Die Gärten von Darjeeling - Bharti Kirchner - E-Book
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Die Gärten von Darjeeling E-Book

Bharti Kirchner

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Beschreibung

So fern und doch so nah: Der ergreifende Familienroman „Die Gärten von Darjeeling“ von Bharti Kirchner jetzt als eBook bei dotbooks. Indien, ein Land zwischen Tradition und Aufbruch: Zwei Schwestern, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten – die Liebe zu einem Mann riss Aloka und Sujata auseinander und zog sie in die Fremde. Über zehn Jahre sind nun vergangen, seit Sujata überstürzt aus ihrer Heimat in den Bergen Indiens fortgeschickt wurde. Als ein Brief ihrer Großmutter die beiden Frauen aus Kanada und New York zurück nach Darjeeling ruft, treffen sie auf der väterlichen Teeplantage zum ersten Mal wieder aufeinander. Aber kann Sujata wirklich ihre Gefühle vergessen, die sie einst für Alokas Verlobten hegte? Die beiden Schwestern müssen sich ihrer Vergangenheit stellen und herausfinden, ob die Zeit tatsächlich alle Wunden heilt ... „Eine fesselnde Geschichte von Liebe, Feindschaft und Versöhnung, die die Leser in die farbenprächtige Welt einer alten Tee-Dynastie entführt!“ Die Bestsellerautorin Chitra Divakaruni „Was für ein wunderbarer Roman über Familienzwist und verbotene Liebe, der elegant indisches und amerikanisches Lebensgefühl miteinander vereint!“ Kirkus Reviews Jetzt als eBook kaufen und genießen: „Die Gärten von Darjeeling“ von Bharti Kirchner. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 499

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Über dieses Buch:

Indien, ein Land zwischen Tradition und Aufbruch: Zwei Schwestern, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten – die Liebe zu einem Mann riss Aloka und Sujata auseinander und zog sie in die Fremde. Über zehn Jahre sind nun vergangen, seit Sujata überstürzt aus ihrer Heimat in den Bergen Indiens fortgeschickt wurde. Als ein Brief ihrer Großmutter die beiden Frauen aus Kanada und New York zurück nach Darjeeling ruft, treffen sie auf der väterlichen Teeplantage zum ersten Mal wieder aufeinander. Aber kann Sujata wirklich ihre Gefühle vergessen, die sie einst für Alokas Verlobten hegte? Die beiden Schwestern müssen sich ihrer Vergangenheit stellen und herausfinden, ob die Zeit tatsächlich alle Wunden heilt ...

»Eine fesselnde Geschichte von Liebe, Feindschaft und Versöhnung, die die Leser in die farbenprächtige Welt einer alten Tee-Dynastie entführt!« Die Bestsellerautorin Chitra Divakaruni

»Was für ein wunderbarer Roman über Familienzwist und verbotene Liebe, der elegant indisches und amerikanisches Lebensgefühl miteinander vereint!« Kirkus Reviews

Über die Autorin:

Bharti Kirchner, geboren in Indien, war lange Zeit in der IT-Branche tätig, bevor sie sich dem Schreiben widmete. Neben ihren Romanen veröffentlichte sie mehrere preisgekrönte Kochbücher und ist heute als freie Journalistin für zahlreiche bekannte Zeitschriften und Tageszeitungen tätig. Kirchner lebt mit ihrem Mann in Seattle.

Bharti Kirchner veröffentlichte bei dotbooks bereits ihre Romane »Der Duft von süßen Mandeln« und »Die Sonnentänzerin«.

Die Website der Autorin: www.bhartikirchner.com

Die Autorin im Internet: www.facebook.com/Bharti-Kirchner/

***

eBook-Neuausgabe Juni 2018

Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 2002 Bharti Kirchner

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2002 unter dem Titel »Darjeeling« bei St. Martin's Press, New York.

Published by arangement with Bharti Kirchner

Copyright © der deutschen Ausgabe 2003 by Verlagsgruppe Random House GmbH

Copyright © der Neuausgabe 2018 dotbooks GmbH, München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Bildmotiven von shutterstock/jamlong tumkaev, shutter Grey, Abir Roy Barman

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (aks)

ISBN 978-3-96148-203-0

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weitere Bücher aus unserem Programm. Schicken Sie einfach eine eMail mit dem Stichwort »Die Gärten von Darjeeling« an: [email protected] (Wir nutzen Ihre an uns übermittelten Daten nur, um Ihre Anfrage beantworten zu können – danach werden sie ohne Auswertung, Weitergabe an Dritte oder zeitliche Verzögerung gelöscht.)

***

Besuchen Sie uns im Internet:

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blog.dotbooks.de/

Bharti Kirchner

Die Gärten von Darjeeling

Roman

Aus dem Amerikanischen von Antje Althans

dotbooks.

Zur Erinnerung an meine Mutter – damit wir Darjeeling nicht vergessen

Der Blätter sind viele, die Wurzel ist ein' ... Durch all meiner Jugend lughaften Lauf Schwenkt Blätter und Blumen zur Sonne ich auf ... Nun möchte ich welken zur Wahrheit hinein.

William Butler Yeats

Tee ist schlichtweg dies: Erst kocht man das Wasser, Dann brüht man den Tee. Dann trinkt man ihn richtig. Mehr Wissen bedarf es nicht.

SEN NO RIKYU TEEMEISTER AUS DEM SECHZEHNTEN JAHRHUNDERT

Kapitel 1

Herbst 2000

Aloka Gupta blickte aus dem Fenster ihres Apartments hinab auf das graubraune Treiben in der 52. Straße von Manhattan; ihre Gedanken schweiften in die Heimat ihrer Kindheit und zu der familieneigenen Teeplantage in Darjeeling. Angespornt von der Kälte der kurzen Herbsttage bildeten die Teepflanzen jetzt ihre dritte Blüte aus zarten, glänzenden Blättern und verliehen der frischen Bergluft einen verführerischen Duft. Vor acht Jahren waren ihr Leben und ihre Liebe, wie die Hummeln, die von Knospe zu Knospe huschten, mit diesen Sträuchern verflochten gewesen.

Das kalte Durcheinander aus Glas, Beton, Chrom und Stahl, das sie jetzt vor Augen hatte, stand in unbarmherzigem Kontrast zum Zauber jener idyllischen Zeit. Als sie sich abwandte, starrten sie die endgültigen Scheidungspapiere, dienstbeflissen mit dem Siegel des Staates New York und dem Datum versehen, von ihrem Schreibtisch anklagend an.

Wie war eine Scheidung möglich? Sie hatte stets angenommen, sie würde zu einer patiyrata heranwachsen und ihrem Ehemann für den Rest ihres Lebens ergeben bleiben. Da sie mit Geschichten von mächtigen Göttinnen aufgewachsen war – Sita, Savitri und Sakuntala, leuchtende Beispiele für ergebene Hindu-Ehefrauen – fiel es ihr schwer zu glauben, dass sie jetzt, mit vierzig, allein sein würde. Sita, Savitri und Sakuntala würden nur noch auf den Seiten der heiligen Schriften existieren.

Sie ließ sich an ihrem Schreibtisch nieder, schob die Scheidungspapiere beiseite und griff nach der aktuellen Ausgabe der Manhattan, India, herausgegeben von Girish Enterprises. Vor drei Jahren hatte sie bei dem Blatt eine Stelle als Journalistin ergattert, hauptsächlich aufgrund ihres Magisterabschlusses in Englisch und ihrer Erfahrung als High-School-Lehrerin. Die viel gelesene Wochenzeitung berichtete über Neuigkeiten und Ereignisse, die für die prächtig gedeihende indisch-amerikanische community, die über ganz New York und Umgebung verstreut lebte, von Interesse waren. Die Abonnenten verschlangen die Zeitung von der ersten bis zur letzten Seite, gaben sie an Freunde weiter, unterhielten sich bei chai mit Milch darüber und schickten Ausschnitte nach Hause. Aloka schrieb Features und genoss die Herausforderung, die Gefühle der Leser anzusprechen.

Die ersten beiden Seiten dieser Wochenausgabe waren dem Porträt eines Taxifahrers gewidmet, der seinem Dorf in Indien seine gesamten Ersparnisse für die Gründung einer Mädchenschule gestiftet hatte, und dem einer Biochemikerin, die in ihrer Freizeit Obdachlose mit Essen versorgte. Da stand auch Alokas Artikel: ein Interview mit einem Ernährungswissenschaftler über vegetarische Vitamin-B12-Quellen. Aloka freute sich aufs Neue, ihre Arbeit gedruckt zu sehen.

Sie blätterte zur dritten Seite. Die obere Hälfte war einer Ratgeberkolumne gewidmet: »Frag Seva«, der beliebteste Teil der Zeitung. Sie war ihr wichtigster Beitrag, einer, den sie unter diesem Pseudonym verfasste. Vor neun Monaten, als sie mit der Kolumne begonnen hatte, war ihr Redakteur über das Echo nicht begeistert gewesen. Bald jedoch hatte sie ihn mit ihrem Talent überrascht, die Bedürfnisse, Gefühle und Sorgen der Zuwanderer aus ihrem Vaterland zu erspüren und entsprechend auf sie einzugehen. Tagsüber bestaunten die Neuankömmlinge, die desorientierten desis, die breiten Avenues, die gewaltigen Wolkenkratzer und Kaufhäuser mit den vollen Regalen. Abends jedoch sehnten sie sich nach dem tiefer gehenden menschlichen Kontakt, der ihnen in der neuen Heimat so sehr fehlte. Sie kauerten in einer winzigen, heruntergekommenen Unterkunft, die sie sich mit einem anderen desi teilten. Mit langen Gesichtern und feuchten Augen klagten sie: »Mein Land, meine Verwandten, meine Sprache, meine Speisen.« Sie grübelten, ob die Abwanderung – meist erzwungen durch wirtschaftliche Gegebenheiten – nicht ein Fehler gewesen war. Ein einsamer Mann, ein »verheirateter Junggeselle«, war bekannt dafür, dass er Gratis-Servicenummern wählte, nur um sich mit jemandem zu unterhalten. »Die ersten drei bis vier Jahre sind ein Fluch«, verrieten ihnen weisere Mitglieder der community. »Danach hört man auf zu weinen.«

Aloka tat mehr, als nur Tränen zu stillen. Ihre Kolumne war eine gekonnte Mischung aus Optimismus, Beratung und praktischen Ratschlägen, wie man sich im neuen Heimatland einleben konnte: wo man einen Seidensari reinigen lassen konnte, wie man einen Hindu-Priester für eine Familienfeier ausfindig machte, wie man im Restaurant ein vegetarisches Gericht ohne Eier bestellte, warum man in den eiskalten Monaten mehrere Kleiderschichten tragen musste und wie man in einer Beziehung den ersten Schritt machte.

