlich lernen musste, Ordnung zu halten. Aber wie hatte Einstein so schön gesagt? Das Genie beherrscht das Chaos.

Sie war völlig gerädert. Dunkel kam die Erinnerung an die vergangene Nacht zurück … Ihr Opa, der auf einmal ängstlich und verwirrt in ihrem Zimmer stand. Seine Schlafanzughose war im Schritt nass. Es hatte Ewigkeiten gedauert, ihn zu beruhigen und sein Bettlaken zu wechseln. Als er endlich wieder eingenickt war, war sie hellwach gewesen. Kein Auge hatte sie zugetan und war erst wieder in einen leichten Schlaf gesunken, als die Arbeiter aus dem Viertel zur Frühschicht aufgebrochen waren. Dabei hing ihr Leben von diesem Tag ab, zumindest fühlte es sich so an.

Sie klatschte sich mehrmals gegen die Wangen. Vielleicht würde kaltes Wasser helfen, sie einigermaßen wach zu bekommen.

»Der lügt doch wie jedruckt!«, schimpfte ihre Mutter in der Küche und fuchtelte dabei mit dem Messer in der Luft. Die Lockenwickler in ihrem Haar wippten bei jeder Bewegung. Dazu trug sie den alten braunen Bademantel, der wohl schon Großvater gehört hatte. »Det sieht doch ’n Blinder mit Krückstock, Herr Kommissar!«

Clara verstand nur Bahnhof. Sie hatte das Gefühl, als würde ein ganzes Bienenvolk in ihrem Kopf schwirren. »Was?«, murmelte sie.

»Na, der Gärtner hat die alte Hausherrin bestohlen!«

Ach ja, ihre Mutter mutierte jeden Morgen zur Kriminalhauptkommissarin und ermittelte bei den Radiohörspielen, mit denen die Bevölkerung der ruhmreichen Deutschen Demokratischen Republik unterhalten wurde, fleißig mit. Das waren also die Stimmen gewesen, die sie geweckt hatten.

»Wie geht’s Opa?«, fragte sie.

»Ich hab det Laken jesehen. Dank dir. Der schläft tief und fest. Dass det ausgerechnet heute Nacht passieren musste, wo’s doch heut um deine Zukunft geht! Verkalkt ist er ja schon lange, aber dass er jetzt auch oft so ängstlich ist, der Arme …« Sie seufzte und schüttelte den Kopf dabei. »Danke, dass du dich gekümmert hast.«

Bad gab’s keins, und die Toilette lag eine halbe Treppe tiefer. Für ihren Großvater war das eine Katastrophe, denn mit seinen stattlichen einundachtzig Jahren schmerzte ihn jeder Schritt.

Clara wusch sich mit eiskaltem Wasser über der Spüle, um wach zu werden. Mit Spangen schob sie ihr kurzes, rostrotes Haar zu beiden Seiten aus dem Gesicht und prüfte dann ihren Anblick in dem kleinen Spiegel im Flur neben der Wohnungstür. Entschlossen erwiderte sie den Blick des Mädchens, das ihr entgegensah, und ging zurück in die Küche. Verinnerlichte noch mal die Bedeutung dieses Tages. Beim Wissenswettbewerb traten die Klassenbesten gegeneinander an. Wenn sie gewann, dann würden ihre Lehrer nicht länger ignorieren können, dass sie klug war. Und mit etwas Glück wäre sogar der Direktor einer der Eliteschulen anwesend, um Talente herauszufischen. Ihre Mutter hatte also recht, wenn sie sagte, es ginge heute um ihre Zukunft.

»Du wirst gewinnen«, sagte sie sich selbst immer wieder. »Man wird auf dich aufmerksam werden. Du wirst studieren dürfen, auch wenn du nicht in der FDJ bist. Du musst dich nicht anpassen, um erfolgreich zu sein.«

Die Mutter brühte derweil duftenden Bohnenkaffee auf, und es roch außerdem noch nach Bienenwachs, denn auf dem Tisch brannte die Familienkerze, eine dicke, hohe Kerze, die nur zu besonderen Anlässen angezündet wurde – an Geburtstagen oder eben vor wichtigen Prüfungen.

Eigentlich musste sie los, aber ihre Mutter drückte ihr eine Tasse in die Hand, aus der heraus es verführerisch dampfte. Ein paar Schlucke Kaffee mussten schon drin sein, ansonsten würde sie in der Schule einschlafen. Sie nippte an der heißen, labberigen Flüssigkeit, bei ihnen gab es immer Blümchenkaffee, weil ihre Mutter mit dem Pulver sparte. Nebenbei versuchte sie im Flur, mit der freien Hand ihre Schultasche zu packen, Bücher und Hefte hineinzustopfen, die sie für den Tag brauchen würde, und sich im Kopf aufzuwärmen, indem sie das große Einmaleins durchging.

