Die Gefangene von Rennes-Le-Château - Catherine De Chenonceau - E-Book

Die Gefangene von Rennes-Le-Château E-Book

Catherine de Chenonceau

4,9

Beschreibung

Im Frühling 1733 trifft Catherine mit ihren Kindern Ozérine und Valéon in Marseille ein. Kaum betreten die drei Neuland, kreuzt ihr ärgster Widersacher wieder ihren Weg - Kapitän D'Hermitte. Er, der Catherines Ehemann Olivier vor Jahren an den Galgen gebracht und die junge Familie ins Elend gestürzt hat, spielt nach wie vor sein falsches Spiel, manipuliert seine Mitmenschen und bringt erneut Unglück und Verderben über Catherine, Ozérine und Valéon. Bis sich die junge, von Rachegefühlen getriebene Witwe zurück ins Leben kämpft, sich eine unerwartete neue Identität zulegt und mit der Hilfe eines Fremden einen waghalsigen Plan ausheckt. Diese auf wahren Begebenheiten beruhende Geschichte gibt einen guten Einblick ins Leben in Südfrankreich um 1733: In die Architektur, die Landschaft, die gesellschaftlichen Strukturen und Zwänge - sowie vor allem ins schwere Leben einer allein erziehenden Mutter. Es ist kaum nachvollziehbar, wie viel Unglück und Leid Catherine immer wieder erdulden muss und dabei trotzdem nicht den Lebenswillen verliert. Unlösbare Aufgaben bringen die Protagonistin an den Rand der Verzweiflung. Unerwartete Wendungen und auf den ersten Blick unlogische Konstellationen gleichermassen die Leserin und den Leser. Wer es schafft, diesen Roman während einer noch so kurzen Ewigkeit auf die Seite zu legen, dem kann nicht geholfen werden.

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Für Anthony, Lara, Leila, Mauro und Nicole

Inhaltsverzeichnis

Prolog: 7. Juli 1730, späterer Nachmittag

April 1733: Mittelmeer südlich von Marseille

Juli 1733: Rennes-Le-Château

September 1733: Carcassonne

Antoine-Alexandre d' Amboise (1703 – 1775)

Nachwort: Der Schatz von Rennes-Le-Château

Prolog – 7. Juli 1730, späterer Nachmittag

"Sonne dich in der Sonne und nicht in gestern Erreichtem, hat er oft gesagt. Lebe heute und jetzt – behalte im Hinterkopf, dass die Zukunft nicht in der Vergangenheit liegt. Damit du nicht erst den Sinn des Lebens hinterfragst, wenn die Luft dünner wird und du keinen Sand mehr zwischen den Zehen spürst."

Ich halte im Schreiben inne – Stimmen werden laut. Bekannte Gesichter tummeln sich vor der Kirche St-Pauls. Ben, der ehemalige Schiffsjunge, ist vorbeigehumpelt. Kapitän d'Hermitte stolziert wie ein Pfau. Viele Brüder der Küste, alle heute Bürger von Bourbon, wollen mich glücklicherweise nicht mehr erkennen.

Dann ist es soweit – ein Soldat öffnet die Pforte. Ich erhebe mich, die Wolken reissen auf und ich sehe ihn wieder, die Sonnenstrahlen im Gesicht, sehe meinen Engel, meinen geliebten Engel, und ich weiss, er wird auf ewig bei mir bleiben.

Wahre Liebe währt über den Tod hinaus. Das Schicksal hat uns vereint, hat uns zusammengeführt und kann uns, obwohl es uns jetzt zwei verschiedene Wege einschlagen lässt, nie mehr trennen. Denn wahre Liebe ist schlimmer als Malaria, schlimmer als die Grippe, schlimmer als die Pocken und schlimmer als die Pest – wahre Liebe ist unheilbar.

Ich blättere im Logbuch. "Sonne dich in der Sonne und nicht in gestern Erreichtem, hat er oft gesagt", lese ich den bereits geschriebenen Text nochmals still durch. "Lebe heute und jetzt..."

Ich realisiere kaum, wie schnell sich die Seiten des Logbuches mit Worten füllen, wie ich Gedanken und Erinnerungen auf Papier bringe und das sich vor meinen Augen abspielende Trauerspiel in Sätzen festhalte. Ich weiss nur, dass ich den Stift erst zur Seite legen darf, wenn ich wieder hier angelangt bin, hier, genau an dieser Stelle, und den letzten Satz mit einem fetten Punkt beendet habe. Olivier, ich liebe dich – Punkt.1

1 Siehe den Roman „Die Gefangene von Ste-Marie“, 1. Teil der Gefangenen-Trilogie, ISBN 978-3-8391-6589-8.

April 1733 - Mittelmeer südlich von Marseille

-1 -

"Tausend Tage", stammelte Catherine, "und Tausend... Nächte..."

"Mama", flüsterte Ozérine, "ich habe Angst."

"Alles... alles wird gut, mein Kind."

Dick prasselten die Tropfen hernieder. Die Wolken klebten am Himmel – wie ein nasser Vorhang vor dem Fenster. Kein Sonnenstrahl passierte, Wasser spritzte und die Wellen brachen. Das Schiff schleuderte empor und schoss wieder zurück ins Tal, die Balken knarrten, die Masten stöhnten, die Segel flatterten, der Baum knallte hin und her – damals an diesem grauen Morgen im April 1733. Fast 1000 Tage, nachdem er für immer von ihr gegangen war.

"Aber ich habe Angst."

"Brauchst du nicht, mein Kleines...", sagte die Mutter, "wir sind... bald sind wir da..."

"Mir ist schlecht", wimmerte Valéon. "Ganz fest schlecht."

"Und ich habe Angst und Durst, Mama", stöhnte Ozérine.

"Wir sind bald da... Noch etwas..." Catherine keuchte. "Noch etwas Geduld, meine Kleinen."

"Wann gibt es etwas zu essen?", fragte die Achtjährige. "Wann?"

"Nicht essen! Mir ist ganz schlecht." Der Sechsjährige war bleich. Er krauste seine schwarzen Locken. "Mir ist ganz übel."

"Aber ich habe Hunger", stöhnte Ozérine. "Mama, Hunger!"

"Alles dreht sich, Mama", keuchte Valéon. "Alles..."

"Hunger!"

"Geduld, meine Kleinen", seufzte Catherine und stampfte mit dem Fuss auf den Holzboden. Jede Mutter konnte nachvollziehen, wie sich Catherine fühlen musste. Dabei war sie die einzige Frau an Bord. "Gebt mir bitte etwas Luft – bitte!"

"Hunger!" Ozérine zog ihre Mutter am Hemdsärmel. "Mama, ich habe Hunger!"

Catherine rührte sich nicht. Gebannt starrte sie auf ihren Sohn Valéon. Dieser öffnete leicht die Lippen. Seine Augen glänzten. Ganz langsam beugte er den Kopf vor.

"Valéon, nicht!", schrie die Mutter. "Nicht hier!"

