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Im Zentrum des historischen Romans 'Die Gefangene von Ste-Marie' steht Katharina, die vom Piraten La Buse entführte Tochter eines Maharadschas. Gefangen unter Wilden kämpft sie im Indischen Ozean auf einer Insel um ihr Überleben. Immer, wenn die zur selbstbewussten Frau herangewachsene Göre glaubt, das Schlimmste überstanden zu haben, trifft sie der nächste Schicksalsschlag. Sie leidet am Fieber, wird verraten und vergewaltigt, fällt den Intrigen zwischen den Piraten zum Opfer und lässt alle körperliche Gewalt emotionslos über sich ergehen. Bis sie sich nach Jahren zum entscheidenden Gegenschlag aufrappelt. "Die Gefangene von Ste-Marie" spielt zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Die Geschichte beruht auf wahren Begebenheiten. Sie macht Mut und zeigt, dass ungebrochener Durchhaltewillen letztendlich zum Ziel führt. Für Katharina ist es eine Reise zu sich selbst und aller Tragik zum Trotz eine Reise in die Freiheit. "Eine grandiose Erzählung vom Drang nach Freiheit und gleichzeitig eine Ode an die Liebe. Packend, traurig, spannend, tragisch und bewegend - der Aufsteller des Literaturjahres!"
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Seitenzahl: 365
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Für Nicole,
Lara, Mauro,
Anthony und Leila
1. Prolog, Teil 2
1. Buch: François
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
2. Prolog
12 Monate später – im Januar 1724
2. Buch: Paul
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
3. Prolog
6 Jahre später.
3. Buch: Olivier
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
1. Prolog, Teil 1
7. Juli 1730 - Nachmittag
Madagascar, Ste-Marie Island
Nachwort
"Sonne dich in der Sonne und nicht in gestern Erreichtem", hat er oft gesagt. "Lebe heute und jetzt. Behalte im Hinterkopf, dass die Zukunft nicht in der Vergangenheit liegt. Damit du nicht erst den Sinn des Lebens hinterfragst, wenn die Luft dünner wird und du keinen Sand mehr zwischen den Zehen spürst."
Nur kurz blicke ich auf das Logbuch und lese jene Zeilen, mit denen er sich für immer von mir verabschiedet hat. Monate sind vergangen. Monate der Trauer, während denen ich ihn herbeigesehnt habe. Monate des Frustes, während denen er machtlos dem Gesetz des Stärkeren ausgeliefert blieb. Monate der Ungewissheit, da der inszenierte Schauprozess immer wieder verschoben worden ist. Doch heute ist der Tag gekommen. Der Tag ihrer Abrechnung. Der letzte Tag meines ersten Lebens.
Er hält im Schritt inne, schaut sich um und grinst. Die Zeit im Kerker ist nicht spurlos an ihm vorbeigegangen. Er zittert, wirkt gebrochen und ungepflegt, als wäre er, der das Leben lang einem Raubvogel gleich nach Beute gespäht hat, in vollem Flug von einer Kugel zerzaust worden. Doch seit Wochen fliegt er nicht mehr. Seit Wochen hängen seine Schwingen in Ketten, sind seine Flügel gestutzt. Er hat resigniert, ist abgemagert und alt geworden – alt, aber kein bisschen hässlich.
Er hat mich gesehen. Sein Blick haftet an mir wie der Eisennagel am Magneten. Freut er sich für mich? Oder missgönnt er mir die Freiheit? Es liegt in seiner Macht, mich mit auf seine Reise zu nehmen. Ein Wort, und meine Handgelenke liegen in Ketten. Doch sind seine Gefühle für mich zu intensiv. Für mich, Valéon und Ozérine.
Schweisstropfen rinnen über seine Stirn. Sie ziehen feucht glänzende Schmutzbahnen hinter sich her. Für den Bruchteil einer Sekunde mache ich ein Lächeln auf den Bitterkeit zum Ausdruck bringenden Lippen aus. Dann verbirgt er seine Gefühle erneut hinter dieser Maske, die er nur für wenige Menschen abgenommen hat.
Vor mir kann er keine Geheimnisse verbergen. Er, der unerschrockene Seefahrer, hat Angst vor der Ungewissheit. Er weiss, wohin ihn sein Weg führt, hat dabei aber keine Ahnung, was ihn dort erwartet. Noch immer flackert die Lebensenergie in seinen dunklen Pupillen, ungebändigte Abenteuerlust, das von mir entfachte Feuer. Acht Jahre an der Zahl, die seit unserem Aufeinandertreffen verstrichen sind. Acht Jahre, während denen ich seinen Frohmut kennen, seinen Sachverstand schätzen und seinen Gerechtigkeitssinn bewundern lernte.
"Weiter!" Zum wiederholten Mal rempelt der Uniformierte den Piraten an. Uniformen machen stark – vor allem gegenüber Gefangenen in Ketten. Nie würde der im Solde Gouverneur Pierre Benoît Dumas'1 stehende Henkersknecht sonst so über den Hünen spotten: "Geniess deinen letzten Flug, Bussard!"
"Fass mich nicht an!" Autorität liegt in der Stimme des noch vor Sekunden gebrochen wirkenden Verurteilten. Er steht mit erhobenem Haupt da. Auch in seiner letzten Stunde lässt sich der Herrscher der Weltmeere nicht vom Handlanger des Gouverneurs anpöbeln. "Ich geh meinen Weg und du den deinen. Schätze dich glücklich, dass du für einen Augenblick an meiner Seite wandeln darfst!"
Der Menschenansammlung zum Trotz hört man auf dem Platz keinen Laut. Totenstille wie in einer Gruft. Der Uniformierte antwortet nicht. Père Houbert presst die Bibel an die Brust. Seine Lippen zittern. Hektisch kratzt er sich mit seiner freien Hand durch die Nackenhaare.
Theatralisch langsam setzt der Verurteilte wieder einen Fuss vor den anderen, hinter sich die Gefängnismauern, vor sich den Galgen. Die Gasse in der Menge schliesst sich schnell hinter ihm. Alle wollen den Piraten sehen. Alle kennen die sich um seine Person rankenden Anekdoten. Alle wissen vom Geheimnis, das er mit ins Grab nimmt. Er ist bereits zu Lebzeiten Legende – wie mir gegenüber so oft prophezeit.
Der Strick baumelt im Wind. Die Palmwedel über mir rascheln und rauschen. Ich starre auf das Meer hinaus. Das Bild wird trüb und verschwommen. Mein Blick verliert sich im horizontlosen Nichts. Es ist zwecklos, die sich abspielende Tragödie zu hintersinnen. Ich könnte zusammensacken. Doch seine Worte widerhallen in meinen Ohren.
Nein, ich bleibe stark. Solange als möglich wohne ich dem Trauerspiel mit erhobenem Kopf bei und lasse ihn meine moralische Unterstützung spüren. Doch wer mich beobachtet, wer mich kennt, lässt sich vom falschen Lächeln nicht in die Irre führen, sieht die auf meinem Herzen lastenden Schatten durch das Leinenhemd hindurchschimmern.