»Seva« bedeutete Dienst, und wie bei vielen Wörtern indischer Sprachen klang darin Ergebenheit mit. Ihrem Pseudonym entsprechend antwortete Aloka weder kurz angebunden auf heikle Fragen, noch nahm sie für eine fachlich akkurate Antwort die Hilfe eines Psychologenteams in Anspruch. Stattdessen erteilte sie vernünftige Ratschläge, wie sie eine liebevolle Schwester geben würde. Jung und Alt, Mann und Frau, Neuankömmlinge und schon lang Eingebürgerte lasen ihre Kolumne gleichermaßen und berieten sich sowohl im Kebab-Haus als auch in Internet-User-Groups darüber. Sie schrieben ihr und besuchten ihre Website fragseva.com auf der Suche nach Rat in allen Lebenslagen, insbesondere in Herzensangelegenheiten. Sie war für sie eine Quelle der Hoffnung und Weisheit. Sie war »eine von ihnen«.

In dieser Woche hatte die Kolumne mit Vorschlägen begonnen, wie man sich in der Stadt preiswert amüsieren konnte: das Sonntagskonzert im Central Park, die Gemüsesäfte mit einer Spur Kreuzkümmel, die ein blinder Händler in der Nähe des Rockefeller Square servierte, und die amerikanische Erstaufführung eines schon älteren Soumitra-Chatterjee-Films in einem Kino in der Bronx. Geendet hatte die Kolumne mit einem Appell, bei der Suche eines vermissten tamilischsprachigen Kindes mitzuhelfen.

Ihr fröhlicher Stil, die klaren, einfachen Formulierungen und die handgeschriebene »Alles Liebe, Seva«-Unterschrift, mit einem einzigen Federstrich ausgeführt, hatte die Herzen gewonnen. Mit etwa fünfzigtausend Exemplaren, Tendenz steigend, rühmte sich Manhattan, India inzwischen der höchsten Auflage aller indisch-amerikanischen Zeitungen vor Ort.

Doch wer war die wahre Seva?

Die Frage wurde bei geselligen und religiösen Zusammenkünften der community kontrovers diskutiert. Der augenblickliche Konsens – und der wechselte oft – lautete, dass sich dahinter Nandita Pal verbarg, eine kettenrauchende Eliteschriftstellerin, die eine erstklassige Adresse an der Fifth Avenue ihr Eigen nannte. Nicht einmal Pranab, ihr Exmann, hatte geahnt, dass Aloka dahinter steckte. Das war das erste Geheimnis, das sie vor ihm bewahrt hatte. Mit dem Scheitern ihrer Ehe war ihr Bedürfnis, sich stärker auf ihre eigene Karriere und Identität zu stützen, gewachsen. Freunden und Verwandten erzählte sie, dass sie für eine große Firma arbeitete, die Verlagswesen, Musik und Kleiderimporte zu ihren Aktivitäten zählte. Auf Nachfragen antwortete Aloka: »Ach, ich schreibe ein bisschen und betreibe ein wenig Marktforschung.« Sevas wahre Identität blieb das streng gehütete Geheimnis der Zeitung.

Jetzt griff Aloka nach dem Poststapel, den sie von der Arbeit mitgebracht hatte, und begann, ihn durchzusehen. Sie bekam meist schmeichelhafte Briefe, doch hin und wieder auch Schimpftiraden – »Trüffel und Pfeile« nannte sie das. Die erste Karte im Stoß stammte von einem Bewunderer. Sie lautete:

Selbst wenn sich herausstellt, dass Sie vierzig und übergewichtig sind, mit faulen Zähnen und fünf grässlichen Gören, würde ich Sie trotzdem lieben.

Aloka lachte kopfschüttelnd vor sich hin, warf die Karte in den Papierkorb in der Ecke und nahm die nächste.

Ich bin mir absolut sicher, dass Sie ein Mann sind. Ihre Antworten sind viel zu intelligent für eine zanana.

Verärgert über die herablassende Bezeichnung, die man grob mit »nur eine Frau« übersetzen konnte, knüllte Aloka die Karte zusammen, zielte auf den Papierkorb und verfehlte ihn um gut einen Meter. Ihr Blick war schon auf den nächsten Brief gerichtet.

Warum waschen sich die Frauen in New York so oft die Haare? Die letzten drei attraktiven Frauen, die ich um ein Rendezvous bat, antworteten alle: »Ich würde ja sehr gern, aber ich muss mir die Haare waschen.« Ich wünschte, ich wäre Breck.

Aloka lächelte in sich hinein. In ihrem Kopf nahm bereits eine geeignete Lösung für »Brecks« Problem Gestalt an, als sie durch Schritte aufgeschreckt wurde. Sie drehte sich halb auf ihrem Stuhl herum.

Pranab stand in der Tür. In der tristen marineblauen Jacke einer Telefonservice-Firma schien er sich unbehaglich zu fühlen. Sein Körper verströmte einen leicht öligen Geruch.

»Ach, du bist's.« Warum ausgerechnet heute?, fragte sie sich. »Ich habe nicht mit dir gerechnet.«

Er betrat den Raum. Mit seiner Körpergröße von 1,75 überragte er sie; doch in den tiefen Nachmittagsschatten wirkte er kleiner. Seine tief liegenden Augen schienen sich sogar noch weiter hinter seine charakteristische Hornbrille zurückgezogen zu haben; seine Lippen waren zu einer dünnen Linie zusammengepresst und verliehen seinem Gesicht einen eisigen Ausdruck.

»Will nur ein Buch holen.«

Er blieb unsicher vor dem Ahornbuchregal stehen, das alte Bände mit kastanienbraunem Einband enthielt, Literatur, die sie gemeinsam gelesen hatten. Dieses Arbeitszimmer mit seinem Schreibtisch aus Kirschholz unter dem Fenster und der verstellbaren Leselampe war immer sein Heiligtum gewesen.

In seinem Nacken stand eine eigenwillige Haarlocke ab, und ihre Finger zitterten vor Verlangen, sie glatt zu streichen. Stattdessen fuhr sie mit den Händen über ihre eng anliegende Bluejeans, eine traurige Erinnerung an die Pfunde, die sie in den letzten Monaten zugelegt hatte.

»Kann ich dir beim Suchen helfen?« Sie sprach Englisch, froh, dass sie eine gemeinsame zweite Sprache hatten. In guten Zeiten hatten sie sich auf Bengali – oder Bangla – unterhalten, ihrer poetischen Muttersprache mit dem wohltönenden Klang. Nicht heute. Nur Englisch, eine neutrale Sprache, frei von Emotionen, konnte verlässlich die angemessene Förmlichkeit übermitteln.

Sein Schweigen schnitt durch sie hindurch wie ein starker Wind vom Himalaya. Sie sah zu, wie er einen zerfledderten Band mit kaputtem Einband herausnahm, von dem ein moderiger Geruch ausging; seine Lieblingsabhandlung, geschrieben in Sanskrit. Mit seinen langen, spitzen Fingern begann er, in dem Buch zu blättern. Sein Gesicht wurde weicher, als er zu einer Seite mit einer Lieblingspassage kam.

Er klappte das Buch zu und musterte sie. Wie schnell ein Ehemann zum Fremden wird. Nicht einmal die Andeutung einer Frage hing in der Luft. Nachdem es zwischen ihnen keine Fragen mehr gab, wusste sie definitiv, dass ihre Ehe tot war.

Er wandte sich halb zur Tür. »Ich ziehe morgen in meine neue Wohnung«, sagte er schließlich in einem Ton, der leise, alltäglich und ohne Sentimentalität war.

Sie wollte fragen: Wo hast du die Stimme gelassen, die einst die Teearbeiter in Darjeeling so energisch ermahnte, sich gegen ihren Unterdrücker zu erheben – kein Geringerer als mein Vater? In jenen aufregenden Zeiten hatte Pranab, seine kräftige Gestalt in einen weißen kurta gekleidet und mit leidenschaftlich leuchtenden Augen, befohlen wie der mythische Gott Arjuna. Sie hatte ihn so sehr geliebt, dass sie ihr Leben für ihn riskierte.

»Hier ist meine neue Adresse und Telefonnummer, falls du sie je brauchst.« Er ließ die Wohnungsschlüssel auf einen Beistelltisch fallen und drückte ihr einen blauen Post-it-Zettel in die Hand.

Wie würde er allein zurechtkommen? Er brauchte eine Frau in seinem Leben. Sie sehnte sich danach, ihm die Stirn mit einem Duftöl zu massieren, um die Ärgernisse des Tages zu vertreiben, wie es eine gute Hindu-Ehefrau tat.

Sie sagte: »Ich schicke dir deine Post nach.«

Er machte einen Schritt zur Tür. »Wenn ich je etwas für dich tun kann, Aloka ...