"Es geht... nicht... mehr", röchelte er. "Mir ist... schlecht... so..."

Er stöhnte, würgte, hustete und riss den Mund endlich ganz weit auf. Gerade noch rechtzeitig schob ihm seine Mutter die Schüssel vor das Gesicht. Ozérine rümpfte die Nase.

"Ist schon gut, mein Kleiner", murmelte Catherine und strich Valéon durch die Locken. Sie spürte die feuchten Fäden zwischen ihren Fingern. "Ist schon gut, lass nur los..."

"Mir ist heiss...", stöhnte Valéon, riss die Lippen erneut weit auf und würgte.

"Iiiih!", schrie Ozérine. "Es stinkt. Valéon stinkt!"

Dieser keuchte wie ein Erstickender. Er schaute seine Schwester an, mit gläsernem, starrem Blick, aber er rührte sich nicht.

"Ist gut, mein Kleiner. Wir sind bald da."

"Bald? Ich..."

Er öffnete erneut seine Lippen.

"Wie lange ist 'bald', Mama?", fragte Ozérine. "Wie viel Mal schlafen?" "Bitte sei still, Ozérine. Nicht jetzt."

"Wie viel Mal schlafen, Mama?"

Catherine seufzte und starrte zur Decke. Wie nur sollte sie, alleine auf sich gestellt, mit ihren beiden Bälgern im fremden Frankreich überleben? Fand sie wirklich die herbeigesehnte Geborgenheit für sich und ihre Kinder – nach all den Jahren auf der Flucht? Sie stand auf, stellte die Schüssel zur Seite, reichte Valéon ein verdrecktes Handtuch, wandte sich ab und stemmte ihre Handflächen gegen einen Balken.

"Bitte steh mir bei", murmelte sie. "Bitte!"

"Was ist, Mama?", fragte Valéon. Er zitterte am ganzen Körper. "Was hast du?"

"Nichts, mein Sohn. Nichts."

"Mit wem sprichst du, Mama?"

"Mit Gott, du Narr", schnauzte Ozérine und tippte sich mit dem Zeigefinger gegen die Schläfe. "Nicht wahr, Mama?"

"Ozérine, nicht!", herrschte die Mutter. "Du weisst, das mag ich nicht."

"Sie ist immer fies zu mir, Mama. Immer..."

"Stimmt nicht, du Narr. Ich hab nichts gemacht. Valéon hat mich auch geärgert. Wie immer."

"Kein Wort mehr!", schrie Catherine. Sie rang nach Luft. Eine erste Träne kitzelte auf ihrer Haut. Sie fühlte sich klein und zerbrechlich. Dabei sollte sie gross und kräftig sein. Mit dem Handrücken strich sie sich über das Gesicht und seufzte. "Meine Kinder, ich will jetzt meine Ruhe. Verstanden?"

"Aber..."

"Kein Aber. Einfach nur Ruhe. Wir sind bald in Marseille. Dann wird alles gut. Hier und jetzt will ich keinen weiteren Ton mehr hören."

Die beiden Kinder schwiegen. Catherine holte tief Luft und wischte sich mit dem Hemdsärmel über das Gesicht. Sie fühlte sich so elend wie seit fast 1000 Tagen nicht mehr. Dabei konnte sie sich zu diesem Zeitpunkt nicht einmal im Entferntesten vorstellen, was die Zukunft noch alles für sie bereithielt. Vielleicht hätte sie sonst den Kapitän der Vierge de l'Orient zur Um- und Rückkehr in den Indischen Ozean gezwungen.

Doch sie tat es nicht. Und so steuerte das Schiff zielsicher weiter in die Zukunft. In Catherines Zukunft. In was für eine Zukunft!

- 2 -

"Voilà l'ile du Frioul!", rief der Matrose vom Mast. "Et j'vois d'jà l'Château d'If2!"3

Catherine zögerte keine Sekunde. Ihre langen Beine flogen die Stufen nach oben. Der Wind zerrte an ihren dunklen Haaren. Die Sonne blendete. Die junge Frau kniff ihre Augen zusammen. Ein erlösendes Lächeln spielte mit ihren Mundwinkeln.

"Ozérine! Valéon!", schrie sie. "Wir sind da!"

Die beiden Kleinen folgten ihrer Mutter an Deck. Ozérine jauchzte. Valéon strahlte. Seine Hautfarbe hatte nichts mehr von einem Käse.

"Seht nur die beiden Inseln", frohlockte die Mutter. "Endlich scheint auch für uns wieder die Sonne. Ich bin einfach nur glücklich."

"Wo sind die Palmen?", fragte Ozérine. "Wo der Sandstrand?"

"Palmen?" Catherine krauste die Stirn. "Wir sind in Europa, in Frankreich."

"Aber ich will Palmen!" Die Achtjährige stampfte auf die Planken. "Und einen weissen Sandstrand wie in Ste-Marie."

"Und ich will an Land", schnauzte ihr zwei Jahre jüngerer Bruder. "Ich mag dieses doofe Schiff nicht mehr sehen."

"Wenn das dein Vater hören würde", murmelte Catherine. "Kommt Kinder, nach vorn. Seht ihr die Festung? Das ist das berühmte Château d'If."

"Wer war dein Vater?", brummte einer der Matrosen. "Ging er auch zur See?"

"Er war Pirat", sagte Valéon. "Ein ganz berühmter Kapitän."

"Er hatte jedes Jahr ein neues Schiff", ergänzte Ozérine. "Jeder Pirat wollte mit ihm segeln."

"So, so", schmunzelte der Matrose, während er das Tau einholte. "Die Fantasie der Kinder ist die Saat unserer Zukunft, einfach himmlisch."

Catherine nickte: "Stimmt."

"Wenn ich Château d'If seh, dann weiss ich, dass ich angekommen bin. Das Gefühl tiefer Zufriedenheit und Wärme erfassen mich."

"Tragisch", seufzte Catherine, "all die armen Kerle, die hier Tag für Tag dahinvegetieren und nur auf ihren Tod warten."

"So mancher hat es nicht anders verdient, Miss. Denken Sie etwa an Kapitän Jean-Baptiste Chataud4. Dieser elende Kerl hat die Gesundheitsbehörden von Marseille getäuscht und absichtlich die Pest nach Frankreich gebracht. Solche Leute verdienen es, in Château d'If zu hausen."

"Haben Sie den Kapitän gekannt?"

"Zum Glück nicht." Er schüttelte den Kopf. "Sie?"

"Auch nicht", antwortete Catherine. "Deshalb ist es auch nicht an mir, über ihn zu urteilen."

"Hauptsache, er wurde verurteilt."

"Vermutlich." Sie nickte. "Und bestimmt von einem Richter, der sich ein Leben lang an Gesetz und Ordnung gehalten hat."

"Alle wissen es, dass er es nicht anders verdient hat."

"So, wissen sie es?" Catherine wandte sich ab, legte ihre Hände auf Valéons und Ozérines Schopf und herzte ihre Kinder an ihre Brust. "Ihr könnt nie jemanden überholen, wenn ihr in seinen Fussstapfen geht. Bitte versprecht mir, dass ihr nur urteilt, wenn ihr alle Meinungen und Tatsachen kennt."

