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Der große Tag für die Friedenskräfte unter deutscher Führung in Syrien ist gekommen. Im sonnigen Frühling bewegt sich der Konvoi Richtung Aleppo, um Quartier zu beziehen. Aufgabe der Truppe ist es, die Waffenstillstandsvereinbarungen zu sichern, das Land zu befrieden, Schutz zu bieten. Doch dann ein ohrenbetäubender Knall. Die Marschkolonne wird von der gewaltigen Übermacht des IS angegriffen. Bomben explodieren, ein Szenario der Gewaltexzesse zeichnet sich ab. Aber es bleibt nicht beim Attentat. Der Krieg ist angekommen in Deutschland. Sterben und Leben ganz eng beieinander. Die nationale Katastrophe lässt nicht auf sich warten, die politische Krise ist unabwendbar …
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Seitenzahl: 648
Inhalt
Impressum 6
Teil 1 - Der große Tag 7
Tag 1 – 06:15 Uhr 7
Tag 1 – 07:15 Uhr 11
Tag 1 – 07:25 Uhr 15
Tag 1 – 07:54 Uhr 21
Tag 1 – 09:30 Uhr 27
Tag 1 – 10:08 Uhr 31
Tag 1 – 12:02 Uhr 38
Tag 1 – 09:30 Uhr 46
Tag 1 – 10:30 Uhr 50
Tag 1 – 12:02 Uhr 53
Tag 1 – 12:25 Uhr 59
Tag 1 – 12:25 Uhr 68
Tag 1 – 12:30 Uhr 75
Tag 1 – 12:25 Uhr 78
Tag 1 – 12:30 Uhr 82
Tag 1 – 12:58 Uhr 87
Tag 1 – 13:45 Uhr 92
Tag 1 – 14:25 Uhr 98
Tag 1 – 14:50 Uhr 105
Tag 1 – 17:15 Uhr 109
Tag 1 – 16:00 Uhr 116
Tag 1 – 20:00 Uhr 122
Tag 1 – 20:10 Uhr 127
Tag 1 – 20:00 Uhr 132
Tag 1 – 19:00 Uhr 135
Tag 1 – 23:00 Uhr 139
Tag 1 – 00:30 Uhr 144
Teil 2 - Die Einkreisung 157
Tag 2 – 06:30 Uhr 157
Tag 2 – 06:30 Uhr 163
Tag 2 – 07:15 Uhr 167
Tag 2 – 07:15 Uhr 170
Tag 2 – 07:00 Uhr 174
Tag 2 – 08:30 Uhr 180
Tag 2 – 08:00 Uhr 183
Tag 2 – 11:00 Uhr 187
Tag 2 – 15:00 Uhr 190
Tag 2 – 16:00 Uhr 192
Tag 2 – 21:00 Uhr 197
Tag 3 – 06:00 Uhr 202
Tag 3 – 08:00 Uhr 205
Tag 3 – 16:00 Uhr 213
Tag 4 – 08:00 Uhr 215
Tag 4 – 08:00 Uhr 219
Tag 5 – 08:00 Uhr 227
Tag 5 – 08:00 Uhr 233
Tag 5 – 13:00 Uhr 240
Tag 5 – 16:00 Uhr 247
Tag 5 – 19:30 Uhr 252
Tag 5 – 21:00 Uhr 256
Tag 5 – 21:00 Uhr 261
Tag 6 – 09:00 Uhr 264
Tag 6 – 09:00 Uhr 272
Tag 6 – 08:00 Uhr 279
Tag 6 – 19:00 Uhr 282
Teil 3 - Der Angriff 286
Tag 7 – 07:00 Uhr 286
Tag 7 – 08:30 Uhr 289
Tag 7 – 9:00 Uhr 294
Tag 7 – 10:00 Uhr 298
Tag 7 – 17:00 Uhr 302
Tag 8 – 01:00 Uhr 305
Tag 8 – 01:00 Uhr 307
Tag 8 – 08:00 Uhr 312
Tag 8 – 09:00 Uhr 316
Tag 8 – 11:00 Uhr 321
Tag 8 – 14:00 Uhr 331
Tag 8 – 16:00 Uhr 334
Tag 8 – 19:00 Uhr 339
Tag 8 – 22:45 Uhr 343
Tag 9 – 04:00 Uhr 346
Tag 9 – 07:00 Uhr 350
Tag 9 – 20:00 Uhr 354
Tag 9 – 22:00 Uhr 358
Tag 9 – 23:00 Uhr 362
Tag 10 – 06:00 Uhr 366
Tag 10 – 20:00 Uhr 369
Tag 10 – 20:15 Uhr 373
Tag 11 – 07:00 Uhr 378
Tag 11 – 11:00 Uhr 384
Tag 11 – 20:15 Uhr 389
Tag 12 – 01:00 Uhr 394
Tag 12 – 07:00 Uhr 397
Tag 12 – 19:00 Uhr 403
Tag 13 – 22:00 Uhr 414
Tag 14 – 11:30 Uhr 416
Tag 14 – 22:00 Uhr 420
Tag 14 – 21:30 Uhr 422
Tag 15 – 07:00 Uhr 426
Tag 18 – 22:00 Uhr 429
Tag 18 – 22:30 Uhr 433
Tag 21 – 22:00 Uhr 437
Tag 21 – 22:30 Uhr 441
Tag 24 – 10:00 Uhr 445
Tag 24 – 20:00 Uhr 451
Tag 25 – 20:00 453
Teil 4 - Der Anschlag 455
Tag 26 – 17:00 Uhr 455
Tag 29 – 17:00 Uhr 460
Tag 29 – 17:00 Uhr 464
Tag 29 – 17:15 Uhr 471
Tag 29 – 18:00 Uhr 476
Tag 5 – 05:00 Uhr 482
Tag 30 – 11:00 Uhr 485
Tag 30 – 11:00 Uhr 487
Tag 31 – 08:00 Uhr 493
Tag 32 – 08:00 Uhr 495
Tag 32 – 10:00 Uhr 499
Tag 32 – 11:00 Uhr 502
Tag 33 – 10:00 Uhr 505
Tag 33 – 12:00 Uhr 508
Tag 33 – 13:00 Uhr 512
Tag 33 – 11:45 Uhr 515
Tag 33 – 12:45 Uhr 519
Tag 33 – 12:00 Uhr 523
Tag 33 – 15:30 Uhr 526
Tag 33 – 16:00 Uhr 529
Tag 33 – 16:30 Uhr 534
Tag 33 – 22:00 Uhr 537
Tag 34 – 08:00 Uhr 541
Tag 34 – 10:00 Uhr 545
Tag 34 – 14:00 Uhr 549
Impressum
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
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© 2022 novum publishing
ISBN Printausgabe: 978-3-99130-120-2
ISBN e-book: 978-3-99130-121-9
Lektorat: Dr. Annette Debold
Umschlagfoto: Dmitriy Feldman, Oleg Zabielin | Dreamstime.com
Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh
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Teil 1 - Der große Tag
Tag 1 – 06:15 Uhr – Latakia – Tischrin-Universität – Lagezentrum FfPMSYR
Oberfeldwebel Mettner hatte gerade die Nachtschicht der Zelle Aufklärung des G2-Bereiches verabschiedet. Er selbst war um Viertel nach fünf vom Unteroffizier vom Dienst im Schlafraum, einem nun umgewidmeten kleineren Hörsaal auf dem Gelände der Tischrin-Universität, geweckt worden und hatte sich einer kurzen Katzenwäsche unterzogen. Im Schlafraum waren 22 Unteroffiziere der Stabsbereiche G2, G3 und G6 untergebracht, jeder mit seinem eigenen „Schlafverhalten“. Die eigentlich vorgesehenen Wohncontainer waren schon vor Wochen entladen worden, standen aber noch auf dem Hafengelände, da sie die Beamten der Bundeswehrverwaltung noch nicht abgenommen hatten. „Was für ein Irrsinn“, dachte er.
Die Übergabe der Aufgaben war schnell erledigt: Keine besonderen Vorkommnisse während der letzten 8 Stunden. Die Nachtschicht hatte sogar noch frischen Kaffee gemacht.
Der für die Schicht zuständige Offizier des G2-Bereiches, Oberleutnant Bahls, schlürfte lustlos an seinem Kaffee, sah kurz durch die Mails an den Bereich, blätterte in den Ausdrucken rum und verabschiedete sich dann zum Frühstück. Mehr oder minder kommentarlos, wie immer. Aber er ließ alle in Ruhe, was auch was wert war. Er war noch neu im Stab, und keiner konnte ihn so richtig einschätzen.
Jetzt saß Oberfeldwebel Mettner an seinen Bildschirmen im hinteren Bereich des Lagezentrums, auch einem Hörsaal der Universität, nur etwa doppelt so groß wie der des Schlafraumes.
Heute war der große Tag für die „Friedenskräfte“. So hießen sie zwar nicht, aber der Befehlshaber wie auch mittlerweile alle ranghohen Offiziere hatten den Begriff von irgendeinem Politiker übernommen.
Seit 05:00 Uhr gab es überall in und rund um Latakia Marschbewegungen. Die Verbände und Einheiten der Marschkolonne 1 fuhren an die für sie vorgesehenen Positionen, um dann zur zugewiesenen Zeit und nach Freigabe der Militärpolizei, den Feldjägern, sich am Ablaufpunkt, dem Autobahnkreuz M1/M4 bei Albassa, etwa 2 km südöstlich des Uni-Geländes und der Stadtgrenze von Latakia, fließend in die Marschkolonne einzuordnen.
Er switchte zu einem der Bildschirme auf die eigens für diesen Anlass installierte Kamera des Autobahnkreuzes. Jetzt um 06:15 Uhr reihten sich gerade Teile der Stabs- und Versorgungskompanie des Aufklärungsbataillons aus Eutin ein. Ein kurzer Kameraschwenk zeigte, dass auf der M1 von Latakia kommend bereits die Fahrzeuge des offiziellen Medientrupps von N-TV standen und auf der Staatsstraße 1 Teile einer der Pionierkompanien des Pionierbataillons 803 aus Havelberg.
