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Willkommen in Hill House – eure schlimmsten Ängste erwarten euch bereits ...
Die meisten alten Häuser schlafen, und fast alle träumen. Doch Hill House schläft nicht und träumt nicht. Hill House wartet ...
Hill House ist der perfekte Ort für ihr Projekt, davon ist Holly Sherwin überzeugt. Das Herrenhaus, hoch in den Wäldern von Upstate New York, soll für einige Wochen ihr Zuhause werden. Hier will die Autorin zusammen mit drei weiteren Künstlern ihr Theaterstück über einen Hexenprozess proben, das ihr den Durchbruch bringen soll. Sie fragt sich nicht, warum die Besitzerin selbst sich von ihrem Anwesen fernhält, oder weshalb das Paar, das hier nach dem Rechten sieht, nie über Nacht bleibt. Holly weiß, dass die Atmosphäre von Hill House sie inspirieren wird. Bei den Proben ist die Energie mit Händen zu greifen. Oder ist hier noch etwas anderes am Werk? Woher kommen die Blutflecke auf dem Tischtuch, die seltsamen Stimmen? Die schwarzen Hasen, die immer wieder auftauchen? Etwas Unheimliches geht vor in Hill House ...
»Eine zeitlos unheimliche Geschichte – der Stoff, aus dem Albträume sind.« Kirkus Reviews
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Seitenzahl: 466
Hill House ist der perfekte Ort für ihr Projekt, davon ist Holly Sherwin überzeugt. Das Herrenhaus, hoch in den Wäldern von Upstate New York, soll für einige Wochen ihr Zuhause werden. Hier will die Autorin zusammen mit drei weiteren Künstlern ihr Theaterstück über einen Hexenprozess proben, das ihr den Durchbruch bringen soll. Sie fragt sich nicht, warum die Besitzerin selbst sich von ihrem Anwesen fernhält oder weshalb das Paar, das hier nach dem Rechten sieht, nie über Nacht bleibt. Holly weiß, dass die Atmosphäre von Hill House sie inspirieren wird. Bei den Proben ist die Energie mit Händen zu greifen. Oder ist hier noch etwas anderes am Werk? Woher kommen die Blutflecke auf dem Tischtuch, die seltsamen Stimmen? Die schwarzen Hasen, die immer wieder auftauchen? Etwas Unheimliches geht vor in Hill House …
Elizabeth Hand, geboren in New York, ist die Autorin von über fünfzehn Romanen und Kurzgeschichtensammlungen. Sie wurde u. a. mehrfach mit dem Shirley Jackson Award, dem World Fantasy Award und dem Nebula Award ausgezeichnet. Ihre Literaturkritiken und Essays erscheinen u. a. in der Washington Post, der Los Angeles Times und der Village Voice, dem Boston Review oder der Zeitschrift Salon. Sie lebt in Maine und London.
Elizabeth Hand
Roman
Aus dem Englischenvon Tobias Schnettler
Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel »A Haunting on the Hill« bei Mulholland Books / Little, Brown and Company Hachette Book GroupDer Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
Deutsche Erstveröffentlichung September 2024
Copyright © 2023 by Elizabeth Hand, and Laurence Jackson Hyman for the children of Shirley Jackson
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2023 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur GmbH, München, nach einer Vorlage von David Litman unter Verwendung von Bildmaterial von gettyimages/Don Farrall, Justin Paget
Redaktion: Regina Carstensen
AB· Herstellung: ik
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-32185-7V001
www.goldmann-verlag.de
In Erinnerung an Peter Straub, geliebter Freund und unermüdlicher Führer durch die Dunkelheit
Unsere alltägliche Wirklichkeit – mit ihren Ziegelsteinen,ihren Straßen, ihren Wäldern, ihren Hügeln, ihren Flüssenund Seen – könnte merkwürdige und vielleicht sogar erschreckende Löcher aufweisen.
Walter de la Mare
Die meisten Häuser schlafen, und fast alle Häuser träumen: von großen Bränden und von Festlichkeiten, von Geburten und schiefen Fußböden; von den Schritten kleiner Kinder und von Schindeln, die repariert werden müssen, von kranken Haustieren und abblätternder Farbe, von Totenwachen und Hochzeiten und Fenstern, die den Regen und den Schnee nicht mehr abhalten, sondern heimlich hineinlassen, wenn niemand daheim ist, der es bemerkt.
Hill House schläft nicht und träumt nicht. Von seinen überwucherten Rasenflächen und weitläufigen Wäldern abgeschirmt, umgeben von langen Schatten, die von Bergen und uralten Eichen stammen, beobachtet Hill House bloß. Hill House wartet.
Als ich in der Ferienwohnung aufbrach, reckte die Sonne gerade ihren Kopf über die nahe gelegenen Berge, und goldenes Licht fiel auf das breite Stück des Flusses, das an dem kleinen Städtchen entlangfloss. Nisa lag noch zusammengerollt im warmen Bett und atmete gleichmäßig, ihre dunklen Locken klebten an ihrer Wange. Ich schob sie zur Seite, doch sie regte sich nicht. Nisa schlief wie ein Kind. Anders als ich litt sie nie unter Albträumen oder Schlaflosigkeit. Es würde vermutlich noch eine oder zwei Stunden dauern, bis sie aufwachte. Vielleicht noch länger. Wahrscheinlich.
Ich küsste ihre Wange, atmete ihren Duft ein – ein Flieder-und-Freesien-Parfum, das sich mit meinem importierten Jasmin et Tabac vermischte, fast der einzige Luxus, den ich mir gönnte – und streichelte mit der Hand über ihre nackte Schulter. Ich war verlockt, zu ihr zurück ins Bett zu kriechen, doch ich verspürte zugleich eine merkwürdige Rastlosigkeit, das bohrende Gefühl, dringend irgendwo sein zu müssen. Ich musste nirgendwo hin – wir kannten hier niemanden außer Theresa und Giorgio, und die beiden würden gerade in ihrem Homeoffice mit Blick auf den Fluss arbeiten.
Ich küsste Nisa noch einmal: Falls sie aufwachte, würde ich das als Zeichen betrachten und bleiben. Doch sie wachte nicht auf.
Ich kritzelte eine Nachricht auf ein Stück Papier – Nisa vergaß oft, ihre Mitteilungen stummzuschalten, und sie würde den ganzen Morgen schlecht gelaunt sein, wenn sie von einer Textnachricht geweckt würde.
Fahre ein bisschen herum, bringe was zu essen mit. Ich liebe dich.
Ich zog mich hastig an, angetrieben von einer gewissen Vorahnung, die ich nicht erklären konnte. Vielleicht lag es daran, dass wir an einem neuen Ort waren und nach so langer Zeit einmal raus aus New York City.
Am Abend zuvor hatten wir in unserer Ferienwohnung eine Flasche Champagner geleert, und das nach Bier und einigen Gläsern zwölfjährigem Jura in der Bar, die Theresa als die beste in diesem Teil von Upstate New York empfohlen hatte. Auch die Ferienwohnung war Theresas Idee gewesen. Sie und ihr Mann, Giorgio, hatten sich hier vor Jahren eine zweite Wohnung gekauft, doch während der Pandemie hatten sie ihr Apartment in Queens aufgegeben und waren dauerhaft hergezogen. Seitdem bearbeiteten sie mich und Nisa und ihre anderen Freunde, die noch in der City lebten, das Gleiche zu tun.
»Im Ernst, Hols, du wirst es lieben«, hatte mich Theresa am Abend zuvor bedrängt. »Ihr hättet das schon vor Jahren machen sollen, das ist euch klar, oder?«
»Klar«, hatte Nisa geantwortet. Sie war sich sicher, dass Theresa und Giorgio vor Langeweile durchdrehten, was vermutlich auch stimmte. Sie kamen mindestens ein- oder zweimal im Monat in die Stadt und übernachteten auf jemandes Sofa, weil sogar für sie Kurzzeitmieten zu teuer geworden waren und sie ihre eigene wunderbare Dreizimmerwohnung in Sunnyside untervermietet hatten. »Und ich hätte mir einen Vater suchen sollen, der mir eine Million Dollar vermacht, nachdem sein Ultraleichtflieger beim letzten Flug über Torrey Pines abgestürzt ist. Wieso bin ich da nicht draufgekommen?«
Nisa griff sich an die Stirn. Theresa lächelte reumütig, machte eine Touché-Geste und bestellte eine weitere Runde für uns alle. Sie und ihr Vater hatten schon lange keinen Kontakt mehr gehabt. Das Erbe war eine Überraschung gewesen, und sie ging großzügig damit um.