Die beiden Knirpse schauten gleichzeitig auf.

"So wie Papa?", fragte die Kleine.

"Genau, so wie Papa."

"Machen wir, Mama." Ozérine kniff das eine Auge zu. "Du kannst dich auf uns verlassen."

"Blöde Kuh", brummte der Matrose. "Ewige Besserwisserin."

Catherine ignorierte seine Worte, kniete nieder und griff nach den Händen ihrer Kinder.

"Und noch etwas, meine Kleinen", flüsterte sie. "In Marseille nennt ihr mich nicht mehr Mama, sondern Maman."

"Warum?"

"Weil wir von morgen an die Sprache sprechen, die wir von Papa gelernt haben."

"Aber warum?" Valéon kratzte sich den Nacken. "Verstehen uns dann die Leute noch?"

"Mache dir da mal keine Sorgen." Catherine lachte. "Papa kommt aus Frankreich."

"Aber er ist nicht mehr bei uns."

"Papa ist immer bei uns!", rief Ozérine. "Nicht wahr, Mama?"

"Vergesst nicht, Kinder, wir behalten unsere Geheimsprache."

"Haben wir eine Geheimsprache?", fragte der Junge und schaute auf. "Echt?"

"Valéon, das hat uns Mama schon hundert Mal erklärt. Wir sprechen zwei Sprachen. Wo immer wir sind, wir können immer miteinander in einer Sprache reden, ohne dass uns die anderen Leute verstehen."

"Weiss ich doch." Valéon schmunzelte. "Aber ich finde das mit der Geheimsprache einfach so spannend."

"Gleich sind wir da", sagte Catherine mehr zu sich als zu ihren Kindern. "Wollen wir mal schauen, was uns in Marseille erwartet."

"Wann gehen wir zurück nach Bourbon? Wann nach Ste-Marie?"

Catherine kannte die Antwort auf Ozérines Fragen. Sie hatte jedoch keine Lust, weiter über ihre unsichere Zukunft zu mutmassen. Also schwieg sie und zuckte nur mit den Schultern. Für dieses Mal gab sich Ozérine damit zufrieden.

- 3 -

Antoine-Alexandre d'Amboise war der Inbegriff eines verwöhnten Paschas. Nicht nur hatte der Spross der angesehenen Adelsfamilie einen Ego, der jeden Freund in die Flucht jagte. Nein, er war auch unberechenbar, rücksichtslos, selbstverliebt und ausnahmslos auf den eigenen Vorteil bedacht. Mit diesen wenigen Worten war alles Positive über diesen Taugenichts gesagt.

"Jean!", schrie er und hob sein Glas. "Mehr!"

Ein altes Männlein klapperte auf krummen Beinen daher. Es erinnerte an Rumpelstilzchen. Die weissen Fäden hatte es zum Pony zusammengebunden. In der Hand hielt es eine Karaffe.

"Jean, jetzt macht mal", befahl der Adelsspross. Das Männlein zitterte, verschüttete aber keinen Tropfen der roten Pracht. "Na also, geht ja."

"Jede Minute, die Ihr Euch ärgert, versäumt Ihr glückliche 60 Sekunden."

"Ihr und Eure schlauen Sprüche." Antoine-Alexandre rülpste. "Ist der auch von Da Vinci?"

"Der ist von mir."

"Was soll's. Verzieht Euch und lass mich in Ruhe. Ich muss arbeiten."

"Wie Euch belieben, mein Herr", murmelte Jean, machte den Bückling und zog sich rückwärtsgehend zurück.

Sprach Antoine-Alexandre d'Amboise vom Arbeiten, so meinte er die Zeit zwischen der Morgentoilette und dem Abendbrot. Am liebsten jagte er, ritt aus oder focht mit den Knappen – wobei sich diese jede Niederlage im wahrsten Sinne des Wortes vergolden liessen.

Fehlte dem Edelmann die Musse nach Bewegung, so frass und soff er bis zum Umfallen, streckte die Beine und schnarchte wie eine ungeölte Säge. Und nach dem Abendbrot erholte er sich von den Entbehrungen des Lebens. Die wirkliche Arbeit aber überliess er seinen Mitmenschen.

Obwohl der Enkel von Charles-Jules d'Amboise5 dem Leben im Luxus frönte, war er gut gebaut. Seine Haarfransen verdeckten die dunklen Augen und mit seinem Lächeln weckte er Vertrauen. Im Sommer stolzierte er solange mit seiner muskelbepackten Brust in der Öffentlichkeit herum, bis er genügend empörte Alt-Weiber- und noch mehr eifersüchtige Ex-Jung-Männer-Blicke geerntet hatte. Einzig ein paar verruchte, von der Gesellschaft längst vergessene, vom Adeligen aber immer mal wieder geschätzte Damen zweifelhafter Herkunft, suchten seine Nähe. Er liebte solche Momente, provozierte seine Mitmenschen und lotete die Grenzen der Gesellschaft aus. Dabei steckte sein Degen locker in der Scheide und niemand wagte es, ihm die Meinung zu sagen. Niemand übte Kritik.

"Grab den Brunnen, bevor du Durst hast", murmelte der Adelige und setzte das Glas an. "Ihr, Jean, möget von mir aus verdursten."

Antoine-Alexandre d'Amboise liebte es, den Alten zu provozieren. Die Sonne beleuchtete sein braungebranntes Gesicht. Er schloss die Augen. Der Dreitagebart liess ihn männlich wirken. Seine weissen Zähne glänzten, als er in Richtung Schloss grinste.

"Ihr könnt mich alle!", schrie der Adelige. "Alle!" Niemand antwortete. Weshalb auch? Da war niemand. "Hey, Jean, daher!" Er schnalzte mit der Zunge. "Mehr von dem Teufelszeugs!"

Nicht zum letzten Mal an diesem Tag klapperte der Alte an der riesigen Rotbuche vorbei zum Pavillon auf der Terrasse. Er verrichtete seine Arbeit, damit sein Herr sich seinem Verständnis von Arbeit widmen konnte. Genau gleich wie am Tag zuvor. Genau gleich wie am Tag danach. Doch nicht so, wie eine Woche später.

Eine Woche später war alles anders.

- 4 -

Die Ankunft eines Schiffes im Hafen von Marseille war immer ein Ereignis. Dicht gedrängt standen die Schaulustigen auf der Aussichtsplattform des Forts Saint-Jean6 und starrten in die Richtung des von der nachmittäglichen Sonne beleuchteten Zweimasters. Mit gehissten Marssegeln, grossem Focksegel und dem im ablandigen Wind flatternden Briggsegel umschiffte die Vierge de l'Orient die Insel Pomègue. Steuerbord thronte das Château d'If auf dem einsamen Kalksteinfelsen. Die Festung war von quadratischem Grundriss. Drei zylindrische Türme flankierten die mächtigen Mauern. Der Turm Saint-Christophe im Nordwesten war der höchste. Von ihm aus überwachten die Soldaten das weite Meer – und alle Gefangenen, die in der dunklen Zitadelle dahinvegetierten.

