Die Geburt des Phönix - Frank Bergmann - E-Book

Die Geburt des Phönix E-Book

Frank Bergmann

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Beschreibung

Hamburg 1960: Maria Bachmann lebt mit ihrem Säugling in einer Holzhütte, ohne Strom und fließend Wasser, ohne Unterstützung als ledige Mutter. Als ihr bewusst wird, dass der kleine Michael den nächsten Winter nicht überleben wird, gibt sie ihn in ein Kinderheim und verleugnet fortan seine Existenz. Hamburg 1965: Das kinderlose Ehepaar Inge und Joachim Müller nimmt den Fünfjährigen als Pflegekind auf. Doch statt einer liebevollen Familie, erwartet den Jungen ein Martyrium. Jahrelang wird er von seiner Pflegemutter psychisch und körperlich misshandelt. Auch vor sexuellen Übergriffen macht sie keinen Halt. Michael schafft Strategien, zu überleben, seine Würde zu schützen und seine eigene Persönlichkeit zu entwickeln. Doch als ihn im Erwachsenenalter seine Vergangenheit einholt, sieht er sich den Dämonen seiner Kindheit gegenüber, denen er sich erneut stellen muss. Dies ist die auf Tatsachen beruhende Geschichte des Autors, seinen traumatischen Erlebnissen und dem jahrelangen Kampf auf der Suche nach seinem Platz im Leben.

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Immer wieder verlierst du dich,

findest dich wieder,

wachst auf, reibst dir die Augen.

Immer wieder fällst du aus den Wolken,

rätselst an dir und dem Leben,

wagst wieder Mut zu fassen.

Wie lange noch und immer neu

steigst du wie Phönix aus der Asche,

schüttelst den Staub von den Flügeln?

(AutorIn unbekannt)

Vorwort

24. Dezember 2013

Andächtig standen wir um das Lagerfeuer herum. Wir, das waren sechs Patientinnen und ich, der einzige Mann in dieser Gruppe, die in der psychosomatischen Klinik stationär untergebracht waren. Mit unterschiedlichen Themen und Diagnosen, aber alle mit schwierigen Geschichten. Ich war seit Anfang Dezember in der Klinik zur Traumabearbei-tung, Aufarbeitung psychischer und körperlicher Gewalt über viele Jahre durch meine Pflegemutter.

Erstmals wurde ich im Jahre 2006 im Alter von sechsundvierzig Jahren von Panikattacken heimgesucht. Bereits damals hatte der Psychotherapeut erkannt, dass es sich um Folgen jahrelanger Gewalt in meiner Kindheit handelte. Ich aber wollte das nicht akzeptieren, denn schließlich lagen diese Ereignisse Jahrzehnte zurück. Ich hatte jeden Zusammenhang mit meiner Vergangenheit kategorisch ausgeschlossen und meine Kindheit allenfalls als schwierig bezeichnet. Stattdessen hatte ich die Ursache der psychischen Probleme in einer hohen Arbeitsbelastung gesehen, die mich in ein Burnout führte. Tatsächlich aber weigerte sich meine Seele, sich mit den Geschehnissen auseinander-zusetzen. So lange, bis ich es nicht mehr verdrängen konnte.

Nach und nach warfen die Mitpatientinnen Zettel ins Feuer, um irgendetwas, was sie beschäftigte und krank gemacht hatte, loszulassen. In der Hand hielt ich fast 400 eng beschriebene DIN A4-Blätter, um sie den Flammen zu übergeben. Etwas über ein Jahr hatte ich an der Autobiografie geschrieben, anfangs mit dem Ziel, diese zu veröffentlichen. Bis dahin hatte ich kaum einem Menschenvon meinen Erfahrungen erzählt. Aber nachdem alles geschrieben war, fühlte sich eine Veröffentlichung falsch an.

»Warum wollen Sie das jetzt nicht mehr«, hatten mich die Therapeuten und die Gruppenmitglieder gefragt.

»Es fühlt sich falsch an, weil es eine Anklage ist. Die Autobiografie klagt meine leiblichen Eltern an, weil sie mich in ein Kinderheim gegeben haben. Sie klagt meine Pflegemutter an, und damit fühle ich mich als Opfer. Das aber bin ich nicht. Nicht mehr. Damals konnte ich nicht handeln, aber heute kann ich es. Und es klagt all diejenigen Menschen an, die weggesehen haben. Wenn ich also anklage, kann ich keinen Frieden damit schließen. Und das muss und will ich endlich!«

Blatt für Blatt übergab ich dem Feuer und sah zu, wie die Flammen gierig darüber herfielen. »Ich übergebe meine Geschichte dem Feuer, damit aus ihr etwas Neues entstehen und sich ein neues Leben entwickeln kann.«

Ich dachte an einen Waldbrand,der alles vernichtet, was sich dem Feuer in den Wegstellt. Und doch entwickelt sich aus einem solch gewaltigen Inferno nahrhafter Boden, aus dem mitder Zeit neue Pflanzen sprießen und Tieren Nahrung und ein Zuhause bietet. Ich hatte keine Ahnung, keine Vorstellung, wie in meinem Fall aus brennendem Papier neues Leben entstehen könnte. Es war nur ein Ritual, aber es gab mir Hoffnung, die Vergangenheit, die ich nun mal nicht ändern konnte, loslassen zu können.

Es dauerte eine Weile, bis die Idee gereift war, nicht nur meine Geschichte, sondern auch die meiner leiblichen Eltern zu erzählen. Einerseits half es mir, die Ereignisse angesichts der emotional kalten Zeit in den sechziger Jahren, und damit meine Eltern zu verstehen. Andererseits gab es mir das Gefühl, auch ihnen den Platz in meinem Leben zu geben, den sie verdienen. Beim Schreiben habe ich festgestellt, dass es mir schwerfiel, diese Ereignisse unter meinem Namen, also in Ich-Form zu erzählen. So kam es vor, dass mir schwindelig wurde, sich der Herzschlag beschleunigte oder mir der Schweiß auf der Stirn stand. Nach manchen Abschnitten machte ich ausgedehnte Spaziergänge, nach anderen wiederum fiel es mir schwer, alleine zu sein. Beim Schreiben brauchte ich einen inneren Abstand zu mir selbst. Also gab ich den Protagonisten andere Namen und erschuf mit Michael Kowalczyk, geborener Bachmann den Stellvertreter, der an meiner statt alles noch einmal erleben sollte.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

I. Die Zeit der Ächtung (1959 bis 1962)

1960 bis 1962

II. Die Zeit des Vergessens (1963 bis 1965)

1965

III. Die Zeit des Schweigens (1965 bis 1969)

1966

1967

1968

1969

IV. Die Zeit der Veränderungen (1970 bis 1979)

1971

1972

1973

1974

1975

1976

1977

1978

1979

V. Die Zeit der Abschiede (1980 bis 1982)

1981

1982

1983

VI. Die Zeit der Flucht (1984 bis 1990)

1985

1986

1989

1990

VII. Die Zeit der Verdrängung

VIII. Die Zeit des Erwachens

2007

IX. Die Geburt des Phönix

Mittwoch, 20. Juli 2011

21. Juli 2011 bis 18. Oktober 2011

Mittwoch, 19. Oktober 2011

Nachwort des Autors

Über den Autor

I. Die Zeit der Ächtung (1959 bis 1962) 1959

»Herzlichen Glückwunsch, Frau Bachmann«, sagte der kleine dicke Arzt zu Maria.»Sie sind schwanger.« Er setzte sich nach der Untersuchung hinter seinen schweren, klobi-gen Holzschreibtisch und strahlte sie an.

Sie war eine schlanke junge Frau von einundzwanzig Jahren. Das schlichte Sommerkleid war etwas zu groß. Ihre langen schwarzen Haare lagen in Wellen auf ihren Schultern und wurden von einem grauen Stirnband davon abgehalten, in ihr Gesicht zu fallen. Sie sah den Arzt, der sie freundlich anlächelte, aus ihren klaren, grünen Augen schweigend an. Ihre Lippen bebten und die Hände in ihrem Schoss zerknüllten unaufhörlich ein Stofftaschentuch.

»In diesen schweren Zeiten brauchen wir stramme Jungs, die uns beim Wiederaufbau helfen«, fuhr der Arzt fort.

Es war Sommer 1959 und der Krieg 14 Jahre vorbei, doch die Spuren waren in Hamburg noch deutlich sichtbar.

»Da wird sich der Gatte sicherlich freuen.« Er musterte die junge Frau, die den Blick gesenkt hatte und tief Luft holte. Langsam verschränkte er die Arme vor der Brust. »Sie sind nicht verheiratet, oder?«

»Nein.« Sie warf ihm einen kurzen Blick zu und sah dann wieder auf ihre Hände.