Sie hörte das Bedauern in seiner Stimme, sah, wie er zögerlich zur Tür ging. Vielleicht war ihre zehnjährige Beziehung doch nicht zu Ende. Es gab noch leere Seiten, die beschrieben werden mussten.

Sie stand bewegungslos da, sah ihm nach und hoffte, dass er sich umdrehen würde. Sein Bild wurde kleiner, und sein Umriss verschwamm. Es war, als würde sie angestrengt versuchen, ihn durch eine regennasse Glasscheibe zu erkennen. Schließlich glitt er aus dem Raum. Sie lauschte dem vertrauten Quietschen seiner Nikes, als er die Treppe hinabstieg. Dann machte eine Krankenwagensirene jenes winzige Geräusch zunichte, jedoch nicht ihre Hoffnungen.

Kapitel 2

In der nächsten Stunde machte Aloka wie wild in ihrer Wohnung sauber. Hausputz war schon immer ihr Allheilmittel gegen Kummer gewesen. Im Wohnzimmer wischte sie den Staub von der Glasplatte des Couchtisches. Als sie die Sofakissen arrangierte, fiel ihr auf – und das nicht zum ersten Mal –, dass die Sofas, Überbleibsel ihrer todgeweihten Ehe, nicht zueinander passten. In der ersten Zeit, als sie knapp bei Kasse gewesen waren, hatte sie das weiche, mokkafarbene Sofa mit den rollenförmigen Armlehnen für ein paar hundert Dollar in einem Schnäppchenladen erstanden und es für Wucher gehalten. In demselben Geschäft hatte Pranab sich das sattelbraune Sofa mit den ausgestellten Armlehnen ausgesucht, aus irgendeinem unerfindlichen Grund jedoch nie darauf gesessen. Stattdessen hatte er es stets mit angewidertem Gesicht umkreist und sich dann einen Sessel geschnappt. Sie hatte ihn nach dem Grund fragen wollen, war aber irgendwie nie dazu gekommen.

Jetzt, während sie den Fußboden bohnerte, fragte sie: »Warum, Pranab?«

Sie rückte ein gerahmtes Familienfoto an der kalkfarbenen Wand gerade und den Druck des Mary-Cassatt-Gemäldes The Sisters, der genau unter der Fotografie hing. Aloka hatte sich spontan in dieses Bild verliebt, als sie es in einer kleinen Galerie entdeckt hatte. Jetzt betrachtete sie die unschuldsvollen Augen der zwei reizenden Kinder, die sie vor einem Hintergrund aus bläulich grünem Nebel anblickten. Ihr Herz wurde schwer.

Das misstönende Bimmeln des Telefons riss sie aus ihren Gedanken. Sie nahm ab, erkannte die Stimme ihres Redakteurs von Manhattan, India und schaffte es, sich schnell wieder in eine emotionslosere Stimmung zu versetzen. Sie hatte es nicht über sich gebracht, ihrem Boss, einem ausgebürgerten Inder, der seit fünfunddreißig Jahren mit derselben Frau verheiratet war, von ihrer Scheidung zu erzählen. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte sie, Autorin einer Ratgeberkolumne, die Ironie der Situation vielleicht zu schätzen gewusst, jedoch nicht an diesem Nachmittag.

»Ich habe gerade gehört, dass Sie heute früher nach Hause gegangen sind, Aloka. Fühlen Sie sich nicht wohl?«

»Nein, nichts dergleichen. Nur private Probleme.« Mit zitternder Stimme erzählte sie ihm gezwungenermaßen in wenigen Sätzen von der Scheidung.

Obwohl er mitfühlende Worte murmelte, konnte sie fast sehen, wie der Mann, den sein Übergewicht nicht kümmerte, missbilligend den Kopf auf dem nicht vorhandenen Hals schüttelte und »Diese jungen Leute« in sich hinein brummelte. Viele ältere Mitglieder der indischen community – Mr. Choudhury, Mr. Gopal und Mrs. Roy kamen ihr in den Sinn – waren wie betäubt oder regten sich schrecklich auf, wenn sie von einer Scheidung erfuhren. Die Ehe dagegen war ihnen vertraut. Hochzeitszeremonien wurden mit riesigem Prunk abgehalten und von zahlreichen Menschen besucht, die dem Brautpaar alles Gute wünschten. Doch wenn eine Beziehung in die Brüche ging, waren diese Leute nicht zugegen. Bei einer Scheidung stand man als Frau allein da.

»Brauchen Sie Urlaub, Aloka?«

»Nein. Das Schlimmste ist vorbei. Morgen bin ich wieder im Büro.«

»Gut, gut. Ich kann die Zeitung nicht ohne Sie bringen. Als Sie sich das letzte Mal ein paar Tage frei genommen haben und Ihre Kolumne nicht erschien, bekamen wir Hunderte verzweifelte Anrufe. Übrigens liegt auf Ihrem Schreibtisch ein Stapel Briefe. Haben Sie Verwandte in der Nähe, die Sie anrufen können?«

Aloka blickte angestrengt auf das Poster an der Wand. Victoria war nur drei Zeitzonen entfernt. Es wäre noch früh genug, um Sujata anzurufen.

»Ja, eine Schwester in Victoria, British Columbia.«

Sobald ihr die Worte über die Lippen gekommen waren, erkannte sie die Absurdität derartigen Wunschdenkens. Sie konnte mit ihrer Schwester kein vertrauliches Gespräch über ihre Scheidung oder sonst irgendein Problem führen. Sie hatten kaum noch Kontakt.

»Ich weiß, Sie haben mich nicht um Rat gebeten, Aloka, aber ich würde Ihnen gern einen aus der Perspektive eines erfahrenen Mannes geben, der aus seinen Fehlern gelernt hat. In schweren Zeiten ist es stets das Beste, sich an Eltern und Geschwister zu wenden. Vielleicht hat man sich auseinander gelebt, womöglich gibt es Ärger, ungelöste Probleme, so was in der Art, doch letztendlich ist Blutsverwandtschaft so stark wie die Strömungen eines mächtigen Flusses, wie wir in Indien sagen. Ich habe lange gebraucht, bis ich das begriffen habe, und in der Zwischenzeit eine Menge unnötigen Kummer allein durchgestanden. Doch jetzt sehe ich meine Familie in einem anderen Licht. Sie hat bei all meinen Erfolgen eine große Rolle gespielt und mir durch sehr schwere Zeiten geholfen, als ich endlich gelernt hatte, ihr zu vertrauen. Meine Familie hat mich zu dem gemacht, was ich bin. Es hilft, von Zeit zu Zeit Kontakt zu seiner Lebensquelle aufzunehmen.«

Gerührt über sein Verständnis bedankte Aloka sich und nahm sich vor, darüber nachzudenken. Nachdem sie aufgelegt hatte, zog sie sich in die Küche zurück, um in ihrer heimeligen Atmosphäre Trost zu suchen. Das fruchtige Aroma eines halb gegessenen Pfirsichs auf dem Tisch, der von einem hastigen Frühstück übrig geblieben war, hing in der Luft. Einst hatte es hier behaglich nach Milch, Zucker und ghee in den indischen Gebäckstückchen geduftet, die sie in dem Abschnitt der Lexington Avenue gekauft hatte, der sich »Linie India« nannte. Jetzt, da sie neuerdings auf ihre Gesundheit achtete, erschienen sie ihr zu fettig und zu süß. Ihr Blick fiel auf eine zerknitterte Papiertüte auf der Theke. Sie öffnete sie und schüttelte vorsichtig ein halbes Dutzend sichelförmige Kekse namens Pleasure Dome auf einen Teller. Die hatte sie erst heute Morgen in einer Konditorei in der 54. Straße frisch gekauft. Mit ihrer gepuderten, zuckerbestäubten Oberfläche und dem leichten Vanilleduft waren sie ihre neueste Schwäche. Im Moment waren sie jedoch nur wenig verlockend; sie erinnerten sie dringend an die Geburtstagsfeier einer Freundin heute Abend.

Aloka schlenderte ins Arbeitszimmer und trat gerade rechtzeitig ans Fenster, um zu sehen, wie der Briefträger das Gebäude verließ. Dankbar für die Ablenkung lief sie mit ihrem Schlüssel ins Erdgeschoss und öffnete den Briefkasten. Wie zum Protest über diese Störung gab er dabei ein blechernes Geräusch von sich. Sobald sie den tröstlichen blauen Umschlag sah, die einzige Post heute, abgestempelt in Darjeeling, schnappte sie sich ihre Belohnung und riss das Kuvert auf, noch während sie die Treppe wieder hinauftrottete.

Die Handschrift war winzig, zittrig und unverkennbar die von Grandma Nina. Als echte Matriarchin hatte Grandma das Geschlecht der Guptas seit drei Generationen beherrscht und ihren Einfluss sogar über Ozeane hinweg geltend gemacht; durch Briefe, die in harmlosen, hauchdünnen blauen Umschlägen ankamen.

Aloka zog einen feinen, cremefarbenen Bogen heraus. Das Rascheln löste Erinnerungen an ihre Kindheit aus. Mutter war gestorben, als Aloka zwölf war. Vater und besonders Grandma hatten sie und Sujata aufgezogen. Wenn Schlafenszeit war, hatte Grandma sie zugedeckt, ihr die Decke bis ans Kinn gezogen und ihre Stirn berührt, um sie zu segnen, damit sie es in der Nacht mollig warm hatte und sich sicher fühlte.

In meinem letzten Brief hatte ich erwähnt, dass die Frauen im Dorf Sonagunj versuchen, sich in den Gemeinderat wählen zu lassen. Wie du weißt, bin ich sehr dafür. Schließlich hat unser alter Dichter Kalidasa einst gesagt: »Halt Ausschau nach einem Land, in dem die Frauen guter Laune sind, denn dies ist ein wohlhabendes Land.«

Nun hör dir den letzten Trick der hinterhältigen chauvinistischen Politiker an. Nur »gehorsame« Ehefrauen dürfen kandidieren, damit die Männer durch sie hinter den Kulissen weiter regieren können.