Meine Wimpern kämpfen gegen aufkommende Feuchtigkeitsspuren an – als hätte der Wind mir ein Sandkorn zwischen die Augenlider getrieben. Ich schaue erneut auf die Menschenmenge, in die gefurchten, von Sonne und Meer gezeichneten Gesichter. Tausend Schaulustige sind gekommen, vielleicht auch mehr – Bewunderer ebenso wie Rächer. Freunde erweisen ihm die letzte Ehre, Feinde lechzen nach Genugtuung für erlittenes Leid.
Die Verhandlung hat nur vier Tage gedauert. Vier Tage Schauprozess. Der Gouverneur rächte sich, weil er nicht bekam, wonach ihn seit Jahren gierte.
"Man öffne mir die Ketten!" Der Verurteilte übertönt die vereinzelten Zwischenrufer. Wie damals vom Oberdeck der Victoire herunter kommandiert er: "Ich erklimme die letzten Treppenstufen als freier Mann. Habt ihr Weiber Angst vor einem Greis?"
Ich schmunzle. Er ist noch immer der Gleiche. Neben mir diskutieren zwei in edle Stickerei gekleidete Herrschaften.
"An ihm ist ein brauchbarer Soldat verloren gegangen", sagt der eine. "Schade hat dieser Kerl das Leben weggeworfen."
Ich ziehe den Schleier etwas hoch und betrachte den Griffel zwischen meinen Fingern. Meine Hand zittert. Der Diamant, den mir der Verurteilte nach der Rückkehr aus der Grotte an den Ringfinger gesteckt hat, reflektiert das Licht in den Farben des Regenbogens.
"Hat er das?", fragt der Jüngere der beiden. In Gedanken versunken spielen seine Finger mit dem Schaft des Degens. "Noch in 100 Jahren besingen Kinder seine Liebe zur Prinzessin. Noch in 200 Jahren sorgen seine Piratenstreiche für Gesprächsstoff. Noch in 300 Jahren graben Schatzsucher erfolglos nach seinen Reichtümern. Nein, seiner wird man in Zukunft gedenken, wenn wir längst vergessen sind, vermodert und von Würmern zersetzt. Ich habe höchste Achtung vor diesem Mann, den wir in wenigen Minuten aufgrund politischer Intrigen ins Jenseits befördern."
Ich schlucke leer. Die Worte hätten vom Verurteilten stammen können. Ja, er ist unsterblich, verkommt heute zum Märtyrer. Ich erinnere mich an unser letztes Gespräch, höre noch seine Worte, immer und immer wieder: "Der Gouverneur kommt neun Jahre zu spät. Jetzt können sie mich nicht mehr unschädlich machen. Ich lebe ewig."
Wo bist du, mein Freund? Erhöre mich! Als lese der Verurteilte Gedanken, blickt er in meine Richtung und starrt mir in die Augen. Er steht auf der Treppe zum Galgen, überragt die Menschenmenge um einen Kopf und hebt die Hand. Unglaublich – seine Hände sind frei, seine Füsse ebenfalls!
"Nur vor einem knie ich nieder", erinnere ich mich seiner Worte. "Doch der steht nicht im Solde der Krone!"
Erhobenen Hauptes steht er vor der Menge, als stünde er vor seiner Mannschaft, würde gleich den Jolly Roger2 hissen lassen und Jack, den ersten Kanonier, an die vordere Drehbasse3 beordern. Und dann, ja dann verstehe ich endgültig, weshalb er in unserem letzten Gespräch permanent von Unsterblichkeit geredet hat. Er hält ein Pergament in der Hand. Seine Tenorstimme hört man weit herum.
"Dieses Kryptogramm4 führt den Intelligentesten unter euch zu meinem Gold. Mit dem, was ich hier versteckt habe, könnte ich die ganze Insel kaufen!"
Staub wirbelt auf. Hände greifen nach dem Dokument. Einer fährt den Ellbogen aus und ein anderer ballt die Fäuste. Das Stück Papier verschwindet in der Menschenmenge.
Alle Augen sind auf die Rangelei gerichtet. Nur die meinen blicken nach wie vor in das stolze Antlitz des Gefangenen. Er könnte sich davonstehlen. Die ins Inselinnere führende Schlucht ist nicht weit, das Höhlenlabyrinth ihm bestens bekannt. Weit würden ihn die geschundenen Füsse aber kaum tragen.
Nein, der alte, mit schlichtem Hemd gekleidete Hüne ist sich seines körperlichen Handicaps bewusst, hat sich in sein Schicksal ergeben. Er geniesst den Moment, steht ein letztes Mal vor der Meute, sorgt für Verwirrung und ist im Mittelpunkt des Interesses, wie er es so oft im Leben gewesen ist. Zu seinen Füssen balgen sich die ehemaligen Streitgenossen – abtrünnige gleichermassen wie in der Seele treu ergeben gebliebene – mit Gouverneur Pierre Benoît Dumas' Henkersknechten und den Rom repräsentierenden Missionaren. Die Kolonisten der Insel Bourbon5 entblössen eines – wenn auch nicht unbedeutenden – Piratenschatzes wegen ihre wahren Gesichter. Im Glanze des Goldes zeigt so mancher Kerl sein wahres Ich.
Was für ein Mann! Ich schüttle erneut den Kopf, kann meinen Blick nicht senken. Welche Tragödie, dass er mich ausgerechnet auf dieser gottvergessenen Insel zurücklässt. Eine Tragödie für mich ebenso wie für die Bewohner Bourbons, die seit Ausbruch der Kaffeekrise ein Dasein in Armut und Elend fristen. Niemand hat eine Ahnung, wo sich das Gold befindet. Keiner der ehemaligen Weggefährten kennt den exakten Lageplan der Reichtümer. Einzig mit einer Frau hat der Verurteilte sein Geheimnis geteilt. Doch diese Frau schweigt.
Ich wende mich ab. Der Diamant funkelt bei jeder Bewegung. Wie durch eine Nebelwand hindurch vernehme ich eine Kinderstimme.
"Mama, ich will weg."
Ozérine versteht die Ursache des Tumultes nicht. Wie soll sie auch? Ich möchte nicht, dass sie die wahren Hintergründe unseres Kurzaufenthaltes auf Bourbon erfährt. Die Kleine ist fünf Jahre alt. Haben wir erst die Passage nach Frankreich hinter uns gebracht, die Diamanten sicher angelegt und mit den uns verbleibenden Goldstücken ein Landhaus gekauft, kann ich sie immer noch über ihre Herkunft aufklären. Gleiches gilt für Valéon, der unter Mithilfe seiner Fingerchen das Stück Banane im Mund zerquetscht. Eines Tages werden sie reif sein für die Wahrheit, reif für diese Lektüre. Diese paar Jahre sollen mir meine geliebten Strolche aber bitte noch lassen.
Der alte Jack steht zwischen meinen Kleinen. Lange schaut er mich an. Er versteht die Tragweite der Situation und weiss, dass der Zeitpunkt des Abschiedes gekommen ist.
