Die geilste Lücke im Lebenslauf – Die dunkle Seite - Nick Martin - E-Book

Die geilste Lücke im Lebenslauf – Die dunkle Seite E-Book

Nick Martin

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Beschreibung

Ein Jahrzehnt des Weltreisens hat aus Nick einen neuen Menschen gemacht: aufgeschlossen, abenteuerhungrig, aber auch nachdenklich. Und wer von ihm wissen will, ob seine Reisen wirklich immer geil waren, bekommt die ehrliche Antwort: "Nope." Ob auf selbst gebastelten Krücken, während einer nächtlichen Schießerei oder ausgeraubt bis aufs letzte Hemd – Nick hat mehr als einmal erlebt, dass Fehltritte und Grenzerfahrungen zum Reisealltag dazugehören. Mit Witz, Charme und Sarkasmus richtet er sein Spotlight auf die Welt hinter den turbulenten Storys, Once-in-a-Lifetime-Begegnungen und schillernden Fotos auf Instagram. Fast wünschte man sich, für immer in den eigenen vier Wänden zu bleiben, wäre da nicht Nicks unerschütterlicher Optimismus. Denn Dunkel gibt es nur, weil es Licht gibt, und so fordert Nick aufs Neue die Abenteuerlust seiner Leserinnen und Leser heraus. Entdecken Sie den Spiegel-Bestseller!

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NICK MARTIN

MIT ANITA VETTER

DIE GEILSTE LÜCKE IM LEBENSLAUF

DIE DUNKLE SEITE

Was nicht so geil warin 10 Jahren Weltreisen

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© Conbook Medien GmbH, Neuss, 2021

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Einbandgestaltung: Birgit Kohlhaas, kohlhaas-buchgestaltung.de, unter Verwendung eines Motivs von Daniel Torz

Fotos im Innenteil: Nick Martin, mit Ausnahme von:

S. 31: Ronny Barthel (www.magicblue.agency),

S. 32 & 37: Peggy Anke,

S. 86/87: Mohammad Qasem P / Shutterstock.com,

S. 112/113: chriss73 / Shutterstock.com,

S. 140/141: Patryk Kosmider / Shutterstock.com,

S. 160: Olga Kashubin / Shutterstock.com,

S. 165: simon berenyi / Shutterstock.com,

S. 166/167: Hernik Furulund / Shutterstock.com,

S. 178: Sotnikov Misha / Shutterstock.com,

S. 180/181: LeManna / Shutterstock.com,

S. 183: SPF / Shutterstock.com,

S. 186: wk1003mike / Shutterstock.com,

S. 188/189: Anna Lofi / Shutterstock.com,

S. 190: Hans Verburg / Shutterstock.com,

S. 195: Peshkova / Shutterstock.com;

Symbole: Font Awesome by Dave Gandy (fontawesome.io);

Weltkarte: Yusiki / Shutterstock.com

Transkription: Sophia Dorn, Julia Linscheid, Michelle Rudel

Satz: David Janik

ISBN 978-3-95889-402-0eISBN 978-3-95889-407-5

INHALT

INTRO

Ilha do Guajiru, Brasilien • Dezember 2018

AUF KRÜCKEN

Jericoacoara, Brasilien • Dezember 2018

AM TROPF

Dahab, Ägypten • November 2017

AM ABHANG

Dahab, Ägypten • Oktober 2018

UNTENRUM FREI

Taghazout, Marokko • März 2016

SHISHAS DOWN UNDER

Melbourne, Australien • Januar 2011

SHIT HAPPENS

Sydney, Australien • Dezember 2010

VERFOLGUNGSJAGD

Bali, Indonesien • März 2018

KIEFERBRUCH AUF KOMODO

Komodo Island, Indonesien • April 2019

NO-GO-AREAS FÜR IMMER

Museumsmomente • Seit Februar 2010

DOWN THE RABBIT HOLE.

Jede Zelle deines Körpers • 24/7

GOLDEN SHOWER

Arequipa, Peru • Juni 2013

PLEASE PROCEED TO GATE

Lissabon, Portugal • April 2017

DON’T BE GENTLE, IT’S A RENTAL

Reykjavik, Island • Januar 2017

DER HEIMWEG DES BETRUNKENEN

Ho Chi Minh Trail, Vietnam • April 2016

MARGARITA BURN

Kilifi County, Kenia • Januar 2020

IM STUNDENHOTEL

Mtwapa, Kenia • Januar 2020

HILFLOS

Diani Beach, Kenia • Februar 2020

EY MANN, WO IS' MEIN BACKPACK?

Labenne, Frankreich • August 2020

IN CHINA ESSEN SIE HUNDE

Amman, Jordanien • Mai 2019

KULINARIK DES GRAUENS

Smögen, Schweden • September 2020

KAUF DICH FREI

Playa del Carmen, Mexiko • Februar 2010

REISEN TUT WEH

Körper, Geist und Seele • Wenn alles vorbei ist

PRIVILEGIEN

Schlaflos im Bett • Immer und immer wieder

HILFE LEISTEN

Kampala & Jinja, Uganda • Februar 2020

LA TOMATINA UND DIE QUALLEN

Buñol und Valencia, Spanien • August 2012

DER TINNITUS DES REISENS

Canggu, Bali, Indonesien • April 2019

PFFFFFT …

Der Norden Saltas, Argentinien • Februar 2019

DO IT FOR THE GRAM.

Social Media • 24/7

GOOGLE FRAGEN UND STERBEN

World Wide Web • 24/7

DROGEN

Bucket List • Über zehn Jahre

REISEN ALS DROGE

Substantia nigra • Wenn Dopamin ausgeschüttet wird

STANDING OVATIONS UND WALKS OF SHAME

In den Mehrbettzimmern dieser Welt • Nicht nur bei Nacht

ONE NIGHT IN BANGKOK

Bangkok, Thailand • Oktober 2018

KONTROLLE ABGEBEN UND VERTRAUEN

Panama-City, Panama • Mai 2013

UND PLÖTZLICH SIND SIE WEG

Im Herzen • Für immer

LAUFENDE GELDAUTOMATEN

Havanna, Kuba • November 2013

NO BUDGET

Fremantle, Australien • Oktober 2011

LAVAGESTEIN

Im persönlichen Umfeld • Seit meinen ersten eigenen Schritten

TERRORANSCHLÄGE

Colombo, Sri Lanka • April 2019

GAR NICHT MAL SO SCHÖN

In den Unterkünften dieser Welt • Wenn es Nacht wird

TWENTY BUCKS

I-75, Georgia, USA • Juli 2014

UND DU SO?

Auf den Fährten der anderen • Beim Zuhören

EINE HARPUNE, EIN HURRIKAN UND DIE WELLEN

Auf den Bühnen Europas • Seit 2016

DEFINITIV NICHT DAS ENDE

Die Welt ist mein Zuhause • Und wird es immer bleiben

LET'S EMBRACE OUR FUCK-UPS.