»Wissen Sie wenigstens, wer der Vater ist?«

Sie riss den Kopf hoch. »Natürlich weiß ich das – wo denken Sie hin? Was halten Sie von mir?«

Der Arzt schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Ich denke, dass Sie in diesen Zeiten, wo wir unser Land aufbauen und alle Kräfte mobilisieren müssen, nichts anderes im Sinn haben, als einen Bastard in die Welt zu setzen.« Er funkelte sie an. »Sehen Sie zu, dass Sie den Kerl heiraten, damit der Bastard wenigstens ehelich zur Welt kommt.« Obwohl seine Stimme fordernd war, klang eine Spur Mitgefühl mit.

»Ich weiß nicht, ob das geht. Paul ist erst achtzehn.«

Der Arzt lehnte sich in seinen Stuhl zurück und schüttelte den Kopf. »Auch noch ein Minderjähriger.Der ist ja selber noch ein Kind. Wie heißt denn der Kerl?«

»Paul.«

»Das sagten Sie bereits. Und weiter?«

»Paul Kowalczyk.«

»Kowalczyk!« Der Arzt verdrehte die Augen. »Wo kommt der denn her?«

»Er ist aus Ostpreußen vertrieben worden und mit seiner Familie nach Hamburg geflohen«, antwortete sie. »Aber er hat Arbeit«, schob sie hinterher.

Das Gesicht des Arztes wurde etwas weicher. »Sie werden Schwierigkeiten haben, eine Wohnung zu finden, wenn Sie nicht verheiratet sind. Das wissen Sie doch wohl, oder?«

»Ja«, erwiderte sie.

»Sehen Sie zu, dass Sie heiraten. Sonst haben Sie einen sehr schweren Stand, und Ihr Bastard auch. Noch haben Sie etwas Zeit, solange man nicht sieht, dass Sie in Umständen sind.«

Maria betrachtete das zerknüllte Taschentuch in ihren Händen und schluckte. Der Arzt musterte sie nachdenklich.

»Na, nun schauen Sie mal nicht so betrübt. Das wird schon werden.« Er lächelte sie freundlich an und erhob sich hinter seinem Schreibtisch. Maria stand ebenfalls auf und warf ihm einen kurzen Blick zu. »Vielen Dank, Herr Doktor«, flüsterte sie.

Wie in Trance schlenderte sie an roten Backsteinhäusern vorbei, ohne sie zu registrieren. Den warmen Juniwind nahm sie nicht wahr und verlor sich in ihren Gedanken. Sie betrachtete ihre Füße, wie sie einen Schritt vor den anderen setzten. Ich bin schwanger, dachte sie. Ich bekomme ein Kind von einem Mann,den ich kaum kenne. Einerseits spürte sie das Glück einer werdendenMutter, aber auf der anderen Seite wusste sie nicht, wie sie in diesen Zeiten ein Kind versorgen sollte. Wie würde Paul reagieren? Ich muss es ihm sagen. Heute Abend, wenn er mich besuchen kommt, sage ich es ihm.

Kinderstimmen weckten sie aus ihren Gedanken. Sie blieb stehen und sah sich um. Die Backsteinhäuser waren verschwunden und ihr Blick wanderte über eine verwilderte Wiese. Hier standen keine Häuser, und doch spielten hier Kinder. Die Sonne blendete sie und sie blinzelte in die Richtung, wo die Kinderstimmen herzukommen schienen. Sie fühlte sich magisch von ihnen angezogen. Das hohe Gras kitzelte an ihren Wadenund sie musste sich vorsehen, um auf dem unebenen Boden nicht zu stolpern und mit dem Fuß umzuknicken. Sie stapfte an wilden mannshohen Büschen und Brombeersträuchern vorbei, als sie sich den Stimmen näherte. Auf einer kleinen Lichtung angelangt, sah sie vier Kinder, die Fangen spielten. Zwei Jungen und zwei Mädchen. Die Jungen trugen kurze Hosen und karierte Hemden, die Ärmel hochgekrempelt, und die Mädchen Kleidchen und Kniestrümpfe. Maria sah ihnen eine Weile beim Spielen zu. Als die Kinder sie erblickten, hielten sie inne und starrten sie an. Maria legte eine Hand auf ihren Bauch und lächelte. Der größere von den Jungen ging einen Schritt auf sie zu und blieb breitbeinig stehen.

»Was willst du hier?«, rief er und stemmte seine Fäuste in die Hüften.

»Ich … ich … ich weiß nicht«, stammelte sie.

»Hast du Bauchweh?«, fragte eines der Mädchen.

»Nein. Wie kommst du darauf?«

»Weil du dir den Bauch hältst.«

»Ach so ... nein.« Sie ließ den Arm sinken.

»Hast du dich verlaufen?«, fragte das andere Mädchen.

»Nein. Ich habe euch gehört und war nur neugierig, was ihr hier tut.«

»Wir wohnen hier.«

»Hier?« Maria sah sich um. »Ihr wohnt hier?«

»Ja, da drüben.« Das Mädchen deutete hinter sich. »Und da hinten wohnen noch mehr.«

Erst jetzt bemerkte Maria zwischen den Sträuchern eine kleine verfallene Hütte. Die Bretter waren notdürftig und schief zusammengenagelt, die Holztür hing in den Angeln. Neben dem Eingang stand eine Regentonne und um die Hütte herum rankten Dornensträucher. Als Maria einen Schritt auf die Hütte zuging, baute sich der größere Junge vor ihr auf.

»Du hast hier nichts verloren«, schrie er. Wütend funkelte er sie an.

Maria zuckte zusammen und wich einen Schritt zurück. »Nein. Natürlich nicht.«

Der Junge presste die Lippen fest aufeinander. Seine Hände hatte er zu Fäusten geballt, seine Arme zitterten.

»Wo sind eure Eltern?«, fragte sie.

»Mutti ist nicht da«, sagte einMädchen.

»Und euer Vater?«

»Abgehauen«, rief der Junge. »Und jetzt bin ich hier der Mann im Haus.Und ich sage dir: Verschwinde!«

Maria sah in zwei wütende Augen und legte wieder ihre Hand auf den Bauch. Dann eilte sie den Wegzurück, den sie gekommen war, achtete nicht mehr auf die Unebenheiten und die Dornensträucher. Sie drehte sich kein einziges Mal zu den Kindern um, die ihr schweigend hinterherblickten.

***

Maria wohnte in einer Gartenkolonie an der Alster in Hamburg-Alsterdorf in einer Holzhütte, die aus einem einzigen Raum bestand, mit einem Plumpsklo, das mit Torf aufgefüllt wurde, und einem Ofen,mit dem sie heizen und kochen konnte. Wasser musste sie aus einem Brunnen außerhalb des Gartens holen. Der Wind pfiff durch die Ritzen der dünnen Bretter. Seit ihrer Ausbombung hatte sie bis vor einem Jahr gemeinsam mit ihrer Mutter in der Hütte gelebt. Ihr Vater war aus dem Krieg nicht zurückgekehrt und es hatte ihre Mutter viel Kraft gekostet, Maria und sich durchzubringen. Während des Krieges hatte sie etwas Gemüse und Obst angepflanzt, aber dennoch hungerten sie. Nach dem Kriegwurde sie immer schwermütiger und kraftloser. Meistens saß sie zusammengesunken in einem schäbigen Sessel und starrte die Wände an. »Mama, was ist los mit dir?«, fragte Maria sie immer wieder, doch ihre Mutter reagierte kaum und sah aus ausdruckslosen Augen an ihr vorbei.

Eines Abends flüsterte sie Maria zu: »Ich kann nicht mehr. Ich kann das alles nicht mehr ertragen.«

»Mama, was denn? Was kannst du nicht mehr ertragen?«

»Diese Erinnerungen! Sie kommen immer wieder. Jede Nacht.« Sie sprach so leise, dass Maria sie kaum verstand.

»Welche Erinnerungen meinst du?«

»Aus dem Krieg.Als die Soldaten kamen ...« Doch dann brach sie ab und schwieg, starrte aus leeren Augen auf den Boden. Ihre Hände zitterten. Einige Tage später war ihre Mutter eingeschlafen und nicht wieder aufgewacht.

Als Maria Anfang des Jahres Paul Kowalczyk kennen-lernte, fand sie Trost, eine Schulter, an der sie sich anlehnen konnte und die ihr ein wenig Hoffnung spendete, Hoffnung auf eine Familie. Sie verliebte sich Hals über Kopf in ihn, konnte für eine Weile der Wirklichkeit entfliehen und erfahren, was es bedeutete, glücklich zu sein. Als aber ihre Monatsblutung aussetzte, wurde sie wieder von der Realität eingeholt. Was, wenn ich schwanger bin? Wie sollen wir ein Kind ernähren? Und dann war aus ihrer Befürchtung Gewissheit geworden.

