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Mitte des 16. Jahrhunderts kommt es in der Provence zu Konflikten zwischen dem konservativen Adel und der Landbevölkerung, von denen viele sich zum waldensischen Glauben bekennen. Baron Jean d´Oppède, ein gefürchteter Gutsherr und strenger Familienvater, verstrickt sich immer tiefer in einem Netz von Intrigen und skrupelloser Machtgier. Sein fanatischer Kampf gegen die neue Glaubensrichtung in den Bergdörfern der Provence wird von seiner Familie voller Unruhe beobachtet. Denn nicht nur sein Sohn Nicolas unterhält heimlich Kontakte zu den "Abtrünnigen", auch seine Tochter Cécile hat ein Herz für die Armen und Schwachen. Als der Vater sie zu einer profitablen Heirat zwingen will, sucht Cécile verzweifelt nach einem Ausweg ...
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Seitenzahl: 621
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Historischer Roman
© Christrose Rilk 2003,vertreten durch Agentur Literatur Gudrun Hebel, BerlinHerausgegeben im Brunnen Verlag Gießen 2003
Lektorat: Eva-Maria BuschUmschlagmotiv: shutterstockUmschlaggestaltung: Ralf SimonSatz: DTP Brunnen
ISBN 978-3-7655-3833-9eISBN 978-3-7655-7198-5
Lux lucet in tenebriset tenebrae eam non comprehenderunt.
Das Licht scheint in der Finsternis,und die Finsternis hat’s nicht ergriffen.
Johannes 1,5
Die Sonne war untergegangen hinter den Ausläufern des Luberon, der Abendhimmel leuchtete in flammendem Rot. Was für eine verschwenderische Pracht, dachte Christophe, die bis weit nach Osten für kurze Zeit den Himmel in solche Farben taucht. Und auch das Gesicht des alten Mannes ihm gegenüber strahlte die Glut wider. Der sah beunruhigt auf zu den dunklen Wolkenfetzen, die der Wind von Norden herantrieb. Er schloss die Augen, seine Lippen bewegten sich wie im Gebet. Der Junge rieb seine klammen Finger und lauschte dem Schrei der Krähen nach.
„Meister, der Abend ist gekommen, der Transmontane kommt auf, lasst uns jetzt zur Bastide1 gehen. Worauf warten wir noch?“
Der alte Prediger betrachtete nachdenklich seinen jungen Gefährten. Auch er fror im kalten Wind, aber er schüttelte den Kopf. „Wir können erst um Einlass bitten, wenn es dunkel geworden ist. Ich habe dir gesagt, warum. Das Gesetz der Gastfreundschaft gebietet, einem Fremden, der bei Nacht anklopft, die Hilfe nicht zu verweigern. Wenn wir jedoch früher ankommen, bringen wir die Hausgemeinde in Gefahr. Wie sollen sie sonst im Verhör sagen können, ein Fremder habe um Mahlzeit und Übernachtung gebeten? Willst du nicht endlich einsehen, dass wir nicht vorsichtig genug sein können? Und warum nennst du mich wieder Meister? Soll denn jeder gleich wissen, dass ich ein Barbe, ein Wanderprediger bin? Ich habe dir oft genug gesagt, du sollst Onkel zu mir sagen.“
Christophe zuckte die Achseln. Die Alten haben eben nicht mehr viel Feuer in den Adern, sie fürchten jeden Schatten. Missmutig beobachtete er die fernen Rauchschwaden aus dem Kamin der Schäferei. Der würzige Duft von Holzfeuer erinnerte ihn daran, dass er schon lange nichts gegessen hatte. Feuchtigkeit stieg auf von dem harten Boden, er stand auf und machte ein paar Schritte, um seine Glieder zu lockern.
„Stell dich an den Baumstamm“, sagte der Alte streng, „es gibt überall Späher. Soll ich dir erzählen von Pierre Jourdan? Er war kaum älter als du. Auch er kam aus Piemont, wie du, aus Fenestrelle im Pragelatal, du kennst den Ort. Er verließ seine Heimat in den Bergen, um Wanderprediger zu werden. Er war mir ein guter Gefährte, treu in unserem waldensischen Glauben. Er war nur ein wenig unvorsichtig, vielleicht auch von blindem Vertrauen, dass Gott seine Diener beschützt vor den Feinden …“ Der Alte brach ab. Im letzten Abendlicht sah Christophe den Schmerz im zerfurchten Gesicht seines Lehrers.