Ist das zu glauben?

Aloka lächelte. Grandmas Briefe begannen stets mit einem gesellschaftlichen oder politischen Kommentar – ihre Nachbarn hatten ihr deshalb den Spitznamen »All India Radio« verpasst. Obwohl sie glaubte, mündliche Überlieferung sei die beste Methode, Informationen zu verbreiten, begann Grandma ihren Tag, indem sie den Statesman durchkämmte, eine englischsprachige Tageszeitung, die aus Kalkutta eingeflogen wurde, und dabei in kleinen Schlucken eine Tasse Darjeeling-Tee trank. Ihr Hausmädchen hatte schon lange gelernt, genau die richtige Menge heißer Milch hinzuzugeben, damit die Farbe des Tees »rosarot mit einem Hauch Weiß« war. Nachdem sie den »aromatischen« Tee ausgetrunken hatte, begann Grandma mit ihrem morgendlichen Ritual, dem Briefeschreiben.

Mein liebes Kind, obwohl es jetzt schon fast acht Jahre her ist, habe ich dich nie um deine Rückkehr gebeten, nicht einmal um einen kurzen Besuch, da ich mich sehr gut an die tragischen Umstände deiner Abreise erinnere. Doch nun sehe ich mich dazu gezwungen. Wie du zweifellos weißt, ist der 16. November mein einundachtzigster Geburtstag. Ich würde das Erreichen dieses besonderen Alters sehr gerne mit dir, Pranab und Sujata feiern.

Grandma wollte ihren Geburtstag feierlich begehen? Warum gerade jetzt? Sie hatte es doch auch nicht für nötig gehalten, als sie sechzig wurde, ein Alter, das in Indien etwas Besonderes war. Die erwachsenen Guptas, insbesondere die Frauen, hatten sich an ihren Geburtstagen stets jedes Aufheben verbeten und darauf beharrt, dass solch übertriebene Aufmerksamkeit nur Kindern zuteil werden sollte. Doch nein, diese Einladung war etwas anderes, wie Aloka nun klar wurde. Im alten Indien war die Neun eine heilige Zahl und ein Glückssymbol. Natürlich musste Grandma feiern, weil sie das gesegnete Alter, das sich aus neun mal neun zusammensetzte, erreicht hatte.

In diesem Alter erscheint einem die Sonne mit jedem Tag ein wenig blasser. Ich höre nicht mehr alle Geräusche im Haus. Die Stunden sind nie ganz ausgefüllt.

Eine Absage kam natürlich nicht in Frage. Alokas Blick schoss zum Wandkalender: einsame Tage, gefangen in kleinen quadratischen Kästchen, und nie genug davon. Es war schon der 1. Oktober; ihr blieben also nur noch sechs Wochen, um ein Visum zu beantragen, einen Flug zu buchen, Geschenke zu kaufen und, genauso wichtig, sich geistig vorzubereiten. Aber ging das überhaupt?

Wenn du dich zum Kommen entschließt, was du natürlich musst, vergiss bitte nicht, mir deine Reiseroute zu schicken. Ich werde einen Diener entsenden, der dich und Pranab am Flughafen von Bagdogra abholt.

Grüß mir den lieben Jungen.

Mit viel bhalobasa Deine dich liebende Thakurma

Mit einem schweren Seufzer faltete Aloka den Bogen wieder zusammen: Die beiden Bemerkungen über Pranab machten ihr zu schaffen. Grandma hatte immer eine freundliche Beziehung zu Pranab aufrechterhalten und ihm einmal sogar das Leben gerettet. Wie konnte Aloka ohne ihn dorthin reisen?

Sie sah es vor sich, wie Grandma den ganzen Tag in einem Sessel auf dem Rasen vor dem Haus saß und ihre Augen anstrengte, um jedes Fahrzeug zu verfolgen, das über die Straße ratterte. Grandmas Kopf wäre voll mit Bildern, wie sie aus dem Auto sprangen, die Tür zuknallten und auf sie zurannten, um sie zu begrüßen. Sie würde sehen, wie sie sich bückten, um ihre Füße zu berühren, die bengalische Respektsbezeugung für alte Menschen, und bevor sie ein Wort sagten, würden sie ihren gemurmelten Segen entgegennehmen. Grandma würde aufstehen und jeden mit gleicher Zuneigung umarmen. »Aloka! Pranab!«, würde sie ausrufen, während Freudentränen ihre faltigen Wangen hinabkullerten.

Wenn sie allein käme, würde das Grandma tief erschüttern. Nach ein paar Minuten würde sie schweigend sowohl Aloka als auch Pranab die Schuld für die gescheiterte Verbindung geben, und da er nicht dabei war, würde Aloka ihre Missbilligung allein tragen müssen. Grandma würde die Augen niederschlagen, das Gesicht verziehen, als hätte sie in eine unreife grüne Mango gebissen, und vielleicht daran denken, dass sie Pranab von Anfang an nicht ganz getraut hatte.

Aloka strich über den Brief. In der Familie Gupta hatten drei Generationen vertraut unter einem Dach gelebt; Konflikte waren da unvermeidlich. Sie hörte Grandma klagen: »Ich verstehe das nicht, Aloka. Ich verstehe es einfach nicht. In unserer Familie hält die Ehe ein Leben lang.«

Angenommen, Aloka erzählte alles. Sie würde Grandma trotzdem nicht zufrieden stellen können. Wie der heilige Fluss Ganges mit seinen hundert aktiven Mündern würde Grandma hundert Fragen brummeln und für jede eine ausführliche Erklärung verlangen.

Und Sujata, die einst eine Affäre mit Pranab gehabt hatte? Das ungeschickte Mädchen hatte sogar das Sticken erlernt, damit sie Pranab heimlich ein Taschentuch mit seinen Initialen schenken konnte. Jahre später hatte Aloka jenes Taschentuch unter Pranabs Kleidern gefunden und noch einmal die eifersüchtige Wut durchlebt, die sie an jenem Abend überwältigt hatte, als ihr Vater sie über die verbotene Liebe in Kenntnis gesetzt hatte. Mit den Jahren hatte ihre Feindseligkeit gegen Sujata nachgelassen, doch der Vorfall schwärte weiter wie eine verschorfte, aber nie verheilte Wunde.

Wie viel wusste Sujata noch aus dieser Zeit? Sie war nach wie vor unverheiratet. Erwachte sie jemals in den dunkelsten Stunden der Nacht, schwitzend, gefangen in Fantasien über Pranab?

Vor Sujatas Reaktion fürchtete Aloka sich am meisten; Sujata, die schweigend dasitzen und ein selbstgefälliges Gesicht machen würde. Den Blick auf die Berggipfel gerichtet, würde sie so tun, als hätte sie kein Wort gehört.

Aloka verstaute Grandmas Brief in dem dekorativen Strohkorb, in dem sie alle Schreiben von zu Hause und die Abschriften ihrer eigenen Briefe aufbewahrte, und ging zum Fenster hinüber. In der zunehmenden Dunkelheit funkelten mehrstöckige Bürokomplexe wie eine von rückwärts beleuchtete Honigwabe. Straßenlaternen warfen einen unbarmherzigen grellen Schein auf die unten vorbeieilenden Gestalten. Der Verkehr im Hintergrund rauschte unvermindert weiter. Die Nacht konnte den Big Apple nie unterwerfen. Während Darjeeling sich der Dunkelheit beugte wie ein gehorsames Kind, trampelte dieser mutige Gigant sie einfach nieder.

Tagsüber genoss Aloka New York in vollen Zügen, doch nach Einbruch der Dunkelheit schien es wie von einer bösen Macht beherrscht. Sie hatte in der letzten Zeit nicht gut geschlafen und war oft mitten in der Nacht schaudernd erwacht.

Die Bemerkung ihres Chefs über seine Verwandten in Indien fiel ihr wieder ein: »Sie haben mich zu dem gemacht, was ich bin.« Jetzt verstand sie die Worte. Die Guptas hatten sie zu der Frau gemacht, die sie heute war, eine Frau, die selbstsicher genug war, anderen Ratschläge zu erteilen.

Sie fasste ihren Entschluss: Sie würde zu Grandmas Geburtstag in das Haus ihrer Jugend in den Bergen zurückkehren, um die Verbindung zu ihrer Familie zu erneuern.

Zurück an ihrem Schreibtisch, beseelt von freudiger Erwartung, zog Aloka ihre Schale mit den Schreibaccessoires zu sich heran und nahm einen schönen Füller heraus. Sie schrieb einen kurzen, freundlichen Brief an Grandma und nahm die Einladung an. Wie stets wählte sie ihre Worte sorgfältig und achtete genau auf die Wirkung von Tonfall und Aussage. Doch diesmal gab sie sich auch besondere Mühe, einen Gesamteindruck von Wärme und Leichtigkeit zu vermitteln. Dafür waren mehrere Versuche nötig. Pranab erwähnte sie nicht. Dennoch gelang es ihm, sich in ihre Gedanken einzuschleichen, als wollte er sie erinnern, dass sie ihn nicht so leicht aus ihrem Leben streichen konnte. Sogar als sie den Füller weglegte und sich für die Geburtstagsfeier ihrer Freundin ankleidete, konnte sie nicht umhin, mit offenen Augen zu träumen. Pranab. Rastlose Augen, das Gesicht vor Schmerz verhärmt. Wo war er an diesem Abend? Was tat er gerade? Erging er sich auch in Erinnerungen an ihr gemeinsames Leben?

Ihr Gesicht lief rot an. Der konnte sie mal! Er hatte ihre Zeit vergeudet und sie erneut voll Sehnsucht zurückgelassen, genau wie damals, als sie ihn in Darjeeling kennen gelernt hatte.