Denn es sind genau diese Momente, die uns wachsen lassen

INTRO

Ilha do Guajiru, Brasilien Dezember 2018

Der totale Fuck-up. Echt. Dabei könnte alles so schön sein. Ich liege auf einer bequemen Hängematte, die mitten im schönsten Sonnenschein auf einer riesigen Dachterrasse gespannt ist. Über mir strahlend blauer Himmel, unter mir die türkisblaue Herrlichkeit einer der schönsten Kite-Lagunen, die ich je gesehen habe. Irgendeiner der winzigen Punkte da unten ist meine Freundin Steffi, die gerade einen Spaziergang macht. Würd ich auch gern. Kann ich aber nicht.

Mein Hängemattennachbar Freddy reicht mir einen riesengroßen Joint rüber. Ich mache mir nichts aus Marihuana und vertrage es auch nicht. Doch ich nehme ihn und ziehe daran. Wir beide sind mit den Köpfen schon längst in den Wolken über uns. Oder wie man hier so schön sagt: high as a kite.

»Einmal habe ich mich so dermaßen in den Leinen verheddert. Meinen Kite hat es nach oben gerissen, und ich wurde unter Wasser gedrückt. Da hing ich dann wie ein nasser Sack und wurde durch die Lagune gezerrt.«

Während ich in den Himmel über mir starre, lausche ich Freddys Kitesurf-Geschichten. Davon hat der Typ eine Menge auf Lager, einschließlich einiger Nahtoderfahrungen. Freddy ist ein guter Erzähler. Obwohl meine Laune so was von im Keller ist, bringt er mich zum Lachen. Seine Erzählungen erinnern mich an meine eigenen Reisegeschichten und wie ich sie in den letzten Jahren auf der Bühne zum Besten gegeben habe: Eigentlich krasse Geschichten, die teilweise gefährlich und überhaupt nicht zum Lachen waren, werden im Scheinwerferlicht plötzlich zu echten Brüllern. Wie oft habe ich auf der Bühne schon von dem Tag erzählt, als mir eine Harpune in die Brust gejagt wurde. Doch obwohl das eine der krassesten Situationen in meinem Leben war, bringe ich die Menschen damit zum Schmunzeln. Manchmal ist nicht nur Vorfreude die schönste Freude, sondern auch Schadenfreude.

Wenn wir vom Reisen erzählen, strahlt meist alles in positivem Licht. Wir erzählen von Abenteuern, witzigen Erlebnissen und spannenden Menschen, die wir getroffen haben, und prahlen damit, wie viel reicher wir durch die ganzen Erfahrungen geworden sind. Das ist ja auch richtig. Für mich ist das Reisen die beste Universität des Lebens. Da können sich Harvard und Co. noch ein paar Scheiben abschneiden. Beim Reisen machst du einen großen Satz raus aus deiner Komfortzone, sprengst deine Grenzen und lernst dich selbst von ganz anderen Seiten kennen. Abseits des Alltags, in dem es bisher so bequem war. Plötzlich musst du dich jeden Tag neu definieren, denn ständig steckst du in unbekannten Situationen, triffst auf andere Menschen oder stellst dich neuen Herausforderungen.

IN DIESER HÄNGEMATTE IN PIPA HABE ICH MEIN ERSTES BUCH GESCHRIEBEN – DEM MUSKELFASERRISS SEI DANK.

NACH DEM MOTTO: NUR GUCKEN, NICHT SELBER MACHEN. DIE KITE LAGUNE IN ILHA DE GUAJIRU

Weil genau das mein Leben so bereichert hat, liebe ich es, andere dazu zu inspirieren, ungeahnte Abenteuer zu entdecken. Das mache ich bei meinen Liveshows, in meinem Podcast oder bei diversen Interviews. Aus diesem Grund habe ich auch mein erstes Buch Die geilste Lücke im Lebenslauf veröffentlicht. Doch bei all der Inspiration fehlte mir plötzlich etwas. Und zwar die Kehrseite der Medaille. Ganz ehrlich: Jede Wurst hat zwei Enden. Das ist auch beim Reisen so. Es ist nicht immer alles Pommes und Disco. Das ist übrigens auch der Grund dafür, warum ich mitten im schönsten Kite-Paradies NICHT auf einem Board stehe und mir NICHT den Wind um die Nase wehen lasse. Der Grund, warum ich hier im sonnigen Brasilien plötzlich Marihuana rauche.

Im Unternehmenskontext gibt es die sogenannten Fuck-up-Nights. Das sind Events, auf denen Unternehmer und Selbstständige davon berichten, wie sie gescheitert sind, sich mal so richtig schön auf die Fresse gepackt und ihre Unternehmen oder einzelne Projekte gegen die Wand gezimmert haben. Warum stellen die sich auf eine Bühne und erzählen davon? Und warum hören da so viele zu? Ganz einfach: weil aus dem Scheitern oft die größten Learnings entstehen. Es gab mal einen Erfinder namens Thomas Alva Edison. Den kennst du, der Typ hat die Glühbirne miterfunden. Allerdings erst nach langem Herumprobieren. Dazu sagte Edison einmal: »Ich habe nicht versagt. Ich habe nur 10.000 Wege gefunden, die nicht funktionieren.« Im Grunde ist es das: Man probiert so lange aus, bis man den Weg findet, der einen dahin bringt, wo man hin möchte. Dass man sich zwischendurch ein paarmal verirrt oder in die verkehrte Richtung rennt, ist Teil des Spiels. Das gilt auch fürs Reisen. Jeder kann barfuß mit einem Mojito in der Hand am Strand tanzen und bescheuert-glücklich lächelnd zum Beat vom Bacardi-Jingle wippen. Aber das sind nicht unbedingt Momente, in denen wir am meisten lernen oder die dazu führen, dass wir die Glühbirne erfinden. In Wahrheit ist es die andere Seite der Medaille, die uns reifen lässt. Die dunkle Seite. Die 10.000 Wege, wie wir eine Glühbirne nicht zum Leuchten bringen.

MAN KÖNNTE SAGEN: ICH IN MEINEM ELEMENT. EINE LIVE SHOW VON »DIE GEILSTE LÜCKE IM LEBENSLAUF«

Genau darum soll es in diesem Buch gehen. Kehren wir mal den ganzen lustig ausgeschmückten, positiven, strahlenden Reiseerfahrungen den Rücken zu und stecken den Kopf in die vermeintliche Dunkelheit, in die uns auch das Reisen in schöner Regelmäßigkeit hineinkatapultiert. Die einzelnen Kapitel sind nicht chronologisch aufgebaut. Du kannst die folgenden Geschichten also zusammenhängend lesen oder kreuz und quer. Anhand eines Bewertungssystems am Anfang eines jeden Kapitels bekommst du schnell einen Überblick, worum es in der Geschichte geht: um Verletzungen, Herzschmerz, Mindfucks oder ab und zu auch mal die subjektive Ausweitung der Grenzen der Legalität. Unbehagliche Storys aus meinen zehn Jahren Weltreisen. Du kannst das Buch einfach als Edutainment nehmen oder Inspiration daraus ziehen. Eines solltest du aber beachten: Wenn du nach dem Lesen dieses Buches immer noch den Traum einer Langzeitreise verspürst, dann sieh das als Zeichen, dass du es wirklich durchziehen solltest.