„Was geschah mit ihm?“ In der Frage lag ein leises Erschrecken.
Der Alte seufzte. „Er hat sein Gepäck nicht so verwahrt, wie er sollte. So fanden die Verfolger das Heilige Buch, und auch den Brief aus der Schweiz. Und damit war sein Schicksal besiegelt.“
„Was für einen Brief, Onkel?“
Der Alte schloss die Augen und zitierte aus dem Gedächtnis: „Ich weiß um eure Schwäche. Aber diejenigen, die erkannt haben, dass sie durch das Blut Christi erlöst sind, müssen tapferer sein. Warum seid ihr so besorgt um euer Leben? Wer wird unseren Glauben für den wahren halten, wenn er in der Hitze der Verfolgung schwach wird? Möge der Herr euren Glauben vermehren.“2
„Ihr habt einen bitteren Ton, Onkel. Warum? Das sind wahre Sätze …“
„Wahre Sätze!“ Der alte Barbe sprach mit unterdrückter, zorniger Stimme. „Freilich – wahre Sätze, in Basel geschrieben, im sicheren Land! Aber wir leben in der Provence, hier wacht die Inquisition! Und Pierre Jourdan musste sterben, verurteilt als Ketzer. Er wurde lebendig verbrannt auf dem Platz vor der Kathedrale der heiligen Anna in Apt.“ Die brüchige Stimme wurde nun sehr leise. „Und als das Feuer heruntergebrannt war, läuteten die Glocken das Fest der Christgeburt ein. Pierre starb am Tag vor Weihnachten im Jahr 1538.“
Christophe blieb eine Weile still. Er wollte nicht, dass der andere seine Betroffenheit merkte. Schließlich meinte er zögernd: „Pierre wird in unserem Volk nie vergessen werden. Er war ein unerschrockener und mutiger Zeuge für unseren Glauben, ein wahrer Waldenser und Märtyrer.“
Der alte Prediger stand auf und trat dicht vor Christophe. Es war jetzt so dunkel geworden, dass sie ihre Gesichtszüge fast nicht mehr erkennen konnten. Die Stimme des Alten war hart geworden. „Er hat geweint, als man ihn zum Scheiterhaufen führte. Er war ein gebrochener Mensch. Die Menge hat bei seinem Anblick gejohlt wie im Zirkus.“
„Woher weißt du das?“, flüsterte Christophe.
„Ich war auch auf dem Platz.“ Der Barbe sprach mit schwankender Stimme. „Ich wollte ein Gebet sprechen für ihn. Ich konnte es nicht. Gott war mir sehr fern. Denn ich tat einen Blick in die Hölle. Gnade Gott dem, der dem Inquisitor in die Hände fällt. Zwei Monate Folter und Verhör haben aus dem fröhlichen und glaubensstarken jungen Mann eine erbärmliche Kreatur gemacht. Er hat seine Freunde verraten, ihre Namen preisgegeben, er hat sich selbst verloren in der Tortur. Sie haben ihn schon gebrochen, bevor sie ihn verbrannt haben. Möge Gott sie strafen!“
„Onkel, aber Ihr habt Euch in Gefahr begeben, wenn Ihr auch auf dem Platz in Apt gewesen seid.“
Der Prediger machte eine wegwerfende Handbewegung. Sehr langsam fuhr er fort: „Sie schleppten ihn auf das Gerüst, banden ihm die Hände hinter seinem Rücken an den Pfahl. Diese schreckliche Präzision, in der alles an seinem Platz bereitlag: die Strohbüschel, die Reisigbündel, aufgeschichtetes Holz, Fackeln – und in der Mitte von all dem dieser lebensvolle junge Mensch, der er einmal gewesen war. Die Leute klatschten und brüllten. Und ich auch. Ich schrie und stöhnte meinen Schmerz hinaus, als die Flammen hochzüngelten … Schwerer Nebel lag über der Stadt, der Rauch konnte schlecht abziehen, und auf dem Boden stand die schmutzige Nässe. Und Ascheflocken …“ Seine Stimme erstarb.