»Du jewinnst heute, det hab ich im Urin!« Ihre Mutter brachte die Büchse mit den Stullen und herzte Clara dann so heftig, dass sie Mühe hatte, nichts von dem Kaffee zu verschütten. »Du wirst es mal besser haben als deine Eltern und nich in so ’ner kleenen Bude hausen.«

Mehrmals hatte Clara sich im Namen der Mutter um eine größere Wohnung beworben, aber eine Antwort hatte sie nie erhalten. Nur Auto und Ausreisegenehmigung waren in der DDR noch schwerer zu bekommen als eine Wohnung. Vor allem, wenn man nicht in der Partei war.

Jetzt musste sie aber wirklich los.

»Aber du hast doch noch nix im Bauch! So viel Zeit muss sein.« Ihre Mutter drückte ihr eine der Stullen in die Hand und nickte auffordernd. »Wenigstens einmal abbeißen.«

Da wurde die Wohnungstür aufgeschlossen, und ihr Vater kam von der Arbeit nach Hause. »Tag zusammen! Unsere Clara ist ja auch noch hier! Mhm, det duftet nach Koffein!«

»Warst die janze Nacht malochen. Da weiß ick doch, dass mein Heinrich ’nen Kaffee braucht.«

Ihre Mutter rollte die Lockenwickler aus den Haaren und legte sie in der Obstschale auf der Flurkommode ab. »Wie war’s denn heut Nacht?«

»Jut war’s! Ick hab ’nen Neuen.« Ihr Vater hängte seine Jacke auf, grinste spitzbübisch und rieb sich die Hände. »Also herhören, meine Damen: Warum ist die Banane krumm? Na, weil se ’nen Bogen um die Republik macht!«

»Heinrich!« Mit panischem Blick schloss ihre Mutter die Wohnungstür, die der Vater wie immer sperrangelweit offen gelassen hatte.

Das war die eigentliche Stärke der Staatssicherheit: Zu schaffen, dass Millionen Menschen sich ängstlich und misstrauisch duckten. Ihre Mutter war dafür ein Paradebeispiel. Sie verhielt sich stets so unauffällig und vorsichtig wie nur möglich. Trotzdem konnte sie es nicht lassen, hin und wieder mit der Bahn in den Westen rüberzufahren und von dort unter Todesängsten die Brigitte oder die Burda nach Hause zu schmuggeln. Dann wurde die Nähmaschine ausgepackt, und die schicken Kleider darin wurden nachgeschneidert, die sie sich dann aber nie traute, auf der Straße anzuziehen, und in den Tiefen ihres Kleiderschranks versenkte.

»Was bitte sagt det denn über denen ihr System aus, wenn schon ein kleiner Witz an ihrem Stolz kratzt?«, erwiderte ihr Vater. »Wir sind ehrenwerte Bürger. Ick hab mein Leben lang nur Anständiges getan. Was gibt’s denn Anständigeres als ’nen Pfarrer? Ick war aus Prinzip nie in der Partei, schon bei den Braunen nich und jetzt bei den Roten auch nich. Der Einzige, der mir was zu sagen hat, ist der da.« Er deutete mit dem Zeigefinger nach oben. »Schmeißen die mich einfach aus meiner eigenen Kirche raus, in der ick immer ein offenes Ohr für all meine Schäfchen hatte.«

Ihr Vater hatte einmal zu oft in seiner Predigt betont, dass die Liebe zu Gott das ganze Herz beanspruchte. Und weil darin seiner Meinung nach kein Platz mehr für eine politische Ideologie war, hatte man kurzen Prozess mit ihm und seinem Herzen gemacht. Jetzt arbeitete er als Straßenbahnfahrer und musste deshalb oft zu nachtschlafender Zeit aufstehen, aber er ließ den Mut nicht sinken.

Er war ein intelligenter und geduldiger Mann, der Clara früh das Lesen und Schreiben beigebracht hatte. Die Menschen seiner Gemeinde hatten ihn um Rat gefragt und auf seine Meinung vertraut. Clara wusste es nicht genau, aber sie war sicher, dass er auch als Straßenbahnfahrer toll war – mit den Leuten redete, wartete, wenn noch einer angerannt kam, und auch an den grauesten Regentagen gute Laune verbreitete.

Er gähnte herzhaft und ließ sich in der Wohnstube auf das Sofa fallen. So eng die Wohnung auch war – dieses monströse, wuchtige Ungetüm aus wulstigen Armlehnen, weichen Kissen und einer tiefen, einnehmenden Federung hatte trotzdem Platz und wurde von allen geliebt.

»Hat unser Mädchen nicht heute diesen Wettbewerb?«, rief er.