Trotzdem hatte Theresa nicht unrecht. Es war wirklich schön hier oben. Die sich windende Fahrt am Fluss entlang, wenn das zersiedelte Stadtgebiet von New York City in die vorgelagerten Orte überging – Apfelplantagen, zu Solarparks umgewandelte Weiden und Lagerhäuser, all die noch nicht gentrifizierten, zwielichtig aussehenden Städtchen am Fluss, verschandelt durch Industriebrachen und jahrzehntelange Armut. Nisa und ich waren an unzähligen »Vom Eigentümer zu verkaufen«-Schildern vorbeigefahren, vor Häusern aufgestellt, die zu heruntergekommen aussahen, als dass sich noch etwas anderes als ein Abriss gelohnt hätte. Und man hätte immer noch den Boden austauschen müssen, der durch Abwässer aus der industriellen Landwirtschaft und aus Fabriken verseucht war, die schon vor einem halben Jahrhundert dichtgemacht hatten.
Doch nach einigen Stunden waren wir für die lange Fahrt mit solchen schmucken Dörfern wie diesem belohnt worden. Kleinen Städtchen, die schon längst von selbst ernannten Künstlern und Kunsthandwerkern kolonialisiert worden waren, die in Wirklichkeit bloß reich genug waren, um der Stadt zu entkommen und sich zu nennen, wie auch immer sie wollten. Craftbeer-Brauer, Textildesigner, Glaskünstler mit Spezialgebiet maßgeschneiderte Bongs und Yoga-Accessoires wie Nasenspülkännchen. Chiropraktiker für Hunde. Steinmetze, die einen Hunderte Jahre alten Feldsteinkamin abrissen, jeden einzelnen Stein nummerierten, um ihn dann, Stück für Stück, einen Raum weiter wiederaufzubauen. Leute, die seltene Schnäpse aus Sonnenhut und Schwarzwurz destillierten oder Sirup aus Zirbelkiefernadeln machten oder komplizierte Ringe und Broschen aus deinem eigenen Haar und dafür so viel Geld verlangten, wie ich als Lehrerin in einem Monat verdiente. In einem sehr guten Monat.
Ich versuchte, nicht daran zu denken, als ich mit meinem alten Toyota Camry die Main Street entlangrollte und den Hals reckte, um zu sehen, ob das Café schon geöffnet hatte. Nisa und ich hatten am Tag zuvor mit dem Besitzer geredet – er kam ebenfalls aus Queens. Er war erst seit sechs Monaten hier, doch er sagte uns, es stünden jeden Morgen Schlangen vor dem Café, wenn er die Türen öffnete.
Offenbar hielt er noch immer an seinen NYC-Zeiten fest – es war sechs Uhr morgens, und der Laden war noch zu. Doch der Parkplatz des Cup and Saucer, am Rand der Stadt, war vollgepackt, Pick-ups und SUVs standen auf dem rissigen Asphalt verteilt. Ich parkte neben einem Sattelzug und kam beim Eintreten an drei Typen vorbei, die sich neben der Tür unterhielten.
»Morgen«, sagte einer. Unsere Blicke begegneten sich, und er hielt meinem lang genug stand, dass ich mich zu einem Lächeln verpflichtet fühlte, auch wenn er nicht gelächelt hatte.
Ich bestellte einen Coffee to go mit reichlich Kaffeesahne und sah mir die Donuts auf der Theke an. Ich beschloss, darauf zu verzichten und auf dem Rückweg ein paar Croissants im Café zu kaufen. Die würden das Doppelte kosten, aber Nisa mochte keine Donuts. Schade, denn diese waren selbst gemacht und genau so, wie sie sein müssen, in Schmalz frittiert.
Ich kehrte zum Auto zurück und saß ein paar Minuten lang da, nippte an meinem Kaffee und überlegte, was ich mit meiner rastlosen Energie anfangen sollte. Ich wollte nicht zurückfahren und Nisa aufwecken, nicht ohne Croissants und Milchkaffee. Doch wir hatten uns diesen Ort in den letzten zwei Tagen bereits gründlich angesehen. Ich erinnerte mich, dass Theresa und Giorgio uns außerdem reichlich Tipps für andere reiche Städtchen in der Nähe genannt hatten.
»Nur Hillsdale könnt ihr vergessen.« Giorgio hatte mit den Fingern geschnipst, als sei Hillsdale bloß eine vorbeisurrende Mücke. »Das ist ein Drecksloch.«
Theresa hatte genickt. »Da muss irgendwas im Leitungswasser sein oder so. Die ganze Stadt war schon am Boden, als wir zum ersten Mal hierherkamen. Man sollte meinen, dass sie froh sind, wenn es neue Steuerzahler gibt, aber die hassen Außenstehende wirklich.«
Das erschien mir merkwürdig – dass eine kleine Stadt arm geblieben war, obwohl doch so viele Orte ringsum von dem Immobilienboom profitiert hatten. Doch es deutete auch darauf hin, dass Hillsdale ein Ort sein könnte, an dem Nisa und ich uns irgendwann einmal ein heruntergekommenes Haus würden leisten können. Ich entschied, eine kleine Erkundungsfahrt zu unternehmen. Sollte Hillsdale interessant sein, könnten wir beide später gemeinsam hinfahren, um es uns genauer anzusehen. Ich trank meinen Kaffee aus, kurbelte das Fenster herunter und fuhr aus der Stadt heraus. Ich machte mir nicht die Mühe, mir auf dem Handy die Strecke anzusehen. Route 9K war die einzige Straße weit und breit, und auf der befand ich mich.
Die Luft hatte diese berauschende Schärfe des frühen Herbstes: Goldrute und getrocknetes Wollgras und das erste Laub, vermischt mit dem Geruch des Flusses, nach Fisch und Schlamm. Jetzt, da die Straße schnurgerade vor mir lag, schweiften meine Gedanken ab. Manche Menschen hassen das Ende des Sommers, aber ich habe es schon immer geliebt, genauso wie ich als Kind den Beginn des neuen Schuljahrs geliebt habe.
Das änderte sich, als ich an einer Privatschule in Queens anfing. Zu diesem Job kam ich vor zwei Jahrzehnten durch Zufall und bin damit nie wirklich warm geworden. Ich habe keine pädagogische Ausbildung und bin keine zugelassene Lehrerin, aber das braucht man nicht, um an einer Privatschule zu unterrichten. Jedenfalls nicht an der, die mich anstellte. Die Bezahlung war nicht toll, aber auch nicht zu schlecht, und die Schule übernahm die Hälfte meiner Krankenversicherung. Jahrelang redete ich mir ein, es sei nur eine Zwischenlösung, ich würde schon bald wieder Arbeit beim Theater finden.
Das war nie geschehen. Wenn ich mich einmal beklagte, wies Nisa mich darauf hin, dass ich froh sein konnte, einen Job zu haben, der wenigstens ein bisschen mit meinen Interessen zu tun hatte. Wer stellt schon eine erfolglose Theaterautorin ein? Ich unterrichtete Englisch, und im Laufe der Zeit gelang es mir zumindest, Stücke für Achtklässler in den Unterricht einzubauen, angefangen mit stark vereinfachten Versionen von Shakespeare-Dramen – Macbeth und Ein Sommernachtstraum, Was ihr wollt, sogar Hamlet.
Die Schüler lasen die von mir bearbeiteten Texte laut vor, und manchmal führten sie sie in der kleinen Sporthalle auf, die zugleich Veranstaltungsraum war, vor einem Publikum von Eltern, Geschwistern und den paar wenigen Lehrerkollegen, die ich zwangsverpflichten konnte, und über allem hing der überwältigende Gestank von Axe, Victoria’s Secret Parfum und fruchtigem Lipgloss – als wäre gerade ein Drogeriemarkt explodiert. All das war Lichtjahre entfernt von dem, was ich mir von meinem Leben erhofft hatte, nachdem ich meinen Bachelor als Bühnenautorin an einer der besten Theaterschulen des Landes gemacht hatte.
Und doch linderten diese Nachmittage mit den Schülern manchmal meine Verzweiflung. Den Text mit ihnen einzuüben; zu sehen, wie sie langsam sicherer wurden; die Magie zu erleben, die unweigerlich einsetzte, wenn sie schließlich kostümiert und geschminkt und voller Erstaunen in den Spiegel sahen und realisierten, dass sie jemand oder etwas Neues und Wunderbares und Fremdes geworden waren. In diesen wenigen Stunden stellte ich mir vor, dass es noch nicht zu spät sei. Dass auch ich noch immer verwandelt werden könnte.
Begeisterte Eltern, die von meinem Background erfuhren, fragten, warum ich nicht mal etwas schrieb, das die Kinder dann aufführen könnten. Ich entschuldigte mich jedes Mal höflich. Ich hatte schreckliche Angst, meine Arbeit aufgeführt zu sehen, wenn auch nur von Kindern. Ich wusste, dass man mich für überheblich hielt, und ich entwickelte nie engere Freundschaften zu meinen Lehrerkollegen. Stattdessen hielt ich an einigen wenigen guten Freundinnen aus der Theaterwelt fest. Und obwohl keines meiner Stücke mehr aufgeführt worden war, seitdem mir einst alles um die Ohren geflogen war, schrieb ich immer weiter. In letzter Zeit hatte ich sogar angefangen, mich um Stipendien und Förderungen zu bewerben.