Nachdem er sich eine zweite Tasse Kaffee geholt hatte, schaltete er sich live zu den sich im Einsatz befindlichen Drohnen des Aufklärungsbataillons 6. Eine der Drohnen begleitete mehr oder minder die ersten Fahrzeuge der Marschkolonne 1 sowie der nachfolgenden Spitzenkompanie, der 2. Kompanie des Panzergrenadierbataillons 411 aus Viereck. Eine weitere Drohne kreiste fast 70 Kilometer entfernt von Latakia über den eingerichteten Checkpoint am Frontverlauf bei Dchisr asch-Schughur.
Der Checkpoint war mittig auf der Autobahnbrücke über den Orontes von den Feldjägern aufgebaut worden. Auf der Westseite der Brücke sah er vier Fahrzeuge der Feldjäger, auf der Ostseite zwei Übertragungswägen von Medienanstalten, einen der ARD, den anderen vom IS genehmigten Sender Quest Arabiya aus Abu Dhabi. Insgesamt wurden die Marschkolonnen von jeweils zwei akkreditierten Fernsehsendern begleitet. Beide Sender wurden verpflichtet, ihre Live-Übertragungen frei verfügbar zu machen. Und so hatten heute Hunderte Millionen Menschen die Möglichkeit, den Marsch und die Ankunft der Friedenskräfte, oder eigentlich der „Force for Peacemaking in Syria“ live zu begleiten. Und der Marsch wurde nicht nur auf den Nachrichtenkanälen gezeigt, sondern auch in den zahlreichen Frühstücks- und später in den Mittagsendeformaten sowie abends in den dafür üblichen Sondersendungen, an welchen jetzt schon redaktionell gearbeitet wurde. Ein mediales Großereignis.
Die Fahrzeuge des Islamischen Staates, welche später die Marschkolonnen begleiten sollten, waren noch nicht eingetroffen. Nur ein oranges Fahrzeug der internationalen Beobachtungsmission stand etwa 200 Meter östlich der Brücke. Auf der Motorhaube saßen zwei Mann und schauten Richtung Brücke. Auf dem Dach stand eine Thermosflasche, in welcher sich die ersten kräftigen Sonnenstrahlen spiegelten.
Oberfeldwebel Mettner las die Aufklärungsberichte der letzten 16 Stunden durch. Weder die Drohnenaufklärung noch die Aufklärung der Luftwaffe mit ihren Aufklärungs-Tornados hatten größere Bewegungen beidseits der Frontverläufe registriert. Nur Einzelfahrzeuge oder kleinere Nachschubkolonnen wurden erfasst und aufgezeichnet. Das gleiche Bild wie in den letzten Wochen auch. Es hatte zwar immer mal wieder Schusswechsel oder auch kleinere Artilleriegefechte gegeben, aber entgegen früheren Zeiten und deren schweren Kämpfen mit gewaltigen Verwüstungen, Tod, Flucht und Vertreibung konnte man jetzt von einer ruhigen und stabilen Lage sprechen: Die Ampel für den heutigen Marsch war seit Wochen auf „Grün“.
Die Spitzenkompanie passierte gerade Shekhaneh, 40 km ab Ablaufpunkt. Er sprach sich mit dem Obergefreiten Zeisler ab, dass er nun zum Frühstück gehen würde. Oberleutnant Bahls, vor einer Viertelstunde wortlos zurückgekommen, nahm es auch schweigend zur Kenntnis. Er steckte sein Telefon ein, ging am G6-Bereich vorbei und holte den wartenden Oberfeldwebel Warnke ab. Auf dem Weg aus dem Lagezentrum schloss sich noch Stabsunteroffizier Assmus aus dem G4-Bereich an. Sie trugen sich noch gemeinsam in der Abwesenheitstafel ein. Heute würde wieder ein heißer Frühlingstag werden, keine Wolke war am Himmel zu sehen.
Tag 1 – 07:15 Uhr – Kilometer 39 ab Ablaufpunkt AK M1/M4 bei Latakia – Kurz vor Shekhaneh – Marschkolonne 1–2. Kompanie des Panzergrenadierbataillons 411 (Spitzenkompanie)
Major Ertl stand in der Kommandantenluke seines Schützenpanzers Puma. Die noch frische Morgenluft tat ihm sichtlich gut. Dennoch hatte er jetzt schon üble Laune über den weiter andauernden Marsch. Die Luft würde bald heiß und stickig werden, auch wenn es noch Frühling war. Aber sie waren in Syrien und fuhren immer tiefer ins Innere des Landes. Der Meteorologische Dienst des Führungskommandos hatte ab Mittag für die Provinz Aleppo bis zu 35 Grad Celsius genannt. Definitiv zu heiß für ihn, er hasste die Hitze. Mal schauen, ob der Fahrtwind von 30 km/h ausreichen würde, damit es nicht allzu schlimm wurde.
Gegen 05:30 Uhr hatte sich die mit einem Panzerzug verstärkte Kompanie an der Staatsstraße 1 Richtung Autobahnauffahrt zur Autobahn M1, kurz vor dem Autobahnkreuz M1/M4 bei Albassa, aufgestellt. Tagelang war diskutiert worden, ob man überhaupt eine Spitzenkompanie benötigte. Als diese Entscheidung dann getroffen war, ging es um das Erscheinungsbild der Kompanie. Kampfpanzer vorn oder hinten eingereiht, zu martialisches Bild oder nicht. Antennen aufgespannt oder nicht, auf alle Fälle Wimpel dran, Rundumkennleuchte notwendig, ja oder nein, so ging es in den zahlreichen Chef- und Stabsbesprechungen hin und her. Für ihn für ein Kriegsgebiet ziemlich lächerliche Fragen. Für den führenden Offizier des Marsches aber das wichtigste Kriterium. Und wenn er an den verantwortlichen Führer des Marsches dachte, konnte er nur den Kopf schütteln. Innerlich, denn nach außen zeigte er ein nichtssagendes, eher gelangweiltes Gesicht.
Der verantwortliche Offizier, Brigadegeneral Dr. Blaubach, saß nur ein paar Fahrzeuge vor ihm an der Spitze der Kolonne.
Blaubach war bloß vier Jahre älter als er. Ein durch und durch kompletter Karriere-Offizier, schlank, groß, ein kleiner Medienstar im Vorfeld des Einsatzes in so mancher Talkshow. Dort brillierte er mit seinem Charme, seinem eloquenten Auftreten und seiner Rhetorik. Aber auch in der Herausstellung seines Doktortitels neben seinem Offiziersrang. Den hatte er für seine Überlegungen in der Zusammenarbeit von zivilen NGOs und militärischen Kräften in Kriegs- und Krisengebieten bekommen. Eine sehr ausführliche und doch auch sehr theoretische Abhandlung mit vielen Seiten. Für manche vielleicht zu viele Seiten, vor allem wenn sie es eigentlich lesen sollten.
Und so wurde Blaubach zum stellvertretenden Kommandeur der „Friedenskräfte“ für Syrien und noch vier Wochen vorab zum jüngsten Brigadegeneral der Bundeswehr. Dabei war seine Karriere über viele Stationen für Ertl sehr unsoldatisch. Nur für zwei sehr kurze Zeiten war er vorab in Kommandoverantwortung. Nicht mal ein halbes Jahr als Hauptmann für eine Jägerkompanie, dann nochmals für zehn Monate für ein Jägerbataillon. Ertl fragte sich, ob Blaubach je mit seinem Bataillon in einem Manöver war. Dafür waren seine Tätigkeiten als Adjutant, militärisch-politischer Verbindungsoffizier, im Führungsstab sowie im Ministerium die Trittstufen seiner Karriere. Böse fragte sich Ertl, ob auf so mancher Stufe noch Schleim lag.
Blaubachs heutiger Auftritt als Führer des Marsches nach Aleppo sollte ihn endgültig zum Star machen, zumindest vor so manchen Fernsehzuschauern in Deutschland. Und deshalb waren die Formation des Marsches, Blaubachs Auftritt, die Freigabe für begleitende Medienteams innerhalb der Marschkolonne, die Live-Bilder der Schwerpunkt seiner Agenda. Inklusive des Durchschneidens eines Bandes auf der Brücke des Orontes mit anschließenden Pressefotos.
Punkt 06:00 Uhr gab ein Oberleutnant des Feldjäger-Kommandos per Funk und zeitgleich mit seiner Winkerkelle wedelnd das Signal zum Start des Marsches. Am Rand der Autobahn M4 stand Generalmajor Freiherr von Bottrop auf einer kleinen, extra gefertigten Bühne und grüßte die anfahrende Kolonne. Ertl dachte kurz nach, wie lange der General heute dort zu stehen hatte.
Generalmajor Freiherr von Bottrop war Befehlshaber der „Force for Peacemaking in Syria“ und Blaubachs Vorgesetzter. Allerdings war Bottrop eher ein Tourist in Uniform bei diesem Einsatz. Bereits in der Vorbereitung des Einsatzes musste ihm der Chef des Stabes, Oberst i. G. (im Generalstab) Endrikat, eine Karte nebst Abhandlung mit allen Sehenswürdigkeiten der Antike und den Spuren der Kreuzritterzeit in der Region erstellen. Der Clou an sich war aber die Aufzeichnung der Route Alexander des Großen nach der Schlacht bei Issos Richtung Ägypten. Auf diesem Weg wollte Bottrop ein paar Tage wandern, um Energie für den Einsatz zu tanken. Die jungen Offizieranwärter aller Einheiten des Verbandes sollten ihn dabei begleiten. Jeder bekam dazu Aufgaben für geschichtliche Vorträge zugewiesen. Schade fand von Bottrop, dass sie hierzu nicht auch in die Türkei, obwohl doch auch Nato-Mitglied, durften. Gerne hätte er selbst einen Lagevortrag zur Schlacht Alexanders gehalten. Insgeheim rechnete er immer noch mit einer Zusage der Türken. Sein Adjutant hatte den Vortrag immer am Mann zu haben.
Während Major Ertl über seine militärische Führung und andere Dinge sann, hatten sie Shekhaneh fast erreicht. Dass sein Fahrer beinahe unverschuldet einen Hund überfahren hätte, bemerkte er nicht. Aber der kurze Ruck des Panzers beim kleinen Brems- und Ausweichmanöver holte ihn zurück in die Realität.