Bist du am Start? Na dann:

Herzlich willkommen zur dunklen Seite des Reisens,zur Fuck-up-Version von Die geilste Lücke im Lebenslauf.

Fangen wir doch gleich mal damit an, warum zur Hölle ich mit angefressener Laune in einer brasilianischen Hängematte liege.

AUF KRÜCKEN

Jericoacoara, BrasilienDezember 2018

Kennst du dieses Gefühl, wenn du morgens aufwachst und einfach weißt: Das wird ein großartiger Tag! Schon bevor du deine Augen öffnest, passt dein Grinsen fast gar nicht mehr zwischen deine beiden Ohren, so voller Vorfreude brummt es in deinem ganzen Körper. So ungefähr habe ich mich die ganze Zeit gefühlt, seit Steffi, unser Kumpel Björn und ich in Brasilien angekommen waren, uns ein Auto gemietet hatten und zu einem Roadtrip gestartet waren. Eines unserer Ziele: Jericoacoara, ein kleines Fischerdorf an der Nordküste und ein absoluter Traum-Spot für alle Kitesurfer. »Jeri« ist rundum ein besonderes Fleckchen Erde, denn hier drehen sich die Uhren sehr viel langsamer als in den Großstädten dieser Welt. Es gibt keine Straßen, nur Sand, alle laufen barfuß und genießen das Leben ohne künstlichen Stress. Wenn es dort überhaupt so etwas wie feste Termine gibt, dann eigentlich nur einen: Jeden Abend pilgert das halbe Dorf auf eine Sanddüne, um den Sonnenuntergang zu zelebrieren. Man klettert die Düne hoch, setzt sich hin und wartet, bis die Sonne untergeht. Von überall wehen Musik und fröhliche Unterhaltungen herüber – und auf dem Weg kommt man an lauter kleinen Verkaufsständen vorbei, an denen Einheimische Caipirinhas verkaufen.

HIER WAR DIE WELT NOCH IN ORDNUNG UND DIE CAIPIS SCHMECKTEN HIMMLISCH. EINIGE MINUTEN SPÄTER ROLLTEN WIR DIE DÜNE HINUNTER …

Caipirinhas in Brasilien, speziell in Jeri, sind eine ganz andere Nummer als das, was wir aus deutschen Bars kennen. Alle möglichen Früchte wie Maracujas, Kiwis, Kirschen, Orangen oder Mangos werden hineingemischt – und zwar so frisch, dass sie quasi vom Baum oder Strauch direkt ins Glas fallen. Manchmal kommen noch Gewürze wie Pfeffer oder Chili dazu. Das Ganze schmeckt so gut, dass du dir die Dinger reinhaust wie Fanta. Und wie das halt so ist: Du bist gerade in Jeri angekommen, dein Grinsen hört überhaupt nicht mehr auf, weil du einen fantastischen Tag hattest. Du warst surfen, kiten, bist durch die Gegend geheizt, und jetzt machst du dich in dieser einmaligen Atmosphäre auf den Weg zur Düne, um den Tag, das Leben und einfach prinzipiell alles zu feiern. So ging es mir, als ich da im Sand saß, Steffi und Björn neben mir. Die Sonne wurde kleiner und kleiner, bis wir nur noch einen winzigen roten Strich sahen, ganz unten am Rand, wo der Himmel auf das Meer trifft. In dem Moment, als auch dieser kleine rote Strich verschwand, standen plötzlich alle Menschen auf und klatschten. Ein riesiger Jubel. Sofort war ich eine einzige Gänsehaut. Ich platzte fast vor Freude und Leichtigkeit. Wie kann das Leben nur so toll sein? Das war einer dieser Momente, in denen mein Nick-Gehirn auf die ganz großartigen Ideen kommt. Natürlich. Ich stand da, jubelte, und plötzlich hörte ich mich rufen: »Los, Leute, wer zuerst im Meer ist!« Und mit einem lauten »Wohoooo!« purzelte ich auch schon die relativ steile Düne runter. Eine Sekunde später folgten Steffi, Björn und eine Hand voll der anderen Menschen. Es muss ein Anblick für die Götter gewesen sein, als ein halbes Dutzend Caipirinha-beschwipste Leute vor einem in allen Rottönen strahlenden Abendhimmel die Düne runterrannten, sich nach ein paar Schritten die Beine im Sand verknoteten und den Rest der Strecke in Purzelbäumen kreuz und quer durcheinanderrollten.

UND HIER WAR ES DANN PASSIERT. DAS AUSMASS WAR MIR IN DIESEM MOMENT NOCH NICHT BEWUSST.

Als ich unten ankam, war ich von oben bis unten so sehr mit Sand paniert, dass jedes Wiener Schnitzel vor Neid erblasst wäre. Lachend sprang ich auf die Füße und rannte die letzten Meter ins immer noch angenehm warme Wasser. Mit großen Sprüngen kämpfte ich mich jauchzend durch die heranrollenden Wellen, bis mich plötzlich ein »Plop« innehalten ließ. Ich weiß noch, dass ich eine Sekunde Zeit hatte, so etwas wie »Häh?« zu denken. Dann explodierte mein Bein. Es fühlte sich an, als hätte mir ein Profi-Pitcher aus der Major League Baseball eine Kokosnuss aus einem Meter Entfernung direkt auf die Wade gefeuert. Ich ließ mich sofort ins Wasser fallen und schrie vor Schmerz. Meine erster Gedanke: »Krass, irgendein Tier hat mich gebissen! Ein Fisch. O Gott, ein Hai!?« Wie von der Tarantel gestochen sprang ich wieder auf die Füße, nur um zu merken, dass mich mein rechtes Bein nicht mehr trug. Also wirklich gar nicht. Noch nie im Leben hatte ich solch einen Schmerz gefühlt. Belastete ich mein Bein auch nur ein kleines bisschen, jagte es mir wie mit einem Dolch durch die Wade, und der Schmerz brandete durch meinen ganzen Körper bis in den Kopf. Ich sah nur noch Sterne – und zwar nicht die über mir.

Um mich herum stürzten mehr und mehr mit Sand panierte Menschen fröhlich jubelnd ins Wasser. Von überallher hörte ich »Yeah« und »Wohoo« und sonstige Schreie. Dass ich genauso schrie, nur aus einem ganz anderen Grund, fiel überhaupt niemandem auf. Ich lag zusammengekrümmt im knietiefen Wasser und wusste genau: »Nick, das ist nicht irgendein Schmerz, der wieder abflaut. Da ist etwas nicht in Ordnung.« Während ich halb saß, halb lag und mir die Schmerzenstränen in die Augen schossen, schaute ich auf meine Wade, konnte aber nichts erkennen.