»Ja, hat sie«, antwortete Clara mit vollem Mund, spülte den Bissen vom Butterbrot mit einem Schluck Kaffee runter und versuchte gleichzeitig, sich ihre leichte Sommerjacke überzuziehen.

»Den ganzen Morgen is unsere Clara schon janz unruhig«, sagte ihre Mutter.

»Wenn det jemand schafft, dann du, meine Kleene! Aber vergiss nicht, dass es auch noch was anderes im Leben gibt als Bücher. Du solltest mehr unter Leute gehen.«

Clara war verwirrt. »Ich hab doch Betty und Martha.«

»Ja, det sind auch zwei wirklich nette Mädels, aber du bist doch ’n hübsches Ding.«

Worauf wollte er hinaus?

»Dein Vater will wissen, wie’s denn mit Jungs ist.« Aus der Art, wie ihre Mutter erwartungsvoll die Augenbrauen hochzog, leitete Clara ab, dass ihre Eltern über das Thema gesprochen hatten. Es war ihr schrecklich unangenehm.

»Keine Zeit. Ich muss mich doch auf meine Zukunft konzentrieren!«, rief sie, stellte ihre Tasse auf der Kommode im Flur ab und schnappte sich ihre Schultasche. Jetzt war es wirklich höchste Zeit zu gehen.

Gerade rechtzeitig zum Klingeln kam sie an. Ihr Herz schlug kräftig in ihrer Brust.

Betty stellte sich auf die Zehenspitzen und winkte Clara zu sich und Martha. »Mann, du siehst ja aus, als wärst du auf einer illegalen Studentenparty gewesen. Was hast du denn heute Nacht getrieben?«, wollte sie wissen.

»Ach, frag nicht …«, murmelte Clara matt. Ihr fiel auf, dass Betty recht stark geschminkt war. Ihr Mund war mit leuchtend rotem Lippenstift betont, und sie hatte sogar Ohrringe angelegt. Zweifelsfrei stand ihr beides gut.

»Vielleicht habe ich Puder dabei, damit könnten wir deine Augenringe überdecken.« Betty kramte in ihrer Tasche.

Martha drückte ein Mathebuch an ihre Brust. »Hast du die ganze Nacht gelernt?«, fragte sie Clara.

»Schön wär’s. Und du?«

Martha nickte. »Ich habe mir bis Mitternacht wichtige Daten aus unserer Geschichte eingebläut.«

»Na, ihr drei?« Alexander trat zu ihnen. Seine Schultasche hing locker an nur einer Schulter.

Er lächelte auf eine Weise, die Martha zu verunsichern schien. Sie überkreuzte die Beine, legte den freien Arm um ihren Leib und sah insgesamt aus, als würde sie am liebsten verschwinden. Schon ein paarmal war Clara aufgefallen, dass Martha auf diese Weise reagierte, wenn Alex ihnen Gesellschaft leistete, aber ihr wollte sich nicht erschließen, warum. Clara mochte Bettys Bruder, er war ziemlich entspannt. Doch schien er außer Sport nicht viel im Kopf zu haben.

»Wo warst du heute Morgen?«, fragte Betty ihren Bruder und begann, mit der Puderquaste unter Claras Augen herumzutupfen. »Ich saß mit Mama und Papa allein beim Frühstück.«

»Tut mir leid, aber ich musste was erledigen.« Er wich ihrem Blick aus.

»Oh nein, Alex. Ernsthaft?« Betty rollte mit den Augen. »Du hast schon wieder mit deiner Freundin Schluss gemacht? Wie hieß sie noch gleich? Sandra? Simone?«

»Susanne. Es hat einfach nicht gepasst. Sie war ja nett, aber …« Er schien angestrengt nach den richtigen Worten zu suchen. »Sie war einfach …«

»Ja?« Martha hing gebannt an seinen Lippen.

»Ach, keine Ahnung. Ist ja auch egal.«

Clara legte den Kopf schief und betrachtete ihn aufmerksam. So, wie seine Schultern herabsanken und er die Zähne zusammenbiss, wirkte es fast, als wäre er enttäuscht von sich selbst. Eine Seite an ihm, die ihr zuvor noch nicht aufgefallen war.

Auf einmal herrschte Trubel auf dem Schulhof. Sämtliche Blicke waren in den Himmel gerichtet. Wie Laubblätter segelten unzählige bedruckte Zettel auf sie herab. Jemand musste sie aus einem der Fenster in den oberen Stockwerken geworfen haben. Schön sah das aus.

Alex pflückte einen der Zettel aus der Luft und las vor: »Radio Freigeist – verboten gut!«, stand in dicken Lettern darauf. »Schaltet alle ein! Sonntag von neun bis vierzehn Uhr! Wir spielen die Musik, die ihr wirklich hören wollt!«

Darunter stand klein gedruckt: »Sobald ihr den Zettel gelesen habt, vernichtet ihn.«