Mein Bauch zieht sich krampfartig zusammen. Trotz der schwülen Hitze zittere ich am ganzen Körper. Ich kann kaum noch atmen, verspüre erneut den wiederkehrenden Schmerz in der linken Brustgegend, dieses Stechen, als hätte ich einen steilen Hügel zu rasch erklommen.
Permanent gehen mir dieselben Fragen durch den Kopf. Weshalb wird der Mensch im Angesicht des Goldes zur Bestie? Warum nimmt mein Glück ein so jähes Ende? Worin liegt der Sinn des Lebens?
Fragen, auf die ich keine Antwort finde. Einzig eine Erkenntnis bleibt. Du merkst erst, wenn der Liebste von dir geht, wie viel er dir bedeutet hat und welchen Schatz er mit sich ins Grab nimmt. Doch lässt sich die Vergangenheit nicht rückgängig machen.
Ein letztes Mal schaue ich zum Galgen. Dann wende ich mich ab. Die Handgriffe der Kleinen sind fest. Der Sand knirscht unter unseren Füssen. Ich drehe mich nicht mehr um, will ihn so in Erinnerung behalten, wie er gewesen ist.
Unsere Herberge liegt wenige Schritte entfernt am Dorfrand von St-Paul. Valéon schläft sofort ein. Ozérine leistet ihm Gesellschaft. Arm in Arm liegen sie nebeneinander im Bettchen. Bald wird auch sie die Äuglein geschlossen haben.
Onkel Jack kauert neben den beiden am Boden. Ich trete ins Freie. Es ist fünf Uhr. Die Palmen neigen sich im Wind. Die Abendsonne hat es an diesem verfluchten 7. Juli 1730 gut gemeint mit uns. Die Strahlen spiegeln sich in der unruhigen See. Ich schliesse kurz die Augenlider.
Die Brise wäre ideal, um mit der Victoire auszulaufen. Ich spüre das Kitzeln auf der Haut. Wie viele Jahre sind verstrichen, seit er sie auf Grund gesetzt hat? Sieben?
Ich kann mich nicht erinnern. Mir wird warm. Wie gerne würde ich der Realität entfliehen, mit vollen Segeln an seiner Seite durch die Wellentäler gleiten, auf einer einsamen Insel die Füsse am Strand ausstrecken und meine eigene Herrin und Meisterin sein. Doch jene Zeiten sind vorbei. Nie wieder wird er an meiner Seite wandeln.
Wie sagte er noch? 'Die Zukunft liegt nicht in der Vergangenheit'. Wie Recht er doch hat. Es ist an mir, die Initiative zu ergreifen und mit meinen Liebsten den richtigen Hafen anzusteuern.
Vom Fort ertönen drei Kanonenschüsse. Ich zucke zusammen, schlage die Hände vors Gesicht, habe kein Gefühl mehr in den Knien und lasse mich fallen. Die Sandkörner spüre ich zwischen den Fingern, in den Haaren, auf den Lippen, in der Nase. Doch kümmern sie mich nicht. Kraftlos liege ich da, während sich die Tränen ihren Weg über meine Wange suchen, zu Boden tropfen und im Sand verdunsten. Wie eine geplatzte Seifenblase ist das letzte bisschen Hoffnung gewichen.
Es ist aus. Es ist vollbracht. Es ist zu Ende. Ich bin frei. Frei!
1 Pierre-Benoit Dumas, vom 21.7.1727 bis 11.7.1735 Gouverneur von Bourbon (heute La Réunion).
2 Piratenfahne: Jolly Roger kommt ursprünglich von "jolie rouge" (hübsches rot), da die ersten Piratenfahnen schwarz auf rotem Grund gewesen sind.
3 Auf Drehzapfen beweglich gelagertes, leicht handhabbares Geschütz.
4 Text mit Geheimbotschaft (Entschlüsselungsverfahren offenbart zweite Bedeutung).
5 Früherer Name der heutigen Insel La Réunion im Indischen Ozean
Die Kanonenschüsse vom Fort dröhnten in Katharinas Kopf nach wie jene damals acht Jahre zuvor, als sie die Victoire das erste Mal gesehen hatte – irgendwo auf einem Wellenberg zwischen Indien und Afrika. Die Seeleute waren den ganzen Tag nervös gewesen. Das am Horizont aufgetauchte und sich in der untergehenden Sonne vor dem düsteren Himmel abhebende Segel hatte konstant denselben Kurs gehalten. Damals, vor acht Jahren.
Katharina schaute an jenem Tag immer wieder zum Mastkorb hoch. Schwer arbeitete sich die Galeone mit backgebrasstem Grosssegel durch die Dünung. Don Philippes braungebranntes Gesicht hatte jegliche Farbe verloren. Seine gepflegten Fingernägel verunstaltete er mit den Zähnen in einer Art und Weise, die an Kannibalismus grenzte. Immer wieder starrte er gebannt über die Schulter. Doch das aufgewühlte Fahrwasser im Heck interessierte ihn nicht. Sein Blick galt dem mit gleichem Kurs folgenden Segler.
Der Kapitän neben ihm kaute auf einer Masse herum. Lippen, Zähne und Speichel verfärbten sich rot6. Sein Gesicht war von den Jahren auf See gezeichnet: Es bestand nur aus Falten. Von Zeit zu Zeit bückte sich der Alte über die Reling und spuckte in die Gischt. Der lange, an den Spitzen weisse Bart flatterte wie eine Fahne. Den Turban trug der Sikh fest um den Kopf geschlungen.
"Welchen Kurs hält das fremde Schiff?", fragte Don Philippe, als sich Katharina zu den beiden gesellte.
"Leicht leewärts, Sir", brummte der Sikh.
"Weshalb hissen wir nicht mehr Tücher?"
Der Kapitän ignorierte die Frage des blaublütigen Portugiesen.
"Abfallen!", brüllte er dem Steuermann zu. "Weniger hart an den Wind!"
"Weshalb setzt das Schiff keine Fahnen?", fragte Don Philippe weiter. "Weshalb gibt es sich nicht zu erkennen?"
Der Sikh schloss die Augen. Er atmete tief durch seine Nüstern, als würde er nichts weiter riechen wollen als die salzige Meeresluft.
"Bekomm ich keine Antwort?", brauste der Portugiese auf. "Was ist?"
"Wie Euch belieben, mein Herr." Der Kapitän eilte von Backbord nach Steuerbord. "Los, Männer, an die Brassen, schnell, schnell!"
"Was passiert?"
"Wir hängen den Verfolger ab", murmelte der Sikh in einer Lautstärke, die nur für den Edelmann verständlich war. Lauter kommandierte er die angetretene Mannschaft. "Los, los, Ruder in Luv! Deckwache, alle Tücher hissen. Ich will das Segel achtern heute zum letzten Mal gesehen haben."
"Was passiert, wenn das andere Schiff sich nicht abhängen lässt? Was...?"