Der erste Offizier erwiderte jede Messung des Lotsen. Er war sich der Bedeutung seiner Aufgabe bewusst und streckte das Kinn weit in die Luft hinaus. Das Vorstag am Bugspriet war gelöst und schwenkte bei jeder Welle hin und her. Das Sicherheitsnetz wirkte wie zum Fischfang ausgelegt.

"Los!", rief der Kapitän. "Alle auf die Posten!"

Jeder Matrose wusste genau, wohin er gehörte. Zwei eilten zu den Schoten, zwei andere zu den Brassen, und die restlichen zu den Hisstauen, den Klüverseilen und den Geitauen. Kaum hatte das Schiff am Fort Saint- Jean vorbei die Hafeneinfahrt passiert, ertönte der nächste Befehl.

"Los, Segel reffen! Alle einziehen und reffen! Los, los, los!"

Wie von Geisterhand fielen die Segel gleichzeitig. Das Schiff verlor an Fahrt und bewegte sich nur noch mit dem restlichen Schwung vorwärts. Endlich stand es ganz still.

"Anker werfen!", brüllte der Kapitän. Klirrend rollte sich die Kette ab. Der Anker platschte ins Wasser. "Flagge auf! Kreuzt die Rahen! Wird's bald?!"

"Maman, wohnen alle Menschen hier in Steinhäusern?", fragte Ozérine und winkte den Schaulustigen zu. "Sie freuen sich."

"Abwarten", murmelte Catherine, "wie sie uns wegen unserer Hautfarbe behandeln werden."

"Warum auch?", fragte die Achtjährige. "Ein Bad im Meer und der Dreck ist weg."

"Mein Kind, in Frankreich sind alle Menschen bleich wie Papa."

"Na, und?"

"Wir drei haben indisches Blut und eine dunklere Haut."

"Auf jeden Fall freuen sie sich."

Catherine nickte und schaute zum Fort Saint-Jean hoch. Die gewaltige Festung machte den Hafen zu einem der am besten geschützten Orte der Welt. Die Mauer war aus massivem Stein gehauen. Uneinnehmbar reihte sich Block an Block, dominiert vom viereckigen Turm König Renés und dem noch höheren, an einen Obelisk erinnernden Turm Fanal. Das Fort selbst war auf zwei Ebenen errichtet. Über einen geschützten Tunnel konnten die Kanonen von der einen auf die andere Ebene verschoben werden.

"Was habt Ihr, Madame?", fragte eine Stimme. Catherine starrte weiter in die Richtung des horizontlosen Nichts. Der Matrose fragte erneut: "Was bedrückt Euch?"

"Die Ungewissheit."

"Schaut immer zur Sonne. So lässt Ihr alle dunklen Schatten hinter Euch."

"Ein Leben lang musste ich schlaue Sprüche ertragen. Was hat es mir gebracht?"

"Was beklagt Ihr Euch? Die Menschen sehen ihr eigenes Glück nie, einzig jenes ihrer Mitmenschen."

"Und noch eine schlaue Weisheit."

Catherine seufzte, wandte sich ab, stemmte sich mit beiden Armen gegen die Reling und schloss ihre Augen. Der Luftzug streichelte über ihr Gesicht. Die Möwen schrien. Alles wirkte friedlich. Einzig der erste Offizier herrschte den Schiffsjungen an.

Zwei Matrosen hievten die Seemannstruhe ins Beiboot, knallten Catherines Seesack daneben und liessen den Kahn zu Wasser. Der eine Seemann machte mit der Hand eine Bewegung als zeigte er den Weg. Catherine umklammerte Valéons und Ozérines Unterarme.

Kaum sassen die drei in der Nussschale, da stemmten die beiden Matrosen schon die Ruder. Ruckartig schoss das Boot vorwärts, legte sich zur Seite, verharrte kurz und schoss wieder vorwärts – bis zur Hafenpromenade. Der erste Matrose sprang auf die Kaimauer. Er hielt das Tau in der einen Hand und streckte die andere aus.

"Greift zu und springt auf die Steinplatte. Habt keine Angst."

"Zuerst die Kinder."

"Wie Ihr wollt."

Die beiden Matrosen fluchten, als sie auch die Seemannstruhe an Land würgten. Der Seesack dagegen kam fast geflogen.

"Madame", begann der Wort führende Matrose und deutete dem Hafenbecken entlang, kaum dass die ganze Familie festen Boden unter den Füssen hatte. "Alles geradeaus bis zum Quai d'Orléans. Ihr Gasthof ist gleich in der ersten Seitengasse."

"Danke."

"Ich rufe jetzt den Träger."

Catherine nickte. Ihre Kinder sackten nebeneinander auf die Seemannstruhe – ohne sich für einmal um den Platz zu zanken. Ozérine blickte in die Ferne, in die Leere, während Valéon gähnte und den Kopf zwischen seinen Handflächen abstützte.

Catherine hatte sich in den zurückliegenden Tagen oft gefragt, was sie in Marseille erwartete. Hafen und Stadt wirkten abweisender und kühler als in ihrer Fantasie. War dies nur der erste Eindruck?

Die junge Mutter musste nicht lange warten, bis sie eine erste Antwort auf ihre Frage bekam. Nur wenige Minuten später...

- 5 -

Der Junge war vielleicht 17 Jahre alt, sein Gesicht hochrot und übersäht mit Pickeln. Die Schweissperlen glänzten auf seiner Haut und die schwarzen Haare klebten auf seiner Stirn oder standen zu Berg. Er keuchte, schaute nach links, dann nach rechts und wieder nach links – und dann sah er sie. Und er wusste, sie oder keine. Doch war er nicht der Gepäckträger, auf den sie wartete.

Catherine kniete am Boden. Sie trug ihr bestes Kleid. Das kräftige Gelb unterstrich ihren dunklen Teint. Sie sah aus wie eine indische Prinzessin. Sie war eine Indische Prinzessin7.

Valéon hockte auf der Truhe. Der Sechsjährige streckte seine Beine und verschränkte die Arme. Seine fettigen Locken glänzten.

Ozérine schaute zurück zum Zweimaster, den sie verlassen hatten. Ihre Augen erinnerten an einen stillen Gletschersee. Ganz die Mutter, hatte ihr Vater jeweils gesagt. Die Kleine fuhr sich mit den Fingern durch das Haar. Es glänzte seiden. Sie gähnte und tastete mit der Hand hinter sich. Der Seemannssack lag neben ihr auf dem Boden.

"Madame, helfen Sie mir", flüsterte die Stimme neben Catherine. "Hier, nehmen Sie."

"Aber..." Ohne zu überlegen griff Catherine zu und schaute auf. Alles, was sie sah, war Angst – die Angst in den Augen des Jungen, der sie anstarrte. "Aber..."