Wie eigentlich überall, wo sie auf Einheimische trafen, grüßten und winkten diese unablässig. Kinder und Jugendliche liefen neben den Fahrzeugen her und riefen ihnen auf Arabisch zu. Hier aber in Shekhaneh bot sich ein fast überwältigendes Bild. Tausende Menschen, Frauen, Männer, alte, junge standen entlang der Autobahn und begrüßten die Kolonne. Jetzt wurde es Major Ertl schlagartig vor Ergriffenheit warm ums Herz.
Die Menschen hier, gezeichnet vom irrwitzig langen Krieg mit all seinen Leiden, bauten auf sie, die „Friedenskräfte“ unter deutscher Führung. Denn alle Kriegsparteien hatten Deutschland als geeignet für die Mission definiert. Und somit konnte sich die deutsche Politik irgendwann dem Druck von außen und innen nicht mehr entziehen. Sogar sonst das Militär ablehnende Kräfte verlangten plötzlich laut und energisch nach diesem Einsatz, die Rechten sahen die Möglichkeit, den nach Deutschland Geflüchteten wieder ihr Land zu geben.
Und so kam es, dass seit rund vier Wochen zehntausend deutsche Soldaten und zivile Helfer vom Roten Kreuz und dem Technischen Hilfswerk und nochmals an die viertausend zivile Kräfte, Ärzte, Sanitäter und Ingenieure aus Belgien, den Niederlanden und Dänemark in Syrien per Schiff und Flugzeug angekommen waren und sich heute fast fünftausend von ihnen auf den Weg nach Aleppo machten.
Bereits im Vorfeld gab es eine internationale Beobachter-Mission zur Überwachung des Waffenstillstandes mit Mitgliedern von Schweden bis Pakistan, von Mexiko bis Japan, von Südafrika bis Turkmenistan. Und die „orange“ Mission hatte grünes Licht gegeben für den Einsatz der Friedenskräfte. Orange, weil die Fahrzeuge der Mission orange und so für alle erkennbar waren. Jemand hatte sogar mal die Idee, auch die Panzer und Kraftfahrzeuge der Bundeswehr für diesen Einsatz so zu gestalten. Allerdings war diese Idee bald wieder verworfen. Die Fahrzeuge behielten ihren Tarndruck, dafür bekamen sie große Markierungen mit dem Verweis auf die Friedenskräfte. Dazu gab es die allgegenwärtigen bunten Wimpel an den Antennen.
Tag 1 – 07:25 Uhr – Kilometer 46 ab Ablaufpunkt Autobahnkreuz M1/M4 bei Latakia – Nach Shekhaneh – Marschkolonne 1–2. Kompanie des Panzergrenadierbataillons 411 (Spitzenkompanie)
Major Ertl war beindruckt. Er wollte unbedingt, dass der Rest seiner Mannschaft im Inneren des Panzers dies auch sah. Zuerst war sein Kompanie-Truppführer, Hauptfeldwebel Dittmar dran, nach fünf Minuten zupfte er an Dittmars Hosenbein, auch der Hauptgefreite Henschel sollte sich das ansehen. Er war eh voller Neugierde, was draußen so los war. Der Richtschütze, der Gefreite Jablonowski, sah es alles mit seiner Optik der Maschinenkanone, rundum und in die Ferne.
Hauptfeldwebel Dittmar saß ihm gegenüber. Er mochte in etwa gleich alt sein wie er. Die letzten zwei Wochen lernte er ihn ganz gut kennen. Was wichtig war. Ertl hatte erst vor vier Wochen die Kompanie ersatzweise übernommen, der originäre Kompaniechef war krankheitsbedingt ausgefallen. Ertl war eigentlich noch ganz frischer Offizier im Stab des Panzergrenadierbataillons 112 in Regen im Niederbayerischen. Aber wie bei allen Bundeswehreinsätzen der letzten Jahre und gerade bei diesem Großeinsatz war es notwendig, freie Positionen auch aus anderen Verbänden zu besetzen. Zuvor war er acht Jahre Kompaniechef einer Panzergrenadierkompanie, also mehr als erfahren, um jetzt auch die Spitzenkompanie zu führen.
Hauptfeldwebel Dittmar hatte sein Lunchpaket, welches sie heute früh alle bekommen hatten, ausgepackt und begutachtete es. Wie immer de facto das Gleiche. Er entschied sich für die Dose mit Jagdwurst. Major Ertl schenkte aus der Thermoskanne zwei „Haferl“ Kaffee ein und reichte das eine an Dittmar. Die ganze Kompanie machte Witze über den Dialekt und die Worte und Bezeichnungen, welche der Neue so verwendete. Und eines davon war das „Haferl“, eine große Tasse Kaffee. Die Tasse des Majors war mit „Chef“ beschriftet, so wie alle Tassen zugeordnet waren. Wenn man schon nicht abspülen konnte, hatte man wenigstens immer wieder seine eigene dreckige Tasse. Wenn schon, denn schon.
Major Ertl sah sich um. Der gesamte Innenraum des Panzers war vollgestopft mit den unterschiedlichsten Dingen, angefangen mit den persönlichen Ausrüstungen der Soldaten, den Waffen, Munition, Wasserflaschen, Lunchpaketen, anderem Essen wie einer Salami, welche von der Decke hing, bis hin zu Treibstoffkanistern und auch seiner Offizierskiste Nummer vier, was er mit Genugtuung sah.
Eigentlich hatte alle Ausrüstung, welche nicht der Kampfausrüstung zugehörig war, eingelagert werden sollen, um sie dann später gesondert zuzuführen. Das hatte Major Ertl auch so gemacht, aber Kiste vier war für ihn wichtig. Natürlich hatte jeder irgendwelche Sachen zusätzlich zur Kampfausstattung mitgenommen, aber nur der Chef konnte eine ganze Kiste mitnehmen, voilà. Außer der Fahrer des Panzers, der Hauptgefreite Mause. Der hatte Teile seiner Kampfausstattung zurückgelassen, dafür 20 Dosen Jever mitgenommen. Aber irgendwie zählte dies bei ihm auch zur persönlichen Kampfausstattung.
Major Ertl wusste ganz genau, was in seinen zurückgelassenen Kisten so war, zum Beispiel sein Dienstanzug. Wieder musste er sich innerlich schütteln. Sie hatten im Grunde einen komplexen militärischen Einsatz, hatten vielleicht auch Gefechte oder Kämpfe. Aber Brigadegeneral Dr. Blaubach hatte die Idee des Dienstanzuges als gut empfunden. Für feierliche Anlässe oder auch Empfänge sollten die Offiziere sachgerecht gekleidet sein. Blaubach hatte in seinem Leben als Soldat eh wenig Erfahrung mit dem Kampfanzug, den trug man im Ministerium auch seltener.
Auf dem Klappbord vor den Funkgeräten lag die „Welt“ von vor vier Tagen. Gestern noch angekommen. Major Ertl blätterte drin rum und sah sich die neuesten Berichte aus den USA an.
Fast 2 ½ Jahre währte das Chaos nun schon in den ehemals Vereinigten Staaten. Nach und durch die Wahl 2020 hatte alles angefangen. Oder waren die Wahlen nur noch der Auslöser? War es vorab schon zu dieser Bildung von Blöcken ohne richtige Mitte, welche auch vermitteln konnte, gekommen?
Nun waren die USA in drei große Hauptteile zerfallen, welche sich in einem Bürgerkrieg radikal bekämpften. Es begann schon vor den Wahlen, chaotisch, mit immer gewalttätigeren Demonstrationen, folgenden bewaffneten Gegenaktionen bis hin zu einem Zerfall der zivilen Strukturen. Der Bruch ging durch alle Bevölkerungsschichten und Institutionen bis hin zum Militär. Wobei das Militär sich fast schon geordnet und gesittet trennte, bevor man sich dann als Gegner umso brutaler bekämpfte.
In zig Sondersendungen zur Lage in den USA wurde immer wieder betont und von Historikern bestätigt, dass sich auch gut 160 Jahre zuvor im nun „Ersten“ Sezessionskrieg sich im Vorfeld ähnliche Szenarien ereigneten. Damals verabschiedeten sich Jahrgangskameraden der Offiziersschule in Westpoint in Abschlussfeiern, umarmten sich, wünschten sich alles Gute, um sich dann auf den Schlachtfeldern gegenüberzustehen.
So wurden nun im Ausland stationierte Truppen getrennt nach Hause gebracht, jeder hatte die Wahl, in welches Flugzeug er einstieg, welches Schiff er betrat, wohin und auf welche Seite er wechselte oder aber auch nur nach Hause zu kommen. Und so mancher blieb, auch in Deutschland.
Nach und nach hatten sich die gegnerischen Seiten mit wenigen Ausnahmen eingeschlossener Städte und Countys auf drei große Bereiche verteilt. Jene, welche sich ehemals als Demokraten bezeichneten, auf die Bereiche der Ostküste in der ungefähren Ausdehnung der Alt-England-Staaten bis zu den Großen Seen nach Chicago als den einen Raum, der andere Bereich über die gesamte Pazifikküste bis zur Linie der Rocky Mountains. Eine noch zu erwähnende größere durch Demokraten gehaltene Region war ein Landstrich in Texas und New Mexiko hin zur mexikanischen Grenze. Auch in Arizona an der ehemaligen Grenze zu Mexiko war die Lage nicht immer einwandfrei zuordenbar.
Die „Neuen Republikaner“ saßen in der Mitte und im Süden des Landes. Und obwohl ärmer und deutlich landwirtschaftlicher als industriell geprägt, waren sie derzeit die erfolgreichere Partei im Kriegsverlauf.
Schneller, robuster und gewaltbereiter. Erst seit Kurzem konnte man erkennen, dass der Westen, ausgehend vom Machtzentrum in Kalifornien, die Lage für sich stabilisieren konnte. Was aber nicht gelang, war die Verbindung entlang der kanadischen Grenze mit den Ost-Staaten. Im Gegenteil, die Lage in Illinois Richtung Chicago schien sich derzeit zuzuspitzen, Chicago stand vor der Einkesselung.
China schaute zu und holte sich global immer mehr Einfluss, wo früher die USA ihren Führungsanspruch betonten. Nur Indien hielt dagegen, war aber in einer Art Zwickmühle gleichsam mit Pakistan und den Problemen im Inneren zwischen Hindus und Moslems. Russland kämpfte mehr als jedes andere Land mit der Klimakatastrophe, Südamerika war meist mit sich selbst beschäftigt, der Islam wurde immer „arabischer“ und damit aggressiver. Und dieser Islam breitete sich mehr und mehr auch in Zentralafrika aus. Nur noch die nordafrikanischen Staaten bewahrten, gestützt durch manch europäische Staaten, eine gewisse Stabilität.