"Das ist momentan noch nicht der Fall, mein Herr", sagte Katharina und ergriff Don Philippes Hand. "Und wenn schon, wir wissen uns zu wehren."
Ein Matrose holte das Tau ein und schlug das herrenlose Ende mehrmals um die zehn Schlaufen.
"Wie Sie denken, meine Liebe", murmelte der Adelige. "Wie Sie denken."
Er wandte sich von seiner Verlobten ab. Doch der Kapitän, Don Philippes Fragen überdrüssig, stieg bereits die Treppe hinunter auf Deck und verzog sich in seiner Kajüte.
"Wer antwortet mir?", jammerte Don Philippe.
Katharina lachte. Was war aus ihrem Helden geworden, der sich vom Elefanten herunter gebrüstet hatte, sie ein Leben lang zu beschützen?
Nur ungern hatte ihr Vater seine einzige Tochter in die Obhut des Adeligen gegeben. Verwaist würde der Palast tagsüber ohne sie sein, hatte er gesagt, düster und trist die Indische Nacht. Doch er, Don Philippe, war versessen gewesen, Katharina zur Frau zu nehmen.
Nach mehrtägiger Bedenkfrist hatte Katharina eingewilligt. Obwohl noch keine zwanzig wollte sie fremde Länder sehen und ferne Kontinente bereisen. Sie wollte raus aus den Palastmauern, die wie Gefängnismauern waren, raus aus Rajasthan, raus aus Indien.
Der Abschied vom Vater war ihr nicht leicht gefallen. Und am Grab ihrer Mutter hatte Katharina bittere Tränen geweint. Aber im Leben durfte man nicht zurückschauen. Indien lag hinter ihr. Vor sich glaubte sie Europa zu sehen, Portugal, ihre Hochzeit am Hofe Don Philippes. Doch das Leben war eine Wundertüte und offenbarte täglich neue Überraschungen.
Katharina lehnte mit dem Rücken an der Reling, schloss die Augen und sog die Luft tief ein. Sie fühlte sich wie nach tausend Jahren auf See. Dabei befand sie sich erst wenige Tage auf dem Schiff, lag ihr Heimatland keine tausend Meilen hinter ihr.
In Indien war ihr als Tochter des Maharadschas jeder Wunsch von den Augen abgelesen worden. Einzig der Aufenthalt ausserhalb der Palastmauern war untersagt geblieben. Stunden hatte sie deshalb am Lieblingsfenster geharrt und in die Freiheit hinaus gestarrt. Den Kopf zwischen den Händen abgestützt schaute sie den Kaufleuten zu, wie sie ihre Waren aus allen Gassen daherkarrten und hin und her hievten. Farbenfroh lag alles auf dem Hauptplatz zur Schau: Edle Stoffe aus China, Teppiche aus Persien, saftige Früchte aus dem Norden, Gemüse frisch von den Feldern, Tongefässe, Sandelholz- und Elfenbeinschnitzereien. Menschen strömten durch die Gassen, bleiche Engländer, parfümierte Franzosen, Brennholz oder Bananenstauden auf dem Kopf herumschleppende Inder. Eine Mischung aus allerlei exotischen Gewürzen und Gerüchen hing in der Luft. Je nach Laune miefte es auch nur nach Pisse oder Kamelkacke.
Kam es gut, blies ein Wüstenwind und entzog den sich bildenden Schweisstropfen die Feuchtigkeit, bevor sie perlten. Doch bewegten sich die Blätter an den vereinzelten Bäumen nicht, hing eine Smogglocke über der Stadt. Alles und jeder stank – der Wasserverkäufer mit seinen abgelatschten Ledersandalen, die Urinflecken an der Wand, die Marktfrau mit den am Boden aufgebahrten Hühnerköpfen, die Kotspuren im flach getretenen Sand, der Innereien von Ziegen anpreisende Kauz mit dem Strohhut, die zu zweien an den Köpfen aneinandergebundenen und noch ein letztes Mal blökenden Schafe. Ja selbst die Obststände stanken nach Fäulnis und Verderben. Und dabei wabberte der Horizont in der Gluthitze Rajasthans.
Katharina dachte an das Pfauenmosaik, das die geweisselte Wand neben ihrem Lieblingsfenster zierte. Diese Vögel trugen ein Kleid glänzend wie Seide zur Schau. Abends schrien sie schrill, stolzierten durch den Park, schlugen Rad und stiegen mit kräftigen Flügelschlägen zum Himmel auf. Zu gern hätte auch die Prinzessin Flügel gehabt und wäre der untergehenden Sonne nachgeflogen.
Einmal hatte sie es gewagt, in zerrissene Klamotten gehüllt den Palast zu verlassen. Unerkannt war sie durchs Tor gehuscht und hatte sich unters Volk gemischt, die Darbietungen der Fakire bestaunt, den Märchenerzählern gelauscht und bei den Spässen zweier Clowns mehr gelacht als in ihrem ganzen Leben. Ein Jauchzer nach dem anderen war über ihre Lippen geglitten. Ihre Hände hatten vom Klatschen geschmerzt.
Im Palast war ihre Abwesenheit bald bemerkt worden. Die Strassen im alten Stadtkern hatten sich mit den Leibgardisten des Maharadschas gefüllt. Worauf Katharina überstürzt in die vertraute Umgebung des Palastes zurückgekehrt war.
Mit keinem Wort hatte man sie gerügt. Doch am nächsten Morgen war dem diensthabenden Wachsoldaten mit einem gezielten Schlag der Kopf abgehackt worden. Die Prinzessin fröstelte, als sie der schrecklichen Lektion ihres Vaters gedachte.
Still und leise säuselte der Wind über die brechenden Kuppen und sorgte für leichte Schräglage. Die Wogen rauschten wie an den vorangegangenen Abenden. Der Sonnenbauch küsste den Horizont. Die Wellenhügel umspülten den glühenden Ball, bis er vom Meer verschluckt wurde. Kurzes Abendrot, dann regierten die Tausend oder mehr Sterne.
Die See duftete nach Freiheit. Doch die von Don Philippe verbreitete Stimmung an Bord blieb schlecht.
6 Das Kauen von Betelnüssen wirkt stimulierend auf das Nervensystem. Die Nüsse werden aufgeschlitzt, mit Limonenstücken und Gewürzen vermengt, in ein Betelblatt eingewickelt und anschliessend gekaut.
Nie zuvor hatte Don Philippe, Katharinas Verlobter und Held, einen so verlorenen Eindruck auf sie gemacht wie in jener Nacht, 1722, als dieses Segel am Horizont aufgetaucht war. Sie befanden sich alleine an Deck. Der Matrose hatte das Tau eingeholt und sich verzogen.
"Der Segler, bestimmt ein Händler auf dem Weg nach Afrika", mutmasste Katharina. "Kein Grund zur Panik, Don Philippe."
Tags zuvor schon hatten sie ein Schiff der 'Compagnie Française des Indes Orientales' gekreuzt. Der Kapitän hatte Katharina als Präsent ein Rosenwasser überreicht. Don Philippe war vom Duft entzückt gewesen. Gestern.