"Madame, bitte", flehte der Junge. "Das Dokument ist für meinen Herrn. Es ist wichtig."

"Welchen Herrn..."

"Baron François d'Hautpoul8. Ihr findet ihn... in Rennes-Le-Château. Bitte, es geht... um Leben und Tod."

"Aber..."

"Bringt dieses Dokument... zu meinem Herrn. Er wird Euch... fürstlich belohnen... Sprecht zu niemandem... Ein Geheimnis." Er holte tief Luft. "Betet für mich... Bitte... betet!"

Ohne die Antwort von Catherine abzuwarten, rannte er auf dem Quai du Port davon und verschwand in einer Seitengasse.

Catherine hatte ihren offenen Mund noch nicht wieder geschlossen, da klopften Hufe auf die Pflastersteine. Ein Pferd wieherte. Fünf Soldaten preschten im Galopp daher. Staub wirbelte auf. Ozérine und Valéon versteckten sich hinter ihrer Mutter. Diese hustete und hielt sich den weissen Seidenschal vor das Gesicht.

Der Hauptmann der Soldaten trug das zur Mittelscheitel getrennte, schwarze Haar kurz geschnitten. Seine Segelohren lagen frei. Während die grünen Augen gestreng in die Runde blickten, zeugten die Lachfalten von so manchem, in geselliger Runde verbrachtem Abend. Alle Messingknöpfe der Uniform glänzten.

"Wo ist der Junge?", schrie er. "Wer hat den Jungen gesehen?"

Catherine vermochte sich nicht zu rühren. Sie erstarrte hinter ihrem Tuch. Nein, das war unmöglich. Keine Stunde befand sie sich im Mutterland des Vaters ihrer Kinder, und schon begegnete sie diesem Mann. Ausrechnet ihm, der so viel Leid über ihre Familie gebracht hatte. Sie zupfte das Tuch bis über ihre Nasenspitze, senkte den Blick aber keine Sekunde. Zu verblüfft war sie.

Eine alte Frau deutete in die richtige Richtung. Der Offizier hob die Faust in die Luft und knallte seinem Pferd die Fersen in den Bauch, schon preschte die wilde Gesellschaft davon und verschwand um die Ecke.

"Kommt, Kinder, fasst an." Catherine zitterte. "Wir müssen los."

"Aber der Träger? Wir müssen..."

"Keine Diskussion. Wir müssen weg von hier... sofort..."

"Madame?", sagte da eine tiefe Stimme neben ihr. "Diese Kiste?"

Catherine schaute auf und nickte. Der Träger war kräftig gebaut wie ein typischer Matrose. Bestimmt hatte auch er früher auf Schiffen gedient, dachte sie. Die grauen Strähnen liessen sein schütteres Haar noch wilder erscheinen. Seine Backenknochen waren kantig wie Holzplanken. Im gefurchten Gesicht vermischten sich unzählige weisse mit wenigen dunklen Stoppeln. Der Koloss griff zu und hievte die Kiste mit einem Schwung auf seine Schulter.

"Transportiert Ihr Gold", keuchte er, "oder den ganzen Hausrat?"

"Stimmt wohl beides", murmelte Catherine, griff nach dem Seemannssack und nach Valéons Hand. Ozérine trottete neben ihr her. "Beeilt euch, Kinder."

Der Matrose fragte etwas. Doch Catherine hörte seine Worte nicht. Zu geschockt war sie wegen des eben Erlebten. Denn mit allem hatte sie gerechnet, nur nicht damit. Zum Glück hatte der Soldat sie nicht erkannt.

Je weiter sie ihre Füsse vom Hafen wegtrugen, umso befreiter fühlte sich Catherine. Sie sah weder Häuserfronten noch Marktstände, an denen vorbei sie dem Träger nacheilten. Irgendwann löste sich ihre Verkrampfung und sie blickte nicht mehr bei jedem Schritt zurück. Müde und gleichzeitig erleichtert erreichte die Gesellschaft den Gasthof.

Die Mutter schmiss den Seemannssack auf den Boden und spürte, wie eine riesige Last von ihr abfiel. Sie bedankte sich beim Träger, entrichtete ihm sein Entgelt und forderte ihre Kinder auf, sofort ins Haus zu gehen.

"Wir wollen noch spielen. Wir waren viel zu lange auf See."

"Ja, bitte, Mama", pflichtete Valéon seiner Schwester bei. "Wir wollen noch draussen bleiben."

"Das heisst Maman, du Narr..."

"Blöde Kuh!"

"Ruhe!" Catherine holte tief Luft. "Bitte jetzt keinen Streit, meine Kinder. Ihr könnt noch genug draussen spielen. Aber erst später. Dann werdet ihr auch alles besser verstehen, das verspreche ich euch."

Catherine drückte die Klinke. Ihr Gesicht war weiss. Ihr Kopf fühlte sich leer an, ihr Arm kraftlos. Da ertönte in der Ferne ein Schuss. Und noch einer. Und noch einer. Alles schwieg. Selbst die Vögel in den Reben, die sich an der Hauswand hochrankten.

Ein Schwarm Möwen stieg über dem Hafenbecken auf, kreiste über die Dächer und verschwand in Richtung Fort Saint Nicolas. Catherines Finger berührten das Dokument unter ihrer Robe. Sie atmete nochmals ganz tief ein und trat dann über die Türschwelle.

Die Vierge de l'Orient tanzte mit den Wellen. Die Flaggen tanzten mit dem Wind. Die Möwen tanzten mit den Wolken. Einzig der Junge tanzte nicht mehr.

- 6 -

Der Manoir9 Clos Lucé – mit Wehrburg, Spähturm, Schiessscharten, Schilderhaus und Zugbrücke – hatte schon bessere Zeiten gesehen. Vor allem damals zwischen 1516 und 151910, als Leonardo da Vinci seine letzten Tage im Manoir verbracht hatte. Das italienische Universalgenie war 1516 auf Einladung von König François I an die Loire gezogen, hatte in Amboise seine letzten drei Ölbilder fertiggestellt und über Kriegstechnik, Städtebau, Mechanik, Flugtechnik und Hydraulik sinniert und geforscht. Die Gemäuer und die Gärten von Clos Lucé mit den Baumriesen, dem grossen Taubenschlag aus rotem Backstein und den weitläufigen Rebbergen hatten dazu ein ideales Tummelfeld geboten.

Das alles war lange her. Jetzt, im Jahr 1733, blieb vom ehemaligen Glanz nur noch die Aussicht von der Terrasse des Renaissancegartens auf Stadt und Schloss Amboise. Clos Lucé zerfiel und Antoine-Alexandre d'Amboise trug das Seine dazu bei. Keine Musik ertönte mehr, kein Tanzbein wurde geschwungen, kein rauschendes Fest gefeiert. Dafür verkehrte zweifelhaftes Gesindel in den düsteren Gemäuern. Es herrschte Endzeitstimmung.