Kapitel 3

1990

Als Aloka zu einem ihrer häufigen Besuche im familieneigenen Teegarten aufbrach, konnte sie nicht ahnen, dass eine unerwartete Begegnung ihr Leben verändern sollte. Während sie vorsichtig über einen schmalen Pfad ging, der sich an einem steilen, mit glänzenden, tiefgrünen Teesträuchern bewachsenen Gebirgsausläufer des Himalaya entlangschlängelte, hörte sie aus der Ferne das Klimpern von Gebetsmühlen, die jemand in Bewegung gesetzt hatte; sie blieb stehen und schaute stolz über das zweihundert Hektar große Teeanbaugebiet, das den Guptas seit Generationen gehörte. Als Erbin würde das eines Tages alles ihr gehören, obwohl sie sich überhaupt nicht für Teeanbau und Marketing interessierte. Sie runzelte die Stirn bei dem Gedanken, dass ihre jüngere Schwester Sujata von hier oben genau sagen könnte, auf welchen Feldern junge Teesträucher wuchsen und welche bald abgeerntet werden konnten. Egal. Wenn ihre Zeit käme, um den Besitz weiterzuführen, wäre Aloka halt auf das treue Personal ihres Vaters angewiesen. Schließlich war Tee ihr Lebenswerk.

Es war schon fast Feierabend, als sie die Teefabrik erreichte, ein langes, zweistöckiges Gebäude, das sich in den Hang schmiegte. Aus dem Büro ihres Vaters am hinteren Ende trat ein verhältnismäßig großer junger Mann und lief in die Richtung des Tores, in dessen Nähe sie stand. Ihr Vater hielt viel von diesem fähigen, aufstrebenden Angestellten.

Flink schlüpfte er durch das halb offene Eisentor und schloss es mit einem dunklen metallischen Klicken hinter sich. Das Sonnenlicht, das durch die Gitter fiel, warf Schatten auf sein feines, ovales Gesicht und die geheimnisvollen Augen. Nun hatte er sie bemerkt, denn er blieb stehen und faltete die Hände vor der Brust zu einem namaskar-Gruß.

Es lag in der Natur der Sache, dass er stehen blieb und ihr Respekt erwies. Schließlich war sie die »Tee-Memsahib«, die Tochter des Besitzers. In der Regel verbeugten sich die Angestellten unterwürfig vor ihr und eilten davon, wodurch sie sich sehr isoliert fühlte; dieser Mann jedoch blieb ganz entspannt an der mit Kapuzinerkresse bewachsenen Böschung im violetten Dunst der Berge stehen. Sie trat auf ihn zu.

»Wir sind uns noch nicht offiziell vorgestellt worden«, verkündete er auf Bengali. »Ich bin Pranab Mullick. Es ist eine unerwartete Freude, Sie hier zu sehen.«

»Danke. Ich bin Aloka Gupta. Mein Vater hat Sie schon oft erwähnt. Wie gefallen Ihnen Ihre neuen Pflichten?«

Auch wenn sie es höflich sagte, wurde ihr klar, dass dies eine unangemessene Frage war. Schließlich arbeitete dieser Mann, der erst vor kurzem in eine begehrte Managerposition befördert worden war, für ihren Vater. Was sonst konnte er antworten als: Bhalo lagche – Es gefällt mir gut?

»Bhalo lagche«, antwortete Pranab denn auch prompt. »Aber meine Mutter ist enttäuscht. Sie wollte, dass ich Professor für Sanskrit werde.«

»Und warum sind Sie es nicht geworden?«

»Es ist die Sprache der Götter. Im Moment ziehe ich das Leben eines Normalsterblichen vor, für den eine gute Tasse Tee die Krönung des Tages ist.«

»Ich habe an der High School Sanskrit gelernt. Es ist eine schwierige Sprache, aber ihr Klang faszinierte mich. Sogar hinter gewöhnlichen Worten stehen große Gedanken. Man kann damit alltägliche Dinge wunderbar beschreiben.«

»Auf Sanskrit hätte ich gesagt, der weiche, lavendelfarbene Sari, den Sie tragen, ist eine Himmelsschwade.«

Sie zupfte an ihrem neuen Tengailsari aus Baumwolle; ihr war plötzlich klar, dass er eine Grenze überschritten hatte und persönlich geworden war. Sie war ledig, dreißig Jahre alt, mit Chancen auf eine gute Partie. Es war in Mode, aus Karrieregründen spät zu heiraten, doch sie musste den Ruf der Familie wahren. Ihre Familie war schließlich bonedy. Blaublütig. Grandma Nina nannte sie lachend die »Zweite Gupta-Dynastie«; die erste war die von Chandra Gupta, der in den frühen Jahren des vierten Jahrhunderts nach Christus über Ostindien geherrscht hatte. Selbst wenn dieser Ruhm ein wenig verblasst war, hatten die modernen Guptas ihr eine hervorragende Ausbildung ermöglicht und ihr die korrekten gesellschaftlichen Umgangsformen beigebracht. Sie schickte sich an zu gehen.

»Darf ich Sie nach Hause bringen, Miss Gupta? Ich wollte sowieso in dieselbe Richtung.«

Sie zögerte. Würde ihr Vater es gutheißen, wenn sie Umgang mit seinem Untergebenen pflegte? Und was, wenn sie ein Teearbeiter zusammen sah? Würde es keinen Tratsch geben? Andererseits rühmte sie sich, eine moderne, studierte Frau zu sein, die an der angesehenen Loreto-Mädchenschule unterrichtete. Sie konnte nicht umhin, freundlich zu nicken. »Natürlich. Das wäre nett.«

Sie liefen die schmale Straße hinab, die sich über einen Bergrücken hochschlängelte und dann zum Wohnhaus der Guptas abfiel. Sie bewunderte die Leichtigkeit, mit der Pranab die unebene Fläche bewältigte, ohne das Gespräch abbrechen zu lassen. Ihr kam zum ersten Mal in den Sinn, dass auch er in dieser gebirgigen Region aufgewachsen sein musste.

Ein Landrover rumpelte vorbei und wirbelte Staub auf. Während Aloka sich mit einem Taschentuch Mund und Nase zuhielt, wies Pranab sie darauf hin, dass das Fahrzeug eine Ladung Teekisten zum Bahnhof brachte, damit sie noch rechtzeitig zur Feriensaison zu einem Auktionshaus in Kalkutta verladen werden konnte. Er hatte ein paar Teesorten aus dem Firmenangebot gemischt und verkostet, um ein neues Getränk mit der richtigen Farbe und Frische zu produzieren.

»Es waren zwölf anstrengende Stunden.« Trotzdem strahlte sein Gesicht, als er ihr erklärte, dass er die Schwarze-Johannisbeer-Note der letzten Mischung immer noch schmecken konnte und wie viel ihm die Arbeit bedeutete. »Ich esse keine Peperoni und keine Zwiebeln, und ich rühre niemals Alkohol oder Tabak an. Nichts, das meinen Geschmack beeinträchtigen würde.«

Aloka hatte schon als Kind das Teeverkosten erlernt. Sie konnte das Verfahren nach wie vor im Schlaf herbeten: den Tee schlürfen, um ihn mit Kohlensäure anzureichern, im Mund umherrollen, Gurgeln, Beurteilen und Ausspucken. Der Gaumen würde den Geschmack sofort erkennen. Sie machte sich nicht viel daraus. Dem Getränk selbst hatte sie auch noch nie besonders viel abgewonnen. Zu Hause wurde zu jeder Tages- und Nachtzeit Tee serviert – »Der Teekessel macht Überstunden«, pflegten die Diener zu sagen –, doch sie war mit einer Tasse pro Tag zufrieden. Trotzdem war ihr selbstverständlich bewusst, dass die Teesträucher zu verschiedenen jats, oder Qualitätklassen, gehörten und dass ein Verkoster eine gute Nase, empfindliche Geschmacksnerven und feine Augen benötigte sowie umfangreiche Marktkenntnisse. Pranab musste ein seltenes Individuum sein, wenn er all diese Eigenschaften in sich vereinte.

Eine Teepflückerin, die ihnen entgegenkam, störte Alokas Betrachtungen. Die Frau sah Pranab freundlich an; er blieb stehen und erkundigte sich, ob es ihrem Mann besser ginge. Sie schüttelte den Kopf – eine kaum wahrnehmbare Bewegung, die ihren Schmerz verriet –, verschleierte ihr Gesicht mit dem Saum ihres Saris und lief weiter.

Pranabs Wangen schienen einzufallen. »Die Arbeiter brauchen bessere medizinische Versorgung«, sagte er mit dünner Stimme. »Eine Krankenstation, die sie sich leisten können. Jyotin hat jetzt schon seit drei Tagen Fieber. Aber ich kann ihn nicht überreden, zum Arzt zu gehen. Er sagt, es koste zu viel Geld.«

»Ich dachte, sie bekommen ein Wochengehalt, eine Reisration, Brennholz und freie Unterkunft!«

»Das reicht nicht aus. Sie brauchen medizinische Versorgung, Schulen für die Kinder und vieles mehr.«

Aloka war durchaus klar, dass diese tüchtigen Menschen früh aufstanden und sich durch Regen, Kälte und gefährliches Gelände kämpften, um die Ernte einzubringen. Sie waren es, die die Herstellung des geschätzten »Gupta Golden Tip« erst möglich machten. Mehr als sechzig Prozent der Arbeiter waren Frauen.