"Ich hab ein ungutes Gefühl", murmelte er. Katharina kicherte. Der Adelige fuhr fort: "Ihr seid jung und unerfahren. Ihr habt keine Ahnung, welches Schicksal uns blüht, sollten uns Piraten entern."
Piraten! Katharinas Herz schlug höher. In Indien waren ihr die wildesten Geschichten erzählt worden. Unrasiert sollten sie sein, bis unter die Zähne bewaffnet, blutrünstig, gnadenlos und geldgierig wie des Moguls Zahlmeister, ungebildet, mit vernarbtem, muskelbepacktem Körper. Je mehr Narben, umso kräftiger, hatte Indira, eine ihrer Zofen, behauptet.
Doch Narben schützten nicht vor drakonischer Strafe. Neulich war der erste Maat des Indischen Piraten Angria beim Fort von Cayra nahe Malabars aufgegriffen worden. Worauf die Truppen des Grossmoguls kurzen Prozess mit ihm gemacht hatten. Seither grinste er mit vertrockneter Haut und kaum mehr Haaren auf dem Schädel vom Pfahl herunter. Die Geier hatten ihm schon nach wenigen Tagen die Augen aus den Höhlen gepickt.
"Ihr meint, mein Herr, wir werden von echten Piraten angegriffen?" Katharina zögerte. Sie wollte seine Reaktion sehen. "Ich mache mir keine Sorgen. Ich weiss in Euch, Don Philippe, meinen Beschützer an der Seite."
Don Philippe hörte nichts. Er gab sich alle Mühe, Katharinas Hochachtung innerhalb von Sekunden zu verspielen.
"Foltern werden sie uns, am Mast aufhängen, mit den Pistolen abknallen oder dem Entermesser erdolchen. Wohl alles gleichzeitig. Kommt es gut, verkauft man euch Frauen in die Sklaverei oder ihr dürft einem der Piraten dienen."
Einem der Piraten dienen, wenn es gut kam? Sich ihm hingeben müssen, wenn ihm danach war? Nur Männer stellten solches Schicksal als Glücksfall dar. Wer war dieser Kerl, der von sich behauptete, einem angesehenen Adelsgeschlecht zu entstammen?
In Gedanken versunken drehte sich Katharina ab. Möwen folgten der Galeone. Immer wieder ertönten ihre Schreie. Das Segel im Kielwasser war vom Dunkel der Nacht verschluckt worden. Laternen erhellten kurz das Innenschiff der Galeone, wurden auf Drängen Don Philippes aber wieder ausgelöscht. Wind kam auf. Heftiger Wind, der Katharinas Haarpracht so lange zerzauste, bis sie die zu den Kajüten führende Türe hinter sich geschlossen hatte.
"Werden wir verfolgt?", flüsterte eine Stimme als sie ihr Schlafgemach betrat. Katharina schaute hoch. Marias Hände zitterten. Ihre sonst matten Wangen waren weiss wie Milch. "Was ist?"
"Es ist Nacht", beschwichtigte Katharina. "Don Philippe liess alle Lichter löschen. Der Steuermann änderte den Kurs Richtung Backbord. Niemand folgt uns, mein Kind." Katharina nannte Maria 'ihr Kind', obwohl die Dienerin drei Jahre älter war. "Auch ist unser Schiff mit vielen Kanonen bestückt. Kein Pirat wagt es, uns nach dem Leben zu trachten."
Wie jeden Abend vor dem zu Bett gehen griff Katharina nach dem Handspiegel. Sie betrachtete ihr Ebenbild. Das dichte, schulterlange Haar stammte von ihrer Portugiesischen Mutter, hatte der Vater oft behauptet. Ebenso die vollen Lippen, das stolze Lächeln, die zarten Wangen und das fein geschwungene Kinn. Doch das selbstbewusste, arrogante Auftreten und die tiefblauen Augen waren das unverkennbare Erbgut ihres Erzeugers.
"Niemand, mein Kind, tut uns was an."
Katharina hatte keine Ahnung, wovon sie sprach. Doch ihre Worte sorgten für Beruhigung. Zu unrecht.
Der Oberlippenbartträger riss das Schreiben auf. Er traute seinen Augen nicht. Jahrzehnte lang hatte er auf diesen Moment gewartet. Seit jenem Tag, als er die Fährte dieses Verräters in der Spelunke an der Themse verloren hatte. Doch Rache war ein Gericht, das in kaltem Zustand noch bestens mundete.
Er starrte zum Fenster hinaus in die graue Tristesse des Londoner Frühsommers. Gesicht und Oberlippenbart spiegelten sich in der Scheibe. Am liebsten hätte er nach dem Mantel gegriffen und wäre sofort an die Regentstreet geeilt. Doch besann er sich eines Besseren.
Denn er wusste: Wie der ausgeräucherte Fuchs im Bau hockte dieser verdammte Hurensohn auf seiner Insel in der Falle. Er war gefangen und konnte keinen Unterschlupf finden. Eile war nun weiss der Teufel nicht mehr nötig. Vielmehr sollte strategisch vorgegangen werden.
Zu viel stand auf dem Spiel. Es ging um Diamanten, Golddukaten, Schmuck und Edelsteine. Ein Menschenleben reichte nicht aus, um das Vermögen zu verprassen, um das es ging. Der Oberlippenbartträger netzte sich mit der Zunge die Lippen. Er wollte Rache und Reichtum.
Nie gab dieser Hurensohn jedoch sein Wissen freiwillig Preis, war er sich bewusst. Und schon gar nicht seinen Feinden. List war gefragt. In feinste Seide gekleidet, mit Kristallbecher, Goldbesteck und Chinesischem Porzellan mundete die Rache garantiert am besten.
"Zum Teufel mit ihm", murmelte der Oberlippenbartträger. "Ich kann warten."
Ein böses Lächeln spielte mit seinen Mundwinkeln, als er die Vorhänge zuzog.
Kanonenschüsse rissen Katharina aus dem Schlaf. Pulverdampf stieg hoch. Weitere Schüsse. Ein Ruck ging durch den Rumpf. Die Galeone stöhnte auf. Ein Loch war in die Planken gerissen worden.
Stimmen wurden laut. Don Philippe war der erste, den Katharina im Kajütengang kreuzte. Sein Gesicht erinnerte an einen Kreideberg. Er konnte sich nicht zwischen dem Gang ans Oberdeck und jenem zurück unter die Bettdecke entscheiden.
Katharina zögerte keine Sekunde. Nach dem letzten Treppenabsatz blies ihr die Meeresbrise ins Gesicht. Ihre Zungenspitze glitt über die Lippen. Die Luft moderte nach Salz.
Und dann sah Katharina die Victoire zum ersten Mal, sah den am Hauptmast flatternden Jolly Roger. Der schwarze Totenkopf auf blutrotem Grund grinste sie an. Gebannt starrte sie auf die wendige Nussschale und in die wilden Gesichter, die an der Reling hingen und furchtbare Grimassen schnitten.
