Die Galerie am Potsdamer Platz - Alexandra Cedrino - E-Book

Die Galerie am Potsdamer Platz E-Book

Alexandra Cedrino

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Beschreibung

Berlin, 1930: Zwischen zwei Kriegen kämpft eine Frau um ihr neu gewonnenes Leben Die junge Kunststudentin Alice zieht nach dem Tod ihrer Mutter in die Hauptstadt. Sie sucht Anschluss an ihre Familie, einstmals angesehene Kunsthändler, die sie nie kennengelernt hat, trifft aber zunächst nur auf kalte Ablehnung. In der pulsierenden Kunstszene Berlins fühlt sie sich dennoch sofort zu Hause und entdeckt bald ihr Talent als Fotografin. Und sie verliebt sich in den Deutsch-Iren John. Trotz der Widerstände ihrer Großmutter plant sie gemeinsam mit ihren Onkeln, die einst legendäre Galerie der Familie am Potsdamer Platz wiederzueröffnen. Dabei begegnet sie dem Kunstkenner Erik, Erbe einer spektakulären Kunstsammlung. Doch ist er wirklich daran interessiert, ihr zu helfen? Es sind unruhige Zeiten, und der Aufstieg der Nationalsozialisten droht bald ihre Liebe, die Galerie und ihre gesamte Familie in den Abgrund zu reißen ... Alexandra Cedrino, Mitglied der berühmten Kunsthändlerfamilie Gurlitt, lässt die Berliner Kunstszene in den Dreißigerjahren wiederaufleben: schillernd, bewegend und mitreißend! »familiäre Dramen sind […] die Würze in ihrem Debütroman, der trotzdem noch mehr zu bieten hat. […] Der Leser erhält Einblicke in die Kunstszene und die Gesellschaft der frühen 1930er-Jahre.« Süddeutsche Zeitung »Aufregende Familienchronik um eine junge Berlinerin.« Grazia »Alexandra Cedrino zeichnet ein fiktives, aber dennoch authentisches Bild einer Elitenfamilie der Jahre 1930 bis 1933 in Berlin. Und einer jungen Frau, die ihren eigenen Weg sucht und findet, auch wenn er hin und wieder in Sackgassen führt.« Wiener Zeitung

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Seitenzahl: 424

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HarperCollins®

Copyright © 2019 by HarperCollins in der HarperCollins Germany GmbH, Hamburg

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München (Favoritbuero GbR, München) Coverabbildung: H. Armstrong Roberts / ClassicStock / Getty Images, Mitoria / Shutterstock E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN E-Book 9783959674423

www.harpercollins.de

Widmung

Für Ted. Für immer.

Teil 1

Kampfansage

31. Oktober 1930

Alice hatte sich die Villa in der Potsdamer Straße größer, prachtvoller vorgestellt. Vielleicht lag es am Regen, der über alles, die Häuser, die Straße, die Bäume, selbst über das Licht einen feinen Film zog und es kraftlos erscheinen ließ.

Fröstelnd blickte sie zu den schwach beleuchteten Fenstern und klappte den Mantelkragen hoch. Seit sie heute Morgen am Anhalter Bahnhof angekommen war, fror sie. Nur kurz hatte sie in der Pension in der Motzstraße haltgemacht, um ihren Handkoffer abzugeben. Dann war sie zur Potsdamer Straße gefahren und hatte Helena Waldmann beobachtet, als diese die Villa verließ. Sie war ihr entgegengelaufen, um ihr Gesicht zu sehen. Sie sah genauso aus wie auf der Fotografie, die sie im Koffer ihrer Mutter zwischen all den ungeöffnet zurückgeschickten Briefen gefunden hatte. Obwohl das Bild bestimmt schon fünfundzwanzig Jahre alt sein musste, war es für Alice kein Problem gewesen, sie zu erkennen. Die Jahre waren gut zu ihr gewesen. Im Gegensatz zu ihrer Mutter.

Geduldig hatte Alice beobachtet, in welchen Geschäften Helena ihre Besorgungen machte. Mit wem sie sprach. Aber hatte ihr das irgendetwas über die alte Frau verraten? Sie wusste nun, dass ihr Schneider Kutscher hieß, dass sie Blumen beim Floristen Bellmann bestellte und Fleisch beim Metzger orderte. An der beflissenen Haltung der Kaufleute konnte sie erkennen, dass man daran gewohnt war, ihren Wünschen unverzüglich nachzukommen.

Am Zeitungskiosk hatte Alice sich direkt hinter Helena angestellt und den sehr geraden Rücken, die zurückgenommenen Schultern, das in Wellen gelegte silbergraue Haar betrachtet. Hatte ihr Parfum gerochen, ein Hauch von Lavendel und Jasmin, ihre Stimme gehört, einen rauchigen Alt, und als sie sich umgedreht hatte, konnte sie ihre Augenfarbe erkennen. Ein goldleuchtendes, bernsteinfarbenes Braun mit einer beinahe schwarzen Iris. Die Farbe ihrer eigenen Augen.

Schnell hatte sie den Blick gesenkt, sich an ihr vorbeigeschoben und den Mann hinter dem Tresen nach Juno-Zigaretten gefragt. Eine nach der anderen hatte sie geraucht und hustete nun. In ihrem Magen machte sich ein flaues Gefühl breit. Gegessen hatte sie seit heute Morgen nichts mehr.

Alice blickte zu den zugezogenen Fensterreihen hoch. Genug gewartet. Sie schnippte den Zigarettenstummel in den Rinnstein und trat auf die Fahrbahn.

Als sie auf der anderen Straßenseite angekommen war, öffnete sie die Handtasche, zog mehrere der jahrzehntealten Briefe heraus und drückte auf die Klingel. Es war Zeit. Noch bevor sie ausatmen konnte, wurde die Tür geöffnet.

Antworten

Oktober 1930

Als sie der kalte Blick der alten Frau traf, verlor Alice für einen kurzen Moment die Fassung und trat einen Schritt zurück. All ihre Vorsätze lösten sich in einer Ansammlung widersprüchlicher Impulse auf: Auf dem Absatz umzudrehen und wegzulaufen schien ihr für den Hauch einer Sekunde eine überlegenswerte Option. Dann gewann wieder ihr Zorn die Oberhand, und sie hielt Helena den Stapel Briefe entgegen.

Die alte Frau blickte kurz darauf, nahm ihn Alice aber nicht ab.

»Sie ist gestorben. Am 26. Oktober 1930 um sieben Uhr morgens.«

Helena Waldmann musterte sie misstrauisch.

»Anna. Sie ist tot.«

Noch immer rührte sie sich nicht. Alice trat einen Schritt auf sie zu. Diese alte Hexe zeigte keinerlei Regung. Sie beugte sich vor und sagte mit leiser, gepresster Stimme: »Mein Name ist Alice Waldmann. Ich bin deine Enkelin. Die Tochter deiner Tochter.«

Ihre Blicke verfingen sich ineinander. Als die alte Frau blinzelte, richtete Alice sich auf und sah über die Schulter ihrer Großmutter. Sie würde sich nicht so einfach abwimmeln lassen wie ihre Mutter.

»Darf ich eintreten?«, fragte sie und drängte sich an ihr vorbei, ohne auf eine Antwort zu warten. »Das, was ich zu sagen habe, lässt sich schlecht zwischen Tür und Angel besprechen.«

Helena schloss langsam die Haustür. Ohne sie anzusehen, nahm sie die Briefe, die Alice ihr erneut entgegenhielt.

»Nun?«, fragte Alice.

»Nun was … Fräulein«, antwortete Helena kalt.

»Nun …«, setzte Alice an, und mit einem Mal wurde ihr bewusst, dass sie sich bisher nicht einen Gedanken darüber gemacht hatte, was sie tatsächlich erreichen wollte. Das Einzige, dessen sie sich absolut sicher war und das sie bis hierher getrieben hatte, war ihr Zorn gewesen. Der Zorn auf Helena, die die eigene Tochter, Alices Mutter Anna, verstoßen hatte. Weil sie einen Mann geliebt hatte, der ihrer Mutter nicht gut genug gewesen war.

»Ich …«, schnappte sie, wurde jedoch vom Schrillen der Türklingel unterbrochen. Sie zuckte zusammen und warf einen schnellen Blick auf ihre Großmutter. Hoffentlich hatte sie es nicht bemerkt.