»Besonders die Frauen.« Pranab nahm ihren Gedanken auf. »Die Redensart ›In einer Tasse Tee spürt man die Hand einer Frau‹ stimmt wirklich. Immer, wenn ich eine Tasse trinke, muss ich an ihre erbärmliche Existenz denken. Sie arbeiten so lange und so hart, ohne zu klagen. Und was haben sie davon? Die meisten von ihnen sind schon mit vierzig alt.«

Der indirekte Tadel gegen ihren Vater ließ sie zusammenzucken. Ihre persönliche Beziehung zu Tee ging viel tiefer; sie reichte zurück bis ins späte 19. Jahrhundert, als ihre Vorfahren zu Pferde hergekommen waren. Damals war Darjeeling nur ein kleiner Weiler, ein Urlaubsort im Gebirge, in den die Reichen sich zurückzogen, um der Hitze der Ebene zu entfliehen. Als ihre Vorfahren zum ersten Mal den Tee probierten, fanden sie ihn so hervorragend, dass sie beschlossen, dieses erstklassige Anbaugebiet zu kaufen und sich dort niederzulassen. Sie verkündeten, von nun an sei es ihr Ziel, »den qualitativ besten Tee herzustellen, ein Getränk für die Götter«. Die Guptas hatten den Besitz zum Blühen gebracht, und gegenwärtig produzierte er hunderttausend Kilogramm erstklassigen Darjeeling-Tee. Biodynamisch angebaut in einer Höhe von zweitausendeinhundert Metern, was für qualitativ hochwertigen Tee optimal war, wurde ihnen »Gupta Golden Tip« bei den Teeauktionen in Kalkutta förmlich aus den Händen gerissen. Alokas Vater, Bir, der das Geschäft nun schon seit dreißig Jahren führte, hatte bereits dreimal die begehrte Qualitätsauszeichnung des »Tea Board of India« bekommen. Er war nicht nur unter seinesgleichen wohl angesehen; seine Kunden schrieben ihm zahlreiche Dankesbriefe, wie zum Beispiel diesen, der erst letzte Woche angekommen war: »Danke, dass Sie einem alten Mann morgens einen Grund zum Aufstehen geben – eine Kanne aromatischen ›Golden Tip‹.« Ihr Vater überwachte nicht nur den Ernteanbau, sondern auch die Konstruktion von Zufahrtsstraßen und die Finanzen. Er war Farmer, Ingenieur und Buchhalter in einem. Die Arbeiter sprachen ihn mit barabubu an, der große Mann.

Dieser junge Mann jedoch hatte sie aus der behüteten Welt aufgerüttelt, in der ihr Vater den Status eines Halbgotts angenommen hatte. Aber hier zog sie die Grenze.

»Einen Augenblick«, sagte sie. »Mein Vater sorgt dafür, dass die Arbeiter gut behandelt werden.«

»Bitte vergeben Sie mir. Ich hatte nicht vor, mit Ihnen über die Arbeit zu sprechen.«

Die lächelnden Lippen und die Augen mit den dunklen Ringen hatten sie so sehr abgelenkt, dass sie fast gegen einen Ast lief, der über die Straße hing. Als sie sich bückte, um ihm auszuweichen, streifte sie den Ärmel seines blau karierten Hemds. Scheu wich sie vor ihm zurück. Er sah sie von der Seite an. Sie gestand sich ein, dass seine Nähe und sein leidenschaftliches Auftreten eine körperliche Wirkung auf sie ausübten, vergleichbar mit einem beharrlichen Klopfen an der Tür. Sie wurde sich bewusst, dass sie auf dieser gewundenen Straße, die von einem dichten Baumbestand aus Tannen, Birken und Akazien umgeben war, ganz allein waren. Die Bäume dämpften den Verkehrslärm.

»Sie unterrichten an der Schule, nicht wahr, Miss Gupta?« Mit sanfter und ungezwungener Stimme war er erneut an ihrer Seite.

»Ja.« Der Themenwechsel kam ihr gelegen. Sie glich sich seinem Tempo an. »Bitte nennen Sie mich Aloka.«

»Du kannst mich Pranab nennen.«

Da sie gerade damit beschäftigt war, einen steilen Abhang zu nehmen, bemerkte Aloka erst im Nachhinein, dass er nicht mehr aapni benutzte, das respektvolle »Sie« auf Bengali, mit dem er das Gespräch begonnen hatte, sondern zu tumi, dem vertrauten »Du«, übergegangen war. In ihrem großen Freundeskreis sprach man sich erst nach mehreren Treffen so ungezwungen an. Sie spähte zu ihm hinüber, auf die widerspenstige Haarlocke, die ihm in die Stirn fiel wie eine Quaste, und forderte ihn heraus: »Erlauben Sie es sich immer, gleich beim ersten Treffen tumi zu verwenden?«

»Normalerweise ja. Wenn man den ganzen Tag von Pflanzen, Vögeln, Tieren und Insekten umgeben ist, beginnt man, alles und jeden als gleichberechtigt anzusehen. Ich halte mich nicht für besser als meine Arbeiter. Und übrigens, auch wenn ich ein paar Jahre älter bin, musst du nicht Pranab-da sagen. Nenn mich einfach Pranab.«

Wieder staunte sie, mit welcher Leichtigkeit er vertraulich wurde. »Meine jüngere Schwester nennt mich Aloka, nicht Aloka-didi. Grandma schimpft sie deshalb aus, aber eigentlich hält sie auch nicht viel von Höflichkeitsformen.«

»Wer hat dir den Namen gegeben, wenn ich fragen darf?«

Respektvoll sagte sie: »Mein Vater.«

»Ich vermute, das Gesicht deines Vaters hellt sich auf, wenn du den Raum betrittst.«

Sie folgte seinem Blick zum Licht der untergehenden Sonne, die den Nebel des herabstürzenden Wasserfalls vor ihnen in einen schimmernden Vorhang aus Gold verwandelte. Sie errötete, während sie das Kompliment schweigend entgegennahm, denn ihr fiel wieder ein, dass auf Bengali »alok« Licht bedeutete. Aus den Hindu-Mythen und Geschichten, die Grandma ihr erzählt hatte, hatte Aloka geschlossen, dass Beleuchtung in jeder Form Wahrheit, Klarheit, Glück und Wohlstand bedeutete. Am bevorstehenden Laxmi-Puja-Tag, an dem die Göttin von Haus und Herd geehrt wurde, würde sie winzige Terrakottalampen anzünden, die mit raffinierter Butter betrieben wurden. Allein schon das Anzünden einer Lampe war eine Form der Andacht.

»Ich sehe mich überhaupt nicht als Lichtquelle.« Sie lachte gezwungen, um seine Ernsthaftigkeit herunterzuspielen. »O nein. Ich erreiche nur so wenige Menschen – meine Familie und enge Freunde und die Mädchen, die ich unterrichte.«

Sie blieb stehen, als sie sich dem Tor zu ihrem Wohnhaus näherten. Am Ende des umzäunten Hofs stand ein zweistöckiger Bungalow mit englischem Rasen und einem gepflegten Blumengarten. Über dem Eingang waren die Worte »Aloka Kutir« eingraviert. Die Häuser hier in der Gegend wurden normalerweise nach dem liebsten Nachkommen benannt. Es erschien ihr nur natürlich, ihn nun hineinzubitten.

»Ich würde ja sehr gern.« Pranabs Blick war wehmütig, sogar bedauernd. »Aber ich muss nach Hause. Meine Neffen warten auf ihre Tabla-Stunde.«

Also mochte auch er Musik. Die Handtrommeln waren das Instrument des Gottes Siva und später seines Sohnes Ganesh, hatte Aloka in ihrer Kindheit gelernt. Musik war von klein auf ihre Leidenschaft gewesen, und selbst jetzt noch übte sie jede Woche. Musik half ihr, mit ihren Emotionen in Berührung zu kommen. Sie überlegte. Sie stellte sich eine Soirée vor, in der ihre Singstimme einen zarten Kontrapunkt zu dem nachdrücklichen Klang jenes göttlichen Instruments bilden würde, der von zwei kräftigen, sensiblen Händen ausging.

»Eventuell können wir abends einmal gemeinsam musizieren.« Da sie das Aufblitzen seiner Augen als Zustimmung verstand, fügte sie hinzu: »Wie wär's nächsten Donnerstag?«

»Es ist schrecklich nett von dir, mich einzuladen, aber ich habe an dem Abend schon eine Verabredung. Vielleicht ein andermal.«

Damit winkte er und eilte mit einem »Wiedersehen« davon.

Es kam viel zu plötzlich. Sie schluckte die Enttäuschung herunter und blieb wie angewurzelt stehen. Der Mann faszinierte sie, brachte sie aus dem Gleichgewicht. Sie würde mehr über ihn herausfinden müssen.

Sie schloss sanft das Tor, als wollte sie verhindern, dass sein Duft verwehte, und ging ins Haus.

Kapitel 4

Alokas Hochstimmung hielt noch den ganzen Nachmittag an. Sie öffnete in ihrem Zimmer die Fenster und sah hinaus in die Ferne, auch wenn der Wind die Kälte hereinwehte. Später schlenderte sie eine klassische Melodie summend hinunter in die Küche. Obwohl der Familienkoch noch da war, presste sie höchstpersönlich eine frische Limone für ein Glas Eiswasser aus, das Lieblingsgetränk ihres Vaters. Sie wollte gerade mit dem Tablett den Salon betreten, als sie sah, wie sich ihre jüngere Schwester Sujata ins Haus schlich. Sujata, die normalerweise in Murshidabad arbeitete, eine ganztägige Zugfahrt südlich von Darjeeling, war für einen Kurzurlaub nach Hause gekommen.

»Hi, bontee.« Aloka gebrauchte zur Begrüßung die Verkleinerungsform für kleine Schwestern, obwohl Sujata, die vier Jahre jünger war, größer war als sie. »Hab heute nicht viel von dir gesehen.«

Sujata sah kurz auf und wackelte in ihren Sandalen nervös mit den Zehen.