Ein paar Sekunden später kamen Björn und Steffi angesprungen, wollten sich in meine Arme schmeißen und das Leben zelebrieren – genau wie ich noch Sekunden zuvor. Ich schrie irre laut: »Fuck! Es tut so weh, es tut so weh! Da ist was kaputt!« Sofort merkten die beiden, dass etwas nicht stimmte, und wollten wissen, was passiert war. Ich quetschte die Worte zwischen meinen zusammengebissenen Zähnen hervor: »Keine Ahnung, etwas hat mich in die Wade gebissen!« Am Strand sahen wir, dass mit meiner Wade definitiv etwas nicht in Ordnung war. Allerdings war keine Wunde zu sehen, kein Blut, keine Kratzer. Reingebissen hatte ganz sicher niemand. Dafür schwoll meine Wade zunehmend an, und mein Wadenmuskel war tiefergelegt.

DIE LEGENDÄRE »CAIPISTREET« VON JERI. FRISCHER UND LECKERER GEHT ES NICHT. MY FAVOURITE: MIT FRISCHER MARACUJA UND CHILLIS!

Mittlerweile hatte die Dämmerung so richtig eingesetzt, und die Menschen liefen in Gruppen zurück zum Dorf. Auch mir kam es am vernünftigsten vor, erst einmal wieder heimzugehen und mich aufs Bett zu legen. Doch leichter gesagt als getan. Hatten wir für den Hinweg gerade mal zwanzig Minuten gebraucht, dauerte es jetzt geschlagene eineinhalb Stunden, bis ich tatsächlich auf meiner Matratze zum Liegen kam. Mittlerweile war meine Wade auf das Doppelte ihrer tatsächlichen Größe angeschwollen. Mir war sofort klar: Ich brauchte einen Arzt. Das will schon was heißen, denn das sage ich nicht sehr oft. Das Problem war: Wir befanden uns in Jeri. In Sandstraßen-Caipirinha-Jeri. Ein richtiges Krankenhaus suchst du hier eine Weile.

Alles, was wir bei unserer Internetrecherche finden konnten, war ein kleines Medical Center ein Stück außerhalb der Ortschaft. Doch wie dahin kommen? Es war Nacht geworden, also stockfinster. Steffi versuchte einen Fahrer zu organisieren, blieb aber erfolglos. Autos gibt es in Jeri nicht, dafür aber Quads. Und Kühe. Eine Menge Kühe. Ich war schon kurz davor, tatsächlich den Ritt auf einer Kuh in Kauf zu nehmen, verwarf das aber schnell wieder. Ich konnte nicht einmal ordentlich stehen, wie im Himmel sollte ich auf eine Kuh klettern? Ich war überhaupt noch nie auf einer Kuh geritten, wie sollte das überhaupt funktionieren? Während ich mit den Schmerzen kämpfte und weiteren wirren Gedanken nachhing, kam Steffi zurück an mein Bett: »Nick, es hilft nichts, ich finde keinen Fahrer. Wir müssen da jetzt zu Fuß hin.«

OFFIZIELLER BEFUND: »MEIN BEIN IST KAPUTT, DAS BRAUCHT ZEIT.« MANCHMAL MUSS MAN SOLCHE MOMENTE MIT EINEM HALBEN LÄCHELN HINNEHMEN.

Ich sag es, wie es war: Es war die Hölle. Irgendwann stolperten Steffi und ich in dieser Nacht tatsächlich durch die Türen des Medical Center. Erst nachdem ich im Schneckentempo Zentimeter für Zentimeter zur Anmeldung gehumpelt war und wir berichtet hatten, was los war, kam eine Schwester auf die Idee, dass ein Rollstuhl helfen könnte. Nach der ganzen Lauferei war meine Wade jetzt nicht mehr nur doppelt so dick, sie hatte locker das Dreifache ihres normalen Umfangs erreicht. Es sah aus, als hätte ich einen zweiten Oberschenkel an meinem Schienbein hängen. »Oh, oh!«, dachte ich nur, und mir drehte sich bei dem Anblick fast der Magen um.

MACGYVER WÄRE STOLZ AUF MEINE SELBSTGEBAUTEN KRÜCKEN … UND NEIDISCH AUF DEN CAIPIRINHA!

Als die Ärztin gekommen war und mein Bein begutachtet hatte, sagte sie: »Das ist kaputt, das braucht sehr viel Zeit.« Obwohl ich nicht wirklich gut Portugiesisch verstand, wusste ich sofort, was sie dann erklärte: Ich musste warten, bis die Schwellung zurückgeht. Erst dann konnte man überhaupt sehen, was genau passiert war. Ich hatte da ein paar düstere Alternativen zur Auswahl: eine krasse Verstauchung, einen Bruch, einen Muskelbündelriss oder einen Muskelfaserriss. Egal welche Option: Es war eigentlich alles so richtig suboptimal. Wir waren gerade erst in Brasilien angekommen und hatten noch so viel vor!

Doch es half nichts, und schließlich machten wir uns wieder auf den Weg nach Hause. Als ich mit dem Rollstuhl aus dem Medical Center rollen wollte, kam ich plötzlich nicht mehr weiter. Ich drehte mich um und bemerkte einen Krankenpfleger, der die Haltegriffe gepackt hatte.

»Ähm, kann ich weiterrollen?«, fragte ich den Typen.

»Ne, sorry, den Rollstuhl brauchen wir hier für den nächsten Patienten.«

Okay, das sah ich ein. Mit einem Rollstuhl im Sand zwischen Kühen rumzurollen machte sowieso auch kein Sinn. Ich stand auf, stützte mich auf Steffi und blickte wieder zurück zum Krankenpfleger. »Kann ich vielleicht Krücken bekommen?«

Der Krankenpfleger schüttelte den Kopf: »Wir haben nur Krücken für Patienten, die sich im Medical Center aufhalten.«

Es gibt Momente, die nur mit ironischem Lachen auszuhalten sind. Also lachte ich einmal laut. Danach humpelte ich mit Steffis Hilfe den ganzen Weg zurück zu unserer Unterkunft. Ich verzichte auf die Beschreibung der Schmerzen, die mir dabei fast die Schädeldecke vom Kopf sprengten. Zu Hause angekommen kratzten wir das Eis von den Innenwänden unseres Kühlschranks, um der Schwellung etwas entgegenzusetzen. Dann ging Steffi noch mal los, um den Caipirinha-Verkäufern ein paar ihrer Eiswürfel abzuschwatzen. Björn, der neugierig in unserer Unterkunft gewartet hatte, reichte mir Naturheilmittel in Form einer selbst gedrehten THC-Kräuterzigarette.