Noch war der Iran, wenn auch geschwächter, ein Bollwerk gegen die sunnitisch-arabisch geprägten expandierenden Kräfte in der Region und bekam dafür neuerdings auch Unterstützung aus Europa. Amerika interessierte sich schon lange nicht mehr für dies und vieles mehr.
Und so waren die Europäer übrig: Der Osten, voran die Polen, beäugte die Russen, die Franzosen hatten Kontingente mit bis zu 25.000 Soldaten in Westafrika stehen. Italien hatte eine Brigade nach Tunesien zur Stärkung der dortigen Regierungskräfte sowie ein größeres Kontingent nach Eritrea entsandt, Griechenland und die Türkei lagen bis zu kleineren See- und Artilleriegefechten im Dauerstreit.
Und in Syrien selbst konnten nur noch der Streifen zur Türkei von kurdischen Kräften der YPG sowie die Regionen an der Mittelmeerküste mit den Städten Latakia und Tartus bis zum Libanon hin von der Syrischen Armee gehalten werden. Die mehrheitlich sunnitisch geprägte Region rund um Damaskus hatte sich dem Königreich Jordanien angeschlossen oder war annektiert worden, alles eine Frage der Betrachtung. Die bis dato vorherrschenden Kräfte, vorwiegend Alawiten, mussten sich auf die Küstenregion und ihre Stammlande, den Dschebel Ansariye, zurückziehen.
Und die schmutzige Arbeit der Arabischen Expansion verrichtete der selbst ernannte und mittlerweile durch die Arabische Welt faktisch anerkannte Islamische Staat.
Was noch fehlte war die Geschichte Israels. Ein selbstverschuldeter Exodus mit alttestamentarischem Ausmaß.
Major Ertl konnte manchmal nur den Überblick verlieren oder musste es ausblenden. Unser aller Leben hatte sich die letzten Jahren dramatisch verändert. Wie schnell dies alles nach so vielen Jahren des Friedens nach dem Zweiten Weltkrieg passieren konnte?
Und doch gab es noch Kräfte auf dieser Welt, welche für den Frieden warben. Deutschland gehörte dazu, war vielleicht auch am lautesten.
Und war damit nun in dieser Rolle in diesem für Deutschland größten und wichtigsten Einsatz seit Bestehen der Bundesrepublik und der Bundeswehr.
Major Ertl zupfte an der Hose des Hauptgefreiten Henschel und deutete an, dass er wieder das Kommando in der Luke übernahm. Es war stickig geworden im Innenraum des Panzers.
Tag 1 – 07:54 Uhr – Kilometer 57,7 ab Ablaufpunkt Autobahnkreuz M1/M4 bei Latakia – Al-Najeva Passhöhe der Autobahn M4 über den Dschebel Ansariye – Marschkolonne 1–2. Kompanie des Panzergrenadierbataillons 411 (Spitzenkompanie)
Über 57 Kilometer bewegte sich die Spitze der Marschkolonne 1 nun ab dem Ablaufpunkt bei Latakia die Gebirgszüge des Dschebel Ansariye hinauf. Seitdem sie Shekhaneh passiert hatten und Ertl wieder in der Luke stand, war er ein Stück weit besser drauf. Er genoss die Landschaft und versuchte diese mit Eindrücken aus früheren Urlauben in Italien, Kroatien oder der Türkei zu vergleichen. Er fand keinen Vergleich. Und er war überrascht, wie wunderschön er diese Berghänge, die oft tiefen Taleinschnitte, Dolinen mit gut 200 Metern Größe und das Grün der Natur erlebte. Dazu eine angenehme straffe Brise vom Meer her. Die Olivenbäume, Zedernwälder und Steineichen ähnlich wie in Portugal.
Er sah sich bei einem Rotwein, bei Knoblauchbrot, Käse und Oliven. Was wäre dies für eine Urlaubsregion, kam es ihm in den Sinn. Zum Wandern, zum Ruhen. Und das Meer mit seinen traumhaften Stränden war nur wenige Kilometer entfernt. Und ein wenig Kultur gab es ja auch. Er war begeistert. Mal sehen, welche Überraschungen noch kommen würden.
Jetzt hier kurz vor der Passhöhe, welche eigentlich eine Hochebene war, änderte sich das Bild. Aufgeschichtete Steinmauern ähnlich wie auf den kroatischen Inseln. Kleine Felder. Ein Zurückweichen des satten Grüns. Und ein Zunehmen des Windes.
Rechts lag Al-Najeva, links sah er moderne Wohnblocks, wo er Bidama vermutete. Und kurz vor der Passhöhe passierten sie einen großen Parkplatz an der Autobahn. Von überall winkten Menschen. Wieder überkam ihn das Gefühl von vorab bei Shekhaneh.
Er beugte sich kurz hinunter. Sein Kompanieführungstrupp war mit sich selbst beschäftigt. Hauptfeldwebel Dittmar las im zuletzt verfügbaren Kicker, der seit Tagen die Runde machte, die Hauptgefreiten Henschel und Riebe dattelten auf kleinen Spielekonsolen. Alle Handys waren verboten, was bei so manchen zu kritischen Situationen ähnlich eines Entzuges führte. Nur die Stabsoffiziere hatten ein dienstliches Mobiltelefon. Er nicht, denn er besetzte ja keine Stelle eines Stabsoffiziers bei diesem Einsatz, nur die eines, wenn auch erfahrenen, Kompaniechefs einer Panzergrenadierkompanie.
Über den Bordfunk fragte er beim Hauptgefreiten Mause, dem Fahrer des Schützenpanzers, den Treibstoffstand ab. Die Fahrt von Meereshöhe auf nun fast 1000 Meter Höhe hatte ihren Tribut gefordert. Auch beim modernen Puma-Panzer. Doch das war eingeplant.
Eigentlich war keine Passhöhe erkennbar, vielleicht ein breiter Rücken. Nur das Schild rechts der Fahrbahn verwies darauf. Jetzt ging es bergab. Wieder runter auf 150 Meter über Meereshöhe. In das Tal des Orontes. Während es von der Küste bis hier nur leicht, aber doch stetig Richtung Nordosten anstieg, sollte die Abfahrt eher steil hinabgehen und sie zunächst nach West, dann Südwest führen.
Während er heute früh noch eher mürrisch gelangweilt oder besser genervt war, fand er es jetzt doch spannend. Er freute sich auf das Kommende.
Nachdem sie das rechts von ihnen liegende Bergmassiv umfahren hatten, änderte sich schlagartig die Steigung der Autobahn M4. Er wusste nicht, wie viel Grad das sein mochten. Aber er kam sich vor, als würden sie eine Rampe herabfahren. Das war definitiv steiler als alles, was er so von zu Hause, besser von Urlaubsfahrten über den Brenner nach Italien oder der Tauernautobahn nach Kärnten so kannte. Eine Meisterleistung, wie die Autobahn hier gebaut war. Hoffentlich schaffte dies auch jedes der Fahrzeuge der Kolonne mit dem Bremsen. Alle waren mit der kompletten Ausrüstung und noch viel mehr beladen. Grinsend dachte er an seine Kiste. Ob das bis zum offiziellen Nachschub so reichen würde? Er musste in Aleppo nach Alternativen suchen.
Immer noch die Rampe abfahrend wechselte die Autobahn in einer Kurve nach Südwest. Etwa zehn Kilometer lang. Dann kam eine Spitzkehre mit gut 180 Grad wie auf einer Passstraße in den Alpen. Und am Ende dieser Spitzkehre sah er zum ersten Mal in seinem Leben den Ghab.
In einem der Vorbereitungsunterrichte für den Einsatz hatte er erstmalig davon gehört. Und jetzt sah er es auf diese so beindruckende Weise. Von der Abfahrt des Dschebel Ansariye in den Ghab, dem tektonischen Grabenbruch zwischen der afrikanischen und der euroasiatischen Kontinentalplatte.
Der Ghab begann im Roten Meer, setzte sich im Jordangraben und der Bekaa-Ebene fort nach Syrien bis zum Kurd Dagh, den Bergen der Kurden an der türkischen Grenze.
Es war, als hätte Gott oder welch andere Macht hier einen Graben von Süd nach Nord gegraben. Und in der Mitte des Grabens mäanderte ein Fluss, der Orontes.
Nur etwa drei Kilometer links unten lag Dschisr asch-Schughur. Eine Stadt mit früher an die 50.000 Einwohnern, jetzt ein Eckpfeiler der Verteidigung der Syrischen Armee und in direkter Frontlinie zum Islamischen Staat. Hier war der Orontes die Frontlinie.
Er konnte sich von einem der Unterrichte über die diversen Kriegsverläufe der letzten 15 Jahre daran erinnern, dass Dschisr asch-Schughur eigentlich eine Hochburg der Sunniten war, genauer der sogenannten „Freien Syrischen Armee“ und damit Feind der regulären Syrischen Armee. Und dass hier oft und hart gekämpft wurde. Dann, im Verlauf dieses fast irrwitzigen Bürgerkrieges schloss man zunächst einen Waffenstillstand und später eine Partnerschaft. Oder eher mehr eine Zweckpartnerschaft gegen einen gemeinsamen Feind. Einen Feind, der gewalttätiger, brutaler, ultrakonservativ in der Auslegung der Religion und deren Umsetzung und mächtiger war. Mächtiger wurde, weil er noch mächtigere Freunde auf der Arabischen Halbinsel hatte. Vorneweg das Königshaus sowie den Klerus.
Und somit kam es zur Zusammenarbeit der weltoffeneren Sunniten und den Alawiten. Und später dann zur Eingliederung der militärischen Kräfte in das 1. Syrische Armeekorps. Nur so hoffte man die die letzten IS-freien Bastionen zu halten. Dschisr asch-Schughur spielte hierzu eine militärische Schlüsselrolle im Norden des Frontverlaufs, welcher sich bis zu den Stellungen der verbündeten Kurden hinzog.