Doch die blickte ungerührt auf ihre Armbanduhr. Einen kurzen Moment schien sie zu zögern. Dann packte sie Alice mit erstaunlich festem Griff am Arm, öffnete die Tür zu ihrer Rechten und schob sie in den dahinterliegenden Salon. Alice riss sich los. Doch ihre Großmutter warf ihr einen Blick zu, der sie erstarren ließ. Sie blinzelte, und noch bevor sie protestieren konnte, hatte sich die Tür bereits geschlossen.

Verblüfft starrte Alice ihr hinterher. Was zum Teufel, dachte sie wütend und wollte schon zur Tür stürzen, als sie ein leises Klicken und Scharren hinter sich hörte. Erschrocken fuhr sie herum.

Ein Hund! Aber was für einer! Noch nie zuvor hatte sie einen so großen Hund gesehen. Das riesige graue Tier hatte sich von seiner Decke vor dem Kamin erhoben, um sie mit vorsichtigem Schwanzwedeln zu begrüßen. Alice atmete tief durch und hielt ihm die Hand entgegen, um ihn an sich riechen zu lassen. Er bohrte seine kalte, feuchte Nase in ihre Handfläche. »Du bist ja ein Guter«, murmelte sie und begann ihn hinter den Ohren zu kraulen, was er mit begeistertem Schwanzwedeln quittierte. Sie schluckte den Kloß herunter, der sich in ihrer Kehle bildete, während ihre Finger durch das raue Hundefell fuhren. »Kannst du mir verraten, was ich mir dabei gedacht habe, hierherzukommen?«, flüsterte sie dem Hund zu und blinzelte. »Die alte Hexe hat meiner Mutter das Herz gebrochen.« Sie ging vor ihm in die Knie. Er schnaufte und legte seinen Kopf auf ihre Schulter. »Damit kann sie doch nicht einfach davonkommen, oder? Ich will von ihr hören, was damals passiert ist. Ich will …« Sie zögerte, rückte ein Stück von dem Hund ab und nahm seinen riesigen Kopf zwischen die Hände. »Ich will, dass sie ihre Schuld eingesteht.« Das Tier versuchte, ihr Gesicht abzulecken. Sie lachte leise und zog sanft an seinen Ohren. »Du hast recht. So schnell geben wir nicht auf, nicht wahr?« Sie klopfte ihm auf den Rücken und stand keine Sekunde zu früh auf, denn die Tür öffnete sich, und Helena betrat erneut den Raum. Ohne Alice eines Blickes zu würdigen, ging sie auf den Hund zu, packte ihn am Halsband und führte ihn hinaus. Einen kurzen Moment lang konnte Alice die schlanke Gestalt eines Mannes in einer Lederjacke erkennen, dann wurde die Tür erneut geschlossen. Sie hörte das leise Kratzen und Schaben der Hundepfoten auf den Fliesen, ein paar gemurmelte Worte, und die Haustür fiel dumpf ins Schloss.

Hastig blickte Alice sich in dem eleganten Raum um. Am Fenster stand ein kleiner, für drei Personen hergerichteter Tisch. Anscheinend erwartete Helena Besuch. Mit wenigen Schritten durchquerte sie den Raum, stellte ihre Handtasche ab und setzte sich an den Tisch. Eine Kanne, gefüllt mit heißem Tee, stand zwischen den feinen Porzellantellern. Sie holte tief Luft, strich sich die dunklen Locken hinter die Ohren, die sich schon wieder aus der sorgfältig gesteckten Frisur gelöst hatten. Sollte Helena Waldmann bloß nicht glauben, sie könnte sie einfach so abfertigen. Nein, gnädige Frau, so leicht wurde sie sie nicht los. Entschlossen griff sie nach der Kanne und goss dampfenden, duftenden Tee in die Tassen.

Als die Tür geöffnet wurde, blickte sie auf. »Milch? Zucker?«, fragte sie scheinbar ungerührt und hielt das Milchkännchen hoch.

Helena zögerte kurz, dann setzte sie sich ihr gegenüber, ohne auf ihre Fragen einzugehen.

Alice zuckte mit den Schultern und trank einen Schluck.

»Wo waren wir stehen geblieben?«, fragte sie, nachdem sie ihre Tasse abgesetzt hatte. »Ach ja, richtig, ich wollte erzählen, weswegen ich hier bin.«

Helena runzelte die Stirn, während Alice leise klirrend in ihrer Tasse rührte. Das Geräusch schwebte wie eine eisblaue Dissonanz über ihren Köpfen. Sie konnte den kalten Blick ihrer Großmutter auf sich fühlen. Soll sie nur schauen, dachte Alice. Wenn sie glaubte, sie könne sie einschüchtern, hatte sie sich getäuscht.

Demonstrativ blickte Helena wieder auf ihre Armbanduhr.

»Es ist spät, und ich habe nicht unendlich viel Zeit. Wenn Sie mir also etwas von Belang zu sagen haben, dann tun Sie es jetzt. Und verlassen dann mein Haus.«

Alice starrte sie an. »Du willst wissen, was ich möchte?« Scheppernd stellte sie die Tasse auf den Unterteller, öffnete ihre Handtasche, zog die Fotografie ihrer Mutter heraus und schob sie neben Helenas Tasse. »Ich sage es dir. Ich will wissen, was damals passiert ist. Wieso du deiner Tochter das Herz gebrochen hast. Wieso du nicht vergeben kannst.«

Die alte Frau warf einen kurzen Blick darauf, blinzelte und wandte das Gesicht ab. »Ich kann mich nicht erinnern, Ihnen das Du angeboten zu haben!«

Alice spürte, wie Hitze ihr Gesicht flutete. »Glaube ja nicht, du würdest ohne eine Antwort auf meine Fragen aus der Sache herauskommen.«

Langsam wandte die alte Frau den Kopf und musterte sie kalt. »Ich denke, es ist besser, wenn Sie gehen, bevor ich einen Wachtmeister rufe.«

Alice stand auf. »Ich werde Antworten von dir bekommen. So leicht wie meine Mutter mache ich es dir nicht.« Sie öffnete die Tür und fixierte die alte Frau. »Du wirst mich nicht los.« Dann trat sie hinaus.

Alice läuft 1

Oktober 1930

Alice wusste, dass sie in Schwierigkeiten steckte. Zehn Minuten zuvor war sie wütend aus dem Haus gestürzt und wäre beinahe in ein Paar hineingerannt, das gerade, als sie auf die Straße stürmte, in den Vorgarten der Villa einbiegen wollte. Erschrocken war sie zurückgeprallt und hatte sich an ihnen vorbeigedrängt. Als sie einen Blick zurückgeworfen hatte, konnte sie noch erkennen, wie die Frau am Arm ihres Mannes zog, während er ihr mit offenem Mund hinterherstarrte. Das musste wohl der Besuch sein, für den Helena den Tisch gedeckt hatte. Sollten sie nur schauen! Sie hatte sich abgewandt und war ziellos durch die Straßen gelaufen. Daran, wie sie zurück in ihre Pension finden sollte, hatte sie nicht einen einzigen Gedanken verschwendet. Jetzt, während der Feierabendverkehr an ihr vorbeirauschte und die Scheinwerfer der entgegenkommenden Autos sie blendeten, musste sie sich eingestehen, dass sie keine Ahnung hatte, wo sie sich gerade befand. Geschweige denn, wie sie zurückfinden sollte.

Wie gut, dass sie den Stadtplan eingesteckt hatte, den sie ihr in der Pension angeboten hatten. Mit seiner Hilfe dürfte es nicht allzu schwierig sein … Abrupt blieb Alice stehen. Sie hatte ihre Tasche bei Helena liegen gelassen. Sie stöhnte auf. Nicht nur der Stadtplan war in der Tasche. Der Schlüssel für die Pension, ihr Geldbeutel. Sie ballte die Fäuste. Verdammt, verdammt, verdammt! Das hatte sie ja wieder hervorragend hingekriegt! Ein Passant streifte sie im Vorbeihasten, drehte sich ärgerlich um und schüttelte den Kopf. Zornig starrte sie ihn an. Als ein weiterer Fußgänger sie beinahe angerempelt hätte, atmete sie scharf aus, trat einen Schritt zur Seite und blickte sich um.