In den nächsten Tagen schaffte ich es, über Facebook eine Physiotherapeutin in Jeri ausfindig zu machen und einen Termin zu vereinbaren. Bis dahin war ich damit beschäftigt, mobil zu werden. Ich war ein Häufchen Elend und gar nicht mehr der lustige, frohe Nick, den alle am ersten Tag kennengelernt hatten. In einem kleinen brasilianischen Hardware-Store – eigentlich mehr einer Hütte, in der alles Mögliche durcheinander lag – organisierte ich die Holzstiele eines Spatens und ließ Plastikrohre auf eine bestimmte Länge zuschneiden. So bastelte ich mir behelfsmäßig eine Art Krücken. MacGyver wäre stolz auf mich gewesen. Mit den Rohren verlängerte ich die Holzstiele und setzte unten noch kleine Plastikstöpsel drauf, damit kein Sand reinkommen konnte. Weil das Holz unter den Achseln sehr wehtat, polsterte ich die Enden mit Schaumstoffschläuchen aus. So kam ich wenigstens ein bisschen voran.

BEIN RASIERT, ULTRASCHALL DURCHGEFÜHRT – DIAGNOSE: MUSKELFASERRISS. WOHER MEIN OPTIMISMUS KAM, WEISS ICH AUCH NICHT GENAU.

Die Physiotherapeutin musste mich noch ein paar Tage vertrösten, da das Bein noch zu stark angeschwollen war. Die Wartezeit bis zur Behandlung verbrachte ich fast ausschließlich in der Hängematte und ohne Bewegung.

Als mein Bein mit den zwei Oberschenkeln endlich wieder ein wenig Form bekam, wurde ich dazu genötigt, es komplett zu rasieren. Ich begab mich in einen kleinen Wettbewerb mit Steffi: Wer von uns beiden bekam die glatteren Beine hin? Es wurde ein Unentschieden. Anschließend machte die Physiotherapeutin einen Ultraschall, der eine meiner düsteren Vorahnungen Realität werden ließ: Muskelfaserriss. Herzlichen Glückwunsch. Für mich bedeutete das: Der Brasilien-Roadtrip war gelaufen. Das war noch ein viel größerer Schmerz als der physische, den ich permanent aushalten musste. Ich war mit so vielen Plänen und so viel Vorfreude nach Brasilien gekommen: das Land erkunden, eine gute Zeit mit Steffi und Björn haben, Silvester in Rio feiern und so weiter. Das Einzige, was mein Muskelfaserriss nun dazu zu sagen hatte, war: »Nö.«

Gleichzeitig war mir auch klar, dass mein Roadtrip-Ende nicht das Roadtrip-Ende für Steffi und Björn bedeuten musste. Ich kann es sowieso nicht leiden, wenn mich jemand den ganzen Tag bemuttert, weil ich krank bin. Im Gegenteil: Ich bin dann lieber alleine. Also sagte ich den beiden, dass sie einfach weitermachen sollten wie geplant. Shit happens.

Doch erst mal genossen Steffi und Björn die weiteren Tage in Jeri, während ich deprimiert herumlag. Es ist wirklich Mist, wenn du die Abenteuer vor der Nase hast, aber physisch zu nichts in der Lage bist. Das ist auch der Grund, warum ich immer sage: »Setz deine Träume jetzt in die Realität um! Warte nicht auf morgen oder auf die Rente. Geld kannst du immer irgendwie verdienen, aber die Zeit, in der es dir gut geht, bekommst du nie wieder zurück.« Ich jedenfalls hatte wieder einmal bemerkt, wie schnell Freiheiten weg sein können, wenn die Gesundheit nicht mitspielt.

Am Ende war ich insgesamt sechs Wochen in Brasilien. Oder besser: Ich lag sechs Wochen in Brasilien herum. Unter anderem auch in besagter Hängematte auf der Ilha do Guajiru, wo mir Freddy Gesellschaft leistete. Steffi und ich waren gemeinsam dorthin übergesiedelt und hatten noch zusammen Weihnachten verbracht. Danach reiste sie nach Rio, um dort Silvester mit Freunden zu feiern. Björn war zuvor schon allein weitergegondelt.

BEHIND THE SCENES: DIE ERSTEN ARBEITEN AN MEINEM BUCH!

Nachdem Steffi weg war, tauschte ich humpelnd die Hängematte auf der Ilha do Guajiru gegen eine Hängematte in Pipa. Als ich dort lag und nichts anderes zu tun hatte, schnappte ich mir mein Smartphone und begann, die Geschichten für mein erstes Buch einzusprechen. Man kann also sagen: Mein erstes Buch verdanke ich dieser Zeit, in der ich zu endloser Ruhe gezwungen wurde. Oder um es anders auszudrücken: »Shit happens« ist immer auch das, was du draus machst.

DER VERSUCH, MEINE TIEFERGELEGTE WADE MIT SPORTTAPE ZU STABILISIEREN

AM TROPF

Dahab, ÄgyptenNovember 2017

Nach Ägypten hat es mich schon einige Male verschlagen. Es gibt dort ein ehemaliges Fischerdorf auf der Sinai-Halbinsel, gar nicht weit entfernt von Sharm el Sheikh: Dahab. Das ist ein zuckersüßer kleiner Ort, der sich ganz wunderbar dafür eignet, tauchen zu gehen und Abenteuer zu erleben. Hier haben Steffi und ich schon öfter Camps für Digitale Nomaden veranstaltet: zwei Wochen Land und Kultur erleben, arbeiten, sich gegenseitig helfen und austauschen. Das brachte eine ganze Menge Organisationsaufwand mit sich, und es gab viel zu planen: Wie reist wer an und kommt von A nach B? Wo übernachten wir alle? Wie gestalten wir ein ausgewogenes Programm aus Arbeit, Mehrwert, Abenteuer und Spaß? 2017 stand also wieder eines dieser sogenannten DNX-Camps in Dahab an. Die ersten Teilnehmer waren schon angekommen oder trafen den ganzen Tag über nach und nach ein. Erst am nächsten Tag war das erste gemeinsame Kennenlernen geplant.

CAMPTEILNEHMER UND LOCALS MIT DEM STOLZEN UND ZUGLEICH TRAURIGEN ERGEBNIS UNSERES BEACH-CLEAN-UPS

Eine Teilnehmerin war Sonja. Da sie schon recht früh angereist war, nutzte sie den Leerlauftag, um sich schon einmal mit der Ortschaft vertraut zu machen. Sie ging ans Meer, kaufte sich Streetfood oder ging essen und machte einen Fehler, vor dem sich jeder Reisende hütet, der die Folgen schon einmal durchgemacht hat: Sie bezahlte bar.

In Ägypten ist das Bargeld unwahrscheinlich dreckig, vor allem die Scheine. Bedeutet: Wenn du etwas mit Bargeld bezahlst und dir nicht sofort danach die von jeder halbwegs ordentlichen Gesundheitsbehörde empfohlenen 20 bis 30 Sekunden die Hände wäschst, spielst du Russisch Roulette. Mit Keimen. Das kann gut ausgehen, muss es aber nicht.