Nisa sagte ich davon nichts. Stattdessen hatte ich in den letzten Jahren still und leise Dutzende von Absagen angesammelt.
Zum Teil war Aberglaube schuld daran – ich wollte mir einen möglichen Erfolg nicht verderben. Doch vor allem lag es daran, dass Nisas eigene Karriere allmählich Fahrt aufnahm. Sie hatte als Singer-Songwriterin schon immer eine kleine, aber leidenschaftliche Fangemeinde gehabt. Als die Pandemie nachließ, hatte sie begonnen, sich auch für Schauspieljobs zu bewerben. Noch hatte sie niemand gecastet, doch sie war schon ein paarmal in die zweite Runde gekommen. Natürlich wollte ich, dass meine Freundin erfolgreich war. Aber ich selbst wollte auch Erfolg haben.
Und jetzt schien es endlich so weit zu sein. Zu Beginn des Sommers hatte ich ein Stipendium für ein neues Stück erhalten: der erste Hoffnungsschimmer seit Jahrzehnten, der mir das Gefühl gab, dass sich nun endlich etwas ändern würde. Zehntausend Dollar, die ich einsetzen konnte, wie auch immer ich wollte, um meine Arbeit voranzubringen. Ich hatte mich sofort für das Herbstsemester beurlauben lassen. Es war nicht genug Geld, um meinen Job aufzugeben (wäre es doch nur so viel gewesen!), doch es verschaffte mir ein paar Monate Freiheit.
Dieser Sommer war eine wunderbare Zeit für mich und Nisa. Wir feierten mein Glück mit unseren Freunden, dann folgte das lange Wochenende in Upstate und diese wunderbare Autofahrt. Nach all den Jahren des Unterrichtens fühlte sich der Herbst endlich wieder wie eine Chance an – die Chance, jemand anders zu sein, nicht die, die ich noch vor wenigen Wochen gewesen war. Eine andere Einstellung, andere Kleidung. Neue Schuhe; eine neue Laufbahn. Außerhalb der Stadt zu sein und dem Fluss nach Norden zu folgen, gab mir das Gefühl, als könnten jederzeit wunderbare Dinge geschehen. Vielleicht war es noch nicht zu spät für mich, um zu träumen, mir ein Leben vorzustellen, das vielleicht mit dem übereinstimmen könnte, das ich mir vorgestellt hatte, zwanzig Jahre zuvor, bevor Macy-Lee Bartons Tod alles hatte entgleisen lassen.
Hier war ich nun und fuhr ziellos durch Upstate New York – es war Anfang September, zu früh, um sich bunte Blätter anzusehen, zu spät für die Sommergäste. Zweithausbesitzer waren noch in der City und erholten sich von ihren Labor-Day-Partys, bevor die Kinder wieder in die Schule mussten. Als ich auf Hillsdale zurollte, war nicht viel Verkehr. Pick-up-Trucks, die zu Baustellen fuhren, ein paar Elektrofahrzeuge mit Kennzeichen aus anderen Bundesstaaten.
Die Morgensonne versetzte den Fluss in Brand und ließ die Fenster der erhöht gebauten Farmen aufflammen, die zu aufgehübschten Craftsman-Häusern umgewandelt worden waren, und die einer neuen Villa im Tudor-Stil auf einem bescheidenen Grundstück, dessen Boden noch die Umrisse eines mobilen Trailer House erkennen ließ. Hinter massiven Toren waren auf ehemaligem Farmland hochpreisige Trabantenstädte aus dem Boden geschossen. Ich bemerkte das Schild einer Obstplantage zum Selberpflücken und überlegte, später mit Nisa herzukommen. Nisa liebte Obstkuchen.
Ich fuhr weiter, wurde nur langsamer, wenn das Tempolimit es verlangte. Ein krummes Schild ragte wie der Daumen eines Anhalters auf die Straße hinaus.
HILLSDALE
Sofort verschlechterte sich der Straßenbelag, der nun nur noch aus schwarzem Asphalt und Frostschäden bestand. Vor einer ausgebrannten Tankstelle flatterte ein Schild: »BLEIFREI, 99«. Ich kam an einem vernagelten Dollar-Store vorbei, dessen leerer Parkplatz vor Glasscherben glitzerte. Wenn sogar der Dollar-Store dichtmacht, weiß man, dass die Stadt ganz unten angekommen ist.
Hillsdale hatte keine Gehsteige. Eingeschossige Häuser mit Treppenstufen aus Betonblöcken und mit löchrigen Wandverkleidungen lungerten in einigen Metern Abstand von der Straße, voneinander abgetrennt durch Rasenflächen von der Farbe von Fensterkitt. Kinder schlurften auf dem Weg zur Schule vorbei, die Köpfe über Handys gebeugt. An einer Straßenecke brachte ich den Wagen zum Stehen und hupte einen dürren grauen Köter an, der sich mitten auf die Straße gelegt hatte und an einer Vorderpfote nagte. Der Hund blieb, wo er war, und blickte nicht einmal auf, als ich mich vorbeischob.
Giorgio und Theresa hatten recht: Hillsdale war ein verdammtes Loch. Der Gedanke, mich mit Croissants zurück zu Nisa ins Bett zu verkriechen, wurde immer verlockender. Ich suchte vergeblich nach einer Stelle zum Wenden, ohne in jemandes Vorgarten zu fahren.
Doch nach ein paar Häusern verbesserte sich die Lage. Ich erreichte das, was als Ortskern durchgehen mochte. Keine Querstraße, doch hier gab es zumindest einen Gehsteig. Und Läden – sogar einige, die so wirkten, als würden sie noch betrieben. Ein Diner und ein Immobilienmakler, ein Secondhandladen, ein schäbiger kleiner Supermarkt, in dem es Lotterielose und Zigaretten gab.
Am Ende der Straße befand sich eine alte Kirche, deren Turm fehlte. Davor stand ein Schild.
ICHASSDIESEKIRCHE.SATAN
Ich runzelte die Stirn, dann begriff ich, dass hier Buchstaben fehlten. ICHHASSEDIESEKIRCHE – SATAN.
Ich lachte. Das würde Nisa gefallen. Doch dann erinnerte ich mich wieder an Macy-Lee Barton und ihr Gerede von Geistern und Dämonenbabys und verspürte ein gewisses Unwohlsein. Ich sollte umkehren, dachte ich. Es war unvorstellbar, dass es in Hillsdale noch etwas geben könnte, das sich zu sehen lohnte. Und auf diesen finsteren Weg musste ich mich nicht schon wieder begeben, nicht jetzt.
Trotzdem machte ich nicht kehrt. Mir war ein wenig flau zumute – ich hätte doch einen von den Donuts im Cup and Saucer kaufen sollen –, aber ich fühlte mich zugleich seltsam losgelöst, wie eine Kompassnadel, die flackernd den Norden sucht. Ich nahm meinen Fuß vom Gaspedal und ließ das Auto für ein paar Sekunden dahingleiten, abwartend, wo es mich hinführen würde.
Gegenüber der Kirche war eine zweite Tankstelle, deren moderne Zapfsäulen nicht zu dem klapprigen Gebäude passten. Direkt dahinter ging eine unbefestigte Nebenstraße nach links ab. Ich blickte auf mein Telefon. Es war erst eine halbe Stunde her, seit ich die Airbnb-Wohnung verlassen hatte. Nisa hatte nicht geschrieben und nicht angerufen. Sie würde noch anderthalb Stunden schlafen, wenn ich nicht kam, um sie zu wecken.
Ich schaute in den Rückspiegel und sah keine anderen Autos. Der blöde Köter hatte sich nicht vom Fleck bewegt. Die Route 9K lag leer vor mir, nur der Wind wirbelte hier und da eine Staubhose oder etwas Laub auf. Links von mir wand sich die Nebenstraße steil durch ein Wäldchen aus Birken hinauf, wo gelbes Laub den Boden bedeckte, bis die Straße eine Kurve beschrieb und nicht mehr einzusehen war.
Wo führte sie wohl hin? Ich suchte nach einem Straßenschild, doch ich fand keines. Das seltsame losgelöste Gefühl verschwand, und die Vorahnung von zuvor kehrte zurück, gerade als die Sonne durch die Bäume brach und die unbefestigte Straße in Gold und Bronze tauchte. Ich sah auf mein Armaturenbrett – der Tank war gut gefüllt – und verließ die Route 9K.
Es war eher eine gewundene Bergpiste als eine richtige Straße. Kaum breit genug für ein einzelnes Fahrzeug, mit Fahrspuren so eng und tief, dass sie von Pferdefuhrwerken zu stammen schienen, nicht von Autos. Äste streiften meinen Camry, und ich musste immer wieder um große Steine herumsteuern, die der Regen freigelegt hatte. Ein alter Wald, eine nicht instand gehaltene Straße – es sah nicht so aus, als würde hier oben jemand leben.