Nun hatten sie die Bergkette entlang der Küste, den Dschebel Ansariye, überwunden und rollten auf den Orontes zu. Es war mittlerweile 08:30 Uhr geworden. Über den Funkkreis der Kompanie wies er jedem Zug seiner Kompanie Beobachtungsbereiche zu. Von den Stellungen in Dchisr asch-Schughur im Norden über die Bereiche im Westen bis zum Orontes flussaufwärts nach Süden. Nur die Optik, keine Waffen, kein Drehen der Türme. Sie waren die Friedenskräfte, geschmückt mit Wimpeln an den Antennen und gottlob in Tarndruck und nicht in Orange.
Über den Fernmeldeführungskreis der Marschkolonne 1 kam der Befehl zum Stopp. Auch dieser Befehl an dieser Stelle und zu dieser Zeit, man war zwar drei Minuten vor der Zeit, war geplant. Kein Soldat durfte ein Fahrzeug verlassen, Bedürfnis oder kein Bedürfnis. Ertl fragte sich, ob wohl weiter hinten in der Kolonne alle sich dran halten würden. Er hatte noch keine Notwendigkeit dazu. Als er damals aus dem Kosovo evakuiert wurde, waren es 12 Stunden. Das war richtig hart. Und mit einem Schmunzeln erinnerte er sich daran, als damals die Besatzungen von über 50 Fahrzeugen zeitgleich die Türen aufstießen, um dann in unmittelbarer Nähe der Straße, ohne jegliche Deckung oder Sichtschutz, Weiblein wie Männlein, das Gleiche zu tun.
Am „Checkpoint“, zumindest hieß er in allen offiziellen Protokollen so, in der Mitte der Brücke über den Orontes, eines Bauwerks, welches, inmitten des Frontverlaufes unversehrt dastand, befanden sich mehrere Gruppen von Männern. Alles genauso wie abgesprochen. Vertreter der Syrischen Armee, des Islamischen Staates, der internationalen Beobachtermission, Soldaten des Feldjäger-Dienstkommandos der Bundeswehr und die drei offiziell akkreditierten Medienteams. Eines mit Freigabe der Syrischen Kräfte, eines vom IS und eines für die Weltöffentlichkeit. Hier auf der Brücke stand als Vertreter der Weltöffentlichkeit das öffentlich-rechtliche Fernsehen der Bundesrepublik Deutschland in Gestalt der ARD. Genauer des NDR im Auftrag der ARD. Und der NDR hatte alle Bilder freizugeben an all die anderen Medienanstalten.
Kurz angemerkt. Hinter der Spitzenkompanie hatte sich das Kamerateam von N-TV eingereiht. Und Ertl dachte kurz daran, wie wohl die Bilder des Dschebel Ansariye das deutsche Publikum erreicht hatten. Ob manche auch an einen vergangenen oder zukünftigen Urlaub dachten?
Auf der Autobahnbrücke begann die formelle Begrüßung der Parteien, es erfolgten die üblichen Handshakes, ein paar Floskeln, dann der Akt am Übergang über den Orontes, dem vor einem halben Jahr noch bitter umkämpften Frontverlauf.
Der offizielle mediengerechte Akt war das gemeinsame Durchschneiden eines blauen Bandes. Und damit das Signal für die Weltöffentlichkeit, dass die Friedenskräfte zur Erfüllung ihres Auftrages sich nach vorheriger Absprache frei auch auf dem eroberten Gebiet des IS bewegen durften. Heute beginnend mit dem Marsch nach Aleppo.
Das Band wurde durchschnitten, auf der Brücke wurde geklatscht. Und die jeweiligen kurzen Interviews vor den Kameras begannen. Alles wie vorher in einem Ablaufskript verhandelt und detailliert protokolliert.
Major Ertl sah keinerlei befremdliche Aktivitäten, auf keiner Seite des Orontes. Er war beruhigt. So wie viele andere, welche die Zeremonie mit anschauen konnten, vor Ort oder vor dem Fernsehgerät zu Hause oder sonst wo.
Tag 1 – 09:30 Uhr – Latakia – Tischrin-Universität – Lagezentrum FfPMSYR
Das Lagezentrum war absolut voll. Vor der großen Projektionsfläche waren alle freien Sitzreihen des Hörsaals gefüllt. Auch die abgetrennten Arbeitsbereiche der Stabsabteilungen waren voll besetzt. In den Aufgängen rechts und links des Hörsaales standen jene, welche keinen Sitzplatz ergattert hatten oder jetzt zum Zeitpunkt nicht in der Schicht arbeiteten.
Insgesamt gab es im Lagezentrum des Stabes der „Force for Peacemaking in Syria“ drei Schichten mit jeweils voller Personalausstattung aller Stabsbereiche, den Verbindungsoffizieren zu den eigenen Verbänden und den Verbindungsstäben zu den Kriegsparteien, dem THW, dem Roten Kreuz und anderen beteiligten staatlichen Organisationen und den NGOs.
Eine riesige Schaltzentrale mit 125 Mann pro Schicht. Dazu kamen die Soldaten der Fernmeldekompanie, die IT-Spezialisten und all die, welche die Infrastruktur herstellten und aufrechterhielten.
Es war eine richtige kleine Stadt auf dem Gelände der Tischrin-Universität entstanden. Gut 1200 Mann, zivile Spezialisten und Soldaten und bereits die ersten lokalen Beschäftigten für die notwendigen Dienstleistungen. Langsam spielte es sich ein, auch wenn noch nicht alles lief, wie das Beispiel mit den Wohncontainern zeigte. Dafür gab es schon zwei Mensabereiche. Deutsche Küche über einen bekannten Caterer aus Niedersachsen sowie die letzte Woche erfolgte Wiedereröffnung der Universitätsküche mit lokalen Speiseangeboten.
Die Absicherung des Geländes erfolgte durch das Jägerbataillon 413 aus Torgelow in Zusammenarbeit mit dem Feldjägerdienstkommando und der syrischen Polizei in Latakia.
Da die Lage hier in Latakia äußerst ruhig und stabil, die Bevölkerung offen gegenüber den Friedenskräften war, konnte man das Lager in seiner schichtfreien Zeit nach Abmeldung in einer Gruppe von mindestens drei Personen auch verlassen. Wobei diese Regel nur für die Soldaten galt. Für die zivilen Mitarbeiter gab es keine Einschränkungen, nur Empfehlungen.
In kürzester Zeit erwachte Latakia. Cafés und Restaurants eröffneten, überall standen Straßengrills, an den wunderschönen Stränden öffneten Strandbars.
Diese Freiheiten galten aber nur für die „Städter“ in der Universität. Und auch nur, da man bei gemeinsamer Arbeit von Zivilisten, der freien Wirtschaft und Militär, die Soldaten nicht einschränken konnte. In den militärischen Verbänden, welche rund um Latakia Quartier bezogen hatten, galt das nicht, was durchaus zu Missgunst führte.
Für Oberfeldwebel Mettner war es eine Mischung von Arbeit und Freizeit weit weg von zu Hause. Sechs Monate sollte sein Einsatz hier andauern, dann würde ein anderer Großverband die Leitung der Friedenskräfte übernehmen. Sechs Monate bei voller „Buschzulage“ waren zwar lang, brachten aber auch einen Geldsegen mit sich.
Insgesamt waren die letzten drei Monate an die 13.700 Zivilisten und Soldaten eingeflogen oder über Schiffstransporte in Latakia und näherer Umgebung eingetroffen. Die Mehrheit erst in den letzten vier Wochen. Und heute war der zweite große Tag, für viele der eigentliche große Tag. Beim ersten wurde das Vorkommando Aleppo mit insgesamt 345 Frauen und Männern in die gleichnamige Stadt verlegt. Das war vor genau drei Wochen.
Heute hatte die Verlegung begonnen, der Marsch des großen Kontingents der Friedenskräfte, welches in Aleppo stationiert werden sollte. Fast 5000 Zivilisten und Militärs waren seit heute Morgen auf der Autobahn M4 Richtung Westen unterwegs, um ihre neuen Quartiere in Aleppo zu beziehen und in den nächsten Wochen die Arbeit der Friedenskräfte von dort aufzunehmen.
Als um 09:00 Uhr die Spitze der Marschkolonne 1 den Checkpoint auf der Brücke über den Orontes passierte, brach Jubel im Lagezentrum aus.
Über einen Beamer wurden abwechselnd gestochen scharfe Bilder der den Marsch begleitenden Aufklärungsdrohnen wie auch der mitfahrenden Medienteams gezeigt. Gegen 09:30 Uhr hatte sich der Hörsaal, das jetzige Lagezentrum, wieder weitgehend geleert. Nur die Schicht „2“ war in ihren Arbeitsbereichen oder in einer der vielen Besprechungen, hier auf dem Gelände der Universität, am Telefon oder in Videokonferenzen.
Oberfeldwebel Mettner sah auf seinen heutigen Zeitplan. In einer halben Stunde würde die G2-Besprechung stattfinden. Der G2, Oberst i. G. Benischke, wollte persönlich kommen. Oberfeldwebel Mettner war verantwortlich für die Zusammenarbeit mit den Aufklärern aus Eutin. Via Telefon sprach er gerade mit seinem Ansprechpartner im Stab des Aufklärungsbataillons 6.
Nach der G2-Besprechung gab es um 11:00 Uhr eine gemeinsame Lageinformation aller Stabsbereiche. G1 (Personal), G2 (Militärische Aufklärung und Sicherheit), G3 (Organisation), G4 (Logistik), G5 (Zivil-Militärische Zusammenarbeit) und G6 (Informationstechnik). Der Chef des Stabes, Oberst i. G. Endrikat, fasste immer um 11:00 Uhr die gesamte Lage zusammen, um dann erst wieder gegen 15:00 Uhr im Lagezentrum aufzutauchen.
Auf einem großen Display war zu sehen, wo gerade welche Einzelbesprechungen stattfanden. Je nach Thema war man automatisch mit einbezogen oder konnte sich selbst mit einladen. Innerhalb des Lagezentrums war die Kommunikation und Einbindung aller von enormer Wichtigkeit. Von hier, dem Kopf des gesamten Einsatzes, würden Kräfte mit jetzt 13.700 Teilnehmern, später in Phase zwei mit 25.000 „Friedenskräften“ geführt werden.