"Frauen haben nichts an Deck zu suchen!", brüllte Mister Singh, der erste Maat. "Runter!"
"Ich kann mit dem Degen umgehen!", beharrte die Prinzessin. "Reicht mir einen Degen!"
"Runter unter Deck!"
"Einen Degen! Dies ist ein Befehl!"
Ihr Aufbegehren war zwecklos. Singh drängte Katharina zurück, stiess sie regelrecht die Treppe zur Kajüte hinab. Sie rieb sich das schmerzende Handgelenk. Ein Fluch entglitt ihren Lippen. Kurz noch sah sie die Angst in den Gesichtern der Soldaten. Dann krachte die Türe hinter ihr ins Schloss.
Jemand hustete wie ein Erstickender. Es wurde geflucht, gewettert, gefleht, gebetet – alles gleichzeitig. Die Treppe knarrte bei jedem Tritt. Aus Don Philippes Kabine vernahm Katharina ein Wimmern, hörte den Adeligen vom Sensenmann jammern, sich über den Schöpfer beklagen. Was war mit ihrem Helden?
Um ihren Verlobten kümmerte sich Katharina nicht. Sie machte sich Sorgen um Maria. Wo steckte ihre Zofe?
Lange musste sie nicht suchen. Die Bettdecke bewegte sich. Zwei Schritte, schon hob Katharina den Zipfel an. Maria schrie. Katharina berührte ihre Schulter. Maria schrie noch mehr. Also legte sich Katharina auf die Koje, kuschelte sich an Maria, nahm ihren Kopf in die Arme und fuhr mit den gespreizten Fingern durch ihr Engelshaar.
"Hierher nach Achtern, ihr Bastarde", brüllte der Kapitän an Deck. "Mister Singh, treiben Sie die verdammten Kerle achteraus!"
"An die Luken! Los!"
"Achtung, Backbord!"
"Schiesst, verdammte Hurensöhne! Schiesst endlich!"
Die Wortgefechte erinnerten an das Treiben auf einem Indischen Wochenmarkt. Doch der Umgangston war herber. Stiefel polterten auf den Planken. Schiesspulver zischte. Kanonen dröhnten. Jemand heulte. Er war von einer Kugel getroffen worden. Blut klebte an seinen Händen. Blut, das aus der Brust spritzte. Der Kapitän kommandierte die Kanoniere, schrie, brüllte, verfluchte sie. In Stresssituationen kaschierte so mancher Vorgesetzter Führungsschwäche mit Lautstärke.
"Achtung, der Hauptmast!", hörte Katharina. "Zur Seite!"
Ein Gegenstand polterte aufs Mitteldeck. Die Galeone schüttelte sich. Sie stöhnte. Wellen spritzten. Die Kanonen schwiegen. Einmal noch brüllte der Kapitän ein Kommando. Dann herrschte Stille.
Es war die Stille vor dem Sturm. Wie ein Orkan kamen die Piraten an Deck. Das Geheule und Gejohle schickte selbst Katharina, die keine Frau von Traurigkeit war, einen Schauer über den Rücken.
Die Rauferei dauerte nicht lange. Erneut herrschte Grabesstille. Die Ungewissheit war unerträglich. Was geschah an Deck? Wo blieb Don Philippe? Wann erzählte er den Frauen von seinen Heldentaten?
Don Philippe liess auf sich warten. Wie Katharina auch Jahre später noch auf ihn wartete. Niemand konnte ihr sagen, was aus ihm und dem vermissten Rettungsboot geworden war.
Es polterte auf der Treppe. Die beiden Frauen zuckten zusammen. Maria wimmerte. Katharina erhob sich. Ihre Hände strichen über die zerknitterten Leinen, um dem alten Stoff wenigstens halbwegs etwas Klasse abzugewinnen. Jemand riss eine Türe auf. Zwei Schüsse, dann war es wieder still. Die Schritte stoppten vor ihrer Kajüte. Das Schloss hielt den Tritten stand.
"Aufmachen! Sofort!"
Katharina antwortete nicht. Fest umklammerte sie den Elfenbeingriff des arabischen Krummdolches. Angst war ihr fremd. Sie fühlte sich für Maria verantwortlich.
Die Schritte entfernten sich, glaubten die Frauen. Nur kurz. Dann knarrten die Stufen erneut.
"Hier spricht der neue Kapitän. Türe auf oder ich gebrauch Gewalt!"
Maria zitterte. Katharinas Atem raste. Deutlich hörte sie den Unbekannten tief Luft holen.
"Stiehlst du meine Zeit, stehle ich deine", ertönte erneut seine Stimme. "Ich zähle bis drei!"
Der Mann war es gewohnt, Befehle zu geben und durchzusetzen. Katharina verstand den Sinn seiner Worte. Sie drehte den Schlüssel im Schloss. Er fragte nicht nach, sondern trat wortlos über die Schwelle.
Als erstes fiel Katharina sein Blick auf. Er war stechend und starr, als stünde er inmitten eines Orkans und navigierte das ihm anvertraute Schiff seelenruhig zwischen den Klippen hindurch. Sie schaute zu Boden und glaubte, alles Vertrauen in sich und ihre Fähigkeiten zu verlieren.
Der Pirat trug ein rotgestreiftes Hemd und dunkelbraune Leinenhosen. Am Gürtel prangte ein ausgehöhltes Kuhhorn mit Schiesspulver. Aus dem Hosenbund blickten zwei Pistolengriffe. Er machte drei Schritte, stemmte die Hände in die Hüften und verharrte vor der Koje.
"Während die Soldaten das Schiff verteidigen, liegt die Prinzessin im Bett. Hat die königliche Hoheit die Güte, sich vor ihrem Gebieter zu erheben?"
Maria, in Seide gekleidet und das Gesicht bis auf einen Schlitz verhüllt, starrte mit weit aufgerissenen Augen hinter dem Schleier hervor. Die Frauen hatten getan, wie vom Maharadscha befohlen. Die Haare nach hinten gekämmt stand Katharina im abgetragenen Leinenhemd vor dem Bett.
"Lassen Sie uns in Ruhe. Viel Ärger bleibt Ihnen erspart", hörte sie sich sagen. Obwohl die Worte von Selbstbewusstsein zeugten, zitterte ihre Stimme. "Bitte verlassen Sie das Gemach ihrer Hoheit."
"Seht, seht, die Zofe zeigt Courage", höhnte der Pirat. "Du hast schöne, mich ans klare Wasser am Strand von Bel Ombre erinnernde Augen."
Mit allem hatte Katharina gerechnet, dass er sie ohrfeigte, ihre Haare riss, sie begrapschte oder ihr einen Kuss auf die Lippen zwang. Nie jedoch mit diesen Worten. Er griff nach ihrer Hand und begutachtete die Finger wie ein Kunstobjekt. Sein Lachen schreckte sie aus den Gedanken auf.
"Sag der Prinzessin, sie soll sich im Bett erheben, sonst..."