Maria wartete ungeduldig vor ihrer Hütte auf Paul. Als sie ihn am Gartentorsah, eilte sie ihm entgegen, umarmte und küsste ihn. »Ich muss dir was sagen! Lass uns einfach spazieren gehen«, sagte sie.

Er sah sie überrascht an, drehte sich aber gehorsam um und sie hakte sich bei ihm ein. Er wartete, was sie ihm so Wichtiges mitzuteilen hatte. Schweigend spazierten sie an Gärten vorbei zur Alster. Dort blieben sie stehen und sahen einer Entenmutter mit einigen Küken zu.

»Eigentlich weiß ich gar nicht viel über dich«, sagte sie nach einer Weile.

»Was willst du denn wissen?«, fragte er. »Du weißt, dass ich achtzehn Jahre alt bin, zwei Brüder habe und bei Blohm&Voss arbeite.«

»Na ja.« Sie warf ihm einen kurzen Blick zu. »Wo genau kommst du her? Wo hast du gelebt und wann seid ihr geflüchtet?«

»Tja.« Er holte tief Luft. »Wir haben in Masuren in Ostpreußen gelebt. Bis zum Krieg gehörte das zu Deutschland, heute zu Polen. Meine Brüder waren zwei und sechs und ich war vier Jahre alt, als meine Mutter mit uns vor den Russen geflüchtet ist.«

»Wann war das?«

»Januar 1945 mussten wir weg. Ich kann mich kaum noch an die Flucht erinnern. Ich weiß nur, dass wir über die zugefrorene Ostsee gelaufen sind.« Er lächelte sie von der Seite an. »Stell dir mal vor. Meine Mutter mit drei kleinen Kindern auf der Flucht. Viele Menschen sind dabei gestorben. Und dann sind wir nach Hamburg gekommen. Das war schlimm. Wir wurden nicht gerade mit offenen Armen empfangen, weißt du? Niemand wollte uns haben.«

»Und wo war dein Vater?«

»Keine Ahnung. Ich erinnere mich nicht an ihn. Er war wohl einmal zum Fronturlaub da. Dabei ist mein kleiner Bruder gezeugt worden. Dann ist er wieder an die Front und wir haben nie wieder etwas von ihm gehört. Keine Briefe. Nichts.«

»Du weißt nicht, ob er noch lebt?«

Paul zuckte mit den Schultern. »Offiziell ist er noch am Leben. Verschollen eben. Er könnte in Gefangenschaft geraten oder geflüchtet sein und irgendwo ein neues Leben angefangen haben. Ich weiß es nicht.« Sein Blick folgte den Entenküken, die sich beeilten, ihrer Mutter ins Wasser zu folgen. »Solange er nicht für tot erklärt worden ist, bekommt meine Mutter keine Rente und wir leben von den paar Mark, die mein kleiner Bruder und ich verdienen.« Das letzte Küken eilte mit hektischen Schwimmbewegungen seinen Geschwistern hinterher. »Mein großer Bruder hat geheiratet und ist nach München gezogen.« Er warf einen flachen Stein, der mit großen Sprüngen über die Wasseroberfläche tanzte. »Wahrscheinlich ist mein Vater gefallen«, flüsterte er. »Er muss tot sein.«

»Mein Vater ist auch gefallen«, sagte Maria, ohne ihn anzusehen. »In der Normandie.«

Schweigend schlenderten sie weiter.

»Liebst du mich?« Sie drückte seine Hand und legte den Kopf auf seine Schulter.

»Ja, natürlich. Das weißt du doch.«

Sie sahen den Enten zu, die sich aufrichteten und mit den Flügeln schlugen, sodass das Wasser spritze.

»Möchtest du mit mir zusammenleben?« Ihre Stimme vibrierte und das Herz hämmerte gegen ihren Brustkorb.

Er blieb stehen und sah sie an. »Ich verstehe nicht, was du meinst.«

»Heiraten«, platzte es aus ihr heraus. »Ich meine … würdest du mich heiraten?«

Er starrte sie an. Seit wann machen Frauen Heiratsanträge? »Ja natürlich, irgendwann.«

»Was heißt denn irgendwann?«

»Maria, Schatz! Ich bin noch keine einundzwanzig. Ich kann nicht einfach heiraten.«

»Warum fragst du nicht deine Mutter?« Maria spürte seine Verunsicherung. Und das ermutigte sie.

»Du weißt doch, dass wir kein Geld haben. Das reicht gerade für uns zum Leben. Ich kann jetzt nicht heiraten.«

Sie senkte den Kopf und dachte nach. Sie wusste, dass er recht hatte. »Wir bekommen ein Baby. Paul, ich bin schwanger.«

Er sah sie mit weit aufgerissenen Augen an, doch dann verwandelten sich seine Gesichtszüge in ein Strahlen. »Aber … aber … das ist ja wunderbar«, rief er. »Ich werde Papa.« Er wollte sie in die Arme nehmen, doch sie wich zurück und sah ihn wütend an.

»Du Dummkopf«, rief sie. »Weiß du überhaupt, was das bedeutet?«

»Natürlich«, erwiderte er. »Dass wir eine Familie werden.«

»Ja! Eine unverheiratete Frau mit einem minderjährigen Mann und einem unehelichen Kind.«

Paul ließ die Arme sinken und sah sie ernst an. »Du hast recht. Das habe ich nicht bedacht.«

»Hast du eine Idee?«, fragte sie. »Weißt du, was wir tun können?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich Kinder liebe und immer von einer Familie mit vielen Kindern geträumt habe.« Er nahm sie in die Arme und flüsterte: »Wir schaffen das, Maria. Ich weiß nicht wie, aber wir schaffen das.«

***

Inge Brandt, eine kleine, rundliche Frau von neununddreißig Jahren, stand auf dem Friedhof Hamburg-Ohlsdorf vor einem Grab.Es war kalt an diesem frühen Nachmittag im November und sie trug unter ihrem schwarzen Stoffmantel ein ebenso schwarzes Stoffkostüm. Sie hatte Unkraut gezupft und die Grünpflanzen mit Tannenzweigen abgedeckt, um sie vor der Kälte zu schützen. Sie betrachtete gedankenverloren den grauen Grabstein. Anton Brandt, geboren 1910 – gestorben 1959. Sechs Monate zuvor war er an Kehlkopfkrebs gestorben.

Sie war das mit Abstand jüngste von insgesamt vier Kindern und war in dem DorfCrivitz bei Schwerin inMecklen-burg aufgewachsen. Ihre Eltern hatten eine eigene Bäckerei, die von der gesamten Familie betrieben wurden. Inge war achtzehn Jahre alt, als sie sich in Anton, den achtundzwan-zigjährigen Zahnarzt, verliebte. Ein Jahr später, kurz vor Kriegsbeginn, heirateten sie. Durch die Bäckerei und einen großen Garten litt die Familie während des Krieges keine Not. Da Inges ElternMitglied in der NSDAP und gut situiert waren, wurden ihnen ab und zu Kriegsgefangene, meistens französische Soldaten, zugeteilt, die ihnen bei der Bewirtschaftung der Bäckerei und dem Gartenhelfen mussten.

Anders als Inges Familie war Anton kein Mitglied in der NSDAP, sondern überzeugter Sozialdemokrat. Hatten sie von dem Einmarsch der Russen 1945 nicht so viel mitbekommen, so war Antons politische Gesinnung in der 1949 gegründeten DDR ein Problem. Das war der Grund, weshalb sie 1952 in einer Nacht-und-Nebel-Aktion über die Grenze nach Westdeutschland flohen. Sie ließen sich in Hamburg nieder und Anton eröffnete eine Zahnarztpraxis. Inge und ihr Ehemann verbrachten zwanzig gute Jahre miteinander, aber ihr größter Wunsch wurde nicht erfüllt. Sie bekam keine Kinder. Fünf Jahre nach der Flucht war Anton an Kehlkopfkrebs erkrankt. Inge hatte ihn bis zu seinem Tod gepflegt. Zwei lange Jahre.