Sie stutzte. Am Straßenrand stand ein Mann mit einem riesigen Hund. War das nicht das Tier, das bei Helena abgeholt worden war? Zögernd ging Alice auf den Mann zu. Er trug eine abgeschabte Lederjacke, die so gar nicht in diese gutbürgerliche Gegend passen wollte. Entweder waren seine Arme zu lang oder die Ärmel zu kurz, denn seine Knöchel ragten aus den Aufschlägen heraus. Als Alice sah, dass er nicht mal einen Hut trug, fröstelte sie.

»Entschuldigung?«, rief sie.

Anscheinend hatte er sie nicht gehört.

»Hallo? Entschuldigung«, setzte sie erneut an.

Er blickte über die Schulter und sah zu ihr herüber. Sie hob die Hand, und er drehte sich zu ihr um.

Alice blickte in ein schmales Gesicht mit hohen Wangenknochen. Rotblonde Haare, schlecht rasiert. Ein breiter Mund mit schmalen Lippen und tiefliegende blaugrüne Augen.

Sie räusperte sich und deutete hastig auf das riesige Tier an seiner Seite. »Haben Sie den Hund vorhin abgeholt? Bei Waldmann?« Sie streckte ihm die Hand entgegen, und der Hund begann sofort mit dem Schwanz zu wedeln und freundlich zu hecheln.

Der Unbekannte nickte. »Aye. Richtig. Gentle. Also der Hund. Heißt so …«, fügte er hinzu. Der Hauch eines englischen Akzents, fast nicht hörbar, lag unter seinen Worten.

Lächelnd blickte sie den immer noch wedelnden Hund an und kraulte ihn hinter den Ohren. »Freut mich, angenehm, Gentle!« Sie streckte dem Mann ihre Hand entgegen. »Alice. Waldmann. Also, ich heiße so.«

Amüsiert zog er eine Augenbraue hoch und ergriff lächelnd ihre Hand. Seine war trocken und rau. Mit angenehm festem Händedruck. Nichts hasste sie mehr als feuchte, knochenlose Schwitzhände.

»John Stevens«, antwortete er.

»Können Sie mir vielleicht sagen, wie ich von hier aus zu Fuß in die Motzstraße komme?«

»Könnte ich.« Er musterte sie und legte den Kopf schief. »Aber fahren Sie besser mit dem Bus.«

Glaubte er etwa, sie könne den Weg nicht finden? Das wollen wir doch mal sehen, dachte sie und hob herausfordernd das Kinn. »Ich laufe«, erwiderte sie mit Nachdruck. »Wenn Sie mir nur sagen, wie ich hinkomme.«

Er kniff die Augen zusammen, dann zuckte er mit den Achseln, wies auf eine Straße, die links abzweigte, und fing an, den Weg zu erklären.

Alice beobachtete fasziniert seine Hände, die mal in diese, mal in jene Richtung deuteten. Sie waren groß, aber schmal, mit langen, schlanken Fingern. Kein Ring. Als sie den Blick löste, war ihr klar, dass sie den Anschluss verloren hatte. Sie räusperte sich.

»In Ordnung. Sie haben recht«, fiel sie ihm ins Wort. »Ich glaube, es wäre … zu weit … zu Fuß. Vielleicht sagen Sie mir, wo die nächste Bushaltestelle ist?«

»Ich muss in dieselbe Richtung. Ich kann Sie ein Stück begleiten, wenn Sie möchten.«

Sie nickte. »Das wäre sehr nett. Danke.«

Seine Beine waren lang, seine Schritte weit, aber nicht eilig. Erstaunt stellte Alice fest, dass sie ohne weitere Anstrengung, beinahe von selbst, ihre Geschwindigkeit aneinander anpassten. Die meisten Leute gingen ihr zu langsam, und Spaziergänge endeten oft damit, dass sich ihre Begleitung über ihr Tempo beschwerte oder Alice das Gefühl hatte, dahinschleichen zu müssen.

An jedem anderen Tag hätte Alice den Weg genossen. Hätte sich erwartungsvoll umgesehen, in dieser zerrissenen, gezeichneten Stadt. Hätte alles aufgesogen: die bettelnden Gestalten, die bleichen Frauen, die sich in dunkle Hauseingänge drückten. Kriegsversehrte, Krüppel, hungrige Kinder. Nur wenige Meter weiter, das lebhafte, vergnügungssüchtige Gewimmel der Passanten. Die herausgeputzten Paare, die in hell erleuchtete Cafés eintraten, durch deren breite Fenster man stark geschminkte Frauen rauchen sah und pomadisierte Männer verwegene Blicke um sich warfen. Doch der heutige Abend war anders. All das Leben um sie herum faszinierte sie zwar, wurde aber von ihrem Ärger über Helena Waldmann – und sich selbst – überschattet. Sie schüttelte sich leicht. Nein, heute Abend wollte sie nicht mehr darüber nachdenken. Dafür blieb morgen noch genug Zeit.

Sie würde sich den möglicherweise einzigen und letzten Abend in dieser Stadt nicht verderben lassen. Sie würde sich ein bisschen mit dem Mann neben ihr unterhalten, sie würde in den Bus steigen, in die Pension fahren, morgen früh ihre Handtasche abholen und dann entscheiden, ob sie nach Wien zurückkehren sollte.

Sie warf einen kurzen Blick auf ihren Begleiter. Wie konnte man in dieser Kälte nur in dieser dünnen Jacke herumlaufen? Sie zog ihren Mantel enger um sich. »Frieren Sie nicht?«, fragte sie.

Er schüttelte den Kopf. »Nein. Ich brauche nur einen Schal. Gegen den Wind. Der ist wirklich hart.«

»Woher aus England kommen Sie?«

Erstaunt blickte er sie an. »England?«

»Na ja«, sie zögerte, »John Stevens ist kein deutscher Name.«

Er nickte. »Und trotzdem bin ich zur Hälfte deutsch.«

Erstaunt blickte sie ihn an.

»Meine Mutter war Deutsche. Mein Vater Ire.«

»Deswegen sprechen Sie so gut Deutsch!«

»Wer jeden Abend mit Grimms Märchen einschläft, sollte es irgendwann können, oder?«

»Und was machen Sie hier?«, fragte sie und hätte sich noch im selben Moment am liebsten auf die Zunge gebissen. Natürlich, der Krieg. Wie dumm von ihr.

Er zuckte mit den Achseln.

»Was sagt Ihre Familie dazu? Vermissen Sie sie nicht?«

»Meine Eltern sind gestorben.«

»Oh, das tut mir leid.« Betreten blieb sie stehen.

Er nickte kurz, dann sah er sich um. »Sehen Sie, dort ist die Bushaltestelle. Von hier aus ist es ein Katzensprung bis zur Motzstraße.«

»Ich glaube, ich muss Sie um einen weiteren Gefallen bitten.« Alice räusperte sich verlegen. »Es ist mir wirklich unangenehm, aber können Sie mir ein bisschen Geld geben?« Betreten sah sie zu Boden. Als sie ein leises Lachen hörte, hob sie den Blick.

»Miss Alice Waldmann. You are welcome.« Kopfschüttelnd griff er in seine Hosentasche, kramte einige Münzen heraus und hielt sie ihr auf der geöffneten Handfläche entgegen. »You are very welcome.«

Eine schlaflose Nacht

November 1930

Ruhelos lief Alice vom Fenster des Pensionszimmers zur Tür und wieder zurück. Sie sah auf die Straße hinunter. Kein Licht in den Häusern gegenüber. Seufzend stellte sie sich vor das kleine Waschbecken, kramte die Zahnbürste aus ihrem Necessaire und begann sich die Zähne zu putzen. Ihr Spiegelbild zeigte ihr eine blasse, zerzauste junge Frau. Ihre sonst so klaren bernsteinfarbenen Augen sahen müde aus, und die widerspenstigen dunklen Locken hatten sich schon lange aus der Frisur gelöst. Ihr Blick blieb an ihrer Nase hängen, die ihr um einiges zu lang vorkam. Manche ihrer Freunde hatten versucht, ihr einzureden, sie hätte eine römische Nase. Was immer das bedeuten sollte. Einzig mit ihren vollen Lippen, auf denen sich gerade der Zahnpastaschaum verteilte, war sie zufrieden. Sie beugte sich zum Wasserhahn hinunter, um auszuspülen.

Sie musste endlich schlafen. Es war bereits nach eins.