Doch ich irrte mich. Nach einigen Meilen beschrieb die Straße eine 45-Grad-Kehre, so unerwartet, dass ich beinahe die Kontrolle über das Auto verlor. Danach verbreiterte sich die Straße. Rechts von mir war der Wald gerodet und der Boden planiert worden. Ein Trailer House von einfacher Breite stand da, von Unkraut umwuchert und übersät von Funkien und Goldrute, lila Astern und Bischofskraut. Weiße Birken standen beschützend um einen verbeulten Subaru herum, und Fetzen ihrer Rinde sammelten sich wie altes Zeitungspapier am Rande des Hauses. Irgendetwas huschte unter dem Subaru hervor – eine Katze, dachte ich.
Ich verlangsamte mein Tempo, aus Sorge, sie könnte auf die Straße laufen, doch dann bemerkte ich, dass es keine Katze war, sondern eine Art riesiger Hase. Viel zu groß für ein Waldkaninchen, größer sogar als der weiße Schneeschuhhase, den ich einmal beim Skifahren in Vermont gesehen hatte. Doch es war kein Schneeschuhhase – das Tier war nicht braun oder weiß, sondern glänzend schwarz, mit Ohren so lang und spitz wie die Schneiden einer Gartenschere und kupferfarbenen Augen. Einige Sekunden lang blickten wir einander an, dann sprang es in den Wald hinein. Ich fuhr langsam weiter, als ich plötzlich bemerkte, dass mich jemand beobachtete.
Eine Frau stand vor dem Haus. Ich hatte nicht gesehen, dass sich die Tür geöffnet hatte – sie musste von hinter dem Haus gekommen sein. Ende fünfzig oder Anfang sechzig, langes aschbraunes Haar mit grauen Stellen. Kräftig gebaut, mit dieser verwitterten Haut, die einem ein Leben an der frischen Luft einbringt. Sie trug eine zerschlissene Jeans und ein zu großes Flanellhemd unter einem dunkelblauen Hoodie.
Ich hob zum Gruß einen Finger und lächelte vorsichtig. Die Frau öffnete ebenfalls ihren Mund, nur bleckte sie die Zähne wie ein Hund. Sie hob ihre Hand, in der sie ein Messer mit einer langen Klinge hielt. Kein Küchenmesser, sondern ein Jagdmesser. Geräuschlos begann sie, auf mein Auto zuzulaufen, die Augen zornig aufgerissen.
Schockiert trat ich aufs Gas, und der Wagen schoss voran. Was sollte das? Ich raste durch eine weitere scharfe Kurve und dachte einen panischen Moment lang, ich würde geradewegs gegen die Bäume knallen. Doch ich fuhr weiter, der Camry walzte über Steine und Schlaglöcher hinweg. Im Rückspiegel verschwand die Lichtung hinter mir, jedoch nicht, bevor ich die Frau noch einmal sah, die mit verzerrtem Gesicht auf der Straße stand und etwas brüllte, das ich nicht hören konnte.
»Mein Gott«, flüsterte ich. Die Leute hier mochten wirklich keine Fremden.
Nachdem ich ein gutes Stück des Weges hinter mich gebracht hatte, nahm ich, noch immer erschrocken, eine Bewegung neben der Straße wahr. Ich bremste ab und sah aus dem Seitenfenster. Ein weiterer schwarzer Hase hockte dort im Unterholz. Oder war es derselbe, den ich zuvor beobachtet hatte? Ich konnte es nicht sagen, doch als ich ihn anstarrte, richtete sich der Hase auf seine Hinterläufe auf. Und dann richtete er sich noch weiter auf. Sein Körper streckte sich, wurde länger und länger und dünner und dünner, als bestehe er aus einer anderen Substanz als aus Fleisch und Fell und Knochen, bis es so schien, als könne er jederzeit zerreißen wie Hüpfkitt, der zu weit gedehnt wurde. Hätte er neben mir gestanden, hätten die Spitzen seiner Ohren mein Kinn gestreift. Er sah mich aus bewegungslosen Augen von der Farbe fabrikneuer Pennys an, dann sprang er in den Wald hinein.
Stößt man in einem Buch oder Film oder Gemälde auf etwas zutiefst Merkwürdiges oder offensichtlich Unwahrscheinliches, dann weiß man, es hat etwas zu bedeuten. Ist ein Symbol. Ein Hinweis. Eine Warnung.
Doch im echten Leben läuft es nicht unbedingt so ab. Ich heftete meine Blicke Richtung Wald, versuchte, zu erkennen, wohin das Tier verschwunden war. Kaninchen, Hase: Was immer es war, es war nicht mehr da. Ich atmete tief durch. Dieses unnatürliche Strecken, das ich gesehen hatte oder gesehen zu haben glaubte, war ganz sicher eine Täuschung durch Licht und Schatten gewesen. Jetzt wirkte alles ruhig, der Wind wehte durch mein Haar, und die Sonne schien schräg durch die Tannen hindurch.
Ich warf einen Blick auf mein Handy. Ich hatte einen Balken Empfang, gut. Keine Nachricht von Nisa. Es war immer noch nur eine Dreiviertelstunde her, seit ich sie schlafend im Airbnb zurückgelassen hatte. Das kam mir verrückt vor, doch da stand es ja: 06:47.
Trotzdem sollte ich umkehren. Wenn ich die Stadt erreichte, würde das Café geöffnet haben. Doch hier war nicht genug Platz, um das Auto zu wenden, ohne gegen einen Baum zu fahren. Und ich hatte keine Lust, rückwärts eine mir unvertraute Straße zu befahren. Von der bewaffneten Frau ganz zu schweigen, die dort am Ende womöglich Wache stand. Nein danke. Ich öffnete die Karten-App, um zu sehen, wohin die Straße führte.
Die App ließ sich nicht starten. Nach einer Minute fuhr ich im Schritttempo los, während ich auf mein Handy starrte. Schließlich gab ich auf und warf es auf den Beifahrersitz. Ich würde weiterfahren und hoffen, dass die Straße wieder nach unten führte, auf der anderen Seite des Berges oder Hügels oder was auch immer es war.
Ich hatte mir nicht die Mühe gemacht, den Tacho auf null zu setzen, als ich auf die Nebenstraße abgebogen war. Doch ich schätzte, ich hatte etwa fünf Meilen zurückgelegt. Es kam mir dennoch seltsamerweise weiter vor. Alles an diesem Morgen hatte eine seltsame Färbung angenommen – Entfernung, Zeit, selbst das Sonnenlicht, das mir jetzt eher wie ein Sonnenuntergang als wie ein Sonnenaufgang vorkam, ein stetes purpurrotes Flackern durch die Äste jahrhundertealter Bäume hindurch.
Der Eingang erschien so plötzlich, dass ich beinahe dagegen fuhr: zwei massive schmiedeeiserne Tore, die in eine Steinmauer eingelassen waren. Die Mauer war gut erhalten, nur die ehemals weiße Farbe war zu Flechtengrau verblasst und mit Wein überwachsen. Die roten Beeren von Bittersüß leuchteten wie Glut vor den Mauersteinen. Die Tore standen offen, von einem baumelte ein Stück Eisenkette. Wie schon bei der Straße sah ich auch hier keinen Namen. Tote Blätter hatten sich am Fuße der Säulen gesammelt – frisches Laub aus diesem Herbst, nicht die schwarze Pampe vom letzten Jahr.
Also lebte hier vielleicht jemand? Vielleicht war die Frau von vorhin eine Art Haushälterin?
Ich suchte die Umgebung nach einem »Betreten verboten«-Schild ab, nach Kameras oder sonstigen Hinweisen auf Überwachung. Auch hier nichts. Was nicht bedeutete, dass der Ort nicht unter Beobachtung stand. In jedem Fall hatte die Frau mich herfahren gesehen.
Doch sie war nicht hinter mir hergekommen. Und sie schien auch nicht die Polizei gerufen zu haben, jedenfalls noch nicht. Ich blieb noch eine Minute lang im Auto sitzen und wartete, ob jemand die Einfahrt hinunterkam.
Was soll’s, dachte ich und fuhr durch das geöffnete Tor hindurch.
Die Einfahrt wand sich durch einen Bestand aus Eichen und riesigen Pinien, unterbrochen durch ein undurchdringliches Dickicht aus Rhododendren. Ich hatte nicht gewusst, dass Rhododendron eine solche Größe erreichen konnte – groß wie ein Haus, mit knorrigen Stämmen und Ästen, verknotet wie Rattenschwänze. Einmal meinte ich, etwas Blasses im Schatten der Bäume gesehen zu haben, ein Stück Zeitungspapier oder eine Plastiktüte oder vielleicht ein Gesicht. Doch als ich abbremste, verschmolz es, was auch immer es war, mit dem Blattwerk.