Die Bewohner von Amboise nannten den Adeligen nur das Phantom, das einer Träne im Brunnenwasser gleich unsichtbar im Clos Lucé hauste. Kaum jemand aus dem Städtchen bekam ihn je zu Gesicht. Tauchte Antoine-Alexandre d'Amboise einmal in seinem dunklen, langen Umhang in den engen Gassen auf, fröstelte es jeden, der seinen Weg kreuzte. Kein Normalsterblicher hielt es lange in seiner Umgebung aus. Einzig Jean, der Diener, hauste seit ein paar Jahren bei ihm im Manoir. Weshalb er sich dies in seinem hohen Alter noch antat, wusste niemand.

Niemand freute sich über den blaublütigen Nachbarn. Niemand fühlte sich in seiner Nähe wohl. Doch Mona Lisa lächelte.

- 7 -

Das erste, was Catherine sah, war die fette Warze auf seiner Knollennase. Das schwarze Ding mit den spriessenden Härchen glänzte wie ein frisch polierter Käferpanzer. Catherine zögerte. Doch der Wirt lachte. Er hatte ein fröhliches Lachen.

"De Chenonceau", murmelte die zierliche Frau endlich. "Catherine de Chenonceau."

"Duchesse oder Comtesse?" Er lachte erneut. "Wohin des Weges?"

"Habt Ihr noch ein Zimmer frei?"

"Was ist mit dem Gefolge?"

"Lediglich ein Zimmer mit 3 Matratzen."

"Ihre beiden Kleinen?"

"Eine kleine Kammer reicht."

"Wenn's weiter nichts ist..." Der Wirt krauste die Stirn. Er war bereits auf der Treppe nach oben. "Folgt mir."

Man konnte die Luft mit einem Degen in Scheiben schneiden, so dick war sie. Sie stand. Sie feuchtete. Sie stank. Sie miefte nach Fäulnis und Verderben. Catherine fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn, trat an das einzige Fenster und blinzelte. Die untergehende Sonne schien ihr ins Gesicht. Von den letzten Strahlen beleuchtet sah sie das Hafenbecken vor sich. Die Vierge de l'Orient bewegte sich nicht. Kein laues Lüftchen wehte – nicht nur hier im Dachstock.

"Wie viel?"

"12 pro Nacht", brummte der Wirt, "mit Aussicht auf den Hafen."

"Das ist Wucher."

"Aber doch nicht für die Familie De Chenonceau."

"Die einen besitzen einen Namen, die anderen eine Herberge. Wollt Ihr tauschen?"

"Wie lange?"

"Einstweilen bis Ende Mai."

"Das sind mehr als dreissig Tage." Der Wirt schmunzelte. "Die beiden Kleinen zahlen keinen Aufschlag. Sagen wir mal... zusammen 8 pro Nacht? Oder machen wir doch grad 200 bis Ende Mai, die Hälfte im Voraus."

Catherine nickte nur.

"Also doch reich?"

"Die Kinder sollen nicht auf der Strasse schlafen."

"Sollen sie nicht, nein." Der Wirt starrte Ozérine an. "Im Innenhof ist ein Zuber. Holt einfach Wasser vom Brunnen."

"Wir sollen baden?" Ozérine schaute zu ihrer Mutter hoch. "Stinken wir?"

"Nein, mein Kleines. Wir riechen nach See und Freiheit."

"Also stinken wir, Maman."

Der Wirt lachte. "Wie heisst du?"

"Ozérine." Die Kleine zwinkerte mit dem Auge. "Und der Narr heisst Valéon."

"Ozérine!", rief die Mutter. "Dieses Wort will ich nicht mehr hören, hörst du? Sonst erlebst du etwas."

"Aber stimmt doch..."

"Mama, ich bin müde", stöhnte ihr Bruder.

"Siehst du, Maman, er begreift es nicht. Das heisst Maman und nicht Mama. Wann lernst du's endlich?"

"Eine kleine Besserwisserin?", lachte der Wirt. "Da habt Ihr alle Hände voll zu tun."

"Alle meine beiden, ja." Catherine schmunzelte gequält. "Meine Bälger müssen dringend ins Bett."

"Ich bin nicht müde. Ich bin schon acht!"

"Eine richtige, kleine Lady", lachte der Wirt und wandte sich ab. "Einfach Daniel verlangen, wenn was ist."

"Daniel?"

"Mein Name", sagte der Patron. "Den tausch ich aber auch nicht ein. Auch nicht gegen ein 'von und zu irgendwas'."

"Und die Wirtin?"

"Dem Junggesellen fehlt zum Glück die Frau."

"Gutes Wortspiel", murmelte Catherine und schmunzelte.

Die Türe fiel ins Schloss. Daniels Schritte hallten auf dem Korridor, dann war es still.

Die Türe versprach Privatsphäre. Catherine atmete tief durch. Nach Monaten auf See – permanent den gierigen Blicken der Matrosen ausgesetzt – hatte sie endlich Ruhe. Sie seufzte.

Zehn Minuten später schliefen die Kinder. Catherine riss die beiden Fensterflügel weit auf. Wie eine Welle schoss ihr die Hitze entgegen. Die Luft war so trocken, ihr stockte der Atem.

Über die Dächer Marseilles hinweg starrte sie in Richtung Hafen mit dem Fort Saint Nicolas dahinter. Die Laterne am Heck der Vierge de l'Orient schaukelte leicht hin und her. Weitere Schiffe hatten im Becken neben dem Zweimaster Schutz gefunden.

Catherine streckte ihre Hand aus. Die schwarzen Schiefersteine waren noch heiss von den nachmittäglichen Sonnenstrahlen. Gelbe und rote Flechten wuchsen auf ihnen. Sie seufzte, winkelte ihre Arme an, stützte die Ellbogen auf dem Fenstersims ab und begrub ihr Gesicht in den Handflächen.

Da waren mehrere Schüsse gewesen. Hatten die Soldaten den Jungen erwischt? Hoffentlich nicht! Denn wie Catherine wusste, kannte der Offizier kein Pardon und ging über Leichen. Sie hatte ihn wiedererkannt. Jeder Irrtum war ausgeschlossen. Der Reiter war kein geringerer gewesen als Kapitän D'Hermitte11.

Ausgerechnet Kapitän D'Hermitte, diese Missgeburt von einem Teufel, der Olivier Le Vasseur, genannte la Buse, der Bussard, an den Galgen geliefert und Ozérine und Valéon zu Halbwaisen gemacht hatte! Zum Glück hatte der Kapitän sie, Catherine, jetzt, gut 1000 Tage später, nicht erkannt. Denn Ozérine und Valéon durften nicht zu Vollwaisen werden. Mehr denn je brauchten die beiden ihre Mutter. Und diese wollte sich nicht unterkriegen lassen – schon gar nicht von Kapitän D'Hermitte.