Langsam streifte sie das Kleid ab, warf es auf einen Stuhl und zog die Schuhe und die Strümpfe aus.

Nachdem sie in den Bus gestiegen war, war sie so lange hinter der Tür stehen geblieben, bis sie John Stevens und Gentle nicht mehr sah. Erst dann hatte sie den Schaffner gesucht, um eine Fahrkarte zu lösen. Das Rütteln und Holpern des Wagens, das stetige Anfahren und Abbremsen, hatten ihre Unruhe verstärkt. Es würde sie nicht wundern, wenn jeden Augenblick blaue Funken aus ihren Fingerspitzen schießen würden. All die auf sie einstürmenden Eindrücke, all die Begegnungen des heutigen Tages jagten sich in ihrem Kopf und wirbelten durcheinander.

Langsam ließ sie sich aufs Bett zurückfallen, zog die brettsteifen und kratzigen weißen Laken über sich, rollte sich zur Seite, schloss die Augen und fing an, langsam bis hundert zu zählen. Bevor sie bei zehn angekommen war, tauchte das Gesicht von John Stevens vor ihrem inneren Auge auf. Alice runzelte die Stirn. Etwas an ihm zog sie an. Sein Gesicht war nicht schön, jedenfalls nicht auf die konventionelle Art. Aber es war ein Gesicht, das man nicht so schnell vergaß. Hohe Wangenknochen, markantes Kinn, eine gerade, lange Nase. Blaugrüne Augen. So eine intensive Augenfarbe hatte sie noch nie gesehen.

Er war auf eine stille Art interessiert gewesen, an dem, was sie zu sagen hatte. Auch wenn es bei Gott nicht sonderlich viel – oder tiefschürfend – gewesen war. Aber er hatte aufmerksam zugehört und gewirkt, als ob er sich gut überlegen würde, was er sagen wollte, bevor er den Mund aufmachte. Außerdem roch er gut.

Sie setzte sich auf, zog die Knie an die Brust und schlang die Arme darum. Ohne Zweifel fand sie ihn anziehend. Seufzend stopfte sie sich das klumpige Kissen in den Rücken und blickte zum Fenster. An Schlaf war nicht zu denken, also zog sie die Laken fester um sich und stand auf. Wahrscheinlich wäre es wirklich besser, wenn sie morgen zurück nach Wien reiste.

Ein schwacher Streifen Licht fiel auf den schäbigen Stuck an der Decke. Alice trat ans Fenster, ließ sich auf den davorstehenden Sessel fallen und blickte auf die ausgestorben daliegende Straße. Sie zog die kalten Füße hoch und versuchte sie mit dem dünnen Laken zu bedecken. Eigentlich hätte sie von Anfang an mit dem Scheitern ihres Plans rechnen müssen. Wie sollte ihr mit einer einzigen Begegnung gelingen, was ihre Mutter in Jahren nicht geschafft hatte? Ein unruhiges Flattern huschte durch ihren Körper, das sich beim Gedanken an Helena in einen kleinen kalten Klumpen in ihrem Magen verwandelte und sich dort niederließ. Was für eine harte Frau ihre Großmutter war. Ein schönes Schlamassel hätte ihre Mutter es genannt, in das sie sich mal wieder manövriert hatte. Alice schloss die Augen. Und noch während sie an ihre Mutter dachte, war sie eingeschlafen.

Nur wenige Sekunden später – so kam es ihr vor – fuhr sie aus dem Schlaf. Schmerz schoss durch die noch immer angezogenen Beine. Wie spät war es? Draußen war es noch dunkel. Nichts regte sich. Sie hatte geträumt. Sie streckte die verkrampften Beine aus und zog sich das Laken über den Kopf. Lux. Sie hatte von ihrem Vater geträumt. Innerhalb weniger Minuten war sie wieder eingeschlafen.

Als sie in der Morgendämmerung aufwachte, fühlte sie sich zerschlagen. Beim Versuch aufzustehen, gaben ihre gefühllosen Beine unter ihr nach. Fast wäre sie hingefallen. Sie wartete einige Sekunden lang, bevor sie sich traute, die wenigen Schritte zum Bett zu gehen. Vorsichtig setzte sie sich auf die Bettkante. Während sie mit den Zehen wackelte und sich die Füße massierte, dachte sie über den gestrigen Tag nach. Sie brauchte jetzt einen klaren Kopf, um zu entscheiden, wie es weitergehen sollte. Ob sie nach Wien zurückkehren sollte, zu der kleinen Galerie, in der sie als Sekretärin arbeitete. Zu den Freunden, die sie noch aus der Universität kannte und die fast alle Kunstgeschichte studierten. So wie sie, wenn sie nicht letztes Jahr abgebrochen hätte. Zu trocken, zu theoretisch und staubig war es ihr. Mama war wütend gewesen. Als Alice es Lux gebeichtet hatte, hatte er nur mit den Schultern gezuckt und gefragt, ob sie denn wisse, was sie stattdessen mit ihrem Leben anfangen wolle. Wusste sie nicht. Er hatte ihr angeboten, ihr weiterhin den Unterhalt zu zahlen, und kurz war sie versucht gewesen, Ja zu sagen. Es wäre sehr viel einfacher, sich von ihm finanzieren zu lassen. Doch alleine bei dem Gedanken, von seinem Geld abhängig zu sein, drehte sich ihr der Magen um. Sie wollte auf eigenen Füßen stehen. Auch dagegen hatte er keine Einwände gehabt. Immerhin war sie ja aus München weggegangen, um ein eigenes, von ihren Eltern unabhängiges Leben führen zu können. Lux hatte lediglich gefragt, ob er seine Kontakte spielen lassen solle, damit sie eine bessere Stellung bekäme. Aber selbst das war ihr schon zu viel. Also hatte sie in der kleinen Kunsthandlung in einer der Seitenstraßen beim Stephansdom angefangen. Viel verdiente sie dort nicht. Wenn sie ehrlich war, reichte es nicht zum Leben und nicht zum Sterben. Trotzdem war es Alice gelungen, damit zurechtzukommen, auch weil sie sich die winzige Wohnung, die sie gefunden hatte, mit ihrer Freundin Colette teilte.

Sie drehte den Kopf und blickte hinaus. Kaltes, graues Morgenlicht kämpfte sich mühsam in den Tag hinein. Eine merkwürdige Stadt war dieses Berlin. So vollkommen anders als das helle, leuchtende Wien. Und doch hatte es etwas, das sie anzog und lockte. Ärgerlich richtete Alice sich auf. Sie musste sich entscheiden.

Also: Was sollte sie tun? Hierbleiben, ihre Reserven, das bisschen, das ihre Mutter ihr hinterlassen hatte, anbrechen und versuchen, eine Anstellung zu finden? Wenn sie nach Wien zurückkehren würde, käme das einer Niederlage gleich. Erst recht wollte sie nicht zu ihrem Vater nach München zurückkehren. Sie biss sich auf die Unterlippe. Vielleicht hätte sie darüber nachdenken sollen, bevor sie Hals über Kopf hierhergekommen war. Aber als sie die ungeöffnet zurückgeschickten Briefe ihrer Mutter an Helena Waldmann gelesen hatte, die sie wenige Tage nach ihrem Tod in einem Koffer unter ihrem Bett fand, da war sie so wütend geworden. Die ersten waren 1905, kurz nach ihrer Geburt, geschrieben, der letzte ein halbes Jahr vor Mamas Tod. Wie sehr hatte sich Mama nach einem Wort der Versöhnung von der eigenen Mutter gesehnt. Doch jeder einzelne Brief war ungeöffnet zurückgesandt worden. Vor Zorn bebend war sie zu Lux gelaufen, hatte ihm die Briefe unter die Nase gehalten und gefragt, ob er davon gewusst hätte. Er hatte sie kurz angeblickt und müde mit den Schultern gezuckt. Und dann hatte er diesen einen Satz gesagt: »Du kannst ja nach Berlin fahren und Wiedergutmachung von Helena Waldmann fordern, wenn es dich so empört.« Auf diesen Satz hatte sie sich gestürzt und ihn nicht mehr losgelassen.

Ärgerlich richtete sie sich auf. Schluss mit all diesen unnützen Gedanken, schalt sie sich. Sie würde sich waschen, anziehen, frühstücken und ihre Tasche holen. Dann würde sie entscheiden, was zu tun war. Sie nickte und stand auf. Ja. So würde sie es machen.