All das hätte unheilvoll wirken müssen. Und doch verspürte ich ein eigenartiges, fast schon perverses Hochgefühl, so wie ich mich früher fühlte, wenn ich mich zum Schreiben an meinen Laptop setzte. Gleich wird was geschehen. Ich werde was entstehen lassen.
Ich war immer weiter bergauf gefahren, seitdem ich am Haus dieser Frau vorbeigekommen war. Jetzt lichteten sich die Baumwipfel und gaben den Blick auf den Himmel frei, nun nicht mehr in der Farbe des Sonnenuntergangs, sondern tiefblau. Ich rollte das Fenster herunter und sog den Geruch des verrottenden Laubs ein, von zerdrückten Eicheln, von Erde, die noch nicht gefroren war, aber kalt genug, um ihre Geheimnisse zu bewahren: Geheimnisse, die vielleicht erst im nächsten Frühling mit der richtigen Person geteilt werden würden.
Gleich wird etwas geschehen …
Das Echo einer Frauenstimme ließ mich zusammenschrecken. Ich sah mein Gesicht im Rückspiegel an. Nisa sagt, dass ich manchmal im Schlaf redete. Hatte ich etwas gesagt?
Natürlich nicht. Das hätte ich gemerkt.
Außerdem führen alle Schriftstellerinnen Selbstgespräche. Vor allem Dramatikerinnen. Das ist eine Berufskrankheit. Mit all diesen Stimmen im Kopf sehnt man sich danach, die Worte zu hören. Für mich war dies der magischste Moment im Theater – der erste Augenblick bei einer Textprobe, wenn der Schauspieler verschwindet und deine Figur an seine Stelle tritt. Dieser Moment der Verwandlung hatte schon immer etwas Ekstatisches gehabt, wie das kirchliche Ritual der Wandlung.
»Oder wie Besessenheit«, hatte mein Freund Stevie Liddell geantwortet, als ich ihm das Gefühl einmal zu beschreiben versuchte. »Als würdest du dem Schauspieler nicht zugestehen, selbst zu handeln. Als wäre das irgendein Hokuspokus, den allein du anstellst.«
Das fand ich wirklich amüsant, weil es von jemandem kam, der einmal die Hüllen giftiger Raupen mit Tollkirsche vermischt hatte, um dadurch zu verhindern, dass ein Rivale eine Rolle in einer örtlichen Produktion von Pinkelstadt bekam. Das Schräge war, dass sein Ritual tatsächlich funktioniert hatte, deshalb konnte ich mich nicht darüber lustig machen.
Doch ich wusste, dass ich nichts gesagt hatte, als ich durch den Rhododendronhain fuhr. Ich verspürte eine leichte Unruhe. Das Wort, das Stevie verwendet hatte, »Besessenheit«, hatte mich wieder an Macy-Lee Barton erinnert. Nichts von dem, was geschehen war, war meine Schuld gewesen, egal, was manche Leute darüber dachten. Manchmal, spät in der Nacht, sagte mein Gefühl etwas anderes, doch Sonnenlicht und Koffein vertrieben diese finsteren Gedanken. Ich hielt die Augen auf den Weg vor mir gerichtet, entschlossen, diese sich aufblähende Freude nicht platzen zu lassen, die immer stärker wurde, je weiter ich fuhr.
Das ist das Stück, dachte ich, das ist mein neues Stück. Jetzt ist alles anders. Ich kriege endlich wieder eine Chance.
Im Sommer vor der Pandemie war ich auf Die Hexe von Edmonton gestoßen, während eines Wochenendbesuchs bei Freunden in Putnam County. Wir hatten den Vormittag damit verbracht, uns bei Garagenflohmärkten und in Antiquitätenläden umzusehen und in alten Büchern und Zeitschriften zu stöbern. Bis zum Nachmittag waren meine Hände tintenverschmiert und staubig. Wir wollten schon ohne Beute nach Hause fahren, als wir an einer Hauseinfahrt vorbeikamen, vor der mehrere Kartons Müll mit einem ZU-VERSCHENKEN-Schild standen.
»Halt!«, rief ich.
»Das sind Sachen, die beim Flohmarkt keiner wollte«, sagte meine Freundin Lauren. »Glaub mir, Holly, die willst nicht mal du – das ist nur Schrott.«
Wir hielten trotzdem an. Lauren hatte recht, es war bloß Schrott. Barbiepuppen ohne Kopf, Weihnachtsschmuck aus Plastik, Schraubgläser ohne Deckel. In einem Karton lagen Lehrbücher, die feucht geworden waren, und eine Kiste mit Disketten. Ich warf nur einen flüchtigen Blick darauf, doch dann fiel mir etwas ins Auge – ein großes Bündel Papier, das zu einem Manuskript zusammengetackert war. Ich nahm es in die Hand, die Seiten waren spröde und vergilbt, aber noch immer intakt.
Die Hexe von EdmontonVon William Rowley, Thomas Dekker und John Ford
Ich dachte, es sei jemandes Uniarbeit, vor langer Zeit mühsam auf einer altmodischen Schreibmaschine getippt. Doch beim Durchblättern wurde mir klar, dass es sich um das Manuskript eines Theaterstücks aus dem frühen siebzehnten Jahrhundert handelte. Ich sah mir noch einmal die Namen auf der ersten Seite an. Die ersten beiden sagten mir nichts, doch bei »John Ford« klingelte etwas – ein jakobinischer Dramatiker, der vor allem für ’Tis Pity She’s a Whore bekannt war.
Ich liebte Hexen, also steckte ich das Manuskript in meine Tasche, nahm es mit nach New York City und las es einige Abende später.
Ich wünschte, ich könnte behaupten, dass Die Hexe von Edmonton ein unbekanntes Juwel sei, aber es war leider nichts Besonderes. Ein misogyner Flickenteppich aus jakobinischem Melodrama, unwitzigen Späßen, vereitelter Liebe und einem Bigamisten, der eine seiner Ehefrauen ermordet, um von der anderen eine größere Aussteuer zu erhalten.
Aber ja, es gab auch eine Hexe – eine alte, schlecht gelaunte, einäugige Frau namens Elizabeth Sawyer, die sich an ihren herzlosen Nachbarn rächen will. Sie geht einen Pakt mit dem Teufel ein, in Gestalt eines schwarzen Hundes namens Tomasin, und stürzt die Menschen, die sie mies behandelt haben, ins Unglück. Natürlich betrügt der Teufel sie, und sie wird wegen Hexerei hingerichtet, obwohl ihr größtes Verbrechen, so erschien es mir, darin bestand, alt, unverheiratet, arm und eine Frau gewesen zu sein.
Als ich das Manuskript gelesen hatte, schaltete ich meinen Computer an und fing an, zu dem Stück zu recherchieren.
Ich hatte angenommen, dass Die Hexe von Edmonton eines dieser sperrigen Mash-ups aus Melodrama, verkürzter Geschichtsschreibung und hoffnungslos veralteter Komödie sein würde, die es auf den Bühnen des frühen siebzehnten Jahrhunderts zuhauf gab. Überrascht stellte ich fest, dass es Elizabeth Sawyer wirklich gegeben hatte. Sie war eine Frau, die man der Hexerei angeklagt hatte, im heutigen Norden von London. Ihre Nachbarin Agnes hatte eine Sau besessen, die gestorben war, nachdem sie ein Stück von Elizabeths Seife gefressen hatte. Agnes warf Elizabeth vor, die Sau mit einem »Waschkäferfluch« belegt zu haben, was immer das sein mochte. Als Agnes vier Tage später starb, gab man Elizabeth auch dafür die Schuld. Weitere Nachbarn mischten sich ein und warfen Elizabeth sonstige Dinge vor, bis man den Verdacht der Hexerei bestätigt sah und ihr Haus in Brand setzte. Elizabeth kam gerade noch rechtzeitig, um die Flammen zu löschen.