EIN TYPISCHES BILD IN ÄGYPTEN: KARKADEH-TEE UND BAKTERIENINFIZIERTES BARGELD

»DR. BOB« BEI SEINER ARBEIT AN MIR. AUCH STEFFI HAT ES IN ÄGYPTEN ERWISCHT.

Sonja zog im Casino-Royale der Geldscheinbazillen im wahrsten Sinne des Wortes die totale Arschkarte. Am nächsten Morgen wachte sie mit Bauchschmerzen und Durchfall auf, und es dauerte nicht lange, bis sie vollkommen geschwächt und lethargisch im Bett lag. Da ich schon einige Male in Dahab gewesen war und bereits unter ähnlich tollen Bedingungen Glücksspiele gespielt hatte, rief ich am Nachmittag den Mann der Stunde an: Dr. Bob. Er heißt nicht wirklich so, aber da ich mir seinen Namen anfangs nicht merken konnte, nannte ich ihn in Anspielung auf das TV-Dschungelcamp insgeheim so.

Auf Dr. Bob ist Verlass, und so stand er wenig später vor der Tür. Dr. Bob ist ein groß gewachsener Mann – in alle Richtungen. Er ist genauso riesig wie breit. Ein richtiger Balu der Bär mit freundlichem Grinsen und gemütlichem Gang. Meine bisherige Erfahrung mit ägyptischen Ärzten ist folgende: Egal was du hast, ob Bauchweh, Ohren- oder Kopfschmerzen, Durchfall oder Fieber, zuerst gibt es immer eine Infusion. Ich war also nicht verwundert, als Dr. Bob einen Blick auf Sonja warf, ein paar Fragen stellte und gleichzeitig einen Infusionsbeutel aus der Tasche zog. Es waren kaum dreißig Sekunden vergangen, schon hatte Dr. Bobs Hilfsarzt die Infusion an Sonja angestöpselt. Wir schauten zu, wie er den Beutel an einen Kleiderbügel und den Kleiderbügel an eine Lampe hängte.

»Bald geht es ihr wieder besser«, brummte Dr. Bob zufrieden. Dann klingelte sein Handy. Offenbar gab es einen Notfall, und er musste mit seinen Infusionsbeuteln schnell dazukommen. Dr. Bob drehte sich Steffi, Sonjas Zimmernachbarin Lea und mir zu: »Leider müssen wir sofort los und können nicht warten, bis die Infusion durchgelaufen ist. Ist hier jemand in der Lage, die Infusionsnadel im Anschluss zu entfernen?«

Wir schauten ihn mit großen Augen an. Steffi und Lea waren beide – wohlwollend betrachtet – eher zurückhaltend. Sonja selbst war das Ganze natürlich nicht zuzumuten. Es war eine Situation wie im Film, wenn ein Freiwilliger gesucht wird: Alle treten einen Schritt zurück, und der einzige Depp, der nicht so schnell schaltet, steht plötzlich als Auserwählter vorne. In diesem Fall war der Depp ich. Ich räusperte mich: »Ja, klar, einfach nur rausziehen dann?«

Konnte so schwer eigentlich nicht sein, oder? Das sollte im Vergleich zu meinen Harpunenerfahrungen auf den Fidschis ein Kinderspiel sein. Bei einer OP am offenen Herzen hätte ich mehr gezögert, aber das? Das würde ich schon hinkriegen.

Ich kriegte es nicht hin. Jedenfalls nicht besonders gut. Während der Wartezeit hatten wir an Sonjas Bett gesessen, ihr Wadenwickel gemacht, Elektrolyte verabreicht und Salzstangen besorgt. Doch auch als die Infusion endlich durchgelaufen war, ging es ihr noch richtig dreckig. Zudem tat ihr die Einstichstelle der Nadel höllisch weh, was mich vermuten ließ, dass Dr. Bobs Hilfsarzt vielleicht mehr Hilfs- als -arzt war. Gut also, dass das Ding jetzt rauskam. Ich kniete vor Sonjas Bettkante, legte ihren Arm vor mich auf die Matratze und fing an zu operieren. Natürlich hoch konzentriert, denn ich wollte Sonja nicht noch mehr Schmerzen bereiten, als sie eh schon die ganze Zeit hatte. Zuerst löste ich das Pflaster, mit dem die Nadel befestigt worden war. Dann begann ich die Nadel langsam herauszuziehen. Ich hatte damit gerechnet, dass das Ding vielleicht zwei Zentimeter tief drinstecken würde, aber dem war nicht so. Vorsichtig zog und zog ich daran, aber es wurde immer länger. Von Sonja waren unterdessen Geräusche zu hören, die eindeutig machten, wie weh ihr die Prozedur tat. Mir wurde mulmig zumute. Es sah aus, als würde ein langer weißer Faden aus ihrer Haut hängen. Ich wusste nicht, was ich tun sollte: aufhören, langsam weiterziehen oder die Sache mit einem Ruck so schnell wie möglich beenden? Alles wieder zurückdrücken? Ich war völlig überfordert. Hinter mir hielten sich Steffi und Lea die Augen zu. Sonja schrie vor Schmerz auf. Es half alles nichts, also zog ich weiter. Nach ungefähr zehn Zentimetern war der Schlauch aus dem Arm raus. Und mit ihm einiges an Blut. Das weiße Laken sah aus wie ein Schlachtfeld. Das war der Moment, als wir alle ein bisschen in Panik ausbrachen. Es war eine gruselige Situation: Da saß ich in Ägypten und machte, was eigentlich der Hilfsarzt hätte tun sollen. Aber wer weiß, wie das dann ausgegangen wäre, denn jetzt war mir völlig klar, dass der Typ schon das Legen der Infusion richtig vermasselt hatte.

ICH LASSE MIR EIN KRANKENHAUSBESUCH IN ÄGYPTEN NATÜRLICH AUCH NICHT ENTGEHEN. EINE INFUSION IST GLEICH AM START.

DIE TYPISCHE AUSBEUTE NACH EINEM ARZTBESUCH UND DEM ANSCHLIESSENDEN GANG IN DIE APOTHEKE

Sonja ging es den ganzen weiteren Tag nicht besser, weshalb sie beschloss, am darauffolgenden Morgen zurück nach Deutschland zu fliegen. Um ihre kurze Ägypten-Erfahrung ist sie nicht zu beneiden. Stell dir vor, du kommst in ein Land, verbringst einen schönen Abend und freust dich auf eine super Zeit mit tollen Leuten. Doch alles, was du erlebst, sind Übelkeit und Schmerzen. Am Ende fliegst du nach zwei Tagen Tortur wieder nach Hause.