Gerade beugte sie sich über ihren kleinen Koffer, als es an der Zimmertür klopfte.

Unerwartete Unterstützung

November 1930

Alice hatte sich hastig den Morgenmantel übergeworfen und blinzelte vorsichtig durch den schmalen Spalt. Vor der Tür stand eine elegant gekleidete, dunkelhaarige, nicht mehr ganz junge Frau in einem prächtig bestickten Mantel mit üppigem Pelzkragen, der ihr Gesicht wie eine Wolke umhüllte. War das nicht die Dame von gestern, in die sie auf ihrer Flucht beinahe hineingelaufen wäre?

»Ja, bitte?« Alice zog den Morgenmantel vor der Brust zusammen, als sie den Blick über ihre zerzauste Erscheinung gleiten spürte.

»Darf ich hereinkommen?«, fragte die Unbekannte. Sie hob die Hand, in der sie Alices Tasche hielt.

Mit einem kleinen Aufschrei griff Alice danach.

»Wollen Sie nicht nachsehen, ob alles da ist? Darf ich eintreten?«

Mit einer Hand drückte Alice ihre Tasche an sich, während sie mit der anderen die Tür ganz öffnete. Dann fuhr sie sich durch die wirren, ungekämmten Locken. »Bitte entschuldigen Sie mein Aussehen, aber ich habe nicht mit Besuch gerechnet.«

Die Frau winkte nonchalant ab. »Machen Sie sich keine Gedanken.« Sie sah sich suchend in dem kleinen Raum um.

Alice folgte ihrem Blick, sah den Stuhl, auf dem ihr Kleid von gestern lag, fegte es herunter und warf es aufs Bett. »Bitte, setzen Sie sich, Frau …«

»Waldmann. Aber sagen Sie doch Rosa. Immerhin bin ich Ihre Tante. Darf ich Sie Alice nennen?« Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.

Die elegante Erscheinung ließ sich auf den Stuhl gleiten. Alice stand vor ihr, barfuß, ungekämmt, wie ein kleines Mädchen, das verschlafen hatte und von den Erwachsenen aus dem Bett geholt worden war.

»Entschuldigen Sie die Frage: Aber haben wir uns gestern nicht in der Potsdamer Straße gesehen?«, fragte Alice.

Rosa Waldmann sah sie aus hellblauen Augen, die in apartem Kontrast zu ihrem dunklen Haar standen, prüfend an und schlug die seidenbestrumpften Beine übereinander. »Richtig. Ihr Onkel Ludwig und ich waren zum Tee bei Helena – meiner Schwiegermutter – eingeladen.« Sie seufzte und verzog den Mund, als würde sie etwas Bitteres schmecken. »Sie können sich gar nicht vorstellen, wie aufgeregt mein Mann war, als er Sie aus dem Haus laufen sah. Sie sehen Ihrer Mutter sehr ähnlich. Aber das wissen Sie wahrscheinlich selbst. Ich hatte nie das Vergnügen sie kennenzulernen. Aber Ludwig … er hing sehr an Anna. Als er Sie gestern sah … und dann haben wir Ihre Tasche gefunden.« Sie zuckte mit den Schultern. »Ludwig ist noch zu aufgewühlt. Aber ich dachte, ich bringe sie Ihnen wieder, und wir können uns ein wenig unterhalten?«

»Sie wissen, dass meine Mutter gestorben ist?«, fragte Alice.

»Ja. Ihr Vater hat eine Karte geschickt. Ludwig und auch sein Bruder Johann waren sehr bestürzt über die Nachricht.«

»Tatsächlich«, sagte Alice spitz. »Dafür, dass sie der Tod ihrer Schwester so betrübt, haben sie all die Jahre erstaunlich wenig von sich hören lassen.«

Rosa blickte auf und sah sie nachdenklich an. Dann lächelte sie. »Ich denke, wir sollten unser Gespräch unten im Frühstücksraum weiterführen, wenn Sie sich frisch gemacht und angezogen haben, liebe Alice.« Bevor Alice etwas erwidern konnte, war sie aufgestanden. »Ich warte dann unten auf Sie.« An der Tür drehte sie sich noch einmal um. »Wir haben eine Menge zu besprechen.«

Mit einem kleinen Winken war sie aus der Tür raus und ließ Alice verwirrt zurück.

Eine halbe Stunde später entdeckte sie Rosa Waldmann an einem kleinen Tisch hinter einer der großen Fächerpalmen. Kurz nahm sie sich die Freiheit, sie zu betrachten. Elegant und gepflegt war sie. Während sie selbst sich in fliegender Hast gewaschen und angezogen hatte, hatte sie gegrübelt, was sie wohl von ihr wollte?

Rosa blickte auf und sah zu ihr herüber. Schuldbewusst lächelte Alice, durchquerte den Frühstücksraum und setzte sich an den Tisch. Ungefragt schenkte Rosa ihr eine Tasse Kaffee ein.

»Nun?«, fragte sie. »Wollen wir nicht Du zueinander sagen?«

»Wenn Sie … wenn du möchtest. Rosa?« Vorsichtig lächelte sie ihre Tante an.

»Helena Waldmann also«, begann Rosa. »Deine Großmutter. Meine Schwiegermutter. Eine harte Frau.«

Der Morgen war weit fortgeschritten, als sich Alice und Rosa endlich trennten. Interessiert hatte Alice ihrer Tante zugehört, als sie ihr von der Familie Waldmann erzählt hatte. Schließlich hatte sie nach Alices Hand gegriffen und sie angesehen.

»Was willst du denn nun tun?«, fragte sie.

Alice zuckte mit den Schultern. »Ehrlich gesagt, weiß ich es noch nicht. Ich habe eine Stelle in Wien.«

»Ah, Wien«, rief Rosa aus, und am Nebentisch blickte ein Ehepaar ungehalten zu ihnen herüber. Rosa schenkte ihnen ein reizendes Lächeln. Dann wandte sie sich wieder an Alice. »Was würdest du davon halten, hier in Berlin zu bleiben?«

Alice spielte nachdenklich mit dem Kaffeelöffel. »Ich weiß nicht …«, setzte sie an.

Auf Rosas Gesicht breitete sich ein strahlendes Lächeln aus. »Was würdest du davon halten«, sie griff erneut nach Alices Hand, »wenn du bei uns einziehst?« Als Alice den Mund öffnete, um zu widersprechen, hob Rosa die Hand. »Du könntest es doch versuchen. Sieh mal, Liebes, wenn es dir nicht gefällt, kannst du immer noch nach Wien zurückkehren. Oder nach München zu deinem Vater. Und du müsstest erst einmal kein Geld für Miete ausgeben. Jedenfalls so lange nicht, bis du eigenes Geld verdienst.«

»Ich kann das nicht annehmen«, unterbrach Alice ihre Tante.

»Papperlapapp! Du bist Familie, und du bist eine Frau. Sag Ja: Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr ich mich freuen würde, eine Freundin in dieser Familie zu haben.« Sie verdrehte die Augen und lachte. »Du machst dir keinen Begriff davon, wie bösartig die alte Krähe … entschuldige …« Sie hielt sich die Hand vor den Mund und lächelte. »Du machst dir keinen Begriff davon, wie schwierig Helena sein kann.« Rosa griff über den Tisch und drückte Alices Hand. »Dann ist es also abgemacht. Du bleibst für den Rest der Woche hier in der Pension und ziehst am Wochenende bei uns ein. Keine Widerrede, Liebes!« Sie stand auf und unterband so jeden möglichen Protest Alices. »Ich schicke dir am Samstag einen Wagen, der dich abholen wird.«

Da hat sie mich jetzt aber schon ziemlich überrumpelt, dachte Alice stirnrunzelnd und blickte Rosa hinterher. Dann griff sie zur Kanne und schüttelte sie prüfend. Leer. Als der Kellner vorbeikam, bat sie ihn um eine weitere Tasse Kaffee.

Während sie wartete, fragte sie sich, ob es klug war, auf dieses Angebot einzugehen. Doch was hatte sie zu verlieren? Ob sie nun hier oder in Wien in der Klemme steckte, war eigentlich egal.