Sie wusste nicht, wie lange sie an dem Grabgestanden hatte, als sie sich umdrehte und auf den Heimweg machte. Der Friedhof Hamburg-Ohlsdorf war eine riesige Parkanlage und sie benötigte fast eine halbe Stunde bis zum Ausgang. Sie spazierte an Gräbern, dem großen Soldatenfriedhof und einer kleinen Kapelle vorbei, ohne auf sie zu achten. Auch die Friedhofsgärtner, die emsig das Laub von der Wiese kehrten, beachtete sie nicht. Sie hatte seit Antons Tod die Wohnung nur verlassen, um kleinere Einkäufe zu tätigen oder ihn am Grab zu besuchen. Es ziemte sich, ein Jahr lang schwarz gekleidet auf die Straße zu gehen, um der Trauer in der Außenwirkung Rechnung zu tragen. Vor seinem Tod hatte sie sich gerne von ihrer lebenslustigen Seite gezeigt, doch als Witwe eines in der Wohngegend bekannten Zahnarztes war ihr das nicht mehr vergönnt. Sie wurde einsam und glaubte, nie wieder aus ihrer Trauer herauszufinden, wobei sie nicht wusste, ob sie den Tod eines wunderbaren Menschen oder aber ihre eigene schwierige Situation beweinte.

1960 bis 1962

Es war bitterkalt an dem MorgenEnde Januar 1960. Ein eisiger Ostwind fegte über Deutschland hinweg und schwerer Schneefall verwandelte das Land in eine weiße Landschaft. Es war der zweite Kälteeinbruch in diesem Winter und schon im Dezember 1959 war die Zahl der Grippekran-ken stark angestiegen. Als nach der eisigen Kälte die Temperaturen im Januar wieder wärmer wurden, erhöhte sich die Zahl weiter. Viele Menschen waren der Grippewelle zum Opfergefallen.

Maria wurde ebenfalls krank. Sie saß in der Hütte und hatte den Ofen angefacht, dennoch fror sie. Paul, der inzwischen seinen zwölfmonatigen Wehrdienst absolvierte, hatte sie schon einige Wochen nicht gesehen. Sie stand kurz vor der Geburt, sodass ihr jede Bewegung schwerfiel. Die Hütte verließ sie nur für Einkäufe oder kleine Spaziergänge und steckte sich dann den alten Ehering ihrer Mutter an den Ringfinger, um von anderen Menschennicht als ledige schwangere Frau entlarvt zu werden. Zu groß war ihre Angst vor den tadelnden und abwertenden Blicken.

Sie hatte mit Paul einige Versuche unternommen, eine Wohnung zu bekommen, aber als unverheiratetes Paar wurden sie immer wieder abgelehnt. Sie freute sich nicht auf das Kind. Wie sollte ein jetzt neunzehnjähriger Wehrpflichtiger eine Frau und einen Säugling ernähren? Und konnte ein Baby in dieser kalten Hütte überleben? Was würde passieren, wenn der nächste Winter wieder so hart werden sollte? Sie wusste es nicht. Sie hoffte nur, dass sie mit Paul nach seinem Wehrdienst, wenn er wieder auf der Werft arbeitete, eine Wohnung finden würde. Aber bis dahin war es eine lange Zeit.

Am zwanzigsten Februar 1960 brachte sie im KrankenhausHamburg-Mundsburg einen kleinen Jungen zur Welt, den sie Michael nannte. Paul war nicht bei ihr, und so fühlte sie sich einsam und von der ganzen Weltverlassen.

***

Inge hatte die Weihnachtszeit 1959 allein und zurückgezogen verbracht. Jetzt aber, wo im März die Tage allmählich spürbar länger wurden, die Sonne zeigte, dass sie schon Kraft hatte und sich die ersten Krokusse durch das Erdreich gekämpft hatten, spürte sie wieder Lebensfreude. Sie verfluchte ihre schwarzen Kleider, die sie noch bis zum Ende des Trauerjahres tragen musste, und wünschte sich nichts sehnlicher, dass es endlich Maiwurde. Sie hätte ihre Trauerkleidung am liebsten schon jetzt tief im Kleiderschrankversteckt, aber es kannten sie zu viele Menschen, die genau wussten, wann Anton gestorben und das Jahr vorüber war.

An einem sonnigen Sonntag Ende März schlenderte sie nach einem Spaziergang an der Alster in eine Konditorei, um einen Kaffee zu trinken. Sie hängte ihren Mantel an die Garderobe, während sie ihren Hut, ebenso wie die anderen Frauen ebenfalls, aufbehielt. Sie sah sich um. Alle Tische waren besetzt. Überall saßen Paare oder Familien mit ihren Kindern, die sich angeregt unterhielten. An einem Tisch, an dem ein junger Mann saß, war ein Stuhl frei. Er trug einen dunkelblauen Anzug mit einer schmalen Krawatte. Die schwarzen Haare waren kurz geschnitten und mit Haarwasser streng zurückgekämmt, sein Gesicht glatt rasiert. Am Hals waren leichte Schnitte zu erkennen, die er sich beim Rasieren zugezogen hatte. Vor ihm stand ein Känn-chen Kaffee und er rauchte in aller Ruhe eine Zigarette. Die anderen Gäste schien er überhaupt nicht wahrzunehmen. Die Ausstrahlung des Mannes beeindruckte sie und sie überlegte, ob sie sich zu ihm setzen sollte. Nein, es schickt sich doch nicht, dass sich eine Frau zu einem fremden Mann setzt. Wie sieht das denn aus? Sie legte den Kopf schief. Auf der anderen Seite …

»Kann ich Ihnen helfen?«

Inge drehte sich zu der Stimme um und sah in die freundlichen Augen einer jungen Kellnerin. »Wie bitte?«

»Ja, es ist sehr voll heute. Tut mir leid. Aber vielleicht wird gleich ein Platz frei.«

»Nein, nein. Ist schon gut. Ich wollte ohnehin gerade gehen.« Inge nahm ihren Mantel von der Garderobe und eilte aus der Konditorei. Das Herz schlug ihr bis zum Hals.

Was war das denn? Du benimmst dich ja wie ein junges Mädchen.

Es waren einige Wochen vergangen und der April zeigte sich von seiner launischen Seite. Mal stürmte und regnete es, vereinzelt verirrten sich Schneeflocken und manchmal kam die Sonne zum Vorschein.Die ersten Blätter zierten den einen oder anderen Baum und die Vögel zwitscherten bereits früh am Morgen.Nur noch diesen Monat überstehen, dann bin ich endlich dieses unerträgliche Schwarz los. So wechselhaft wie das Aprilwetter, so waren Inges Launen. An manchen Tagen freute sie sich, dass das Trauerjahr bald überstanden war, und dann wiederum konnte sie ihre Einsamkeit nicht ertragen und hatte das Gefühl, dass dieses verfluchte Jahr niemals enden würde.

Die Tage wurden länger und wärmer. Als das Trauerjahr im Mai vorüber war, zog sie an einem sonnigen Sonntag ein orangenfarbenes Kostüm an. Als sie durch die Haustür trat und sie die ersten Passanten begrüßten, fühlte sie sich argwöhnisch beobachtet und sah verlegen zu Boden. So sehr sie sich darauf gefreut hatte, endlich das triste Schwarz abzulegen, so unbehaglich war ihr in diesem Augenblick.Sie hatte das Gefühl, alle Blicke auf sich zu ziehen. Daher wechselte sie die Straßenseite, wenn sie Leute erkannte, und tat, als würde sie sie nicht sehen. Inge eilte zum Stadtpark, wo viele Familien unterwegs waren, die sie nicht kannten. So glaubte sie, nicht aufzufallen, und fühlte sich wohler und sicherer. Sie sah sich um und betrachtete die leuchtend grünen Blätter an den Bäumen, die weißen und lilafarbenen Fliederblüten in den Vorgärten und sog ihren Duft ein. Endlich fühlte sie sich befreit von dem Schmerz des vergangenen Jahres und lächelte. Nach einem langen Spaziergang kam sie an der Konditorei vorbei. Es standen Holzstühle und kleine Tische auf der Terrasse und es waren Sonnenschirme aufgespannt. Sie setzte sich an einen freien Platz und wartete auf die Bedienung. Die Kellnerin lief geschäftig hin und her und servierte den Damen Kaffee und Kuchen und einigen Herren ein Bier. Inge schloss die Augen und genoss die warmen Sonnenstrahlen auf ihremGesicht.

»Entschuldigung, gnädige Frau. Ist an Ihrem Tisch noch ein Platz frei?«

Inge schreckte aus ihren Gedanken und sah in zwei freundliche blaue Augen. Es war der junge Mann, der ihr schon vor einigen Wochenaufgefallen war.

»Ich möchte Sie nicht stören«, fuhr er lächelnd fort, »aber die anderen Tische sind alle besetzt und ich würde gern ein Bier trinken. Darf ich mich zu Ihnen setzen?«

Inge nickte verlegen. Der junge Mann setzte sich ihr gegenüber, zündete sich eine Zigarette an und blies den Rauch in die Luft.

»Was darf ich Ihnen bringen«, fragte die herbeigeeilte Kellnerin.

»Ein kleines Pils bitte«, erwiderte er.

»Und was darf es für die Gemahlin sein?«

Inge starrte die Bedienung an. »Einen Kaffee«, presste sie hervor.