Natürlich tat es mir unwahrscheinlich leid für sie, aber wir konnten nichts dafür. Solche Erlebnisse passieren beim Reisen leider auch. Seit dieser Geschichte schreiben wir auf unsere Camp-Anmeldungen immer einen deutlichen Hinweis in Sachen Bargeld: Wenn es genutzt wird, dann nur in Kombination mit viel Hygienespray oder ausgiebigem Händewaschen. Ein anderer Tipp: Hin und wieder einen Schnaps trinken, um die Bakterien abzutöten. Oder lokalen Joghurt beziehungsweise lokale Milch trinken, das soll dem Körper helfen, sich an die heimischen Bakterienkulturen zu gewöhnen. Die Moral von der Geschichte? Geld macht tatsächlich nicht immer besonders glücklich. Und Ägypten manchmal auch nicht. Das sollte ich noch bei einer anderen Gelegenheit erfahren, die sich erneut im Rahmen eines DNX-Camps ereignete.

NICHTSDESTOTROTZ IST DAHAB UND DIE UMLIEGENDE GEGEND ALLEMAL EINEN BESUCH WERT.

AM ABHANG

Dahab, ÄgyptenOktober 2018

Tauchen wir ein in die ägyptischen Nächte. Neben wunderschönen Kite-Spots und großartigen Taucherlebnissen gibt es im Land der Pyramiden nämlich noch ein weiteres Abenteuer, das man sich keinesfalls entgehen lassen sollte: eine Nacht in einem Wadi. Wadis sind Täler oder Flussläufe, die manchmal – zum Beispiel nach starken Regenfällen – Wasser führen, aber die übrige Zeit als Trockentäler in der Sonne vor sich hin brutzeln. In diesen felsigen Landschaften kannst du tagsüber super wandern und klettern. Ihre wahre Pracht entfaltet sich aber erst nachts: In der ganzen Umgebung gibt es keine Lichtquelle, und so erscheint bei Einbruch der Dunkelheit der schönste Sternenhimmel, den du dir vorstellen kannst. Jedes Mal, wenn ich in Ägypten bin, verbringe ich mindestens einen Abend in einem solchen Wadi. Natürlich stand dieses Erlebnis auch bei unseren Camps auf der To-do-Liste.

Eines Tages war es wieder so weit. Bevor wir mit den Beduinen, die uns begleiteten, ein Lagerfeuer entzündeten und zu volkstümlicher Leiermusik ein landestypisches Essen genossen, brachen wir auf, um eine Klettertour durchs Wadi zu machen. Ich liebe es, wenn ich herumklettern kann. Das Problem an Wadis aber ist, dass es zwischen diesen steinbruchartigen Felsen sehr viel Geröll und scharfkantige Steine gibt. Du musst deshalb höllisch aufpassen, denn viele davon liegen sehr locker und machen deshalb schnell einen Abgang, wenn du sie mit dem falschen Fuß erwischt. Ganz Wadi-erfahren gab ich unseren Teilnehmern also Tipps und schärfte ihnen noch einmal ein, bloß vorsichtig zu sein.

Wenig später kraxelten wir auch schon durch die Gegend – vornehmlich die Herren der Schöpfung, während die Mädels unten standen und miteinander quatschten. Irgendwann stand ich relativ weit oben auf einer Art Klippe. Die Aussicht war herrlich: Vor mir erstreckte sich die sandige Weite des ausgetrockneten Flussbettes, dahinter erhoben sich riesige Berge. Einfach traumhaft!

MÄNNER IN FREIER WILDBAHN: HAUPTSACHE IRGENDWO KLETTERN, SPRINGEN, HÜPFEN ODER RUNTERRUTSCHEN

Als der Abend näherkam und die Sonne schon recht tief am Himmel stand, beschloss ich, wieder zu den anderen herunterzuklettern. Was ich zu dem Zeitpunkt längst wusste, aber aufgrund einer auffallend oft auftretenden temporären Amnesie mal wieder vergessen hatte: Hochklettern ist immer sehr viel einfacher als wieder herunterzukommen. Ich schaute mich um und entdeckte einen kleinen Abhang, den ich locker herunterklettern konnte. Dachte ich. Es stellte sich allerdings heraus, dass dieser Abhang ein als festes Gestein getarnter Geröllhaufen war. Kaum setzte ich einen Fuß darauf, rutschte ich auch schon los. Ich ging sofort in die Hocke, krallte mich mit den Händen an den Steinen fest und kam zum Halten. Dummerweise saß ich nun mitten drauf auf der Schräge. Ich sondierte meine Lage: Hoch ging es durch das Geröll leider nicht mehr, also musste ich wohl oder übel weiter runter. Ich stützte mich mit den Händen ab und ließ mich langsam, Meter für Meter, den Abhang hinuntergleiten. An sich ein guter Plan. Was ich dann aber bemerkte: Der recht steil abfallende Abhang war nicht nur ein Geröllhaufen, der jeden Moment losrattern konnte, er endete auch noch in einer fiesen Sackgasse in Form eines scharfen Felsvorsprungs und eines rund zehn Meter tiefen Nichts. Darunter standen Steffi und die Camp-Teilnehmer und schauten gebannt nach oben.

ABENDS AM LAGERFEUER DER MUSIK DER BEDUINEN LAUSCHEN UND DEN STERNENHIMMEL BEWUNDERN.

Jemand rief mir zu: »Du musst wieder hoch! Ein Stück weiter rechts kannst du gut runterklettern!« Ich runzelte die Stirn: Jeder, der schon einmal eine stinknormale Rutsche auf einem Kinderspielplatz hochgeklettert ist, weiß, wie schwierig das sein kann. Jetzt stell dir vor, diese Kinderrutsche ist mit Geröll bedeckt und endet in einem Abgrund! Ich fluchte innerlich: Warum hatte ich nicht besser aufgepasst?

Es half alles nichts, ich musste einen Weg nach unten finden. Schließlich konnte ich nicht den Rest meines Lebens auf den Felsen herumsitzen. Also los! Ich blieb in der Hocke und versuchte, mich langsam und Stück für Stück rückwärts nach oben zu stemmen. Doch schon nach ein paar Sekunden verlor ich wieder den Halt und schlitterte ein gutes Stück abwärts. Mein Herz pochte so laut in meinem Schädel, dass ich die erschreckten Schreie von unten kaum wahrnahm. Gerade mal ein paar Meter vor der Felskante kam ich endlich wieder zum Stehen. Ich atmete schnell und keuchend. Dann schaute ich nach oben. Es war eigentlich nicht weit bis zum rettenden Gipfel, doch es war sehr steil. Von unten sah es sogar noch viel steiler aus als von oben. Ich wusste: Noch so eine Rutschpartie konnte ich mir nicht erlauben, denn dann würde ich den Abhang hinunterkrachen und mich sogar an den Tag zurückwünschen, als mir mit einer Harpune direkt in die Brust geschossen worden war. Vorausgesetzt, ich konnte mir dann überhaupt noch etwas wünschen.

Als ich mich etwas gesammelt hatte, versuchte ich mich wieder am Aufstieg. Wie ein Krebs krabbelte ich Stück für Stück hoch. Meine Hände, meine Schuhsohlen und mein Hintern blieben die ganze Zeit in Kontakt mit dem Felsen. Voll im Fokus behielt ich immerzu den Abgrund im Blick. Ich hatte ein gutes Stück geschafft, da verlor ich erneut den Halt. Ich rutschte die ganze Strecke zurück, die ich mich hochgekämpft hatte. Langsam zwar, aber unaufhaltsam.