Kuckuckskind

November 1930

Eisregen trommelte aufs Autodach, verklumpte sich und lief in Mustern am Fenster hinab. Alice blickte aus dem Fenster und beobachtete Fahrradfahrer, die sich durch den dichten Verkehr schlängelten, und dicke Limousinen, die sich rücksichtslos ihren Weg durch die im elektrischen Licht funkelnden Straßen der Stadt bahnten. Fußgänger überquerten hastig und halsbrecherisch die Fahrbahn inmitten des chaotischen Verkehrs. Gedankenverloren zog Alice Muster in die beschlagene Fensterscheibe.

Was sie wohl am Matthäikirchplatz erwartete? Rosa hatte anscheinend allerlei Ideen, wie sie sich in ihrem neuen Zuhause einrichten sollte. Alice hätte ein Zimmer, das über einen eigenen Eingang verfügte, sodass sie kommen und gehen könnte, wann immer sie wollte. Als sie anbot, Miete zu bezahlen, hatte ihre Tante empört abgewinkt.

»Ich bitte dich, Kind«, hatte sie bei ihrem letzten Treffen in einer kleinen Konditorei ausgerufen und ihr mit dem Handschuh sachte aufs Handgelenk geschlagen. »Rede keinen Unsinn. Richte dich erst einmal ein und überlege, was du mit deiner Zukunft anfangen möchtest.« Sie hatte ihre Handtasche geöffnet und darin herumgekramt. Mit einem kleinen triumphierenden Ausruf hatte Rosa schließlich zwei Schlüssel herausgezogen und sie Alice in die Hand gedrückt. »Der Haus- und der Wohnungsschlüssel. Nimm sie gleich an dich.«

Ob es richtig von Alice gewesen war, in Berlin zu bleiben? Was sie bis jetzt von der Stadt gesehen hatte, gefiel ihr. Quecksilbrig und gefährlich war es, düster, dreckig, billig. Aufregend, schnell und bevölkert von den interessantesten Menschen. Wenn sie irgendetwas erreichen wollte, dann hier. Aber sie musste auch aufpassen. Berlin ernährte sich von Leichtsinn und Gutgläubigkeit. Diese Stadt zog viele an: Glücksritter genauso wie Künstler, Elende wie Verwahrloste, die Hoffnungsvollen und die Optimisten – alle hofften ihr Glück zu machen oder in der Masse unterzutauchen.

Als das Taxi schließlich an den Straßenrand zog und anhielt, schreckte sie aus ihren Gedanken hoch. Überrascht blickte sie auf. Der Matthäikirchplatz lag in der Dämmerung ruhig vor ihr.

Da sie keine Anzeichen machte, auszusteigen, drehte sich der Chauffeur um. »Na, Frolleinchen, Endstation. Weiter jeht es nich’.«

Hastig zog Alice ihre Geldbörse aus der Handtasche.

Der Fahrer winkte ab. »Ist bereits bezahlt.«

Trotzdem ließ Alice es sich nicht nehmen, ihm wenigstens ein Trinkgeld zu geben. Der Chauffeur tippte an seine Mütze und hob ihren kleinen Koffer aus dem Fond, bevor er in der Dämmerung davonbrauste.

Alice wandte sich zum Haus um und blickte an der Fassade hoch. Mit dem Koffer in der Hand stieg sie die Stufen zur Haustür hinauf. Unschlüssig studierte sie das glänzende Klingelschild. Für ein so großes Haus gab es erstaunlich wenige Mietparteien. Im Hausflur ging das Licht an, und gerade als Alice sich dazu durchgerungen hatte, den Schlüssel zu benutzen, wurde die Haustür aufgerissen. Erschrocken stolperte sie eine Stufe zurück. Mit einem spöttischen Lächeln blickte eine Frau auf sie herab. Hinter ihr stand ein eleganter Mann, der ihr über die Schulter sah.

»Sie erlauben?« Trotzig hob Alice das Gesicht und drängte sich an den beiden vorbei in den Hausflur.

Das Paar wich zur Seite und lief auf die Straße. Als Alice sich noch einmal umwandte, waren die beiden in der Dämmerung verschwunden, und die Tür fiel hinter ihr ins Schloss.

»Alice, mein Liebling, da bist du ja!«

Rosa nahm ihr den kleinen Koffer ab und überreichte ihn dem neben der Tür stehenden Mädchen.

Noch während sie den Mantel auszog, konnte Alice Stimmen und Gläserklirren hören. Als sich im nächsten Moment die Tür öffnete, erkannte sie, dass die angrenzenden Räume voller Gäste waren.

»Habe ich mich im Tag geirrt?«, fragte sie verwirrt.

»Nein, nein, Kleines. Ich habe ein paar Freunde eingeladen.« Rosa strahlte sie an. »Zur Feier des Tages.«

Alice blickte zweifelnd an ihrem Kleid herab. Obwohl es das beste war, das sie dabeihatte, würde es dem kritischen Blick einer Gesellschaft kaum standhalten. Wie hätte sie ahnen sollen, dass sie hier in Berlin Kleider für Gesellschaften brauchte! Die hingen alle in ihrem Schrank in Wien. Wenn Colette sie sich nicht bereits unter den Nagel gerissen hatte. Sie würde ihr schreiben und sie bitten, ihr die Kleider zu schicken. Und sie informieren, dass sie sich erst einmal eine andere Mitbewohnerin suchen musste.

Alice setzte ein kleines Lächeln auf und ergab sich in ihr Schicksal. An Rosas Seite betrat sie den überhitzten Salon. Einige Paare tanzten zu den Klängen eines Grammofons, während sich die meisten in kleinen Gruppen unterhielten.

Wer sind all diese Menschen, fragte sie sich, während Rosa sie durch die Menge zog. Als sie die Mitte des Salons erreicht hatten, griff Rosa nach einem Glas und schlug mit einem kleinen Dessertlöffel klirrend an dessen Rand.

»Liebe Freunde! Ich bitte um einen kurzen Moment eurer Aufmerksamkeit«, rief sie.

Die Gespräche ebbten ab. Jemand stellte das Grammofon aus.

Besorgt blickte Alice Rosa an und entschied, dass es wohl am besten wäre, sich möglichst unauffällig in die Menge zurückzuziehen. Doch Rosa griff nach ihrer Hand und hielt sie fest.

»Liebe Freunde«, wiederholte sie. »Ich möchte euch jemanden vorstellen.«

Alice versuchte, sich unauffällig aus dem Griff ihrer Tante zu winden. »Rosa, bitte …«, flüsterte sie.

Rosa verstärkte ihren Griff und lachte. »Hier ist ja jemand schüchtern.«

Die Gesellschaft stimmte wohlwollend in das Lachen ein.

Nun gut, dachte Alice. Wenn Rosa sich nicht aufhalten ließ, musste sie die Sache mit Anstand hinter sich bringen. Aber Dankbarkeit hin, Dankbarkeit her, sie war keine Kuh, die man am Nasenring vorführen konnte.

»Und deswegen, liebe Freunde, bitte ich euch alle, heute meine Nichte Alice zu begrüßen!«

Die Gäste klatschten höflich.

Rosa hob die Hand. Hat sie denn noch nicht genug, dachte Alice, als sie den Kopf neigte und die Lippen zusammenpresste.

»Besonders hoffe ich«, fuhr ihre Tante fort, »dass Helena, ihre Großmutter, sie ebenfalls in der Familie willkommen heißt.«

Alice erstarrte.

Die Menge teilte sich. Und da stand sie: Helena Waldmann. Wie aus dem Boden gewachsen, und ihr Blick verhieß nichts Gutes.

Alice nippte an ihrem Glas. Sollte sie die Wohnung wieder verlassen, noch bevor sie eingezogen war? Oder wollte sie sich noch die Rechtfertigung Rosas anhören? Am liebsten hätte sie ihre Tante geohrfeigt wegen ihrer … ja, wegen was genau? Hereingelegt hatte sie sie. Sie vor allen lächerlich gemacht, sie vor fremden Menschen gedemütigt. Es war ein Schock gewesen, sowohl für sie selbst als auch für die alte Frau. Sie hatte tief durchgeatmet und versucht, ihrer Großmutter selbstbewusst gegenüberzutreten, war einen Schritt auf sie zugegangen und hatte ihr die Hand entgegengestreckt.

»Versuchst du mir dieses Kuckuckskind unterzuschieben?«, hatte Helena sich an Rosa gewandt, ohne Alices Hand zu ergreifen.