Die Kellnerin bedankte sich und eilte davon. Inge sah in ein grinsendes Gesicht. In diesem Augenblickwirkte er wie ein großer Junge, der Schabernack im Sinn hatte. »So schnell sind wir also verheiratet«, sagte er augenzwinkernd.

Inges rechter Mundwinkel zuckte. Das passierte immer, wenn sie nervös war. »Die Kellnerin ist aber sehr nett«, meinte sie nach einer für sie unermesslich langen Zeit des Schweigens.

Er zuckte mit den Schultern, ohne sie anzusehen. »Die hat keine Ahnung.«

Jetzt hat er fast etwas Überhebliches an sich, dachte sie. »Woran sehen Sie das?«

»Wie die sich bewegt, die Teller trägt und wie sie redet. Die hat keine Ahnung.«

Inge hatte sich aufrecht hingesetzt, die linke Hand auf den Tisch gelegt und rührte mit dem Teelöffel in der Kaffeetasse herum. »Sie sind auch Kellner?«

»Jetzt ja. Früher war ich Chefstewart auf der Italia.« Erneut zog er an der Zigarette und blies den Qualm aus den rech-tenMundwinkel hinaus.

»Sie sind zur See gefahren?«

»Ja, auf einem Luxusliner bei einer schwedischen Reederei. Da lernt man, wie man bedient.« Er lehnte sich in den Stuhl zurück. »Die Italia hieß bis zum Krieg Kungsholm. Das war ein richtiges Prachtstück. Vielleicht sagt Ihnen das etwas.« Er sah die Frau prüfend an, die rasch nickte.

»Den Namen habe ich schon mal gehört.«

»Übrigens, mein Name ist Joachim Müller.« Er stand auf, reichte ihr die Hand und verbeugte sich. »Eigentlich Hans-Joachim Müller, aber die meisten nennen mich nur Joachim. Darf ich Sie zu dem Kaffee einladen?«

»Inge Brand. Danke, sehr gern.« Erstmals seit langer Zeit verspürte sie einen Anflug von Glück in ihremHerzen.

***

Während der kalten Wintertagebrachte Paul Maria Holz zum Heizen.Er besuchte sie, wann immer es ihm möglich war, dennoch fühlte sie sich allein und hilflos. »Wenn der Wehrdienst vorbei ist, werde ich wieder arbeiten und Geld verdienen«, sagte er. »Sobald mein Vater für tot erklärt worden ist, bekommt meine Mutter eine Rente und dann können wir heiraten und uns eine Wohnung suchen.«

»Und was ist, wenn wir keine Wohnung finden? Glaubst du wirklich, dass Michael in dieser Hütte so einen Winter wie den letzten übersteht?«

»Wir werden eine Wohnung finden.«

»Du bist so naiv«, fauchte sie ihn an. »Hast du dich mal umgesehen? Es gibt immer noch viel zu wenige Wohnungen. Michael braucht ein Dach über dem Kopf.Er braucht regelmäßige Mahlzeiten. Wir können ihm das nicht geben.«

Sie hatte recht. Es herrschte noch immer Wohnungsnot in Hamburg. Zu viele Häuser waren im Krieg zerstört worden und Vertriebene aus den Ostgebieten, Sudetendeutsche und Menschen, die es wegen der Arbeit vom Land in die Städte trieb, stellten die Stadt vor eine schwierige Aufgabe.

Die Tage wurden allmählich wärmer und Marias Optimismus wuchs. »Vielleicht wird der nächste Winter ja gar nicht so schlimm und vielleicht finden wir bis dahin doch eine Wohnung«, flüsterte sie Michael zu, als sie ihn in ihren Armen hielt und stillte. Er sah sie mit seinen großen Augen an und saugte gierig die Muttermilch in sich hinein. Sie fühlte in diesen Momenten alles Glück der Erde, dass das Baby ihr schenkte. Nachts aber schlief sie unruhig und wurde von Albträumen geplagt. Immer wieder erschien ihr der Junge, der seine Fäuste in die Hüften gestemmt hatte und sie anschrie: »Jetzt bin ich hier der Mann imHaus.« Sie wachte schweißgebadet auf und stellte sich vor, dass sie mit Michael in einer der verwahrlosten Baracken leben und ihr kleiner Junge Der Mann im Haussein musste. Sofern er den nächsten Winter überhaupt überlebte. In den seltenen Momenten, in denen Paul bei ihr war, hatte sie das Gefühl von Schutz und Geborgenheit einer Familie, aber wenn er wieder weg war, fühlte sie sich allein und schutzlos.

Es gab im Sommer 1960 nur wenige warme Tage und Marias Angst vor einem strengen Winterwuchs und wuchs. Der August war so verregnet und kühl, dass Maria die Hütte mit Michael kaum verlassen konnte. Tagelang prasselte der Regen auf das Holzdach und sie musste häufig heizen, weil es für den Säugling zu kalt wurde. Schon jetzt wurde das Holz knapp und ihre Sorge wuchs, dass sie für den Winternicht genügend davon zum Heizenhaben würde. Um Brennholz zu sparen, wickelte sie das Baby in Decken, setzte sich in ihren Sessel und hielt ihn in den Armen.

Eines Abends zog ein schweres Gewitter auf. Der Donner hallte über die Gartenkolonie und Hagel prasselte auf das Holzdach. Sie saß in dem Sessel und wiegte den weinenden Säugling in den Armen. »Ich bin bei dir«, flüsterte sie. »Dir wird nichts passieren.« Sie zuckte zusammen, wenn ein Donner dem anderen folgte. Sie drückte das schreiende Baby an ihre Brust, damit ihr Herzschlag ihn beruhigte. Aber er beruhigte sich nicht. Erneut ertönte ein langer Donner, der sich mit Urgewalt über die Hütte entlud, und Michael schrie aus Leibeskräften. »Paul, wo bist du?«, rief sie. »Ich kann nicht mehr.« Sie beugte sich über das kleine, schreiende Bündel und weinte mit ihm. Allmählich zog das Gewitter vorüber und verabschiedete sich mit einem langen und dumpfen Grollen. Der Hagel ging in Regen über und prasselte auf das Dach. Wie aus der Ferne hörte sie das Rauschen des Regens. Ihr war kalt und sie zitterte. Noch immer hatte sie das Kind fest an sich gedrückt und weinte. Michael hingegen war eingeschlafen. Nach einer Weile sah sie den schlafenden Säugling an und strich ihm über das Gesicht. Er schmatzte zufrieden, als ihre Finger seine Wangen sanft berührten, und schlief friedlich weiter. Ein Gedanke, der sie in den letztenWochen beschäftigt hatte, kam in diesem Moment wieder hoch. »Du kannst hier nicht bleiben«, flüsterte sie. »Du wirst hier nicht überleben.« Tränen liefen über ihr Gesicht und tropften auf das kleine Bündel. »Du brauchst eine Familie, die für dich sorgt. Du brauchst jemanden, der dich beschützt.« Sie sah das friedlich schlafende Kind durch ihren Tränenschleier an und schüttelte den Kopf. »Ich kann das nicht. Verstehst du? Ich kann dir das alles nicht geben.«

In dieser Nacht schlief Maria nicht. Sie hatte Angst einzu-schlafen und zu träumen. Sie wollte nicht träumen. Sie saßmit dem Baby in ihren Armen im Sessel und starrte in die Dunkelheit. Als der Tag erwachte und die Sonne durch das Fenster in die Hütte schien, ging sie mit ihm auf dem Armvor die Tür. Sie atmete die frische, feuchte Luft ein und sah sich um. Der Hagel und der Regen hatten den Garten in eine Seenlandschaft verwandelt. Jetzt zeigte sich der Himmel in einem strahlenden Blau und in den Pfützen spiegelte sich die Sonne. Wasser tropfte von den Bäumen. Durch die Feuchtigkeit wirkten die Farben intensiver und satter.

Michael war aufgewacht und strampelte vergnügt in ihren Armen. Er strahlte seine Mutter an, doch ihr versteinerter Blick ging ins Leere. Nein, dieser schöne Morgen, der sie glauben lassen wollte, dass sich alles zum Guten wenden würde, konnte sie nicht mehr belügen. Ihr Entschluss war gefasst. In dieser langen Nacht des Wachens hatte sie sich innerlich von ihrem Kindverabschiedet.

***

Hannelore Schmidt war Leiterin des städtischen Kinderheims. Die Frau im grauen Kostüm mitden hochgesteckten Haaren öffnete die Tür zu ihrem dunklen Büro und setzte sich an den Schreibtisch. Ihr mürrischer Blick fiel auf einen großen Aktenstapel. In letzter Zeit wurden zahlreiche Kinder in ihre Obhut gegeben, teils aus der Not heraus, manchmal ohne erkennbare Gründe.