Um zu erkunden, wer der Urheber dieses Unheils war, wurde eine alte, lächerliche Sitte verwandt, nämlich das Strohdach ihres Hauses zu nehmen und es zu verbrennen, und wenn es so brannte, sollte der Urheber dieses Unheils erscheinen …
»Das ist wie bei Monty Pythons Die Ritter der Kokosnuss!«, berichtete ich Stevie am nächsten Tag bei einem Videocall. Hexen waren Stevies Ding, genau wie psychotrope Kräuter, viktorianisches Puppentheater, obskure osteuropäische Horrorfilme und Social-Media-Accounts, die verstorbenen Hollywood-Sternchen gehörten. »Sie haben sie 1621 der Hexerei schuldig gesprochen und hingerichtet. Wie genau, steht da nicht.«
»Vermutlich auf dem Scheiterhaufen verbrannt.« Stevie zog an seinem Vape Pen. »Da gibt’s was zu sehen. Erzähl weiter.«
»Und dann hat so ein Priester, Henry Goodcole, ein Pamphlet über Elizabeths Geschichte geschrieben, als Warnung an andere Hexen.«
»Genau! Weil die sonst alle Schlange gestanden hätten, um auch auf dem Scheiterhaufen verbrannt zu werden.«
»Ja. Und außerdem hat er den Teufel und einen schwarzen Hund dazuerfunden.«
»Das lockte die ganz bestimmt aus ihren Verstecken. Ich hoffe, es war ein sprechender Hund?«
»Du sagst es«, sagte ich, und Stevie klatschte vor Vergnügen in die Hände. »Und nachdem Elizabeth ermordet wurde, haben sie dieses Stück über sie geschrieben. So wie wir heute True-Crime-Serien haben. Damals gab es Flugblätter und Schauerballaden über allen möglichen Mist. Männer, die ihre Frauen und Kinder umgebracht haben, Geschichten über Hexen. Die meist Frauen waren, denen man vorwarf, jemandes Ehemann verführt zu haben, oder …«
»Oder die angeblich dafür gesorgt haben, dass die Kühe eines Bauern keine Milch mehr geben, oder irgendeinen anderen Scheiß«, unterbrach mich Stevie. »Denk dran, ich habe Der Hexenjäger siebenmal gesehen. Das läuft immer gleich: eine unverheiratete Frau finden, anklagen, hinrichten.«
»Bingo. Jedenfalls muss das Stück ein großer Erfolg gewesen sein. Elizabeth Sawyer ist ja 1621 gestorben, das Stück ist zwei Jahre später entstanden und wurde 1658 schließlich veröffentlicht, gut dreißig Jahre später. Es ist noch niemand pleitegegangen, weil er Blut und Gewalt und Sex gezeigt hat. Vierhundert Jahre später hören wir uns immer noch Podcasts über genau diese Themen an.«
Ich schüttelte die Seiten des Manuskripts vor dem Laptopbildschirm, damit Stevie es sehen konnte. »Außerdem hat es einen ziemlich griffigen Titel«, sagte ich und holte tief Luft, bevor ich ihn vorlas.
»Die Hexe von Edmonton: Eine bekannte wahre Geschichte. Zu einer Tragi-Komödie komponiert von den geachteten Dichtern William Rowley, Thomas Dekker, John Ford &c. Aufgeführt von den Prince’s Servants, oft im CockPit in Drury-Lane, einmal am Hofe, zu einmaligem Applaus.«
»Hmmm. ›Einmaliger Applaus.‹« Stevie tippte sich mit dem Finger ans Kinn. »Das klingt nach einem sehr überschaubaren Publikum, Holly. Kein Wunder, dass wir nie was von diesem Stück gehört haben.«
»Eileen Atkins hat Elizabeth 2014 gespielt, für die Royal Shakespeare Company«, hielt ich dagegen. »Sie hat tolle Kritiken bekommen. Das Stück weniger.«
»Wurde die Aufführung aufgezeichnet?« Ich schüttelte den Kopf, und Stevie machte ein langes Gesicht. »Schade. Und warum bist du so begeistert davon, Holly?«
Ich starrte auf den Bildschirm, während Stevie einen weitere Zug CBD inhalierte. »Ich mag Hexen«, sagte ich schließlich, und Stevie gab mir das Daumen-hoch-Zeichen. »Und dann ist da noch diese schräge erotische Spannung zwischen Elizabeth und Tomasin.«
»Das ist der Hund?«
»Ja. Eigentlich ist er der Teufel, aber er nimmt die Gestalt dieses schwarzen Hundes an. Er verspricht, zu tun, was Elizabeths will, ihre Feinde zu vernichten und sie reich zu machen und so weiter und so weiter. Aber natürlich betrügt er sie und …«
»Und sie wird kross gebraten! Holly, überlegst du, das Stück zu bearbeiten? Ich muss das fragen: Verbrennst du dir da nicht die Finger?«
Er lachte über seinen eigenen Witz, doch ich ignorierte es. »Pass auf, ich mach mir einfach noch ein paar Notizen, okay, Stevie? Wir hören uns.«
Ich hatte das Gefühl, dass sich hier eine Gelegenheit anbot: Was, wenn ich die Geschichte umdrehte und Elizabeth triumphieren ließ? Sie und Tomasin könnten ihre Feinde vernichten und die anderen weiblichen Figuren beschützen, die nicht mehr als bloße Skizzen waren. Die echte Elizabeth war vor Jahrhunderten eines schrecklichen Todes gestorben: Vielleicht konnte ich ihr ein zweites Leben schenken.
Ich verbrachte fast die kompletten nächsten drei Jahre mit diesem Projekt, aktualisierte Elizabeths Geschichte, wob zeitgenössische Details und Ereignisse ein. Der Quell der Misogynie versiegt nie. Als der Lockdown zu Ende war, ließ ich Stevie und ein paar andere Theaterfreunde das Stück in meiner Wohnung laut vorlesen, immer und immer wieder.
Damals hatte auch Nisa ihre Stimme hinzugefügt. Sie war ganz begeistert von den Child-Balladen, der klassischen Sammlung alter Lieder, die sie liebte, als wären es ihre eigenen, ganz besonders die grausameren dieser Moritaten. Als sie hörte, wie wir mein Stück vorlasen, überzeugte sie mich, dass diese die perfekte musikalische Begleitung darstellten.
»Das ist wirklich dasselbe Ausgangsmaterial«, sagte sie, nachdem wir uns ein weiteres Mal eine Version von »Matty Groves« angehört hatten.
»Schade nur, dass niemand ein Lied über Elizabeth geschrieben hat. Dann könnten wir das auch noch einarbeiten.«
»Ich schreibe ihr Lied! Diese ganzen alten Sachen sind gemeinfrei, ich kann sie einfach für das Stück anpassen.«
Ich biss mir auf die Zunge, weil sie »das Stück« gesagt hatte und nicht »dein Stück«. Doch Nisa hatte recht: Sie waren perfekt für Elizabeths Geschichte. Die ich inzwischen als meine Geschichte betrachtete, und das nicht nur, weil ich sie modernisiert hatte. Genau wie ich war Elizabeth Sawyer zu Unrecht von anderen verurteilt worden. Genau wie ich war sie eine ältere Frau – ich war gerade einmal vierzig, aber zu Elizabeths Zeiten lag die durchschnittliche Lebenserwartung bei bloß zweiundvierzig Jahren. Die fiktive Elizabeth war einen Pakt mit dem Teufel eingegangen, um ihren Erfolg zu sichern, doch so weit musste ich nicht gehen.
Stattdessen nutzte ich das Stück, an dem ich jahrelang obsessiv geschrieben und gefeilt hatte und das ich nun Hexennacht nannte, um mich für Künstlerstipendien zu bewerben. Davon gibt es immer zu wenige, vor allem für unbekannte Dramatikerinnen, doch in diesem Sommer klappte es. Ich erhielt eine Förderung in Höhe von zehntausend Dollar. Ich weinte, als ich die E-Mail las. Es ging nicht nur um mich, sondern auch um Elizabeth – die zurückgekehrt war, um mich vor dem Leben zu retten, das ich niemals hatte leben wollen.
Nach Jahren des kreativen freien Falls hatte ich endlich einen Raum entdeckt, an dem ich meine Vision und Elizabeth Sawyer zum Leben erwecken konnte.
Raum – den spürte ich jetzt, als ich diese Straße ins Nirgendwo hinaufrollte, unter einem Himmel, der eine machtvolle, beinahe unfassbare Offenbarung zu versprechen schien. Endloser Raum. Endlose Möglichkeiten. Eine Spur Nebel stieg aus den Baumwipfeln empor, verwirbelte zu unlesbarer Kalligrafie, um dann zu verschwinden. Der eindringliche Schrei eines Vogels deutete auf etwas hin, das ich nicht recht begreifen konnte. Die Welt wollte mir eine Botschaft senden – und ich hatte das Gefühl, ganz knapp davor zu sein, sie zu verstehen.
Es ist irgendwo hier oben, dachte ich. Es kommt, bald werde ich es sehen, ich kann es fast schon sehen.
Vor mir schwankten die Bäume, goldene und blutrote Blätter flatterten. Ich fragte mich, vor wie langer Zeit dieses Land gerodet worden war. Ob es wohl seitdem im Besitz derselben Familie war? Es war ungewöhnlich, keine alten Steinmauern zu sehen, Kellergewölbe oder andere Zeichen menschlicher Besiedelung. Jemand hatte sehr viel Geld investiert, um hier eine Straße zu bauen, doch abgesehen von dem Trailer hatte ich noch keinerlei Behausung entdeckt.
Als hätte sie meine Gedanken vernommen, gab die nächste Kurve den Blick auf eine struppige Wiese frei, die im Schatten gewaltiger alter Eichen und Tannen lag. Neben der Straße war vor langer Zeit ein Baum gefällt worden, sodass nur ein in Giftefeu erstickter Stumpf blieb, eine Explosion aus scharlachroten Blättern und weißen Beeren. Ich fuhr vorsichtig weiter, im vollen Bewusstsein, ein Eindringling zu sein. Die Wiesen sahen ungepflegt aus, aber trotzdem konnte hier noch jemand wohnen.