Sie hatte sich nicht verändert. Selbst mit Ende zwanzig war Sujata immer noch schüchtern und verschlossen. Ihr Umzug in eine andere Stadt hatte diesen Charakterzug anscheinend nur noch verstärkt. Ein Gefühl des Verlusts übermannte Aloka. Als Kinder waren sie unzertrennlich gewesen, hatten zusammen im Haus gespielt und nachts auf demselben Kissen geschlafen. Sie waren Hand in Hand hinter Grandma hergetapst und zu Laxmi Puja oder einem mela, einem Jahrmarkt, gegangen; sie hatten sich ein Bonbon geteilt oder einen Händler um zwei Strohhalme für ein Glas mit süßem lassi gebeten. Als Teenager hatte Aloka Sujata sogar erlaubt, mit ihrem Lippenstift zu spielen.

»Warum leistest du Vater und mir nicht Gesellschaft?« Aloka versuchte es noch einmal. »Diese Woche lesen wir einen Roman und diskutieren über seine Wurzeln in der klassischen bengalischen Literatur des letzten Jahrhunderts.«

»Danke, Aloka, lieber nicht. Mir ist eher nach einer Tasse heißem Tee und einem Stapel Zeitschriften. Ich lese keine Romane, ich könnte also nicht viel zu eurer Diskussion beitragen. Außerdem ist es deine stille Stunde mit Vater, deshalb lasse ich euch lieber allein.« Damit stolzierte Sujata davon.

»Dann lass uns morgen ein wenig Zeit miteinander verbringen«, rief Aloka Sujata nach. So langes, glänzendes Haar, noch immer zu einem festen Zopf geflochten wie bei einem Schulmädchen. Und dieser langweilige Sari aus schlaffem Stoff machte nichts aus Sujatas dunkelhäutiger, schlanker Gestalt. Wenn sie auch nur die geringste Aussicht auf einen Verehrer haben wollte, müsste Aloka bald für Sujata einkaufen gehen. Die richtige Kleidung, der passende Schmuck und ein leuchtender Lippenstift würden viel ausmachen, da war sich Aloka sicher.

Im Salon saß Bir mit geschlossenen Augen auf der Couch. Er war ein beleibter Mann mit dem müden Gesicht eines Menschen, der im Morgengrauen mit dem ersten Hahnenschrei erwachte, dann nach einem leichten Frühstück ins Büro ging und bis in die späten Abendstunden schuftete. Den Abschluss seines Arbeitstages bildete ein Personal-darbar oder Hof, den er mit seinen wichtigsten Angestellten abhielt. Sobald er nach Hause zurückkam, suchte er Aloka. Ihre Gegenwart ließ seine Sorgen verfliegen, sagte er stets. Seine Frau war gestorben, als die Kinder noch klein waren, und er hatte nicht wieder geheiratet. Doch selbst zu ihren Lebzeiten hatte er nicht viel mit ihr gesprochen. Männer seiner Generation betrachteten ihre Ehefrauen nicht als Gefährtinnen.

Aloka musterte Bir noch einmal. Seine grobe Haut hätte eher zu einem Mann mit einer weniger guten Kinderstube gepasst, doch seine vorstehende Nase ließ auf starke innere Entschlossenheit schließen. Eine gerua Tunika konnte den dicken Bauch nicht kaschieren, der sein fortgeschrittenes Alter verriet und eine geringe Lebenserwartung vermuten ließ, was Aloka Sorgen bereitete. Sie hatte es stets eigenartig gefunden, dass gerua, ein Gelbton, der mit Entsagung assoziiert wurde, Birs Lieblingsfarbe war, denn er war weit davon entfernt, auf weltliche Freuden zu verzichten. Da er sich wenig für Religion interessierte, verneigte er sich nicht vor den Bronzestatuetten der Göttinnen und Götter, die Grandma im ganzen Haus verteilt hatte. Sein Appetit auf schmackhafte bengalische Gerichte war legendär – wenn es gebratenen Fisch, maach bhaja, gab, verlangte er sogar eine doppelte Portion. Er hatte eine Abhandlung über bengalische Küche gelesen und sich die Zubereitungsmethoden eingeprägt. »Hast du auch frisches Öl genommen?«, fragte er den Koch stets. »Hast du den Fisch auch viermal gewendet?«

Als er Schritte hörte, richtete er sich mühsam auf. »Ah, da bist du ja, mein liebstes Kind. Habe ich dich gerade mit Sujata reden hören?«

»Ja, Vater. Ich wollte sie überreden, uns Gesellschaft zu leisten, aber sie war nicht in der Stimmung. Ich wünschte, sie käme für immer nach Hause.«

»Das würde mir ganz sicher helfen. Ich könnte problemlos im Büro eine Arbeit für sie finden. Aber nein, sie muss uns ja ihre Unabhängigkeit beweisen. Sie hat noch nie auf mich gehört. Ich frage mich, ob sie je Verantwortung für ihre Familie übernehmen wird.«

Unbehaglich sah Aloka in Birs müdes Gesicht, das jetzt mit knallroten Flecken gesprenkelt war. »Vater, du darfst dich nicht aufregen. Hast du vergessen, was dir der Arzt geraten hat?«

»Liest du mir etwas vor?«

Aloka langte hinüber zum Bücherschrank und wählte ein schmales Bändchen aus, einen bengalischen Roman mit dem Titel Mahaprasthaner Pathe von Probodh Kumar Sanyal, die wahre Geschichte einer strapaziösen Himalaya-Pilgerfahrt. Sie schlug das letzte Kapitel des alten Klassikers auf und seufzte, als sie feststellte, dass nur noch ein paar Seiten übrig waren. »Dies sind meine letzten Worte«, begann sie laut zu lesen. »Auf dieser unendlichen Reise habe ich den Verlust von Freundschaft, Liebe, Illusionen und Begehren erfahren. Ich habe meine Arroganz verloren. Und trotzdem beharrt der Weg darauf, dass ich seinen Hunger noch nicht gestillt habe.« Als sie Gefallen an der Lektüre fand, flossen die Worte der melodischen Sprache mit den poetischen Ausdrücken gemächlich dahin und verschmolzen sanft und leise mit Bildern, Bedeutung und Gefühlen. Bir lauschte mit halb geschlossenen Augen.

Schon bald kam sie zum Ende. Sie klappte das Buch zu und dachte beklommen über die Einblicke nach, die sie aus dem Text gewonnen hatte.

Bir öffnete jäh die Augen. »In zehn Jahren werde ich für dieselbe Pilgerfahrt bereit sein.«

»Das ist schwer zu glauben. Thakurma kriegt dich ja nicht mal an Durga Puja in den Tempel.«

»Wenn man älter wird, stellt man fest, dass Seelenfrieden am allerschwersten zu erlangen ist. Ich glaube nicht, dass die Religion ihn den Menschen geben kann, deshalb suche ich ihn auf meine Weise.«

Deutete er Schwierigkeiten an der Arbeit an? Aloka begriff, dass die Leitung einer Teeplantage keine einfache Aufgabe war, auch wenn Bir seine Sorgen selten mit ihr teilte. Das Wetter war in der letzten Zeit unbeständig gewesen, folglich waren sowohl Quantität als auch Qualität der Ernte minderwertig. Auch die Nachfrage für Darjeeling-Tee im Ausland war zurückgegangen. Der Lebensunterhalt von über zweihundert Angestellten hing davon ab, wie Bir mit dieser Schwierigkeit fertig wurde. Und was es, nach dem, was Pranab ihr anvertraut hatte, noch schlimmer machte: Die Angestellten waren unzufrieden.

»Übrigens habe ich heute Pranab Mullick getroffen.« Aloka versuchte, gleichgültig zu wirken.

»Ah! Ich wollte ihn eigentlich schon einmal einladen, bin aber bei all den Problemen in der Fabrik einfach noch nicht dazu gekommen.«

Sie zupfte an der Bordüre ihres Saris herum. »Er hat mich heute nach Hause gebracht. Er ist ein ziemlich interessanter Mann, scheint eine Menge über Tee zu wissen, und –«

»Lass mich dir ein wenig von ihm erzählen, ein paar Dinge, die er eventuell nicht erwähnt hat. Er kommt aus einer Familie der Lower-Middle-Class. Sein Vater arbeitet als Büroangestellter bei einer Handelsgesellschaft. Sie wohnen im älteren Teil der Stadt, in der Nähe des Bahnhofs. Trotz allem hat er eine gute Ausbildung. Seine Eltern haben es irgendwie geschafft, ihn zum Presidency College in Kalkutta zu schicken. Der Junge ist der geborene Teeschmecker. Wir vom Fach haben eine Redensart, die besagt, dass man, ›was Tee betrifft, so gut ist wie sein Gaumen‹, und seiner ist großartig. Er ist jetzt schon der Beste in der Region. Aber er wollte Feldaufseher werden. Deshalb habe ich neulich beschlossen, ihm die Chance zu geben. Sonst hätte ich ihn vielleicht an einen anderen Teeproduzenten verloren. Er scheint ein enges Verhältnis zu den Arbeitern zu entwickeln und verbringt eine Menge Zeit mit ihnen. Ich sehe eine gute Zukunft für ihn.«

Ein winziges Lächeln umspielte seine Lippen und erhellte sein Gesicht. Bir hatte den Kopf leicht von Aloka abgewandt und schien mit einer gewissen Genugtuung über seine Entscheidung nachzudenken.

Aloka stemmte sich aus dem Sessel hoch. »Ruh dich jetzt ein wenig aus, Vater.«

Erschaudernd schlich sie aus dem Zimmer.