Christophe fröstelte. Er schaute hinauf zum Himmel. Kalt und fern standen ein paar Sterne im Nachtblau zwischen schwarzgrauem Gewölk. Von weitem hörte er Hunde heulen.
„Gott schütze uns. Gott im Himmel bewahre uns“, murmelte der Alte.
„… und führe uns zum ewigen Leben“, fiel Christophe ein.
Der Barbe legte ihm die Hand auf die Schulter. „Wir können gehen.“
Die Nacht lag schwer auf dem Land. Aber hinter den Fensterläden der Bastide erwartete sie ein Lichtschein.
„Wie ein Zuhause“, flüsterte der alte Wanderprediger. Er klopfte dreimal an die schwere Holztür. Als hätte ein Mensch hinter der Tür gewartet, antwortete sofort jemand von drinnen: „Wer kommt zu so später Stunde?“
„Das Licht leuchtet in der Dunkelheit.“ Die Stimme des Alten wurde zum durchdringenden Flüstern. Dann, etwas lauter: „Ist am Feuer noch Platz für zwei?“
Der schwere Eisenriegel wurde zurückgeschoben. Ein gebeugter Mann in mittlerem Alter öffnete ihnen die Tür. „Seid willkommen im Hause Pellenc.“
Die beiden traten ein. Thomas Pellenc legte sorgfältig den Riegel wieder vor und geleitete sie ins Haus. Der niedrige, große Raum war vom Schein des Feuers und einer rußigen Öllampe spärlich erhellt. Um den Tisch saß mehr als ein Dutzend Menschen. Christophe konnte ihre Gesichter nicht genau erkennen. Alle trugen sie die Kleidung der Bauern und Hirten dieser Gegend.
„Das ist der Onkel Octave, auf den wir gewartet haben, mit Christophe, seinem Schüler aus Piemont“, stellte der Hausherr vor. „Setzt euch ans Feuer, wärmt euch auf. Danach werden wir essen.“
Der Barbe hob die Hand zum Gruß und sagte mit fester Stimme: „Der Friede Christi sei mit euch allen!“
„Amen“, murmelten die Leute.
Der Alte setzte sich auf den angebotenen Hocker am Kamin, Feuerschein huschte über sein bleiches Gesicht. Christophe sah die Zeichen der Erschöpfung. Eine Frau trat zu ihnen mit einer Schüssel Wasser und einem sauberen Tuch.
„Willkommen, Onkel Octave“, sagte sie freundlich. „Wir haben nicht nur auf euch gewartet, sondern uns sehr auf euch gefreut. Willkommen auch du, Christophe. Ich bin Jeanne Pellenc. Das Essen ist fertig.“
Octave wusch langsam seine Hände in der Schüssel und trocknete sie mit dem Tuch, dann gab er es an Christophe weiter.
Thomas Pellenc wies ihnen die Plätze am langen Tisch. Seine Frau schöpfte aus einem großen Topf. Als alle Teller gefüllt waren, stand Octave auf und sprach: „Herr, wir danken dir für die Gaben und loben dich. Segne diesen gemeinsamen Tisch, und nimm uns zuletzt auf in dein ewiges Reich.“
„Amen“, antwortete die Tischgemeinschaft.
Thomas Pellenc brach Stücke ab vom hellen Brot und reichte sie weiter. Christophe sah auf die schwieligen Hände. So hat mein Vater das Brot geteilt, wenn er abends müde vom Berg herabgekommen ist. Vielleicht sitzen sie auch jetzt in diesem Augenblick beim Essen, aber sein Platz am Tisch ist leer, wie meiner auch, und vielleicht hat Mutter wieder rot geweinte Augen – oder ist es der beißende Rauch beim Kochen, der ihr Tränen macht?