Tatsächlich tauchte inmitten der Bäume ein großes Haus auf, mit Granitmauern, zu wenigen Fenstern und einer Veranda, die sich über die Front und die Seiten erstreckte. Ich hielt das Auto an und blickte durch die Windschutzscheibe nach oben. Eigentlich kein Haus: eine Villa. Während ich sie anstarrte, schien sie sich zurückzuziehen, um dann wieder näher zu kommen, wie es Wellen tun, die einen Strand überspülen. Es fiel mir schwer, mich auf die schwarzen Wände zu fokussieren.
Aber waren diese Wände nicht grau? Oder nein, weiß, ein überirdisch leuchtendes Weiß? Nein, erinnerte ich mich, das waren die Beeren des Giftefeus gewesen. Das Haus war grau, steingrau. Genau wie die Toreinfahrt es war. Richtig? Ich kniff die Augen zusammen und öffnete sie wieder. Definitiv grau. Ich sah auf die Uhr am Armaturenbrett.
06:29
Das war unmöglich. Ich hatte auf die Uhr gesehen, bevor ich die Einfahrt hinaufgefahren war, und da war es 06:47 gewesen. Ich schnappte mir mein Handy und wischte über den Bildschirm.
06:29
Ich fixierte den Bildschirm, bis die Zahlen umsprangen – 06:30 –, dann prüfte ich noch einmal die Uhr des Autos.
06:30
Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte mir die Stunde falsch gemerkt oder sie falsch abgelesen. Es war immer noch früh genug, um Croissants und Milchkaffee zu besorgen und zu Nisa zurückzukehren.
Ich stieg aus dem Auto und hob den Blick, um zum Haus hinaufzusehen, das wie eine steinerne Wolke über mir hing. Das Gebäude war absolut abscheulich.
Ich liebte es.
Im Theater hat man es gelegentlich mit einem Bühnenbild zu tun, das einfach nicht funktioniert. Eine Kulisse, deren Perspektive verzerrt ist, eine Farbauswahl, die einen erschaudern lässt, Möbel, die nicht zur Szene passen. Vielleicht ist die Bühne an sich falsch gewählt: Ein Zweipersonenstück, das nach Intimität verlangt, säuft hinter einer gewaltigen Vorbühne ab, oder ein voll besetztes Musical erstickt in einer schwarzen Box. Oft fühlt sich irgendetwas einfach nicht richtig an – das Theater ist schlecht geplant, die Sichtachsen sind katastrophal, die Bühne hat ein solches Gefälle, dass die Schauspieler ins Stolpern geraten.
Manchmal jedoch ist es der Raum selbst, der sich falsch anfühlt. Ich kenne Schauspieler und Techniker, die sich weigern, an bestimmten Orten zu arbeiten. Einmal habe ich eine Regieassistentin gefragt, warum sie aus einer modernen Produktion von Lysistrata ausgestiegen sei, in einem neuen Theater, das in einer Londoner Brauerei entstanden war.
»Es hat sich einfach schlecht angefühlt.« Sie erschauderte bei der Erinnerung daran. »Das war kein guter Ort. Man wusste einfach, dass da was Schreckliches passieren würde.«
»Und ist was passiert?«
Sie lachte verlegen. »Nicht auf der Bühne. Die Kritiken waren richtig gut. Sehr gut sogar. Aber es kamen keine Zuschauer. Es war, als hätten die Leute gemerkt, dass da was nicht stimmt. Die Besitzer und Investoren haben alles verloren. Ich bin froh, dass ich gegangen bin.«
Ich hatte so etwas noch nie erlebt – bis jetzt. Wenn ich dieses graue Haus auch nur ansah, war mir beschwingt und mulmig zugleich zumute, als hätte ich eine VR-Brille aufgesetzt, die nicht richtig eingestellt war. Der Gesamteindruck war viktorianisch-gotisch – zwei Etagen, mit tiefen Giebeln und aus Stein gehauenen Pfeilern, Balkonen mit aufwendigen Brüstungen, Buntglasscheiben und einer großen Veranda. Ich zählte acht Schornsteine, aus Backstein und aus Feldsteinen. Jemand hatte ein kleines Vermögen in dieses Haus gesteckt, so viel stand fest.
Ich konnte nicht benennen, was falsch war. War die Architektur irgendwie nicht richtig? War es nicht gotisch genug? Oder hatten sie vielleicht beim Bau gespart, sodass das Endergebnis nicht dem entsprach, was eigentlich geplant gewesen war?
Doch im Großen und Ganzen schien das Haus relativ gut in Schuss zu sein. An einem Schornstein fehlten ein paar Steine. Eine Scheibe in einem der oberen Fenster war gesprungen. An der rechten Seite erhob sich ein Turm aus Granit, dessen Fuß mit Holzschindeln verkleidet war und der sich vom Hauptgebäude zu lösen begonnen hatte. Jemand hatte es mit einigen Stangen Baustahl repariert und den Turm so am Haus befestigt, wie man einen abgetrennten Arm annähen würde.
Trotzdem fand ich die Fassade auf merkwürdige Weise ansprechend. Das ist jolie laide, sagte ich mir, genau wie die unkonventionellen Züge mancher Schauspielerinnen eigentlich nicht schön sein dürften, es aber trotzdem sind. Dieses Haus war nicht schön, aber ich hatte schon schlimmere gesehen.
Der kühle Wind ließ meinen Hals frösteln, also holte ich meine Jacke aus dem Auto und zog sie an. Dann ging ich zur Eingangstreppe. Abgestorbene Blätter hatten sich knöchelhoch auf den Stufen angehäuft. Irgendjemand hatte die Toreinfahrt gerecht, doch hier oben war schon länger niemand gewesen.
Ich trat zur Haustür: groß und aus massiver Eiche, mit einem Türklopfer aus Gusseisen in der Mitte. Der Klopfer hatte die Form eines männlichen Gesichts, der Mund nicht lächelnd, Besuchern gegenüber misstrauisch. Ich versuchte, den Türknauf zu drehen, doch er bewegte sich nicht. Ich drehte mich um und prüfte, ob mir jemand gefolgt war, doch ich sah nur mein altes Auto, das im Schatten der Villa kraftlos aussah.
Ich ging die Veranda entlang, deren Geländer von Schimmel fleckig war und deren Dielen die skeletthaften Abdrücke längst abgestorbener Blätter aufwiesen. Jemand hatte hier einen Zigarettenstummel ausgedrückt. So vertrocknet, wie er aussah, mochte das ein Jahr her gewesen sein.
Ich blieb stehen, um durch schmutzige Scheiben in abgedunkelte Räume zu blicken. In einem davon stand ein Klavier. In einem anderen waren zwei Sessel, auf denen schäbige geblümte Decken drapiert waren. An den Wänden hingen Gemälde, doch es war zu dunkel, um zu erkennen, was sie darstellten. In einem Raum mit dunkelgrünen Wänden befanden sich ein Billardtisch und kleinere Tische zum Bridgespielen. Das Esszimmer enthielt eine lange Tafel und Stühle für ein Dutzend Personen.
Im hinteren Teil des Hauses entdeckte ich beim Schnüffeln eine große, modernisierte Küche mit einem alten Glenwood-Holzofen in einer Ecke. Als ich mich umdrehte und über das Geländer der Veranda sah, bot sich mir ein spektakulärer Ausblick auf die fernen Berge in ihrer ganzen frühherbstlichen Pracht.
Plötzlich verspürte ich ein stechendes Verlangen nach etwas, von dem ich nicht geahnt hatte, dass ich es wollte. Wie wäre es, hier zu leben? Mit all dem Platz für uns ganz allein, nach Jahrzehnten in mickrigen Wohnungen? Ich könnte mir aussuchen, welches Zimmer mein Büro sein sollte. Nisa und ich könnten unseren Morgenkaffee auf einem der oberen Balkone trinken. Am späten Nachmittag würden wir auf der Veranda sitzen, uns mit einer Flasche Wein entspannen und uns den Sonnenuntergang ansehen. Ich könnte sogar draußen arbeiten. Das Wetter würde noch bis Ende Oktober schön bleiben. Ich sah mich selbst in einem Pullover und mit fingerlosen Handschuhen einen Tisch für meinen Laptop nach draußen zerren.
Es würde nicht nur für Nisa und mich mehr als genug Platz sein. Stevie und Amanda Greer könnten ebenfalls dazukommen. Diese beiden wollte ich neben Nisa für mein Stück besetzen. Wir könnten proben und das Stück auf Hochglanz polieren. Wo ließe sich Hexennacht besser umsetzen als in einem großen, leer stehenden Haus auf dem Lande?
Aufgeregt ging ich weiter, bis ich wieder die Front der Villa erreicht hatte, und blickte auf den baufälligen Turm. Meine anfängliche Abscheu – dieses Gefühl, dass da etwas subkutan Falsches an diesem Haus war, so wie sich Krebszellen schon Jahre vor ihrer Entdeckung im Körper bilden – war verflogen.