Mittlerweile zeigten die Live-Bilder der Drohnen den geschickt ausgesuchten Ort des Technischen Halts. Das Versorgungsbataillon 142 aus Hagenow gliederte sich mit seinen vielen Dutzend Fahrzeugen wieder in die Marschkolonne 1 ein. Teile des Sanitätskommandos würden das Ende der ersten Kolonne bilden und in etwa 15 Minuten den Halt beenden. Während die Sanitätssoldaten abrücken würden, kamen bereits die ersten Fahrzeuge der Marschkolonne 2 zu ihrem Technischen Halt. Alles klappte reibungslos.
Tag 1 – 10:08 Uhr – Kilometer 121,4 ab Ablaufpunkt Autobahnkreuz M1/M4 bei Latakia – Autobahn M4 kurz vor Ariha – Marschkolonne 1–2. Kompanie des Panzergrenadierbataillons 411 (Spitzenkompanie)
Die Spitze der Marschkolonne war wie geplant um 09:00 Uhr angefahren. Ohne Probleme. Kurz hinter dem Frontverlauf passierten sie Furaykah, dann Mahmpel. Jetzt waren sie in Sichtweite des Stadtrandes von Ariha.
Wie in den Verhandlungen vereinbart, hatten sich die Begleitfahrzeuge des IS in die Kolonne eingegliedert. Alle 1000 Meter fuhren diese mit großen Fahnen ausstaffierten Pick-ups links neben der Marschkolonne her. Also immer einer der schwarzen Toyota-Pick-ups nach etwa 50 Fahrzeugen der Friedenskräfte. Vor der Kolonne fuhr ein Führungsfahrzeug des Islamischen Staates. Und es hielt sogar die Marschgeschwindigkeit von 30 km/h äußerst passabel ein. Alles lief prima. In einer Viertelstunde sollten sie den Ort des Technischen Halts erreichen. Eine Pause für Mensch und Material nach über vier Stunden Fahrt.
Die Landschaft hatte sich seit dem Verlassen des Tals des Orontes enorm geändert. Es war nun kein Gebirge mehr zu überwinden. Es ging zwar stetig bergauf, aber dies in einer leicht welligen Ebene, der man den Anstieg nicht anmerkte. Das wunderbare Grün der ersten 100 Kilometer des Marsches war verschwunden. Obwohl es erst April war, trugen die nunmehr neben den Feldern dominierenden Büsche ein matteres Grün. Und auch die Gräser und die Anpflanzungen auf den Feldern zeigten nicht mehr das kraftvolle. So eine Landschaft erinnerte Major Ertl eher an Süditalien, an Bari und Brindisi oder auch den Peloponnes in Griechenland.
Ariha lag unmittelbar rechts vor ihnen. Die Autobahn M4 führte direkt durch die Vororte der einst größeren Stadt mit doch fast 60.000 Einwohnern. In der Anfangszeit des Krieges wechselte Ariha ein paar Mal die „Besitzer“. 2015 eroberte dann eine Rebellen-Allianz innerhalb von nur drei Stunden die Stadt, um diese ein paar Jahre später dem Islamischen Staat zu übergeben. Oder war es eine Angliederung aus neuen Bündnisgründen? Major Ertl wusste es nicht mehr genau.
Ariha war dann der Einfallsort der zweiten Offensivwelle des IS im Westen Syriens. Von hier aus kontrollierte der IS die Autobahnen von Damaskus nach Aleppo und von Latakia nach Aleppo. Und gleichsam wurde Idlib wieder der Syrischen Armee entrissen. In mehreren Offensiven kämpfte sich der IS in den Süden vor und eroberte zunächst Maarat An-Numan, später Al-Hamah und dann Homs. Und Richtung der Levante hatte man alle Gebiete bis zum Orontes eingenommen und unter Kontrolle gebracht.
Nur der Norden leistete noch Widerstand. Aleppo selbst war dreigeteilt. Die Syrische Armee und deren lokale Verbündete, die Kurden und der Islamische Staat. Und in der letzten Offensive vor dem Waffenstillstand, welcher in Adana in der Türkei vereinbart wurde, scheiterte der Versuch, mit einem Vorstoß bis zur türkischen Grenze vorzudringen, um die Syrische Armee in zwei Teile zu spalten und vor allem von den Kräften der Kurden zu trennen.
Dann kamen der Waffenstillstand, die internationale Beobachtungsmission und jetzt die Friedenskräfte unter deutscher Führung. War dies der Anfang von einem Frieden nach einem fast endlosen Krieg mit seinen Flüchtlingsströmen? Major Ertl hoffte es. Die Bilder von heute Morgen in Shekhaneh waren noch zu gut gegenwärtig.
Ariha war hässlich, zumindest was man von der Autobahn aus sah. Die Kriegsschäden waren weitgehend beseitigt. Nach den Informationen der eigenen Aufklärung war Ariha ein großer Garnisonsstandort weit hinter den Frontlinien. Viele Kämpfer des IS hatten ihre Familien hierhergeholt. Verlassene Wohnungen gab es genug. Und manche Berichte sprachen davon, dass Ariha nun fast wieder 40.000 Einwohner hatte. Für die Stadt war der Exodus vorbei. Aber vermutlich auch das Leben von früher.
Was ihm auffiel, war der Unterschied zu Shekhaneh oder den anderen Städten zu Beginn des Marsches. Hier standen keine Menschen. Hier winkte niemand. Ein paar Kinder sahen sich die Kolonne an und liefen mit, wurden dann aber durch einen Mann schnell „zurückgepfiffen“. So sah es zumindest aus. Er sah aber auch, dass in der Stadt durchaus „Betrieb“ war. Nur irgendwie anders. An allen Straßen und Wegen, welche in die Stadt führten, standen die schwarzen Pick-ups. Die Kolonne sollte nicht interessieren, so sah es aus. Sie passierten Ariha im Zeitplan. Bald würde der Technische Halt kommen.
Wenige Kilometer nach der Stadt teilte sich die Autobahn. Nun war neben den zwei Spuren, welche von Aleppo kamen, ein breiter Grünstreifen, teilweise mit hohen Büschen und Bäumen bewachsen. Aber trotz des Bewuchses war das Gelände übersichtlich und von kleinen Wegen durchzogen, und man sah den anderen Teil der Autobahn. Ein äußerst gut gewählter Ort für den Technischen Halt der Marschkolonnen. Vier Fahrbahnspuren konnten genutzt werden. Die auf dem Marsch lang gezogene Kolonne konnte hier für den Halt zusammengezogen und somit auch gut gesichert werden.
An der Stelle, wo sich die Autobahn teilte, standen zwei leicht gepanzerte Dingo-Radfahrzeuge der Feldjäger. Die Militärpolizisten waren vom bereits in Aleppo befindlichen Vorkommando der Friedenskräfte. Gemäß dem gut und detailliert ausgearbeiteten Marschbefehl hatten sie auf der Fahrbahn Farbmarkierungen angebracht. Jedes erste Fahrzeug einer Einheit wusste, wo es zu halten hatte. Und so entstand zunächst auf den Spuren nach Aleppo eine Zickzacklinie von Hunderten Fahrzeugen, fast immer genau 25 Meter voneinander entfernt. Und später bildete sich eine fast gleiche Anordnung von Fahrzeugen auf den Gegenfahrbahnen.
Der Technische Halt verlief, wie zu erwarten war. Nach nun bereits fast 4 1/2 Stunden ab Überschreiten des Ablaufpunktes und hinzugerechnet der Zeit zuvor in den Fahrzeugen gab es doch sehr viele dringende Bedürfnisse. Trotz allem erfolgte die Einteilung der Sicherung zeitnah. Major Ertl wusste zwar, dass neben den Militärpolizisten aus Aleppo auch ein Zug der 3. Kompanie des Jägerbataillons 413 aus Torgelow den Ort des Technischen Halts absicherte, doch die Eigenabsicherung, wenn auch auf niedrigem Niveau, war schlichtweg ein militärisches Gebot. So ließ er neben Alarmposten in jedem Zug seiner Kompanie einen der Schützenpanzer mit laufendem Motor zur Überwachung in Gefechtsbereitschaft. Und hoch über ihnen waren ständig zwei Drohnen der Aufklärer unterwegs, um die Absicherung des Konvois zu gewährleisten. Als fliegendes Auge mit weitem Blick in den Raum.
Major Ertl wusste von der letzten Lagebesprechung auch, dass an diesem so wichtigen Tag wie heute alle Teams der internationalen Beobachtermission an den strategisch wichtigen Punkten standen, um im Falle des Falles, sei es bei plötzlichen Truppenbewegungen oder Mobilisierung an den Standorten von Truppen oder sonstigen Ereignissen, diese sofort an das Lagezentrum zu melden. Aber die Gefährdungsampel im Lagezentrum der Beobachtermission stand seit Wochen auf Grün und blieb es auch heute.
Der Rest der Truppe führte den Technischen Dienst nach fast 130 Kilometer Fahrt durch. Ölstand, Füllmengen und vor allem Betanken. Viele der Soldaten machten dies zum ersten Mal in ihrer Zeit bei der Bundeswehr. Kanister-Betankung auf freier Flur. Zu Hause in Deutschland aus Umweltgründen ein No-Go, hier der Notwendigkeit des Einsatzes geschuldet. So voll der Innenraum der Panzer, die Ladeflächen der Lkw belegt waren, alle hatten gemäß Befehl nochmals Treibstoff in den olivfarbenen 20-Liter-Kanistern mitzuführen. Und so wurden in jeden Puma-Schützenpanzer 100 Liter nachgefüllt. Das würde bis weit hinter Aleppo, vielleicht bis zum Euphrat reichen.
Die Spitze der Marschkolonne 1 hatte den ihr zugewiesenen Platz zum Technischen Halt um 10:22 Uhr etwa drei Kilometer vor dem Ort Al Nerab erreicht. Der Weitermarsch der Spitze der Kolonne, und damit der Spitzenkompanie, war für 11:30 Uhr angesetzt. Eine genügend lange Pause für Lagebesprechungen, diverse Raucherrunden und Dehnübungen. Was man nach einer langen Fahrt in einer Pause so erledigt.