„Nimm, Junge“, sagte Thomas Pellenc. Christophe riss sich aus seinen Gedanken und griff dankbar zu. Das Essen auf den Tellern duftete würzig. Endlich konnte er seinen Hunger stillen.
Schweigend löffelten alle die kräftige, warme Suppe mit den Fleischstücken und aßen das Brot. Thomas Pellenc goss Wasser und Wein in die irdenen Becher. Als auch die Krüge wieder nachgefüllt waren, setzte er sich auf die Bank und richtete seinen aufmerksamen Blick auf den Wanderprediger.
„Onkel, nun gebt uns die andere Nahrung, nach der wir hungern. Gebt uns das Brot für unsere Seelen.“
Und Octave begann: „Ihr Geliebten, es ist der Weg der Menschen oft ein steiniger und beschwerlicher Weg. Doch einer ist voraus und er hilft, das Ziel zu erreichen. Er hat Worte zum ewigen Leben. Ich lese euch jetzt davon vor.“
Auf ein Handzeichen seines Meisters stand der Junge auf, holte aus seinem Sack das sorgfältig in Leinen eingeschlagene Buch und legte es vor Octave auf den Tisch.
Der blätterte und begann aus dem Johannesevangelium zu lesen: „Jesus sprach: Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben …“
Die wohltuende Wärme des Feuers, Octaves ruhige Stimme, die dämmrige Stube mit den fremden und doch seltsam vertrauten Menschen, der Duft von thymiangewürzter Suppe und schwelenden Pinienzapfen – all das strahlte eine starke Geborgenheit auf den Jungen aus. Die Anstrengungen eines langen Tages mit dem Hunger seiner Jugend und in ständiger Wachsamkeit, wie sein Meister es ihn gelehrt hatte, lagen hinter ihm. Nun überließ er sich einer wohligen Müdigkeit. Er lehnte seinen Kopf an die Holzwand. Und die Stube seiner Eltern im kleinen Steinhaus in Mentoulles war ihm so gegenwärtig, als atmete er gleich den vertrauten Geruch der Schafe und des Krautes, das zum Trocknen von den Deckenbalken hing, und er schloss die Augen. Auch ich werde einmal ein Barbe sein und das Evangelium bringen, und sie werden mich Onkel nennen.
Jeanne Pellenc saß ihm gegenüber. Sie betrachtete den Jungen voller Mitgefühl. Ob er weiß, worauf er sich eingelassen hat? Ach Gott, sei gnädig deinen Menschen! Ich habe mein Leben gelebt, aber diese Jungen wissen noch nichts von der Grausamkeit, die du, Gott im Himmel, nicht aufhältst. Sie sah hinüber zu dem alten Louis Serre, ihrem Vater, den immer wieder ein Zittern überlief. Seit man ihn zurückgebracht hatte aus dem Gefängnis in Apt, quälte ihn dieses Zittern. Er hatte abgeschworen, alle Irrtümer des Glaubens widerrufen und gelobt, sich in Zukunft von Ketzerei fern zu halten. Jeanne seufzte. Nie hat er erzählt, was ihm dort geschehen ist; er redet kaum noch ein Wort und starrt abends nur reglos ins Feuer, so wie er es jetzt tut – sitzt da und zittert und schweigt.
Jeanne Pellenc nahm den Krug, ging zu ihrem Vater hinüber und goss ihm den Wein in den Becher. Er griff mit beiden Händen zu, der Becher schwappte über und der Trank lief wie Wundwasser an seinen Fingern herab. Jeanne hielt ihm den Becher an den Mund, er trank gierig und dankte ihr mit den Augen. Sie setzte sich neben ihn auf die Ofenbank und umschloss mit ihren warmen Händen seine kalten. Das Zittern beruhigte sich etwas. Nun konzentrierte sie sich wieder auf die Stimme des alten Barben.