Am Spätnachmittag des folgenden Donnerstags fand Aloka sich vor dem Wohnhaus der Arbeiter wieder, das an einer unbefestigten Straße am Rande der Teeplantage gelegen war. Ein langjähriger Diener der Familie, dessen Bruder in der Teefabrik arbeitete, hatte Aloka die Details einer geheimen Konferenz zwischen Pranab und den Teearbeitern verraten und sie dorthin geführt. Das einstöckige Backsteinhaus hatte ein flaschengrün gestrichenes Blechdach. Von vorn war das Haus von einem wirren Dickicht aus wilden Beeren umzäunt, in der Nähe des Eingangs flatterte eine hauchdünne Gebetsfahne und auf dem Stück Land daneben wuchs in Wellen aus Gelb und Grün ein Senffeld. Jetzt, bei Einbruch der Dunkelheit, war die Landschaft unbeweglich, fast erwartungsvoll. Von irgendwoher gackerte ein Huhn, als wollte es Alokas wachsendes Unbehagen bestätigen.

Aus ihrem Versteck hinter einem Fenster überblickte sie den kahlen, mittelgroßen Raum. In dem unmöblierten Zimmer wimmelte es von Teearbeitern, fast fünfzig an der Zahl, und ihren Familien, die zusammengequetscht auf dem verfilzten Boden saßen. Ihre wettergegerbten Gesichter und rauen Hände zeugten von ihrer harten Arbeit.

Mit blitzenden Augen stand Pranab in seinem schmucklosen weißen dhoti aufrecht vor ihnen. Selbstvergessen und in seine Sorge für andere versunken wirkte er viel größer als sonst. Es war, als würde er bis an die Zimmerdecke reichen. Ihn nur aus der Ferne zu sehen versetzte sie bereits in Hochstimmung.

Es wurde still. Pranabs Stimme dröhnte: »Brüder und Schwestern!«

Andächtig blickten die Arbeiter auf. Aloka nahm unwillkürlich Haltung an. Ihr kam der Gedanke, dass er ihre Gegenwart womöglich spürte und seinen Vortrag extra etwas lauter hielt. Trotz des Pochens in ihrer Brust lauschte sie mit höchster Aufmerksamkeit.

»Wir haben uns hier zum ersten Mal versammelt, um uns mit schwer wiegenden Problemen zu befassen. Ihr, die ihr Darjeeling-Tee möglich macht, habt seit über zehn Jahren keine Lohnerhöhung erhalten, nicht seitdem euer barababu, Mr. Bir Gupta, die Leitung der Teeplantage übernommen hat. Man verlangt von euch, jeden Tag mindestens sieben Kilogramm Blätter zu pflücken, damit ihr euer Geld bekommt. Viele von euch können sich keine Medizin leisten, wenn sie krank sind. Eure Kinder haben eine unzureichende Schulausbildung und sind so zu einem Leben auf dem Feld verdammt wie ihr selbst. Das alles kann man mit einem Wort zusammenfassen: Ungerechtigkeit.«

Sie wich zurück. Wie konnte er es wagen, derart gegen ihren Vater zu hetzen? Es war abstoßend. Und doch waren die Worte so überzeugend, verheißungsvoll und aufrichtig, dass sie sich nicht losreißen konnte.

Die Arbeiter erhoben sich geschlossen von ihren Plätzen und schüttelten erbost die geballten Fäuste. Ihre Schreie ertönten in Wellen. »Mehr Lohn! Freie ärztliche Versorgung!« Sie stampften mit den Füßen, während sie ihre Parolen zunehmend lauter skandierten.

»Eure Unternehmensleitung behandelt euch ungerecht, aber das müsst ihr nicht hinnehmen.«

Die Arbeiter riefen im Chor: »Lang lebe Pranab-babu!« Auf ihren Gesichtern lag jetzt kein feierlicher Ernst mehr, sondern Wut.

Pranab stand regungslos vor ihnen; seine Augen funkelten vor Eifer, was Aloka gleichzeitig anzog und abstieß. Sie raffte das Tuch um ihre Schultern enger.

Würden sie ihrem Vater etwas antun? Sie erinnerte sich daran, wie vor nur einem Jahr die Kulis auf der benachbarten Teeplantage gestreikt hatten. Sie hatten einen gherao, einen Streik, durchgeführt und den Manager einen ganzen Tag lang in seinem Büro eingesperrt. Als es dunkel wurde, versuchte er, durch das hintere Fenster zu fliehen, wurde jedoch vom Mob erwischt und schwer misshandelt, bevor die Polizei kam und ihn vor einem noch schlimmeren Schicksal bewahren konnte.

»Mehr Rationen! Mehr Reis!«

Als der Tumult sich legte, bekam Aloka zufällig mit, wie ein Arbeiter einem anderen zuflüsterte: »Ist er ehrlich? Was springt für ihn dabei raus? Können wir ihm vertrauen?«

Wie konnten sie Pranabs Vertrauenswürdigkeit in Frage stellen? Jetzt ertappte sich Aloka dabei, wie sie für den Mann Partei ergriff, der sich gegen ihren Vater auflehnte.

Pranab begann wieder zu sprechen. Aloka hing an seinen Lippen. »Das ›Plantation Labor Act‹ war eine Verschwörung zwischen der Regierung und den reichen Landbesitzern. Die Teeverbrauchssteuer ist eine schwache Entschuldigung für schlechte Bezahlung.« Er gab noch ein paar abgedroschene politische Erklärungen ab und schloss dann mit: »Von nun an werdet ihr all eure Beschwerden dokumentieren. Ich werde bei der Geschäftsleitung eine Petition einreichen. Und ich werde den Fall höchstpersönlich der ›Darjeeling Planters' Association‹ vorlegen.«

Wieder erklang der berauschende Chor, diesmal »Pranab-Maharaj ki jai!«

Jetzt hatten sie ihn also schon zum großen König erhoben. In dem Lärm, der daraufhin ausbrach, begannen die Arbeiter alle auf einmal, ihre Forderungen herauszuschreien. Genau in dem Moment, als sie vor Sorge darüber, wohin diese Raserei noch führen würde, zu zittern begann, streckte er majestätisch die Hand aus.

Welche Macht diese ruhige, entschiedene Hand ausübte! Der Lärm legte sich. Eine junge Frau strich über den weißen Blütenschmuck in ihrem Pferdeschwanz; ein Kleinkind krabbelte zu Pranab; ein alter Mann, überwältigt von seinen Gefühlen, begann zu schluchzen; und der Rest blickte gebannt zu Pranab auf.

»Ich bin hier, um euch zu dienen, und nicht barababu.« Er sagte es freundlich, aber bestimmt.

Erfüllt von so widersprüchlichen Gefühlen wie Schrecken, Aufregung und Schuld riss Aloka sich vom Fenster los. Ihr Vater durfte das nie erfahren; die Plantage war sein Leben, und seiner eigenen Einschätzung nach führte er sie gut. Sie musste verschwinden, bevor sie jemand bemerkte.

Hatte sie ihn und ihre Familie an diesem Nachmittag verraten? Die Familie, die sie über alles stellte?

Auf dem Heimweg, als sie auf halber Strecke an einem dichten Baumbestand aus Silbertannen und Deodar-Zedern vorbeikam und stehen blieb, um die prächtigen hohen Bäume zu bewundern, merkte sie, wie ihr Kopf wieder klar wurde. Zu ihrer großen Bestürzung stellte sie fest, dass sie Pranab trotz allem, was sie gesehen hatte, wieder aufsuchen und mit ihm spazieren gehen wollte. Ihr Herz und ihre Seele wünschten es so. Nur beim nächsten Mal, das schwor sie sich, würde sie das Gespräch in sicherere Bahnen lenken – vielleicht zu Sanskrit. Ja, das war es. Sie würde die alten Sanskrit-Bände in Vaters Bibliothek entstauben und die lyrischen Gedichte, die kavya, des klassischen Dichters Kalidasa lesen. Es hatte sie einst amüsiert, von liebeskranken Heldinnen zu lesen, die sich im stillen Kämmerlein nach dem Geliebten verzehrten.

Wieder lachte sie vor sich hin, diesmal leicht unbehaglich, als sie erneut von heftigen Zweifeln geplagt wurde. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie ihre Selbstbeherrschung verloren. Es erging ihr nicht viel besser als den unglücklichen Heldinnen aus alten Zeiten.

Kapitel 5

1992

Sujata war jetzt seit drei Wochen zu Hause, diesmal endgültig. Nach ihrem Collegeabschluss vor sechs Jahren hatte sie eine Stelle in einer Bank in Murshidabad angenommen, um sich von ihrer Familie abzunabeln. Das Leben im Familienverband beengte sie. Sie traf gern ihre eigenen Entscheidungen. Im Gegensatz zu ihrer älteren Schwester Aloka war Sujata dem Vernehmen nach ein schwieriges Kind gewesen. Sie war nicht der Typ, der oberflächliche Konversation pflegte oder sang wie Aloka. Sie begleitete auch keine älteren Verwandten zum Tempel oder die Kinder in den Zoo. Außer Grandma erhob niemand Einspruch gegen ihren verfrühten Auszug.

Die Bank in Murshidabad war Bankrott gegangen. Darauf hatten Sujatas Angehörige, insbesondere Aloka, sie gebeten, nach Hause zu kommen, sich eine Auszeit zu gönnen und darüber nachzudenken, ob sie eine Stelle im Familienbetrieb annehmen wollte. Die Idee hatte Sujata gefallen. Schon als Kind war sie stundenlang durch den Teegarten gestreift. Sie dachte oft und gerne daran, was Grandma vor Jahren zu ihr gesagt hatte.

»Du bist ein ›Tee-Mädchen‹, Sujata. Du warst noch keine fünf, da konntest du die Blätter schon vorschriftsmäßig abschnipsen. Du wusstest genau, ob die Blüten im Morgennebel gepflückt werden konnten. Du hast dich sogar bemüht, den botanischen Namen für Tee richtig auszusprechen.« Grandma artikulierte die lateinischen Worte Camellia sinensis klar und deutlich. »Ich glaube, dafür hat ein Kamelienbaum seinen Geist auf dich übertragen.«