Ich schob mir das Haar aus den Augen und dachte nach. Ich hatte das Geld vom Stipendium und hatte mir bereits das Halbjahr freigenommen. Ich musste nicht unterrichten. Nisa konnte eine Pause von ihrem Job in einem Café einlegen. Sie würde nur ungern ihre Auftritte verschieben, doch es ging ja nur um ein paar Wochen. Stevie übernachtete eh meist auf irgendeiner Couch. Und die legendäre Amanda Greer, die sich erst kürzlich bereit erklärt hatte, meine Hauptdarstellerin zu sein, würde das großzügige Ambiente lieben.
Das Glück hatte mich hergeführt, entschied ich, das Glück oder das Schicksal oder irgendein anderer Impuls, den ich nicht benennen konnte. Vor wenigen Stunden hätte ich mir einen solchen Ort nicht vorstellen können. Jetzt konnte ich an nichts anderes mehr denken.
Ich stapfte durch totes Laub zur Haustür. Der Türklopfer sah aus wie Stevie, fiel mir auf. Stevies schmales Gesicht und die weit auseinanderstehenden Augen, Stevies Mund.
Ich machte mehrere Fotos davon, um sie ihm und Nisa zu schicken. Die Überdachung der Veranda blockte das schwache Licht ab, das durch die Bäume schien, deshalb überraschte es mich, dass die Bilder allesamt überbelichtet waren. Ich machte ein paar weitere Fotos aus einem anderen Blickwinkel, doch es war jedes Mal dasselbe. Das gusseiserne Gesicht leuchtete weiß, was es schwierig machte, die Details zu erkennen.
Ich bearbeitete das beste Foto, verstärkte Schatten und Kontrast, sodass man erkennen konnte, dass es irgendwie wie Stevie aussah. Doch immer, wenn ich versuchte, die Änderungen zu speichern, sprang das Bild in seinen Originalzustand zurück. Frustriert kehrte ich zum Auto zurück, stieg ein und schickte die Aufnahme an Nisa.
Bin unterwegs. Guck, wen ich gefunden habe.
Der Wind war stärker geworden, obwohl der Himmel noch immer in einem wolkenlosen, klirrenden Blau erstrahlte. Als ich das Auto die Einfahrt hinunter steuerte, vibrierte mein Telefon: Nisa.
Wo bist du??? Was ist das auf dem Bild? Ich verhungere.
Ich bringe Croissants mit!
Und Kaffee.
Bestimmt ausverkauft.
So früh noch nicht.
Nach zehn ist immer alles weg.
Ja, es ist aber erst …
Ich sah auf die Uhr. 10:17.
Was zur Hölle? Ich überprüfte es an der Uhr des Autos: 10:17.
Als ich das letzte Mal nachgeschaut hatte, war es 06:30 gewesen. War die Uhr kaputt?
Aber warum sollten mein Telefon und die Autouhr unabhängig voneinander die falsche Zeit anzeigen? Es war unmöglich, dass mehr als drei Stunden vergangen waren – ich hatte das Airbnb gegen sechs verlassen.
Egal, komm einfach zurück, ich verhungere.
Tut mir leid, meine Schuld!
Bis gleich, liebe dich
Beim Losfahren blickte ich in den Rückspiegel. Jetzt überflutete Sonnenlicht die Veranda und die oberen Etagen, sodass die Fenster in Gold verwandelt waren. Nur die Haustür blieb im Zwielicht, der Türklopfer jetzt nur noch ein schwarzer Fleck, das Gesicht im Schatten verborgen.
Nisa hockte auf der hinteren Terrasse der Ferienwohnung, den Laptop auf den Knien und einen Becher Kaffee in der Hand.
»Sorry, Schatz.« Ich zog den anderen Stuhl neben ihren und setzte mich. »Ich schwöre, auf meinem Telefon stand halb sieben, und als du geschrieben hast, war es plötzlich drei Stunden später.«
»Drei Stunden und fünfundvierzig Minuten.« Nisa seufzte. »Egal.«
Ich reichte ihr die Tüte mit den Croissants und hielt einen großen To-go-Becher hoch. »Ich hab dir Milchkaffee mitgebracht.«
»Ich hab schon. Trink du ihn.« Nisa öffnete die Papiertüte und inhalierte den Duft. »Okay, ich verzeihe dir.« Sie holte ein Mandelcroissant heraus und biss hinein. »Mein Gott, die sind so viel besser als alles, was man in der Stadt bekommt. Wie machen die das?«
»Keine Ahnung. Pass auf, ich muss dir erzählen, was ich gefunden habe …«
Ich berichtete von meiner langen Fahrt – durch Hillsdale, die Nebenstraße hinauf, an der unheimlichen Frau und ihrem Trailer vorbei und von meiner Entdeckung der leeren Villa oben auf dem Hügel.
»Ich glaube nicht, dass sie komplett leer steht.« Ich hielt inne, um einen Schluck von dem Milchkaffee zu trinken. »Sie ist gut in Schuss, und es stehen noch Möbel drin. Es sieht nicht so aus, als würde gerade jemand da wohnen, aber es gibt definitiv jemanden, der sich darum kümmert.«
»Warst du drin?«
»Nein. Ich hab’s an allen Türen versucht, aber alles war abgeschlossen.«
»Und was ist mit den Fenstern?«
Ich grinste. »Das kannst du machen. Was meinst du? Willst du’s dir mal ansehen?«
»Und unten wartet die durchgeknallte Lady mit ihrer Axt? Niemals.«
»Das war ein Messer. Und als ich zurückfuhr, war sie nicht mehr da. Ihr Auto war weg, sie muss zur Arbeit gefahren sein.«
»Trotzdem danke. Kein Bedarf. Ich dachte, wir wollten arbeiten?« Nisa deutete auf ihren Laptop. »Ich habe neue Texte für ›Allison Grose‹ geschrieben. Hör zu …«
Sie wollte ihren Laptop starten, doch ich unterbrach sie. »Das ist Arbeit. Dieses Haus … ich finde, wir könnten es mieten.«
»Mieten?« Nisa runzelte die Stirn. »Du hast gesagt, das ist eine Villa.«
»Ist es auch. Ich rede nicht von einem ganzen Jahr – bloß ein paar Wochen. Oder eine Woche. Jetzt, vor den Feiertagen, bevor es kälter wird. Wir hätten unsere Ruhe und könnten alle zusammen an der Aufführung arbeiten. Du und ich, Stevie, Amanda. Vielleicht noch ein paar andere. So wie eine Künstlerresidenz, bloß dass wir jeden kennen.«
»Bis auf Amanda, die wir noch nie getroffen haben. Und die tatsächlich Karriere gemacht hat.«
»Amanda hat seit zwölf Jahren keine große Rolle mehr gehabt. Du weißt, dass das Stück fantastisch werden kann. Ich habe es fast perfekt gemacht …«
Nisas Augen verengten sich. »Du hast es perfekt gemacht?«
»Wir beide«, korrigierte ich mich hastig und nahm ihre Hand. »Es ist so viel besser mit deiner Musik, Nis …«
»Und meiner Stimme.«
»Und deiner Stimme. Alles, was du tust, macht meine Sachen so viel besser. Ich kann mich glücklich schätzen. Wir können uns glücklich schätzen. Komm schon, Baby«, drängte ich und zog sie an mich. »Du musst dir das ansehen, dann verstehst du’s.«
»Du willst, dass wir alle … dass wir alles zurücklassen und hierherziehen?«
»Nur für ein, zwei Wochen. Du und Stevie könnt euch freinehmen, und ich frage Amanda, ob sie das auch tun kann. Ich flehe sie an.«
»Weißt du denn, ob man es überhaupt mieten kann?«
»Nein. Ich dachte, das könnten wir jetzt herausfinden. Es gibt einen Makler in Hillsdale. Wir können hinfahren und fragen.«
»Wie würden wir das bezahlen?«
»Mit meinem Stipendium. Das ist eine sinnvolle Investition. Wenn es zu teuer ist, vergessen wir es. Aber wenn die zwei Wochen ein paar Tausend kosten oder auch nur eine Woche, kann ich es schaffen.«
Nisa hatte ihr Croissant aufgegessen und drehte jetzt, in Gedanken verloren, ihre Locken um einen Finger. »Das Stipendium sollte dafür da sein, dass du an dem Stück arbeiten kannst.«
»Das ist doch Arbeit am Stück.« Ich rutschte näher an sie heran und nahm ihre Hand, um sie zu beruhigen. »Langfristig gesehen würde es uns Zeit sparen. Und Geld. Der Text ist ganz kurz davor, bereit für eine öffentliche Lesung zu sein. Das ist eine Bedingung für mein Stipendium – ich muss innerhalb von einem Jahr eine Lesung organisieren.«