Die Sekunden kamen mir vor wie Stunden. Ich rammte meine Hacken in den Boden, krallte meine Finger ins Geröll und versuchte, das Schlittern zu stoppen. Am Ende schaffte ich es, mit Händen und Füßen zu bremsen. Mir ging ordentlich die Pumpe. »O Gott, o Gott, o Gott« war das Einzige, was ich denken konnte. Es dauerte ein paar Minuten, bis ich mich wieder einigermaßen gesammelt hatte. Danach beschloss ich endgültig, dass der Weg nach oben unmöglich war. Wer weiß, ob ich noch mal Halt finden würde, wenn ich wieder abrutschte? Ich blickte mich hektisch um und begann, mich parallel zum Abgrund vorzuschieben. Wenn ich seitlich um die Rutschbahn herumkam, würde ich sicher auch wieder festen Stein finden. Gerade mal drei oder vier Meter von der Felskante entfernt, bewegte ich mich wie eine Spinne seitwärts. Durch meine Adern jagte so viel Adrenalin, dass ich damit locker eine komplette Tour meiner Liveshows ausgekommen wäre. Auf jeden Fall sorgte dieser Power-Stoff in meiner Blutbahn dafür, dass ich überhaupt keinen Schmerz wahrnahm. Als ich mich endlich auf festen Stein hieven konnte und in Sicherheit war, fing mein ganzer Körper an zu zittern. Ich schwitzte aus allen Poren.

KÖNNTE AUCH DAS PLATTENCOVER EINER BAND SEIN.

BANDNAME: DAROCKWILDER

SONGNAME: DUMME IDEEN IM WADI

Erst jetzt bemerkte ich, dass mir die Hände wehtaten. Ich drehte meine bebenden Handflächen zu mir und sah den Schlamassel: Ich hatte mir während der Rutschpartien die kompletten Handflächen am Geröll aufgerissen. Alles war voller Schürfwunden und Blut. Viele kleine Steine hatten sich unter die zerfetzten Hautschichten gebohrt. Im gleichen Moment, als ich erkannte, was mit meinen Händen los war, begann der Schmerz. Es tat höllisch weh. Trotzdem musste ich noch den Rest des Berges herunterklettern. Es war fast unmöglich mit meinen blutenden Händen, in denen ich jedes einzelne brennende Staubkorn zu spüren glaubte.

Wenn man daran denkt, wie viel mit Bazillen übersätes Geld anrichten konnte, wollte ich mir gar nicht ausmalen, was der Wüstendreck auf meinen offenen Händen verursachen würde. Als ich endlich unten ankam, wollte ich deshalb sofort meine Hände desinfizieren. Steffi hatte denselben Gedanken gehabt und kam mit einer Flasche Desinfektionsspray angelaufen.

»Soll ich?«, fragte sie besorgt.

»Ja, mach«, presste ich unter Schmerzen hervor.

Als sie lossprühte und sicherheitshalber die halbe Flasche auf meinen Wunden verteilte, passierte eine Millisekunde nichts. Dann brach ein wahrer Feuersturm auf meinen Handflächen los. Zum Glück ist ein Wadi ein recht verlassener Ort und die nächste Siedlung kilometerweit entfernt. Ansonsten hätten alle Ägypter bei dem Schrei, den ich losließ, vor lauter Schreck ihre Shisha-Schläuche verschluckt.

Ein paar Stunden später lag ich mit pochenden Händen auf einer der Beduinendecken und starrte hinauf in den unfassbar schönen Sternenhimmel. Es ist so leise in einem Wadi, dass dir die Stille fast schon wieder laut in den Ohren rauscht. Das fühlt sich komisch an, so ähnlich, als wärst du unter Wasser. Doch auch wenn es weniger leise gewesen wäre, hätten meine Gedanken alles übertönt. Immer und immer wieder spielten sich vor meinem inneren Auge die Szenen auf dem Berg ab. Ich fragte mich: Wo hört Abenteuer auf – und wird zu Leichtsinn?

UNTENRUM FREI

Taghazout, MarokkoMärz 2016

Mit Leichtsinnigkeit hat die folgende Geschichte nichts zu tun. Höchstens mit leichter Bekleidung. Aber ich fange mal von vorne an. Ich steckte gerade wieder mitten in einem Abenteuercamp, das Steffi und ich ausrichteten. Dieses Mal aber nicht in Ägypten, sondern in einem wunderschönen kleinen marokkanischen Ort namens Taghazout. Dort gibt es wie in ganz Marokko etwas, das jeder ausprobieren sollte, der einmal gepflegt die Seele baumeln lassen möchte: marokkanische Hammams. Ein Hammam ist ein traditionelles Badehaus, das dem türkischen Hamam ganz ähnlich ist. Alles, was ich wusste, bevor ich selbst dort an die Tür klopfte: Das marokkanische Hammam-Ritual dreht sich um Peeling und Massage. Eine Bekannte von Steffi und mir hatte uns einen Geheimtipp gegeben, und so fuhren wir ein Stück aus der Ortschaft raus in die Berge. Am Ziel angekommen, hielten wir vor einem ganz normalen marokkanischen Häuschen: nicht besonders groß, nicht besonders klein, zwei weiß getünchte Ebenen mit einem Stück Garten vorne dran und einem bunten Türrahmen.

Als wir über die Schwelle traten, standen wir direkt vor einer Rezeption, bei der wir uns zunächst anmelden mussten. Es konnten immer zwei Personen gleichzeitig an diesem kulturellen Bad teilnehmen. Vor uns waren unsere Freundinnen Ani, meine Co-Autorin, und Anja dran gewesen. Die beiden waren dann auch das Erste, was ich sah, als wir in das Haus geführt wurden. Ani und Anja thronten, eingewickelt in alte Herrenbademäntel und mit Handtuchturbanen auf dem Kopf, auf einer riesigen Couch und hatten zwei Tässchen Tee vor der Nase. Sie sahen aus wie zweimal Witwe Bolte aus Max und Moritz. Es war ein Bild für die Götter. Mich haute es vor Lachen fast aus den Flipflops, aber da im Hammam ähnliche Stille herrschen soll wie in einer Bibliothek, musste ich das lautlos über die Bühne bringen.

Als ich mich soweit erholt und mir die Lachtränen aus den Augenwinkeln gewischt hatte, waren Steffi und ich dran. Ich ahnte natürlich, dass Ani und Anja längst dachten: »Warte mal ab, Nick. Wer zuletzt lacht, lacht am besten!« Schließlich würde ich ebenfalls bald mit einem dieser Handtuchturbane auf der Couch liegen. Aber es sollte noch besser kommen.

STEFFI UND ICH BEI EINER UNSERER LIEBLINGSBESCHÄFTIGUNGEN: EINWOHNER KENNENLERNEN UND SPASS ZUSAMMEN HABEN.