Während die Spitze der Kolonne schon fast eine Stunde hier stand, fuhr auf der Gegenfahrbahn der Autobahn um 11:15 Uhr das letzte Fahrzeug der Marschkolonne 1 für seinen Technischen Halt und seine Pause ein. Pi mal Daumen, Major Ertl hätte es im Marschbefehl nachlesen können, waren es in etwa 450 Ketten- und Radfahrzeuge in der Marschkolonne 1. Und die Marschkolonne 2 würde dann gegen 12:50 Uhr mit seiner Spitzenkompanie den Platz, an dem er jetzt stand, auch erreichen. Und dann waren es knapp über 1300 Fahrzeuge der Friedenskräfte, welche sich auf dem Marsch nach Aleppo befanden und schon mehr als die Hälfte der Strecke hinter sich hatten.
Organisiert wie der Lauf eines Uhrwerks. Bis zur letzten Minute, bis ins letzte Detail. Deutsche Gründlichkeit. Jetzt war Major Ertl ein wenig stolz. Alles klappte seit heute Morgen wie am Schnürchen. Es hatte zwar bereits fast 30 Grad bei wolkenlosem Himmel, und solche Hitze mochte er eigentlich gar nicht. Aber jetzt gerade war es ihm egal. Und später stand er eh wieder im Fahrtwind. Und ihr Puma hatte eine Klimaanlage, vor 20 Jahren für einen Schützenpanzer noch unvorstellbar.
Von weiter vorne kam ein kleiner Trupp zu Fuß auf die Spitzenkompanie zu. General Dr. Blaubach, sein Adjutant, Oberleutnant Blossey und zwei Personenschützer des Spezialkommandos.
Jeder Soldat, jeder zivile Teilnehmer, alle kannten den General. Er war mehr als vorzeigbar. Aber auch irgendwie irritierend. Sein Kampfanzug sah nicht nur nagelneu aus, er war es auch. Inklusive Bügelfalte. Alles saß perfekt, vom Barrett bis zum Pistolenhalfter an der Seite seines Oberschenkels. Seine Schulterklappen zeigten seinen Rang, General Dr. Blaubach hatte heute „Gold“ statt „Schwarz“ auf seiner Schulter gewählt. Aber am augenfälligsten war seine Schutzweste. Auch kein Tarndruck, keine der oliven Westen. Seine war schwarz mit großen weißen Buchstaben versehen, vorne wie hinten: „Convoy Commander“.
Sein Adjutant, Oberleutnant Blossey, war nicht minder telegen. Ein wenig mehr soldatischer. Neben der üblichen Ausrüstung bewaffnet mit einer ledernen Dokumentenmappe und einem Tablet, mit welchem er gerade Fotos machte.
Die beiden Soldaten des Spezialkommandos, ausgebildete Personenschützer, hatten an beiden Oberschenkeln Pistolen gegurtet, daneben eine der neuen Maschinenpistolen von Heckler und Koch und undurchsichtige Sonnenbrillen in tiefschwarzer Farbe. Die Baretts, welche sie als ehemalige Fallschirmjäger auswiesen, wurden jeweils von einem Headset mit Kopfhörer und Mikrofon gehalten.
Der Trupp marschierte an ihnen vorbei weiter nach hinten. Wie alle Soldaten grüßte der Major militärisch. Ertl glaubte zu wissen, wo das Ziel des Trupps lag. Beim Kamerateam, welches sich hinter der Spitzenkompanie eingereiht hatte. Je näher der General dem Übertragungswagen, einem umgewidmeten Transportpanzer Fuchs, kam, desto jovialer wurde sein Auftreten. Er grüßte die Soldaten, gab ihnen die Hand, legte seinen Arm um die Schultern einzelner, erkundigte sich über das Befinden und machte Witze. Und lächelte in die Kamera des Fernsehteams. Immerhin heute der dritte deutschlandweite Live-Auftritt.
Nach einer Zeit flüsterte ihm der Adjutant was zu, der General zeigte auf seine Uhr, und der Vier-Mann-Trupp spazierte wieder nach vorne. Diesmal zog sich Major Ertl zurück in den Innenraum des Panzers.
Um 11:20 Uhr hatte er den Befehl zum Aufsitzen erteilt. Um 11:25 Uhr wurden alle Motoren der Spitzenkompanie gestartet. Punkt 11:30 Uhr zeigte ein Feldjäger das Zeichen „Marsch“. Das führende Fahrzeug des IS, etwa 450 Meter vor dem Fahrzeug von Major Ertl, fuhr an. Die Kolonne setzte sich in Bewegung. Nach dem IS kam das orange Geländefahrzeug der internationalen Beobachtermission, dann ein Dingo der Feldjäger, in Folge General Dr. Blaubach, der Führer der Marschkolonne oder besser, der „Convoy Commander“, mit seinem Dingo, nachfolgend 4 Fennek-Radpanzer des Aufklärungszuges, dann der Übertragungswagen von N-TV, welcher nun nach dem Technischen Halt nach vorne eingereiht wurde, um bessere Bilder als vorab zu senden. Dann folgte die Spitzenkompanie mit ihren vier Panzergrenadierzügen mit jeweils drei Pumas und einem Zug Kampfpanzer Leopard, welcher die Spitzenkompanie verstärkte. In gut zwei Stunden würden sie es geschafft haben.
Tag 1 – 12:02 Uhr – Kilometer 144 ab Ablaufpunkt Autobahnkreuz M1/M4 bei Latakia 15,8 Kilometer nach Technischem Halt Autobahn M4 kurz vor Saraqib – Marschkolonne 1; 2. Kompanie des Panzergrenadierbataillons 411 (Spitzenkompanie)
Eine halbe Stunde fuhren sie bereits wieder nach dem Technischen Halt. Etwas mehr als 50 Kilometer waren es noch bis zum Auslaufpunkt. Dann noch etwa 14 km in das für sie vorgesehene Lager „C“.
Rechts von ihnen war die Stadt Saraqib. Saraqib hatte mal über 30.000 Einwohner. Bedingt durch seine wichtige strategische Lage war es zu oft erobert, zurückerobert und dann wiedererobert worden. Sogar die Türken hatten hier eine kurze Zeit so weit im Süden mitgemischt. Und die Russen hatten Saraqib wochenlang bombardiert.
Die geografische Lage an einem Verkehrsknotenpunkt, hier trafen sich die Autobahnen M4 aus Latakia kommend und die M5 von Damaskus nach Aleppo, führten schließlich zur Zerstörung der Stadt. Natürlich mochte es noch manchen Einwohner geben, aber auch der IS hatte nicht versucht, die Stadt wiederzubeleben. So gab es am Autobahndreieck eine Wachmannschaft in Kompaniestärke, aber auch nicht mehr. Es lohnte sich bis jetzt nicht.
Ein anderes Bild ergab sich nur etwa 15 km weiter. Auch wieder rechts von ihnen war ein Universitätscampus mit völlig unversehrten, weiß gestrichenen Gebäuden. Vor den Einfahrten und Zuwegen standen zwar wieder die bekannten schwarzen Pick-ups, aber dahinter konnte man eine Nutzung der Gebäude erkennen. Major Ertl hatte es vergessen, es sah aber nicht nach Militär aus. Es waren keine Kinder da, das zumindest fiel ihm auf. Dann waren sie vorbeigerollt.
Eine Stunde waren sie nun fast schon wieder unterwegs. Bedingt durch den Fahrtwind war die Hitze des Tages erträglich. Entlang der Autobahn reihte sich Feld an Feld. Das Gelände war eben, und man hatte einen weiten Blick. Ab und zu gab es größere Gehöfte bis hin zu kleineren Dörfern links und rechts der Autobahn. Allerdings war nun nach Stunden der Fahrt bei ihm das Interesse an der Landschaft gerade ein wenig verschwunden.
Seine Augen starrten ohne Blick in eine Richtung, er hatte nicht mal einen Gedanken. Plötzlich, innerhalb eines Bruchteils einer Sekunde, wurde er aus seinen Tagträumen gerissen. Ein gewaltiger Feuerblitz blendete ihn, eine Druckwelle wie eine Orkanböe traf ihn, und ein betäubender Knall löste sofort ein Pfeifen in seinen Ohren aus. Kleine und auch große Trümmer flogen an ihm vorbei.
Es benötigte ein wenig mehr Zeit, bis sein Kopf wieder zu arbeiten begann, zumindest den Versuch startete herauszufinden, was gerade passiert war. Er wollte eben zu sprechen beginnen, als sein Oberkörper nach vorne gezogen wurde und ruckartig wieder zurückwippte. Der seit dem Technischen Halt fahrende Stabsunteroffizier Vonau hatte eine Vollbremsung des Panzers durchgeführt. Major Ertl hatte sich den Unterarm am Rand der Panzerluke angeschlagen, was ihm gerade höllisch wehtat.
Nun schrie er in sein Mikrofon rein: „Alarm, alles runter, Luken zu, volle Gefechtsbereitschaft herstellen.“ Es gab zwar keine halbe Gefechtsbereitschaft, aber es kam einfach so aus ihm raus. Dann bemerkte er, dass er dies nur seinen Soldaten über den Bordfunk zugerufen hatte. Er wählte den Funkkreis der Kompanie und wiederholte die Worte. Dann verschwand er im Inneren des Panzers. Er wählte nun den Funkkreis der Marschkolonne und setzte eine Meldung ab: „An alle, hier Führer Spitzenkompanie, Bombenangriff auf Spitze der Kolonne, alle Fahrzeuge stoppen, sofortige Eigenabsicherung durchführen, warten auf weitere Befehle.“ Major Ertl war zwar nicht der Führer der Kolonne, auch nicht der Stellvertreter oder ranghöchste Offizier, aber derjenige, welcher den ersten Funkspruch im Funkkreis der Marschkolonne 1 absetzte. Das kam ihm jetzt blitzartig in den Sinn. Er drehte die Optik nach hinten, vergrößerte. Er konnte von dieser Stelle gut zehn Kilometer nach hinten die Marschkolonne überblicken. Und was er sah, ließ ihn verstummen.
Es gab nicht nur eine Explosion an der Spitze der Marschkolonne. Nein, es mussten zeitgleich mindestens ein Dutzend oder mehr Explosionen innerhalb der Kolonne stattgefunden haben. Ob es noch weiter zurück auch Rauchsäulen gab, konnte er nicht erkennen. Aber er vermutete es fast. Und da er nur die Explosion vor ihm wahrgenommen hatte und später nichts mehr wahrnahm, konnte es nicht anders sein. Alle Detonationen erfolgten zeitgleich. Ein gewaltiger Angriff.