Die Gestik des Piraten – er fuhr sich mit dem Zeigefinger quer über den Hals – war unmissverständlich. Maria weinte bittere Tränen. Katharina setzte sich neben die Vermummte und drückte deren Kopf an ihre Schulter.
"Sie haben wohl nie gesittete Umgangsformen gelernt?", fauchte sie.
"Selbst in alten Lumpen hauchst du diesem Raum mehr Licht ein als jede Kerze", höhnte der Pirat. "Bist wohl erotischen Männerträumen entsprungen, du Gift speiende Hexe?"
Dann herrschte er Maria an, sich verdammt noch mal im Bett zu erheben und ihm die Hand zu reichen. Die Finger der verkleideten Zofe zitterten. Für den Bruchteil einer Sekunde berührte der Kapitän ihre Haut. Dann lachte er und würdigte sie keines Blickes mehr.
Katharina hatte ein eigenartiges Gefühl in der Magengegend. Sie verspürte Angst, Furcht, Wut, Verzweiflung und Respekt, wobei die Angst überwog.
"Ich liebe intelligente Frauen", sagte er und zog den einen Mundwinkel hoch. Sein Atem duftete nach der eben gegessenen Banane. Katharina schloss die Augen. "Doch ihr beide seid so was von einfältig."
Durchschaute der Pirat die Frauen, noch bevor die Maskerade begann? Katharina spürte, wie ihr das Blut in den Kopf stieg, in der Schläfengegend pochte und die Haut einer Feuersbrunst aussetzte.
"Du erinnerst mich an die über der Glut schmorenden Langusten. Jene von Ste-Marie munden am besten", spottete er weiter. "Behalt die Lumpen, Tigerin. Ich freu mich auf den Moment, wenn du mir deine Krallen zeigst."
Er spitzte die Lippen, lachte böse, zog die Türe hinter sich ins Schloss und drehte den Schlüssel.
Maria verbarg das Gesicht in den Leinen. Sie liess ihren Emotionen freien Lauf und heulte los. Katharina beachtete ihre Dienerin nicht. Sie starrte auf die geschlossene Türe. Obwohl in der engen Kammer gefangen überkam sie ein Gefühl der Erleichterung. Dass sie das Gefühl irreführte, realisierte sie erst viel später.
"Kaum Tote und Verletzte", beruhigte Katharina. "Der Kampf hat nur kurz gedauert. Unsere Leute haben sich ergeben."
"Bringen sie uns um?", heulte Maria mehr als dass sie fragte. "Ich will nicht sterben!"
Katharina dachte an Don Philippes Worte. Von Vergewaltigung war die Rede gewesen, von Erdolchung und Sklaverei. Der bösen Vorahnung zum Trotz schüttelte sie den Kopf.
Maria stellte keine weiteren Fragen. Fragen, die Katharina sowieso nicht beantworten konnte. Die Piraten seien am Aussterben, hatte ihr Vater noch vor der Abreise beschwichtigt. Bald würden sie Legenden sein, die Kidds, Taylors, Tews, Averys, Le Vasseurs und Englands. War der Piratenkapitän einer von diesen?
Auf dem Gang wurden Stimmen laut. Maria und Katharina mussten an Deck treten. Ihre Mannschaft, entwaffnet, aber nicht in Ketten, hockte fast vollzählig beieinander. Der Steuermann und ein Schiffsjunge hatten tiefe Schnittwunden am Oberkörper. Drei Matrosen waren tot. Ausserdem fehlte Don Philippe. Die Nase des Piratenkapitäns zielte hoch in die Luft.
"Prinzessin, akzeptieren Sie bitte unseren Dank für die im Schiffsrumpf transportierten Schätze", spottete er und machte vor Maria einen Hofknicks. "Sie haben meiner Mannschaft die Rente gehörig vergoldet."
Die Piraten grölten. Maria blickte zu Katharina, stammelte etwas, brachte aber kein Wort über ihre Lippen. Unüberlegt rief Katharina: "Der Grossmogul zahlt es Euch heim, wenn Ihr seiner Nichte ein Leid zufügt."
"Willst du drohen, Tigerin?", spottete der Kapitän. "Mir?"
Katharinas Gaumen war trocken. Sie schluckte leer, bevor sie antwortete.
"Er lässt Euch am Galgen baumeln."
"Nicht mal im Traum hofften wir auf so wertvolle Fracht", höhnte der Pirat. Stimme und abschätziges Abwinken mit der Hand brachten seine Verachtung noch mehr zum Ausdruck. "Euer Schiff hatte das Pech, unseren Kurs zu kreuzen. Wir waren auf dem Weg in den wohlverdienten Ruhestand."
"Ihr habt uns verfolgt", wies ihn Katharina zurecht. Selbst das diskrete Zeichen eines der Matrosen – er führte den Finger kurz an die Lippen – brachte sie nicht zum Schweigen. "Von Zufall ist keine Rede..."
"Schnauze halten", herrschte der Piratenkapitän und deutete auf Maria. "Du, Prinzessin, sollst frei sein. Der Bussard macht keine Gefangenen mehr. La Buse7 will seinen Frieden. Doch deine Zofe, die widerspenstige Tigerin, wird mir noch die Krallen zeigen. Ungezähmt lass ich sie nicht ziehen."
Der Pirat war Olivier Le Vasseur, genannt La Buse, der Bussard? Katharina hielt den Atem an. Abenteuerliche Geschichten hatte sie von ihm gehört. Von kühnen Überfällen war die Rede gewesen, von der Prise der Virgen del Cabo. Präzis und fatal schlug er einem Bussard gleich zu, wenn niemand damit rechnete. Genau wie an diesem Morgen.
Eine Prinzessin unter Piraten. Jahrelang hatte Katharina das Abenteuer herbeigesehnt, in kindlicher Naivität von Piraten geträumt. Und jetzt?
Maria schaute zu ihr hoch. Der Konsequenzen bewusst wollte sie die Maskerade auffliegen lassen. Doch Katharina schüttelte den Kopf. Vielleicht war das Geheimnis der Frauen noch immer deren Geheimnis.
"Wir verlassen das Schiff", rief La Buse und grinste hämisch. "Euer Proviant reicht. Segelt nach Indien zurück. Munition und Geschütze behalten wir. Bestellt dem Grossmogul unsere besten Grüsse. Bis er über den Verlust in Kenntnis gesetzt ist, haben wir bereits das Kap der Guten Hoffnung8 umrundet."
Der Kapitän plauderte von der Umrundung des Kaps der Guten Hoffnung. War er naiv? La Buse starrte Katharina an. Später hätte sie ihn durchschaut. Doch an diesem Tag, der zu ihrem Schicksalstag werden sollte, war sie ahnungslos und naiv – nicht er!
Die meisten der 200 Piraten befanden sich wieder auf ihrem Schiff, auf der mit 36 Kanonen bestückten Victoire. Der Inhalt der Schatzkammer, diese selbst für Katharina unermesslich anmutende Mitgift, hatte während den zurückliegenden Stunden den Laderaum gewechselt. Wie mit geschlagenen Wurzeln stand die in Lumpen gekleidete Prinzessin da. Sie sortierte die Gedanken, brachte aber keine Ordnung in ihren Kopf. Wie durch eine Nebelschwade drangen des Piraten Worte an ihr Ohr.