Alice stand da wie erstarrt und spürte, wie ihr die Hitze in die Wangen schoss. Schlagartig waren alle Gespräche verstummt. Sie hatte die Hand sinken lassen und zu Rosa geblickt. Diese drückte kurz ihren Arm, bevor sie ihrer Schwiegermutter antwortete. Was genau sie auf diese Beleidigung erwiderte, konnte Alice durch das Rauschen in ihren Ohren nicht verstehen. Mit brennenden Wangen hatte sie zwischen den beiden Frauen gestanden, die sich ein Wortgefecht lieferten. Die Umstehenden schienen das Geschehen in vollen Zügen zu genießen. Wie ein Gegenstand, um den man sich zankt, war sie sich vorgekommen. Mit einem heftigen Ruck hatte sie schließlich ihren Arm aus Rosas Griff befreit, die es jedoch nicht zu bemerken schien, so sehr war sie auf Helena fixiert. Alice hatte ihren Herzschlag bis in den Hals hinein gespürt. All die Unsicherheit und die Wut der letzten Tage kochten erneut in ihr hoch. Mit einem lauten Krachen hatte sie den Champagnerkelch, den ihr Rosa vor wenigen Minuten in die Hand gedrückt hatte, auf den Boden geworfen. Schlagartig hatte sich Stille über die Menge gesenkt, als sich unvermittelt eine Hand auf ihre Schulter legte. Sie war erschrocken herumgefahren und hatte einem groß gewachsenen, schlanken Mann ins Gesicht geblickt. Erstaunt stellte sie fest, dass ein kleines Lächeln um seine Mundwinkel spielte.

Er hatte sie am Ellbogen gepackt und von den beiden sich streitenden Frauen in die angrenzende dunkle Bibliothek gezogen. Dort hatte er sie vor dem Regal stehen lassen, um den Schalter einer Tischlampe zu suchen. Danach schloss er die Tür und ging zu einer kleinen, gut bestückten Hausbar. Er hatte zwei Gläser mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit gefüllt und ihr eines in die Hand gedrückt, bevor er sich in einen der Sessel fallen ließ. Dann hatte er einen großen Schluck genommen und zu Alice aufgeblickt, die immer noch reglos am Regal stand und ihn anstarrte.

»Setz dich.« Der Mann trug einen gut sitzenden, dezenten Anzug, das Sakko offen über einem hellen Hemd und einer Weste. Er lockerte den Krawattenknoten. »Bitte, setz dich«, wiederholte er. »Du machst mich nervös, wenn du da so stehst.«

Mit aller Gelassenheit, die ihr noch zur Verfügung stand, erwiderte sie: »Sagt wer?«, bevor sie seiner Aufforderung nachkam. Dann nahm sie einen großen Schluck, ohne zu schmecken, was sie trank.

»Wenn ich richtig mit meiner Vermutung liege – und das tue ich meistens …«, mit dem Glas in der Hand beschrieb er einen kleinen Kreis, »… dann bist du Alice, was bedeutet, dass ich dein Onkel bin.« Er spülte den Rest seines Whiskeys hinunter, strich sich über die dunklen Haare und stand auf, um sich einen weiteren einzuschenken. Fragend hielt er die Flasche in Alices Richtung, die den Kopf schüttelte. Er zuckte mit den Schultern und schenkte sich ein. »Um genau zu sein«, fuhr er fort, während er die Flasche klirrend verschloss, »bin ich Johann, der Schwager dieser … Furie Rosa.« Er wandte sich zu ihr um. »Welche die Frau meines großen Bruders Ludwig ist.« Er hob das Glas und machte eine kleine Verbeugung. »Willkommen in der Familie, Alice.« Mit einem Blick zur Tür, hinter der man immer noch die erhobenen Stimmen Rosas und Helenas hörte, fügte er hinzu: »Willkommen auf dem Schlachtfeld.«

Bereits zum zweiten Mal stürzte nun schon derselbe lange, dünne Mann herein, den sie bereits vor der Villa in der Potsdamer Straße gesehen hatte, und sah sich mit wildem Blick um, bevor er, ohne ein Wort an Alice und Johann zu richten, wieder hinausschoss. Irritiert sah Alice ihm hinterher.

»Achte nicht auf ihn«, sagte Johann ungerührt. »Das wird jetzt eine kleine Weile lang so gehen. Er regt sich immer fürchterlich auf, wenn Rosa und Helena streiten.« Sie hörte Eiswürfel klirren und blickte Johann an. Er stellte sein Glas ab. »Wir warten besser noch ein bisschen – in Sicherheit.«

»Gibt es denn hier einen sicheren Platz?«, fragte Alice. Sie setzte ebenfalls ihr leeres Glas ab und zündete sich eine Zigarette an.

Gleichmütig blickte Johann zu ihr herüber. »In dieser Wohnung? Oder in der Familie?« Er legte die Fingerspitzen aneinander, als müsste er über Alices Frage nachdenken. »Die Bibliothek ist momentan tatsächlich der sicherste Ort. Wenn du die Familie meinst: Man kann nur versuchen, rechtzeitig aus der Schusslinie zu gehen.« Er lächelte müde. »Und? Was hast du jetzt vor? Nun, wo du die Waldmanns das erste Mal erlebt hast?«

Alice zog an ihrer Zigarette, bevor sie sie an einem Aschenbecher abstreifte. Nachdenklich folgte sie dem aufsteigenden Rauch mit dem Blick und schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht.« Vorsichtig drückte sie die heruntergerauchte Zigarette aus. »Ich weiß es wirklich nicht. Was würden Sie … was würdest du tun, wärest du so … vorgeführt und vor aller Augen zum Gegenstand von Neugier und Tratsch gemacht worden?«

Sie stand auf, schritt an den Regalen entlang und ließ die Fingerspitzen über die Bücherrücken gleiten. Hinter Johann blieb sie stehen und betrachtete seinen Hinterkopf mit dem dichten, am Kopf anliegenden dunklen Haar. »Kuckuckskind hat sie mich genannt. Vor allen Leuten.« Johann drehte den Kopf, sodass sie sein von der Tischlampe erleuchtetes Profil betrachten konnte. »Was ich aber viel schlimmer finde …«, sie nahm ihre Wanderung wieder auf, »… ist, dass Rosa mich offenbar vorsätzlich in diese Situation gebracht hat.« Sie war nun vor Johann zum Stehen gekommen und blickte auf ihn herab. »Sag mir: Was würdest du tun? Es hinnehmen und so tun, als wäre nichts passiert? Oder gehen?«

»Und wohin würdest du gehen?«, fragte er.

Alice schlug die Augen nieder.

»Wen gibt es in München – oder Wien –, der sich für dich interessiert und sich deiner annimmt?«

»Ich brauche niemanden, der sich meiner annimmt«, fuhr sie ihn an. »Ich bin keine fünf Jahre alt!«

Beschwichtigend hob er die Hände, stand auf und ging langsam auf sie zu. Als sie ihm ausweichen wollte, stellte er sich ihr in den Weg. »Ich wollte dir nicht zu nahetreten, Alice. Aber sei ehrlich. Gibt es irgendjemanden in deinem Leben, auf den du dich verlassen kannst?«

Sie lachte auf. »Mich verlassen?« Gereizt schüttelte sie den Kopf. »Und die Waldmanns? Auf die könnte ich mich verlassen? So wie meine Mutter sich auf ihre Brüder hat verlassen können?«

Im gedämpften Licht der Bibliothek konnte sie erkennen, dass er zusammenzuckte.

Sie trat wieder auf die Regale zu. »Ich habe nicht den Eindruck, als könnte ich mich hier auf irgendjemanden verlassen.« Sie drehte sich zu ihm um und hielt ihren Zeigefinger hoch. »Rosa Waldmann: benutzt mich für ihren eigenen Kleinkrieg mit ihrer Schwiegermutter.« Sie streckte den Mittelfinger aus. »Helena Waldmann: will nichts mit mir zu tun haben und hasst mich.« Sie ließ die Hand sinken. »Du?« Sie zuckte mit den Schultern und wandte sich wieder ab. »Ich kenne dich nicht. Also. Sag mir: Was soll ich tun?« Sie lehnte sich mit dem Rücken an eines der hohen dunklen Regale und beobachtete ihn.