Catherine wusste, dass sie nie die ersehnte Ruhe finden konnte, solange der Kapitän lebte. Die Zeit heilte alle Wunden, doch die Narben blieben. Sie starrte auf das Pergament zwischen ihren Fingern. Ihre Hand zitterte. Unweigerlich musste sie wieder an den Jungen denken, an seinen angsterfüllten Blick und die vielen Schweisstropfen auf seiner Stirn. Sie strich mit dem angefeuchteten Finger über die Buchstaben. Die Farbe löste sich nicht.

NESOEOLCGDIDEAMWRVHLREHWHOEITDTR

NLCHIEDRHCSUITEBPGLBELARAÜHEDEÜL

Die Buchstaben machten keinen Sinn. War dies Absicht? Oder Zufall? Catherine faltete das vergilbte Dokument und steckte es wieder unter ihren Rock. Sie hatte keine Eile, den Text zu entschlüsseln. Sie glaubte alle Zeit der Welt zu haben.

Leider ahnte sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht, wie bedeutend die Geheimschrift war. Und noch weniger ahnte sie, wie sehr sich deswegen ihr Leben bald verändern sollte.

- 8 -

"Schon von der Schiesserei gehört?", fragte der Wirt, als Catherine wenig später die Treppe nach unten stieg.

Die junge Mutter riss ihre Augen weit auf, entgegnete aber nichts. Daniel erhob sich. In der Hand hielt er einen schwarzen Springer. Wild verstreut standen die restlichen Schachfiguren auf dem Brett. Zwei Bauern und zwei Läufer – je einer weiss und einer schwarz – lagen daneben auf dem Tisch.

"Ein Junge hat sich am Hafen mit den Soldaten angelegt. Die haben den Unglücklichen niedergeschlagen, seine Kleider gefilzt und mit Kugeln durchlöchert. Armer Kerl. Jetzt treibt sein Körper im Hafenbecken. Oder das, was von ihm übriggeblieben ist, nachdem die Pferdehufe ihn zermalmt haben."

Catherine wandte sich ab. Erneut sah sie die flehenden Augen vor sich, die Tausend Pickel im roten Gesicht, die Haare, die auf der Stirn klebten, und hörte den Jungen keuchen: "Dieses Dokument ist für meinen Herrn. Sie finden ihn auf Rennes-Le-Château. Es geht um Leben und Tod. Betet für mich."

"Madame, was ist?", fragte der Wirt und stellte den Springer auf den Tisch. Das Lachen war aus seinem Gesicht verschwunden. "Gibt es ein Problem?"

"Wer ist am Zug?", entgegnete Catherine nur und kratzte sich hinter dem linken Ohr – was sie immer tat, wenn sie verlegen war. "Schwarz?"

"Vor wem flieht Ihr? Wovor habt Ihr Angst?"

"Vor nichts."

"Eine Zigeunerin wurde verhaftet."

"Was hat sie getan?"

"Immer das Gleiche. Zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort."

"Ist das alles?"

"Die Soldaten suchen etwas. Oder jemanden. Bestimmt wird die Arme gefoltert."

"Was hat das alles mit mir zu tun?"

"Aber ich habe doch nichts dergleichen gesagt."

"Ich will nichts wissen. Ich will einfach nur meinen Frieden."

"Aber ich habe doch...", murmelte der Wirt und schaute Catherine nach, wie sie die Stufen wieder nach oben stürzte. "Sind heute eigentlich alle verrückt?" Er räusperte sich, kratzte sich zwischen den Pobacken, rückte den Stuhl wieder zurecht und stützte sein Kinn auf dem Handballen ab. "Wobei... Vielleicht ist das alles ja gar kein Zufall?"

Daniel wiegte den Kopf hin und her, hörte seine Wirbelknochen knacken, kratzte sich mit dem freien Zeigefinger in der Ohrmuschel, zupfte an den dicken, schwarzen Härchen und betrachtete die gelbe Schicht unter seinem Fingernagel.

"Die taucht bei mir auf, nistet sich in meiner Herberge ein, und schon spielt das ganze Quartier verrückt. Das ist kein Zufall." Er schaute sich um und gestikulierte wild mit den Händen als spreche er zu seinem Publikum. "Ist sie der erwartete Bote? Aber was will sie dann mit den beiden Bälgern? Tarnung?"

Er strich den Zeigefinger an der Hose ab und trat auf die Gasse hinaus. Kurz nur überlegte er, ob er Meldung machen sollte. Doch nach wenigen Schritten kannte er die Antwort auf seine Frage und tat, was er für richtig hielt – nämlich nichts.

- 9 -

Catherine brütete die halbe Nacht über dem Dokument. Doch so viel sie in Indien auch über Geheimschriften gelernt hatte, so wenig von Nutzen war ihr nun dieses Wissen. Sie gähnte immer häufiger und gab endlich auf.

Kaum hatte Catherine dann ihre Augen geschlossen, so weinte sie Valéon bereits wieder aus dem Schlaf. Am Morgen fühlte sie sich wie gerädert – so richtig elend, kaputt und verspannt. Doch als sie die Vorhänge zur Seite riss wusste sie, dass der Tag bringen musste, was er versprach. Denn das neue Leben in Marseille begann mit Sonne und blauem Himmel.

"Was verheimlicht Ihr?", fragte der Wirt, kaum dass sich Catherine und die Kinder an den Tisch gesellten. "Was treibt Ihr in Marseille?"

"Wir suchen eine neue Heimat."

"Wo ist der Vater?"

"Der Vater?" Catherine wich Daniels Blick aus. "Ist das so verwerflich?"

"Habt wohl den ganzen Hausrat in einer Seemannstruhe?"

"Das lasst nur meine Sorge sein."

"Damit kommt Ihr nicht weit. Wovon wollt Ihr leben?"

"Das lasst nur meine Sorge sein."

"Von den Matrosen? Seid Ihr so eine?"

Catherine schüttelte den Kopf.

"Will ich auch hoffen. So etwas brauche ich nicht bei mir."

"Auch das lasst nur meine Sorge sein."

"Ihr habt die Anzahlung noch nicht geleistet, und bis Ende Mai will ich nicht warten."

"Ihr setzt mich unter Zugzwang?"

"Für ausstehende Schulden kann ich mir nichts kaufen."

"Also stellt Ihr mich Schach? Und dann Matt?"

"Ihr spielt?"

"Nehmt Ihr Achterstücke oder steht Ihr auf Gold?"

"Was soll's", knurrte der Wirt. "Hauptsache Ihr zahlt."

"Einen Augenblick..."

Catherine verschwand nach oben, war aber schon wenig später zurück am Tisch. Zwischen ihren Fingern glänzten mehrere Goldmünzen. Der Patron liess sich nicht blenden.

"So? Bereits das ganze Geld?"

"Bis Ende Mai. Wie vereinbart."

"Das sind alte Münzen. Woher habt Ihr die?"

"Auch das lasst bitte mein Problem sein."

"Was, wenn Ihr das Gold gestohlen habt?"

"Das ist nicht der Fall."

"So?"

"Ich gebe Euch mein Wort."

"Also gefunden?" Der Wirt kniff die Augen zusammen. "Oder aus einem Schatz?"

"Was wollt Ihr, Daniel?"