„Die Lehre von den zwei Wegen sagt uns, welcher Weg der unsrige ist: nicht der nach dem Gesetz des alten Testaments, sondern der des neuen Gesetzes in Jesus Christus. Das alte befiehlt, die Feinde zu schlagen und Böses mit Bösem zu vergelten. Aber das neue sagt: Du sollst dich nicht rächen, sondern lasse die Rache dem himmlischen König und lasse diejenigen, die dir Böses tun, im Frieden leben, so wirst du die Vergebung des himmlischen Königs finden. Das alte Gesetz sagt: Liebe deine Freunde und hasse deine Feinde. Aber das neue sagt: Mache es nicht so, sondern liebe deine Feinde. Tue wohl denen, die dich hassen. Bitte für deine Verfolger und für deine Ankläger. Das alte Gesetz befiehlt, die Bösewichte zu bestrafen. Aber das neue sagt: Verzeihe allen Menschen, und du wirst selber Vergebung finden bei deinem himmlischen Vater. Denn wenn du nicht vergibst, wirst du nicht gerettet werden. Niemand soll irgendeinen Menschen hassen …“3
Noch während der alte Prediger las, erhob sich ein unwilliges Murmeln. Er blickte erstaunt auf und brach ab, als er die zornige Miene eines jungen Mannes sah, der ihm gegenüber am Tisch saß.
„Onkel!“, rief dieser. „Was ist das für eine Lehre, die uns verbietet, uns zu wehren! Das kann nicht Gottes Wille sein! Wir machen das nicht länger mit!“ Erregtes Stimmengewirr wurde laut.
Christophe war aufgeschreckt. Er erkannte, dass diese Tischgemeinschaft, die vor kurzer Zeit noch so schweigsam und abwartend dagesessen hatte, nun eine ganz andere geworden war. Spannung lag in der Luft, sogar etwas Feindliches, das sich in den Stimmen und Gesten ausdrückte. Der alte Barbe wandte sich Thomas Pellenc, dem Hausherrn zu. Der stieß seinen Becher auf den Tisch und hob die Hand. Es wurde still.
„In meinem Haus verlange ich Ehrerbietung für einen Prediger unseres Glaubens“, sagte er mit fester Stimme. „Wenn du etwas zu sagen oder zu fragen hast, Antoine, dann tu es jetzt.“
Der Mann, der dem Barben gegenübersaß, stand auf. „Mein Vater wurde als Ketzer verhaftet. Er starb unter der Folter. Meine Mutter brach in meinen Armen tot zusammen, als wir die Nachricht erhielten. Der Besitz meiner Eltern wurde verkauft, der Erlös fiel an die Krone. Die Soldaten unseres Königs brannten mein Elternhaus nieder. So bin ich nun ein Knecht bei Thomas Pellenc, dem ich dafür Dank schulde.“ Bisher hatte er mit gepresster Stimme gesprochen. Jetzt schlug er mit der Faust auf den Tisch. „Und das soll ich verzeihen und vergessen? Nie und nimmer! Ich habe alles verloren, kein Gesetz hat uns geschützt. Aber ein Recht habe ich noch: das Recht zur Rache.“ Seine Stimme verriet starken unterschwelligen Zorn. Die anderen murmelten zustimmend.