Er hatte sich nicht von der Stelle gerührt, eine Hand in der Hosentasche und den Kopf in den Nacken gelegt. »Was Rosa betrifft: Sie hat allen Grund, nicht gut auf ihre Schwiegermutter zu sprechen zu sein. Was nicht heißen soll, dass ihr Verhalten nicht ab und zu ans Irrationale grenzt. Doch wenn die zukünftige Schwiegermutter einen auf der Verlobungsfeier vor versammelter Gesellschaft einen Emporkömmling nennt, lässt das kaum Raum für familiäre Gefühle. Es soll Frauen geben, die kommen damit zurecht und können vergeben. Rosa gehört nicht dazu.« Er blickte sie an. »Zu deiner Frage, ob du dich auf mich verlassen kannst: Ich weiß nicht, ob du es möchtest. Aber ich kann dir immerhin einen Rat geben.« Er zog ein Zigarettenetui aus der Jackentasche, öffnete es und bot Alice eine Zigarette an. Er gab ihnen beiden Feuer, inhalierte tief und blies gedankenverloren kleine blaue Ringe in Richtung Decke. »Bleib«, sagte er und zog erneut an der Zigarette. »Versuche es. Lass dich darauf ein. Wenn es nicht klappt und wir dich alle in den Wahnsinn treiben …«, er blickte auf und grinste sie an, »… kannst du immer noch gehen.«

Alice beobachtete ihn aus zusammengekniffenen Augen.

Das Geräusch eines zersplitternden Glases und ein schriller Aufschrei ließen sie beide zusammenfahren. Die Tür zum Salon wurde aufgerissen und mit dumpfem Krachen wieder ins Schloss geworfen. Schwer atmend lehnte sich Ludwig Waldmann an die Tür, die Augen geschlossen, das Haar zerzaust und mit aus der Hose hängendem Hemd. Als er die Augen aufriss, stürzte er mit einem verzweifelten Aufschrei auf seinen Bruder zu und packte ihn an den Schultern.

»Sie treiben mich in den Wahnsinn«, rief er und zerrte an Johanns Jackenaufschlag.

Alice wich einen Schritt zurück.

»Ich glaube, ich weiß, was du jetzt brauchst«, erwiderte Johann sanft, nahm seinen aufgelösten Bruder an den Händen, führte ihn zu einem der beiden Sessel und drückte ihn hinein. Dann setzte er sich neben ihn, nicht jedoch, bevor er Alice mit einem leichten Kopfnicken in Richtung Hausbar zu verstehen gegeben hatte, sie möge ein Glas einschenken und ihm bringen.

Während sie tat wie geheißen, konnte sie ihn leise und beruhigend auf seinen Bruder einreden hören. Mit dem Glas trat sie auf die beiden Männer zu und reichte es Johann, der es Ludwig in die Hand drückte.

Dieser schaute erschrocken auf. »Oh Gott!« Unvermittelt sprang er auf und verschüttete den Drink. »Oh Gott! Ach, nein!« Hastig stellte er das tropfende Glas auf den Beistelltisch, zog ein Taschentuch aus der Hosentasche und rieb sich damit über die Hände.

Aus den Augenwinkeln konnte Alice sehen, dass Johann die Lippen aufeinanderpresste, den Kopf abwandte und auf das gegenüberliegende Regal starrte, wo er scheinbar etwas Interessantes entdeckt hatte. Nur seine bebenden Schultern verrieten den sich anbahnenden Lachkrampf.

Alice wandte sich Ludwig zu und streckte ihm die Hand entgegen, die er energisch zu schütteln begann. Wenn er noch ein wenig länger so weitermachte, würde sich ihr Arm mit Sicherheit in einen Pumpenschwengel verwandeln. So wie es aussah, wollte Ludwig sein Missgeschick durch größtmöglichen Enthusiasmus wiedergutmachen.

»Alice – Alice – willkommen«, stammelte er.

Johann legte Ludwig eine Hand auf den Arm. »Lass ihren Arm dran, großer Bruder.«

»Ja, ja, oh, Verzeihung, tut mir leid, Alice!« Mitten in der Bewegung ließ er ihre Hand los. Alice widerstand der Versuchung, sich das Handgelenk zu reiben. »Es ist nur so schön, dass sie hier ist«, antwortete Ludwig an Johann gewandt und griff erneut nach ihrer Hand. »Auch wenn der Start vielleicht ein wenig … schwierig war«, fuhr er leicht errötend fort, »ich bin so froh, dass Alice bei uns ist.« Er blickte zu seinem Bruder, ohne ihre Hand loszulassen. »Du nicht auch?«

Der Morgen dämmerte bereits. Irgendjemand hatte ein Fenster geöffnet, um den abgestandenen Zigarettenqualm hinaus- und den neuen Morgen hereinzulassen. Es gefiel Alice, hier im Sessel zu sitzen, in eine Decke gewickelt, die ihr Rosa gebracht hatte, und die drei so nah beisammen zu sehen.

Noch vor ein paar Stunden hatte sie geglaubt, es wäre besser, so schnell wie möglich zu verschwinden. Doch nachdem sich ihre erste Wut gelegt hatte, fing ihr Verstand wieder an zu arbeiten. Sicher, sie war gedemütigt worden. Aber sollte sie nicht alles gründlich durchdenken und erst dann eine Entscheidung treffen? Johann hatte recht: Wer wartete auf sie? Sie biss sich auf die Unterlippe. Sie hatte zwar sehr viele Bekannte und Freunde in Wien … aber wer war tatsächlich für sie da? Außer Lux war da niemand. Und es widerstrebte ihr, wie ein kleines Mädchen heim zu Papa zu laufen und sich hinter seinem Rücken zu verstecken. Ihr Blick blieb im Ungefähren hängen, zwischen den im gedämpften Licht verschwimmenden Figuren Ludwigs, Johanns und Rosas, die einander zugeneigt auf dem Sofa saßen.

Sie schloss die brennenden Augen. Nun konnte sie nur noch das Murmeln der Stimmen und das leise Klirren der Kaffeetassen hören. Es war spät – oder früh – geworden.

Sie öffnete noch einmal die Augen, blinzelte in die Dämmerung hinein, gähnte und schlief ein.

Im Westen nichts Neues

Dezember 1930

»Hoho! Alle da?«, rief Ludwig, als er mit Geschenken beladen in den Salon marschierte.

»Oh, wie wunderbar«, rief Rosa und klatschte in die Hände.

Amüsiert beobachtete Alice ihre Tante, deren Augen beim Anblick der vielen Päckchen aufleuchteten.

»Mein Engel«, rief Ludwig seiner Frau zu. »Du brauchst noch ein wenig Geduld. Wir müssen auf Mama warten.«

Rosa protestierte lautstark. Alice, die mit einem kleinen Glas Punsch am Fenster stand, konnte trotz des flauen Gefühls, das sich beim Gedanken an Helena in ihrem Magen ausbreitete, ein Grinsen nicht unterdrücken und blickte zu Johann.

Er hob sein Glas, prostete ihr zu und schlenderte vom extra für die Feiertage angefachten Kamin zu ihr hinüber.

»Nun?«, fragte er. »Wie machen wir uns bis jetzt?« Er nahm einen Schluck vom Punsch und verzog das Gesicht. »Zu süß.«

Alice mochte den schwer durchschaubaren Johann. Er interessierte sie, obwohl er sich nicht in die Karten blicken ließ. Vor allem seit sie vor Kurzem erfahren hatte, dass er Besitzer eines Nachtclubs namens Das Blinde Schwein war. Und der Arbeitgeber von John Stevens.

Als es drei Tage zuvor, am letzten Adventssonntag, an der Tür geläutet hatte, stand zu Alices großen Verblüffung eine riesige Tanne vor der Tür. Verdutzt starrte sie auf die blaugrünen Nadeln, bis sich aus dem Gewirr aus Zweigen und Ästen ein paar Hände lösten und eine ihr bekannte Stimme aus dem Baum heraus sprach.

»Wo soll er hin?«, fragte die Tanne.

»Wie, wo soll wer hin?«, entgegnete Alice und überlegte, wie sich wohl ein sprechender Baum in einem Berliner Hausflur erklären ließe.

»Die Tanne«, ächzte der Baum. »Wo soll sie hin?«

»Alice? Wer ist an der Tür?«, rief Rosa aus dem Salon.