Sie setzte ihre halbrunde Lesebrille auf die Nase und schlug die erste Akte auf. In diesem Fall hatte eine Mutter ihr Kind zu ihnen gebracht, weil ihr neuer Mann, es von ihr verlangt hatte. Heutzutage ist es so einfach, sein Kind loszuwerden, dachte sie kopfschüttelnd.

»Herein«, rief sie, als es an der Tür klopfte. Langsam wurde die Bürotür geöffnet und eine junge Frau mit einem in Decken gehüllten Baby auf dem Armtrat über die Tür-schwelle. »Kommen Sie rein und machen Sie die Tür zu. Es zieht«, sagte Hannelore Schmidt, ohne aufzusehen. »Wer sind Sie und was wollen Sie?«

»Maria Bachmann ist mein Name. Ich habe ein kleines Kind.«

Die Heimleiterin musterte die Frau über ihre Lesebrille. »Und?«

»Ich wollte fragen, ob ich ihn hierlassen kann.«

»Warum?«

»Ich kann ihn nicht ernähren. Ich bekomme keine Unterstützung für ihn.« Sie drückte das Baby an sich, als wolle sie es nicht hergeben.

»Keine Unterstützung? Warum nicht? Was ist mit Ihrem Mann?«

»Ich … ich habe keinen Mann.«

»KeinenMann? Was soll das heißen?«

»Ich bin nicht verheiratet.«

»Das Kind ist ein Bastard?« Hannelore Schmidt hob die Augenbrauen und sah die Frau streng an. »Gibt es noch mehr davon?«

»Was? Nein!« Maria schüttelte energisch den Kopf.

»Tun Sie nicht so entrüstet. Bei Ihresgleichen weiß man das doch nie.«

»Ich ...«

»Junge oder Mädchen?«

»Ein Junge«, flüsterte sie. »Er heißt Michael.«

»Wissen Sie, wer der Vater ist?«

»Paul Kowalczyk.«

»Kowalczyk?« Hannelore Schmidt lehnte sich in ihrem Stuhl zurück.

»Paul ist als Kind mit seiner Familie aus Ostpreußen vertrieben worden.«

Die Heimleiterin schüttelte den Kopf. »Und dann auch noch ein Polacke«, flüsterte sie, jedoch laut genug, sodass Maria es hörte.

»Kann ich das Kind hierlassen?«, fragte sie erneut und hielt ihr den Säugling entgegen. Bitte helfen Sie mir, flehten ihre Augen. Bei mir wird er nicht überleben.

Hannelore Schmidt musterte die junge Frau. »Warum sollte man Ihnen helfen? Erst setzen Sie ein uneheliches Kind in die Welt und dann wollen Sie auch noch Hilfe. Wo soll das noch hinführen?« Sie holte einige Formulare aus dem Schubfach des Schreibtisches. »Füllen Sie das aus und dann gehen Sie.« Dann verließ sie das Büro.

Maria setzte sich an einen kleinen Tisch, legte Michael auf ihren Schoß und füllte mit zittriger Hand die Formulare aus. Als Hannelore Schmidt nach einer Weile mit einer Mitarbeiterin zurückkehrte, sah Maria auf und legte den Stift auf die Papiere. Sie nahm ihren Sohn in die Arme und drückte ihn fest an ihre Brust. Auf einen Wink von der Heimleiterin nahm die Frau Mariadas Kind aus den Armen und verließ schnellen Schrittes das Büro.

»Kann ich ihn besuchen kommen?«, fragte Maria.

»Wozu? Sie wollten das Balg doch loswerden.«

»Ich ... ich weiß nicht. Ich dachte nur, vielleicht ...«

»Ihresgleichen sind hier nicht willkommen.« Sie setzte sich an den Schreibtisch, rückte die Lesebrille zurecht und schlug eine Akte auf. »Das Schicksal des Kindes geht Sie nichts mehr an«, sagte sie, ohne aufzusehen. »Und jetzt gehen Sie.«

Maria sprang auf und lief aus dem Büro. Die Tränen in ihren Augen konnte Hannelore Schmidt nicht sehen, die stummen Schreie nicht hören, den Schmerz nicht spüren.

***

»Du hast was?« Paul sah Maria wütend an. »Wie konntest du das tun? In ein paar Wochen bin ich wieder in Arbeit und verdiene Geld. Warum hast du mich nicht gefragt? Ich bin der Vater!«

»Herrgott, du bist immer noch minderjährig, noch zwei Jahre lang.« Ihre Augenlider flackerten. »Du kannst keine eigenen Entscheidungen treffen, keinen Mietvertragunterschreiben. Nichts! Und hier in dieser Hütte kann er nicht bleiben. Er würde im Wintererfrieren und verhungern. Hast du das immer noch nicht begriffen? Hast du eine Ahnung, wie viele Menschen, wie viele Kinder im letzten Winter gestorben sind? Du weißt doch gar nicht, wie das ist, als unverheiratete Frau mit einem unehelichen Kind wie eine Außenseiterin behandelt zu werden!«

»Es ist genug jetzt! Hör auf damit«, rief er. »Ich bin auch ein Fremder hier! Ich bin auch ein Außenseiter! Wir haben alles verloren und werden als Polacken beschimpft und wie Aussätzige behandelt. Niemand will uns hier haben.«

Sie wich einen Schritt zurück und starrte ihn mit aufgerissenen Augen an. Erst jetzt bemerkte er den Strom der Tränen, der über ihr Gesicht floß. Er sah sie einen Moment schweigend an und nahm sie schließlich in seine Arme.

»Ich werde immer für dich da sein«, flüsterte er und strich ihr über die Haare. »Und ich werde für das Kind geradestehen. Wir werden eine Lösung finden. Das schwöre ich dir.« Sie hielten sich eng umschlungen. »Wollen wir uns die Babyfotos noch einmal ansehen?«, fragte er nach einer Weile.

Maria schluchzte auf und vergrub ihren Kopf auf seine Schulter. »Ich habe sie verbrannt. Ich konnte es nicht ertragen, sie anzusehen.«

Nach der Entlassung aus der Bundeswehr Ende Oktober 1960 arbeitete Paul wieder bei Blohm&Voss und zog zu Maria in die Hütte. Nachdem er das einundzwanzigste Lebensjahr vollendet hatte, heirateten sie. Im selben Jahr bekamen sie eine kleine Wohnung in Hamburg-Altona. Michael, der in dem städtischen Kinderheim in Groß-Borstel lebte, nahm durch die Heirat den Namen von Paul an. Er hieß jetzt nicht mehr Michael Bachmann, sondern Kowalc-zyk. Aber von alledem bekam er nichts mit.

»Wie mag es ihm gehen?«, fragte Paul immer wieder. »Wollen wir ihn nicht mal besuchen?«

»Ich will nicht über ihn reden, und ihn besuchen schon gar nicht. Es wird ihm schon gutgehen.«

Maria versuchte, den unerträglichen Schmerz zu ignorieren, ihren Sohn zu vergessen, und mit der Zeit verleugnete sie seine Existenz. Wenn Paul sie auf ihn ansprach, schwieg sie. Er hatte Sehnsucht nach seinem Sohn, aber er traute sich nicht, hinter Marias Rücken Kontakt zu ihm aufzunehmen. Also schwieg auch er.

***

Zu Anton Brandts Lebzeiten hatte Inge dessen sozialen Status als Zahnarzt genossen und sich voller Stolz mit Frau Doktor anreden lassen. Doch seine Stellung als Freiberufler hatte eine Schattenseite, denn sie konnte keine Witwenrente beanspruchen. In der Rentenreform 1957 wurden die Gesetze zur Neuregelung der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten verabschiedet, das Recht einer freiwilligen Selbstversicherung der Freiberufler und Selbstständigen jedoch ersatzlos gestrichen. Diese Lücke wurde erst mit der Satzung des Versorgungswerks der Zahnärztekammer Hamburgs 1964 geschlossen, also fünf Jahre nach Antons Tod. Deshalb brauchte sie früher oder später einen Versorger. Es interessierte sie nicht, dass Joachim dreizehn Jahre jünger war als sie. Entscheidend war, dass er Arbeit hatte und Geld verdiente. Nach einigen Treffen fragte sie ihn, ob er sie seinen Eltern vorstellt.

Er zuckte mit den Schultern und sagte: »Von mir aus.«

»Wann?«

»Nächsten Sonntag zumKaffeetrinken?«

»Gut.«

Sie sah ihn prüfend an. »Und dir ist doch auch klar, dass ich irgendwann heiraten und ein Kind haben will?«

»Ja, sicher.«

Joachim wohnte mit seinen Eltern und seiner sechzehn-jährigen Schwester Marianne in einer Zweizimmerwohnung in Hamburg-Alsterdorf. Er schlief im Wohnzimmerauf dem Sofa, Marianne bei ihren Eltern im Schlafzimmer.