"Als Zeichen unserer Hochachtung segelt des Grossmoguls Nichte zurück nach Indien. Doch du, Tigerin, kommst mit uns. Mittellose Prinzessinnen benötigen keine Zofe."
Musste Katharina ihr vorlautes Mundwerk bereuen? Ihr wirrer Blick sorgte bei den Piraten für Belustigung.
"Rühr mich nicht an!", fauchte sie einen von ihnen an, der nach ihrem Oberarm griff. "Pfoten weg!"
"Keine Zicken, sonst fackle ich die Galeone auf hoher See ab", drohte La Buse. "Oder ich knall dich ab wie das Grossmaul dort drüben!"
Mit der Pistolenspitze zielte er zuerst auf ihren Kopf, dann auf einen der Toten, die rücklings auf den Planken lagen. In der blutverschmierten Stirn klaffte ein Loch. Fliegen labten sich am trocknenden Blut.
"Ich bleib auf meinem Schiff", stammelte Katharina, "geh nicht mit Euch."
"Auf deinem Schiff?" La Buse betonte das zweite Wort besonders stark. "So?"
"Ich..."
"Vergiss nie: Stiehlst du meine Zeit, stehle ich deine."
Katharina spürte tief im Bauch drinnen, dass der Pirat nicht nur drohte. Sie zitterte. Da warf sich Maria auf den Boden und umklammerte die Fussknöchel ihrer Herrin.
"Bitte nicht! Habt Erbarmen", wimmerte sie. "Bitte nicht!"
"Seit wann gehen Prinzessinnen vor ordinären Leuten auf die Knie", höhnte der Pirat. "Seit wann?"
"Bitte nicht."
"Dauert's noch lange? Meine Zeit ist zu kostbar, um sie hier zu verschwenden."
Von einer Sekunde auf die andere war Katharinas Angst verflogen. Sie richtete ihren Körper auf, wurde einen Kopf grösser und kniff die Augenlider halb zusammen.
"Zuerst verabschied ich mich von meinen Freunden. Habe ich Euch zu folgen, so bestimme ich den Zeitpunkt. Oder soll alle Welt erfahren, dass La Buse ein Feigling ist, der sich an wehrlosen Mädchen vergreift?"
Der Pirat antwortete nicht. Er starrte Katharina nur an. Doch sie senkte den Blick nicht. Es brauchte mehr als einen Bussard, um die Tigerin zu bändigen, in die Knie zu zwingen oder flachzulegen.
Der Kapitän des Grossmoguls fand keine Worte, um sein Entsetzen auszudrücken. Er bangte nicht um Katharinas Leben, sondern um das seinige. Wie nur sollte er seinem Herrn und Gebieter mit dieser Horrornachricht unter die Augen treten? Jeder an Bord kannte die Strafe.
"Warum du?" Maria drückte Katharina an sich. Sie wollte nicht von der Herrin lassen, befeuchtete ihre Wangen mit frischen Tränen und schüttelte immer wieder den Kopf. "Warum du? Weshalb nicht ich?"
"Das erzähl ich dir bei unserem nächsten Aufeinandertreffen, mein Kind", beschwichtigte Katharina. "Bald werden wir wieder zusammen lachen."
Doch selbst mit ihren letzten Worten irrte Katharina. In diesem Leben sollten sich die beiden Frauen nie mehr begegnen. Katharina konnte sich dies aber nicht vorstellen, als sie auf der Planke von der Galeone auf die Victoire übersetzte.
7 Der Bussard
8 Südspitze Afrikas
Regent Street, London. Seit Tagen goss es aus Kübeln. Rinnsale quirlten von den Dächern. Ungehindert strömte das Wasser über das Kopfsteinpflaster. Die Gassen waren leer.
Eine Gestalt steuerte das Haus mit der Nummer 15 an. Der Mantel fiel dem Mann weit über die Knie. Der aufgestellte Kragen schützte gegen Wind und Regentropfen. Mit dem Fuss trat er gegen die Türe. Das Glöckchen an der Decke klingelte. Der mit der Rasierklinge bewaffnete Bursche schaute kurz auf und nickte. Der Vermummte trat über die Schwelle.
Er wusste, welche prunkvollen Räume sich hinter dem Barbiershop verbargen. Zylinder und Mantel flogen in Richtung Kleiderständer, wobei der Hut sein Ziel, die abstehende Spitze, verfehlte und in der Raumecke liegen blieb. Der Mann aus dem Regen kümmerte sich weder um seine tropfenden Kleidungsstücke noch beachtete er den einzigen Kunden, dessen Kinn und Nasenspitze gegen die dicke Schaumschicht ankämpften.
Der Finstere biss sich auf die Oberlippe und zog sein Gesicht in hundert Falten. Hundert Sorgenfalten. Er drückte die Klinke. Ohne zu warten trat er ins Hinterzimmer. Kurz noch sah der Kunde das grimmige Gesicht durch den Spalt. Dann schloss sich die Türe wieder.
Ziellos peilten die Piraten jede Himmelsrichtung an, ohne auch nur ein Mal südlichen Kurs einzuschlagen. Wollte La Buse ums Kap der Guten Hoffnung nach Europa fliehen, so verspürte er keine Eile. Nach einer Woche ankerte die Victoire am Strand von Bel Ombre9.
Katharina rieb sich die Augen. Der puderfeine Sand reflektierte das Sonnenlicht. Zwischen den von Wind und Wasser glattgeschliffenen Granitfelsen, deren Formen an Elefantenpopos erinnerten, reckten Palmen ihre Wedel in den Himmel. Fische tummelten sich im glasklaren Wasser. Das dicht überwucherte Gebirge wölbte sich mehrere Tausend Fuss in die Höhe – und gipfelte in einem dominanten Nadelfelsspitz10.
Kristallklar sprudelten die Quellen und zauberten feuchtes Nass aus dem Nichts. Bäche stürzten über die Felsen. Die Piraten ersetzten Schiffsplanken und kalfaterten11 lecke Stellen. Pumpen verhinderten, dass der Wasserpegel im Rumpf weiter anstieg. Die Victoire war in schlechtem Zustand.
Katharinas Aufgaben und Pflichten unterschieden sich wenig von jenen der Piraten. Tagsüber schrubbte sie Planken, schuftete in der Kombüse12 oder flickte Segel. Spürte sie den Atem des Quartiermeisters im Nacken, so zitterte sie. War ihm danach, so setzte es Prügel. Also gehorchte sie.
In der kurzen Schichtpause plantschte sie am Fuss der Wasserfälle. Die Salzkruste musste weg. Die kühle Frische der Wassertropfen liess sie die Strapazen vorübergehend vergessen.
"Müsste ich das Paradies auf Erden finden, ich würde mit meiner Suche in Bel Ombre beginnen", sagte sie einmal. "Aber ohne Piraten."