"Ja, aus einem Schatz", sagte Valéon. "Unser Papa war Pirat."

"Halt die Klappe, du Narr. Maman hat oft genug gesagt, dass dies unser Geheimnis ist."

"Aber ist doch wahr..."

"So, so, aus einem Schatz", murmelte der Wirt. "Mir soll es Recht sein. Hauptsache ich hab mein Geld. Braucht Ihr sonst noch etwas, Madame la Comtesse?"

"Weshalb so förmlich? Lasst das, bitte. Ich bin Catherine, ganz einfach nur Catherine."

"Soll mir Recht sein", sagte er. "Comtesse Catherine de Chenonceau. Man beachte die Buchstabenfolge CCC. Tönt irgendwie mysteriös, nicht wahr?"

"Ich wüsste nicht, weshalb."

"Alles ist heute irgendwie mysteriös. Das Leben, die See, der Hafen, die Gassen, die Schiesserei, der tote Junge, und mittendrin eine Comtesse CCC. Findet Ihr nicht?"

"Wollt Ihr echt, dass wir die kommenden Wochen unter demselben Dach verbringen?"

"Na ja, bezahlt habt Ihr mich ja. Alles weitere kann mir eigentlich egal sein." Der Wirt schmunzelte. "Ist es mir aber nicht. Habt schon Recht. Ich lasse Euch jetzt in Ruhe. Schönen Tag noch."

Er wandte sich wieder dem Schachspiel zu, zögerte nur kurz und griff nach dem schwarzen Springer.

"Schach", murmelte er und schnalzte mit der Zunge. "Schach und gleich Matt."

"Spielt Ihr immer alleine?"

"Ich verliere ungern."

"Ihr sucht wohl ein Opfer und keinen Gegner?"

"Schach bedeutet Kampf gegen die eigenen Fehler. Ich suche die Perfektion."

Catherine erhob sich, griff nach dem weissen Springer und stellte ihn zwischen weissen König und schwarzen Läufer.

"Es ist an der Zeit, dass Weiss zum Gegner wird."

"Ihr greift gleichzeitig meine Dame an", murmelte Daniel. "Schlau, wirklich schlau."

"Noch fünf Züge, und Ihr steht Matt."

"Wenn Ihr Euch nur mal nicht täuscht." Er schmunzelte und zückte erneut den schwarzen Springer. "Meine Geheimwaffe."

"Die Basis jeder Offensive ist eine gute Defensive. Spielt Ihr oft?"

"Genug um gegen Euch zu bestehen."

"Dann setzt nicht nur auf einen Trumpf." Catherine kniff ein Auge zu. "Ich mag den schwarzen Springer. Er verkörpert Wildheit, Unberechenbarkeit, Unzähmbarkeit. Doch das Spielfeld bietet Platz für 15 weitere Figuren. Ihr müsst das ganze Feld nutzen."

"Erteilt Ihr mir Ratschläge?"

"Oder eine Lektion?" Sie zückte den weissen Läufer. "En garde."

Der Wirt schwieg, kniff die Augen zusammen und krauste die Stirn.

"Zut alors", zischte er, "elle m'énerve, celle-là..."

"Tellement grave?12"

"Ihr wollt meine Dame? Ihr wollt sie mir stehlen...? Unverschämt, so etwas... nicht mit mir." Er griff erneut nach dem Springer. "Nicht mit mir!"

"Wenn Ihr Euch da mal nur nicht täuscht", lachte Ozérine. "Maman hat noch jeden Piraten geschlagen."

"Ich bin kein Pirat", schmunzelte der Wirt. "Ich bin Dompteur – Pferdedompteur."

"Ich weiss", kicherte die Kleine. "Das Pferd macht zwei Schritte vorwärts und einen zur Seite."

"Sehr gut..."

"Und es kann fliegen."

"Nicht ganz", berichtigte der Wirt. "Der Vogel fliegt. Das Pferd springt."

"Maman gewinnt trotzdem. Maman gewinnt immer."

"Ozérine, bitte geh mit Valéon nach oben", sagte Catherine bestimmt, aber mit einem Lächeln auf den Lippen. "Wascht euch das Gesicht. Ich komme gleich nach."

"Aber Maman, ich will..."

"Ozérine, wir haben eine Abmachung."

Die Kleine stampfte auf den Boden, schaute ihre Mutter nochmals an und griff dann nach der Hand ihres Bruders.

"Komm, Valéon, sie will uns nicht mehr um sich."

"Aber ich möchte bei Mama bleiben. Ich..."

"Es heisst Maman, du Narr. M-A-M-A-N!"

"Ich weiss. Aber..."

"Komm, Valéon, komm mit. Ich erzähle dir ein Geheimnis."

"Echt?"

"Ja, komm. Ein Geheimnis, das niemanden etwas angeht. Nur dich und mich."

Der Kleine folgte seiner Schwester nach oben. Catherine schaute den beiden nach, bis sich die Türe hinter ihnen geschlossen hatte.

"Reizend, die beiden."

"Wenn sie nur immer so gut auf mich hören würden..." Catherine schüttelte den Kopf. "Ich liebe meine beiden Strolche über alles. Sie sind mein Leben. Doch manchmal hätte ich gerne mehr Zeit für mich – nur für mich. Ich erinnere mich kaum noch, wie das früher einmal gewesen ist."

"Und ich habe alle Zeit der Welt und fange nichts damit an."

"Ihr spielt Schach."

"Das Schachspiel ist die geistreichste Form der Zeitverschwendung. Weiter nichts."

"Dabei ist Schach so brutal. In der Politik wie im Schachspiel kann ein einziger Zug alles verderben."

"Genau diesen Zug gilt es zu verhindern."

"Genau diesen Zug habt Ihr soeben gemacht."

"Wie bitte?" Der Wirt starrte auf das Schachbrett. "Was soll...?"

"Ich bin nicht auf Eure Dame aus." Catherine kniff die Augen zusammen und schob den Turm drei Felder vor. "Die Dame ist mir egal."

"Worauf ist sie dann aus...?" Der Wirt schüttelte den Kopf, raufte sich die Haare und stöhnte. "Sie will nicht meine Dame, diese hinterhältige Person. Sie will den König. Seinen Tod. Meinen Untergang. Unerhört!" Er bettete den Kopf zwischen seine Handflächen und quetschte seine Augen zusammen. "Unerhört!"

"Macht mal keinen Kopf."

"Wahrlich, die Lage ist ernst."

"Es bleiben noch immer drei Züge."

"Drei Züge, sagt sie." Er schnaubte wie ein Ross. "Drei Züge, und dann lieg ich darnieder. Wie wahr, sie hat mich vorgeführt, wie einen Schuljungen."

"Nun tut mal nicht so..."

"Ich habe Euch unterschätzt."

"Dabei bin ich nur eine Frau."

"Wahrlich, sie ist eine Frau. Aber sie ist gut! Sehr gut..."

"Danke."

"Ich verliere ungern..."

"Dann wird es jetzt ernst..."