»Warum hast du eigentlich keine eigene Wohnung?«, hatte Inge ihn gefragt.

»Warum sollte ich? Ich bin die meiste Zeit zur See gefahren.«

Inge stand am Sonntag nervös an der Haustür und läutete. Kurz darauf öffnete Marianne die Tür. Sie war etwas größer als Inge, hatte schulterlange kastanienbraune Haare und strahlend blaue Augen. Was für eine Schönheit, dachte Inge.

»Kommen Sie doch herein«, sagte das Mädchen lächelnd.

Joachim kam ebenfalls zur Tür geeilt. Er half ihr aus dem Mantel und hängte ihn im Flur an die Garderobe. »Komm mit«, sagte er. »Ich stell dich meinem Vatervor.«

Sie folgte ihm in die Gute Stube, wie das Wohnzimmer genannt wurde. Seine Schwester verschwand in die Küche, um ihrer Mutter zu helfen. Der Kaffeetisch war bereits gedeckt. Joachims Vater saß in einemOhrensessel und nickte ihr freundlich zu. Er war Mitte fünfzig und hatte kurz geschnittene, glatt zurückgekämmte graue Haare, die er mit viel Haarwasser verklebt hatte, sodass sie einen leichten Grünschimmer hatten. Er reichte ihr zur Begrüßung die Hand.

»Lassen Sie sich von meinen zittrigen Händen nicht abschrecken«, erklärte er mit einem Augenzwinkern. »Ich bin Elektriker und habe wohl zu viele Stromschläge abbekommen. Angenehm, Karl Müller mein Name.«

»Inge Brandt. Auch sehr angenehm«, antwortete sie lächelnd.

»Können Sie bitte an die Seite gehen?«, hörte sie eine Frauenstimme hinter sich. Joachims Mutter huschte mit einem Kuchenan ihr vorbei und stellte ihn auf den Wohnzimmertisch. Dann rieb sie sich die Hände an ihrer Schürze ab.

»Mathilde Müller«, sagte sie kurz und betrachtete sie mit einem prüfenden Blick. Sie war Ende vierzig und eine attraktive Frau mit gelockten braunen Haaren.

»Setzen Sie sich doch«, hörte Inge Marianne sagen, die ebenfalls aus der Küche kam. Sie hielt eine Kaffeekanne in den Händen und strahlte sie an. Inge setzte sich neben Joachim auf die Couch. Marianne goss ihnen Kaffee ein, verteilte den Kuchen und verschwand wieder in die Küche.

»Sie sind also Inge Brandt«, sagte Karl. »Die Frau des Zahnarztes Anton Brandt?«

»Ja, mein Mann ist vor etwas über einem Jahr gestorben. Er starb an Kehlkopfkrebs.«

»Ich hörte davon«, erwiderte er. »Das tut mir leid.«

Dann schwiegen sie.

»Der Kuchen schmeckt sehr gut«, unterbrach Inge die Stille. Tatsächlich schmeckte er ihr nicht. Als Tochter eines Bäckers und Konditors war sie Besseres gewohnt.

»Möchten Sie noch ein Stück?«, fragte Mathilde.

»Nein, danke«, erwiderte sie schnell, bevor ein weiteres Stück auf ihrem Teller landete. Wieder schwiegen sie.

»Sie sind Elektriker?«, fragte sie schließlich.

»Ja, in einemKaufhaus in der Stadt. Ich kontrolliere die Schaltkästen.«

»Wir wollen heiraten!«, platzte es plötzlich aus Joachim heraus. Alle Augenpaare richteten sich auf ihn.

Der legt aber ein Tempo vor, dachte Inge. Er hätte mich ja mal fragen können.

Joachim zündete sich eine Zigarette an und lehnte sich zurück, ohne jemanden anzusehen. Mathilde stand auf, räumte den restlichen Kuchen ab und brachte ihn in die Küche. Inge sah ihr hinterher und dann von Joachim zu seinem Vater.

»Soso«, bemerkte Karl und nickte kurz.

Es folgte eine merkwürdige Stille. Alle hatten die Blicke auf den eigenen Teller oder die Kaffeetasse gerichtet und vermieden es, den anderen in die Augen zu sehen.

»Ich muss jetzt gehen.« Inge erhob sich. »Vielen Dank für den Kuchen.«

Joachim stand ebenfalls auf und half ihr in den Mantel. »Ich bringe dich nach Hause.«

Inge verabschiedete sich von den Gastgebern und eilte die Treppe hinunter, sodass Joachim ihr kaum folgen konnte.

»Sag mal, spinnst du?«, herrschte sie ihn an, als sie das Haus verlassen hatten.

»Wieso?«

»Du hättest mich doch wenigstens mal fragen können. Wie stehe ich denn jetzt da? Hast du gesehen, wie mich deine Mutter angestarrt hat?«

»Ja, und?« Er sah sie unschuldig an, wie ein kleiner Junge.

»Du willst doch heiraten, oder?«

»Ja, schon, aber ...«

»Na also.« Er grinste sie schelmisch an. »Dann ist doch alles in Ordnung. Ich weiß gar nicht, was du willst.«

Joachim lud Inge häufiger zu sich ein. Während Karl ihr gegenüber freundlich und höflich war, verhielt sichMat-hilde reserviert. Sie mochte die Zahnarztfrau, wie sie sie nannte, vom ersten Tag an nicht.

»Was willst du mit ihr?«, fragte sie Joachim eines Tages. »Sie ist eine alte Frau, keine zehn Jahre jünger als ich. Und was weißt du überhaupt über sie?«

»Ich weiß, dass sie verwitwet und gut für mich ist.«

»Gut für dich? Ich habe schon vor Jahren von ihr gehört. Die Frau des Zahnarztes, die sich betrinkt und auf Feiern auf den Tischen tanzt. Auch als ihr Mann schwerkrank war, ist sie feiern gegangen. Sie ist herrschsüchtig und launisch. Hörst du nicht, was die Leute über sie erzählen? Sie hat dich doch jetzt schon im Griff. Du tust, was sie sagt, und du merkst es noch nicht einmal. Du kannst doch was Besseres finden als sie.«

»Ich will gar nichts Besseres. Sie reicht mir vollkommen. Außerdem ist das alles schon lange her.«

»Na, dass sie nach dem Tod ihres Mannes nicht auch noch feiern gegangen ist, ist ja wohl das Mindeste, was man an Anstand erwarten kann.«

Joachim hatte von den Eskapaden der Zahnarztfrau gehört, aber er redete sich ein, dass es ihm egal war. Tatsächlich aber hatte er Angst vor ihr. Ihre Stimmung wechselte von einer Sekunde auf die andere. Wenn sie ihre Wutausbrüche bekam, schrie und wie von Sinnen tobte, zog er den Kopf ein. Auf ihr Drängen bezogen sie bald eine Zweizimmerwohnung. Im August1962 heirateten sie.

II. Die Zeit des Vergessens (1963 bis 1965) 1963 bis 1964

Joachim ging arbeiten und Inge führte den Haushalt. Sie kochte, putzte die Wohnung, wusch die Wäsche. Das Restaurant, in dem Joachim in zwei Schichten als Kellner arbeitete, war direkt am HamburgerHauptbahnhof und hatte morgens ab zehn Uhr bis spät in die Nacht geöffnet. Sie stand mit ihm auf und richtete das Frühstück. Wenn er nach Hause kam, stand das Essen pünktlich auf dem Tisch. Das Wäschewaschen war schwerste körperliche Arbeit. Die Waschküche befand sich im obersten Stockwerk des Wohnhauses. Der große Waschkessel wurde mit Holz befeuert und eimerweise mit Wasser aufgefüllt. Sobald das Wasser warm oder heiß genug war, warf sie die Wäsche hinein und rührte das Waschwasser mit einem großen Holzlöffel um wie in einem überdimensionalen Suppentopf. Bettwäsche und Handtücher wurden anschließend gemangelt. Die Mangel bestand aus zwei eng aneinander liegenden Rollen, durch die die Wäsche mit einer Kurbel hindurchgedreht, sodass das überschüssige Wasser hinausgepresst wurde. Das Hantieren mit der nassen Wäsche und das Mangeln erforderten sehr viel Kraft, sodass sie oft nach der Arbeit erschöpft auf die Couch fiel.

Wenn jedoch kein Waschtag war und es nichts zu Putzen gab, wenn das Essen gekocht und Joachim aus dem Haus war, gab es oftmals nichts für sie zu tun. Anfangs legte sie sich aufs Sofa und döste vor sich hin, aber irgendwann wurde ihr die Zeit zu lang.