Er deutete Hauptfeldwebel Dittmar an, den Funkkreis der Marschkolonne weiter abzuhören. Dann suchte er das Gelände rund um die Spitzenkompanie ab. Es mochten bereits gut drei oder auch vier Minuten vergangen sein, es tat sich nichts. Alles verharrte regungslos, still und leise. Die Autobahn vor ihnen war leer, die Felder waren verwaist, er sah keinen Menschen, keinen schwarzen Pick-up, er sah nichts, was sich bewegte. Dann blickte er nach vorne, um sich den Ort der Explosion zu betrachten. Die vorderen Fahrzeuge gab es nicht mehr. Die leicht gepanzerten Dingos der Feldjäger und des Kolonnenführers waren schwer beschädigt. Einer war hinten komplett aufgerissen. Die vorderen beiden leichten Spähpanzer Fennek der Aufklärer waren auch betroffen. Erst der dritte Fennek stand unbeschädigt auf der Straße. Der umgewidmete Transportpanzer mit dem Fernsehteam vor ihm war ebenso unversehrt. Eine Luke stand offen, der Kameramann hatte die Kamera auf den Ort des Schreckens gerichtet.
Major Ertl wusste nicht, wie lange er benötigte, die Lage zu erfassen. Es mochten eine halbe Minute oder auch zwei Minuten sein.
Er wollte gerade im Funkkreis der Kompanie zum Sprechen ansetzen, dass der 1. Zug den Ort der Explosion sichern sollte, der die Kompanie begleitende Sanitätstrupp nach vorne ziehen sollte, der 2. Zug die Sanitäter unterstützen sollte, der 3. Zug und die Kampfpanzer absichern sollten und der 4. Zug die Lage der Kolonne nach hinten aufklären solle, als im Funkkreis eine Meldung abgesetzt wurde: „Hier Zugführer 1. Zug, Fahrtrichtung zwei Uhr, etwa zwölf Pick-ups aus Ortschaft Richtung Al-Barfoum, kommen.“ Und dann prasselten die nächsten Meldungen über den Funkkreis: „Mehrere Fahrzeuge aus drei Uhr, Entfernung 4000.“ „An die zehn Fahrzeuge aus vier Uhr, circa 5000 Meter, Richtung Sarakeb.“ „Angriff, werden beschossen mit Maschinenkanonen, zwei Uhr, Al-Eis.“
Major Ertl dämmerte es. Die Explosionen waren das Signal zum Angriff. Aber die Angreifer waren nicht in Kampfentfernung zur Autobahn. Sie kamen von weiter weg. Sie kamen von woher, wo keine Aufklärung stattgefunden hatte, sie waren von den Drohnen nicht überflogen worden, nicht erfasst worden. Erst nach dem Zeichen durften sie angreifen. Und seit den Detonationen entlang der Marschkolonne waren fast acht Minuten vergangen. Und jetzt preschten sie mit ihren Pick-ups auf sie zu. Und begannen das Gefecht. Obwohl sie noch zu weit weg waren, um gefährlich zu werden. Aber in wenigen Minuten würde das anders aussehen. Dann konnten sie verheerenden Schaden anrichten, zumindest bei den ungepanzerten Teilen der Marschkolonne. Und das war der Großteil der Fahrzeuge.
Major Ertl fragte sich, ob dieser Angriff nur sie oder die ganze Kolonne betraf. Er fragte den Hauptfeldwebel. Der bestätigte, sagte dann aber: „Es scheint so, alles ein wenig wirr im Funkkreis.“ Und noch was fiel Major Ertl auf. Die Angriffe kamen nur von Westen. Der IS war aber auch im Osten der Autobahn mit starken militärischen Kräften. Waren die noch nicht da? Er musste aber jetzt der momentanen Lage, dem bevorstehenden Angriff von rechts der Autobahn etwas entgegenstellen. So ging sein Befehl über den Funk raus. Der 1. Zug sollte nach vorne und Osten Stellung beziehen und sichern, die anderen Züge sollten in ihren Bereichen aus geeigneten Positionen den Feind abwehren. Die drei Kampfpanzer Leopard sollten sich ein wenig nach Osten zurückziehen, um als Reserve vorgehalten zu werden. Der Aufklärungsgruppe vor ihm befahl er, über deren Funkkreis nach Norden und Nordosten aufzuklären. Er war hier vor Ort nun der ranghöchste Offizier. Die Sanitäter sollten die Lage an der Stelle der Explosion erkunden und wenn möglich Hilfe leisten. Dann entschloss er sich mit seinem Schützenpanzer selbst nach vorne zu fahren. Sein Richtschütze hatte den Feind bereits im Visier.
Die überwältigende Mehrheit der Soldaten der Kompanie waren noch nie in einem Gefecht. Und der andere kleine Teil an Soldaten mit Erfahrung hatte einen Angriff solcher Größe auch noch nie erlebt. Aber sie waren für dies ausgebildet worden. Und das dauerhafte exzesshafte Üben der Abläufe führte bei den meisten zu nun automatischen Abläufen. Die richtige Stellung finden, das Zuordnen der Ziele, der Kommunikation zwischen dem Kommandanten und dem Richtschützen, das Abwarten der Kampfentfernung ihrer Waffen, der Einsatz der richtigen Waffen. Für die angreifenden Pick-ups bedeutete dies den Einsatz der Maschinenkanonen und der axialen Maschinengewehre.
Und die 30-mm-Maschinenkanonen begannen stoßweise zu schießen. Mit einer enormen Wirkung in Treffgenauigkeit und Zerstörung der Ziele. Die schnelle Bekämpfung des Folgezieles war eine der hervorzuhebenden Eigenschaften der Waffenanlage des Pumas und seiner Teams. Man nannte dies das „Hunter-Killer-Prinzip“. Der Kommandant erfasst das Ziel und übergibt es dem Richtschützen. Während der Richtschütze feuert, erfasst der Kommandant bereits das nächste Ziel und gibt es weiter. Eine mörderische Kadenz für die angreifenden Pick-ups.
Das waren kurz vor dem Beginn des Abwehrfeuers mittlerweile gut vier oder fünf Dutzend, welche aus Westen kommend versuchten die Autobahn zu erreichen. Im Norden bei Al-Barfoum mochten nochmals ein gutes Dutzend stehen, beziehungsweise einige schwenkten bereits auf die Autobahn, um sie von Norden her zu attackieren.
Reihenweise wurden die Pick-ups getroffen, förmlich durchsiebt. So ein Abwehrfeuer hatten sie noch nie erlebt. Ihre Taktik im Angriff bestand darin, viele und schnell zu sein und von allen Seiten zuzustoßen. Ganze Städte hatten sie so eingenommen. Nur dort, wo sie auf feste Stellungen stießen, führten sie Kampf- und Schützenpanzer nach. Die Marschkolonne aber war für sie keine feste Stellung, sie war ungeschützt. Doch auf Höhe der Spitzenkompanie war es eine zum Tod führende Attacke für die Angreifer.
Die meisten der Pick-ups hatten neben den zu transportierenden Kämpfern nur ein lafettiertes Maschinengewehr auf der Ladefläche. Diese MGs feuerten zwar, hatten aber keine Wirkung. Nur wenige Pick-ups waren mit Maschinenkanonen bestückt. Vermutlich bis zu Kaliber 20 mm. Deren Kampfentfernung lag vielleicht bei 2000 Metern, allerdings waren die meisten aufgrund des Gegenfeuers der Panzergrenadiere bereits vorab in Stellung gegangen. Und so war ihre Wirkung im Grunde genommen äußerst gering. Nur für die ungepanzerten Fahrzeuge oder abgesetzte Soldaten hätten sie zu einem Problem führen können. Der Kameramann von N-TV wusste das scheinbar nicht. Er hielt den Angriff und das Abwehrfeuer mit seiner Kamera fest.
Und so dauerte das Gefecht wenige Kilometer nördlich von Saraqib nur etwa 15 Minuten. Dann zogen sich die schwer geschlagenen Reste der Angreifer zurück nach Westen. Major Ertl vermutete, dass sie wohl mehr als 50 Fahrzeuge getroffen und vernichtet hatten. Er selbst stand mit seinem Panzer am Rande eines Kraters von gut 40 Metern Durchmesser. Da gab es ein Stück weiter vorne noch einen zweiten Krater gleicher Größe. Es waren zwei Explosionen, zeitgleich. So hatte er das nicht wahrgenommen, für ihn war es nur ein gewaltiger Schlag. Aber es waren auch zwei Fahrzeuge des IS. Eines an der Spitze vor der Kolonne, eines auf der linken Spur kurz vor der vorderen Aufklärungsgruppe. Die beiden Fennek-Radpanzer waren beschädigt worden. Teile der Besatzung verwundet, aber alle lebten. Alle Fahrzeuge vor den Radpanzern konnten ihre Insassen nicht schützen. Auch die leicht gepanzerten Dingos nicht. Alle Soldaten inklusive des Generals waren tot, schier durch die Nähe und die Wucht der Explosion. Und die ungepanzerten Fahrzeuge waren mit ihren Insassen zerrissen, zerteilt und über die Felder verstreut, schlichtweg verschwunden.
Major Ertl ließ sich von den Zugführern Bericht erstatten. Sie hatten den Angriff nicht nur abgewehrt, sie hatten ihn zerschlagen. Der Munitionsstand für die Bordkanone machte ihm ein wenig Sorgen. Manche der Schützenpanzer hatte von den mitgeführten 400 Schuss schon 60 verschossen. Das war zu viel für so ein kurzes Gefecht. Und sie waren mitten im Nirgendwo. Zwar nur 40 Kilometer vor Aleppo, aber das waren 40 Kilometer durch Feindesland. Und aus Aleppo würde keine Hilfe kommen. In Aleppo war nur das Vorkommando mit einer Jägerkompanie mit lediglich noch drei Zügen. Vor allem aber keinen Schützenpanzern, sondern nur den Transportpanzern Fuchs.
Über die diversen Funkkreise kamen keine Befehle. Nur Meldungen über die Angriffe auf beide Marschkolonnen. Noch hatte niemand das Kommando übernommen. Jede Einheit für sich hatte vielleicht noch ihren Kommandeur oder Chef. Sie mussten sich erst finden. Er brauchte Zeit zu überlegen.