Joachim hatte kaum Interesse an gemeinsamen Unternehmungen und gab ihr darüber hinaus nicht das Gefühl, dasser sie als Frau begehrte. Ihr Wunsch nach einem Kind,der ihr schon in ihrer ersten Ehe versagt geblieben war, erfüllte sich somit auch in dieser Ehe nicht. Sie fühlte sich immer weniger als Frau wertgeschätzt.

Sie fuhr regelmäßig zum Friedhof und pflegte Antons Grab. Oft stand sie nur da und sprach mit ihm. Sie wurde schwermütig und es fiel ihr schwer, ihren Aufgaben als gute Hausfrau gerecht zu werden.

Eines Sonntags, sie gingen im Stadtpark spazieren, kam ein junger Hund schwanzwedelnd auf Inge zugelaufen, warf sich vor ihr auf den Rücken, sprang fiepend wieder auf und an ihren Beinen hoch.

»Na, was bist du denn für einer?« Sie streichelte das aufgeregte Tier hinter den Ohren.

»Das will mal ein Schäferhund werden«, antwortete ein älterer Herr lächelnd. »Entschuldigen Sie, dass er Sie belästigt hat, aber er will von jedem gestreichelt werden.«

»Ach, das macht doch nichts«, erwiderte sie. »Wie alt ist er denn?«

»Vier Monate. Er ist noch einWelpe.«

Schweigend spazierten sie weiter. »Ich will auch einen Hund«, sagte sie nach einer Weile und blieb stehen.

Joachim sah sie fragend an. »Was willst du mit einem Hund?«

»Ich kann mit ihm spazieren gehen, wenn du arbeitest, und ich bin nicht die ganze Zeit alleine.«

Er zögerte einen Moment, zuckte dann aber mit den Achseln. »Gut. Wenn du willst, holen wir uns einen Hund.«

Einige Tage später suchte sie sich in einem Tierheim einen schwarzen Langhaardackel mit NamenMoritz aus, der eingeschläfert werden sollte, weil zu viele Tiere zu versorgen waren. Inge vergötterte das Tier, streichelte ihn bei jeder Gelegenheit, hob ihn zu sich auf den Schoß, drückte ihn an sich und küsste ihn. Wenn es dem Hundzu viel wurde und er von ihrem Schoß springen wollte, hielt sie ihn fest. Anfangs knurrte er und zeigte ihr die Zähne, doch dann hob sie ihn am Nacken hoch und sah ihn streng an. »Darf Hundi Frauchen anknurren?« Widerwillig ließ er ihre Liebkosun-gen über sich ergehen, verkroch sich aber sofort unter der Eckbank, sobald sie genug von ihm hatte.

***

Michael war inzwischen seit vier Jahren im Kinderheim. Er erinnerte sich nicht an seine Herkunft und er wusste nicht, dass er Eltern hatte. Er war aggressiv, suchte Streit und ging keiner Schlägerei aus dem Weg.Zumeist genügte es, wenn er sich vor den anderen Kindern aufbaute, selbst wenn sie älter und größer waren als er.

»Schon wieder dieser Bastard«, stöhnte Hannelore Schmidt, wenn ihn eine Betreuerin zu ihr zerrte, weil er einen anderen Jungen verprügelt hatte. »Warum tust du das?«, fragte sie ihn und gab ihm eine schallende Ohrfeige. »Lass dir das eine Lehre sein.« Er sah sie trotzig und wütend an, sagte aber nichts. »Du bist so böse«, schimpfte sie. »Für dich finden wir nie eine Familie.«

Michael verstand nicht, was sie damit meinte, aber es fühlte sich schlecht an, und das machte ihn noch aggressiver.

Es war kurz vor Weihnachten und die Frauen backten mit den Kindern Plätzchen. Michael hatte einen Streit angezettelt und musste zur Strafe draußen bleiben. Die Küche befand sich im Keller des Heims. Vom Hofaus schaute er durch ein Kellerfenster in die Küche und hielt sich an den Gitterstäben fest. Die Betreuerinnen rollten Teig auf einem Tisch aus und zeigten den Kindern, wie sie Sterne, Tannenbäume oder Halbmonde ausstechen konnten. Manchmal sah eine Frau zu ihm hoch. Krampfhaft umschloss er mit seinen Händchen die Gitterstäbe. Er empfand es nicht als Strafe für das, was er getan hatte. Er fühlte sich ausgeschlossen, einsam. Und zu seiner Wut gesellte sich Traurigkeit.

Einerseits verzweifelte Hannelore Schmidt an dem Jungen, aber andererseits sah sie nicht nur das unzähmbare Kind in ihm. Sie stellte etwas an ihm fest, das sie faszinierte. Er verprügelte die Kinder nicht nur. Er beschützte sie auch. Nie schlug er ein Mädchen oder kleinere und schwächere Kinder. Die Heimleiterin bewunderte diesen vierjährigen Jungen auf ihre Art. Obwohl er in ihren Augen der Sohn einer Hure und nur ein Bastard war, mochte sie ihn. Doch sie zeigte es ihm nie.

Es war ein kalter Dezembertag und die Kinder im Altervon zwei bis vier Jahren wurden auf dem Hofdes Heims versammelt. Sie waren in dicke Jacken eingepackt, hatten einen Schal umgebunden und trugen Pudelmützen.

»Stellt euch auf und nehmt euch an die Hand«, rief eine Betreuerin.

Die Kinder stellten sich gehorsam in einer Zweierreihe nebeneinander auf. Michael nahm die Hand von Rebecca, einem dreijährigen Mädchenmit langen Zöpfen. Die Frauen gingen an der Gruppe vorbei und prüften, ob sich alle ordnungsgemäß aufgestellt hatten. Schließlich setzte sich die Gruppe in Bewegung. Schon bald bogen sie in einenWald-weg. Der Boden war mal matschig und mal vereist. Die Betreuerinnen gingen neben der Gruppe her und achteten darauf, dass sich alle Kinder an der Hand hielten. Wenn eines etwas sagte oder lachte, wurde es zurechtgewiesen. Nach einer Weile gelangten sie über eine Wiese an einen Zaun.

»Stellt euch dort auf«, rief eine Betreuerin. »Dann könnt ihr gucken.«

Michael ließ Rebeccas Hand los und stellte sich an den Zaun. Auf der anderen Seite war zunächst ein Graben vor einer großen Straße, dahinter eine riesige Wiese. Nach einer Weile hörte er erst ein Grummeln, dem ein lauter werdendes Donnern folgte.

»Da kommt es«, rief eine Frau und deutete in die Luft.

Er sah ihrer Hand hinterher. Und dann bemerkte er am Himmel ein stetig tiefer sinkendes Flugzeug. Es landete und raste auf demRollfeld hinter der Wiese, wurde langsamer, fuhr eine Kurve und mit ohrenbetäubendem Getösean den Kindern vorbei, sodass sie sich die Ohren zuhalten mussten. Es wurde leiser, als es sich entfernte und weiter auf seinen Bestimmungsort zurollte, bis die Kinder es nicht mehr sehen konnten. Diese Bilder sollte Michael nie mehr vergessen.

***

Moritz brachte anfangs etwas Abwechslung in Inges Alltag, aber das war nicht von Dauer. Ihre Wutausbrüche häuften sich und kamen für Joachim wie aus heiterem Himmel. Sie beschimpfte ihn, dass er kein Mann sei, der ihr nicht einmal ein Kind zeugen könne und nannte ihn einen Waschlappen. Anton dagegen habe sie begehrt und glücklich gemacht. Joachim ließ die Beschimpfungen und Demütigungen über sich ergehen. Manchmal sagte er fast wie gelangweilt: »Ich nehme dich doch gar nicht für voll«, zündete sich eine Zigarette an und sah an ihr vorbei. Das machte sie noch wütender. Sie schrie und tobte, dass es das ganze Haus hörte. An Antons Grab weinte sie bittere Tränen. »Warum hast du mich verlassen? Warum hast du mir nicht wenigstens ein Kind geschenkt, damit ein Teil von dir weiterleben kann?«

Als Joachim eines Abends von der Arbeit nach Hause kam, stand das Essen, wie er es gewohnt war, auf dem Tisch. Nach jeder Schicht zählte er sein Wechselgeld.Das Trinkgeld durfte er behalten. Wenn es jedoch zu wenig war, musste er es aus eigener Tasche auffüllen. Das war ihm allerdings noch nie passiert.

Inge füllte seinen Teller auf und setzte sich zu ihm. Während er den Blick stur auf seinen Teller gerichtet hatte, musterte sie ihn von der Seite mit zuckendemMundwinkel.