„Oder seht euch den Alten dort am Kamin an, Onkel!“ Antoine wies hinüber. „Eine Ruine von einem Menschen! Und wer hat das aus ihm gemacht?“
Als der Greis die auf ihn gerichteten Blicke bemerkte, überkam ihn wieder ein Zittern. Jeanne hielt seine Hände fest und rief aufgebracht: „Hör auf, Antoine!“
Der setzte sich wieder und fuhr mit mühsam beherrschter Stimme zu reden fort: „Jedes Jahr gibt es mehr Gewalttaten gegen uns. Wisst ihr, was das Verbrechen meines Vaters war? Er hat einen Barben beherbergt in seinem Hause, einen Wanderprediger, wie Ihr es seid. Unser Nachbar hat ihn angezeigt, der Schuft. Und dafür wird er mir büßen, er zuerst!“
Der alte Barbe machte eine heftige Bewegung und stieß dabei seinen Becher um. Er bemerkte es nicht. „Aber es ist uns verboten, uns selbst zu rächen!“ Auch Octave sprach nun zornig mit erhobener Stimme. „Das ist unsere waldensische Lehre von alters her. Mein ist die Rache, spricht der Herr.“
„Da kann ich lange warten“, bemerkte Antoine bitter. „Es gibt immer mehr Verurteilungen. Ihr wisst, dass im Erlass über Mérindol neunzehn Waldenser zum Tod verurteilt worden sind. Es ist angeordnet worden, dass der Ort zerstört und unbewohnbar gemacht wird für alle Zeiten …“
„Aber der Herr König hat doch den Erlass ausgesetzt und Mérindol begnadigt!“ Der Barbe hob seine Stimme. „Seht Ihr nicht das Wunder, das da geschehen ist? Der Allmächtige hat das Recht durchgesetzt, ihm sei Lob und Dank. Gebt ihm Antwort darauf, indem Ihr selbst Frieden haltet!“
Ein jüngerer Mann am anderen Ende des langen Tisches war aufgestanden und trat nun vor das flackernde Feuer. Seine Bewegungen hatten etwas Geschmeidiges, Raubtierhaftes. Er bückte sich und legte ein paar Holzscheite nach. Christophe spürte die gebändigte Kraft dieses Mannes, seine natürliche Autorität, und bewundernd sah er auf die hohe Gestalt vor den zuckenden Flammen. Als er zu sprechen begann, wurde es sofort still. Er hat hier eine Stimme, die Gewicht hat, dachte Christophe bei sich. Der Mann richtete seine Worte direkt an Octave.
„Ich bin Eustache Marron, Waldenser aus Überzeugung. Das Urteil über Mérindol ist ausgesetzt, da habt Ihr Recht, Onkel Octave. Aber für wie lange? Es hängt weiterhin über dem Ort als ständige Bedrohung. Sollen wir immer nur zusehen und abwarten? Ich sage Euch: Wir müssen unseren Glauben bezeugen, öffentlich, und dürfen uns nicht länger ducken wie die Feiglinge. In diesem Land sind wir viele Hunderte. Als Glaubensbrüder können wir füreinander einstehen, wenn wir es nur wollen. Einzeln sind wir nichts, aber gemeinsam sind wir stark.“ Er reckte eine geballte Faust in die Höhe. „Sie werden uns fürchten lernen, das verspreche ich Euch.“
Die Männer klopften ihre Zustimmung auf den Holztisch. „Bravo, Eustache!“
Der alte Barbe war blass geworden. „Ihr zeigt den falschen Weg, Eustache“, sagte er laut. „Das ist nicht der Weg unseres Erlösers!“
Eustache Marron gab ihm einen langen Blick aus schmalen Augen. „Ich denke doch“, antwortete er ruhig. „Hat unser Herr nicht gesagt: Ich bin nicht gekommen, den Frieden zu bringen, sondern das Schwert?“
Octave schüttelte den Kopf. „So hat er es nicht gewollt, so nicht. Gewalt ist vom Bösen. Ihr müsst zeigen, dass ihr gute Untertanen unseres Herrn König seid, dass ihr ehrlich und fleißig das Land bestellt und den Frieden liebt, wie uns unser Herr Jesus Christus geboten hat. Dann kann das Schwert der bösen Macht an euch vorübergehen. Dann werdet ihr Zukunft und Heimat haben.“
In der Stille, die seinen Worten folgte, lag keine Zustimmung.
„So hat auch Pierre Jourdan, Euer Mitbruder gesprochen.“ Thomas Pellenc wählte seine Worte mit Bedacht. „Aber unter der Folter hat er 29 Namen preisgegeben; mein eigener war auch darunter. Viele von uns Waldensern stehen auf ihrer Liste. Antoines Eltern standen darauf. Sie leben nicht mehr, Ihr habt es gehört. Verurteilt worden sind auch Jean Tirasse, Paul und Anne Orcellet, Pierre Baral und sein Sohn Luc. Vor vier Wochen wurde das Haus von Ormond Rey abgebrannt und sein Vieh weggetrieben, er ist im Gefängnis von Apt. Und mein eigener Vater …“, der kräftige Mann stockte und holte tief Luft, „mein Vater … Ihr wisst, was sie mit ihm gemacht haben?“ Octave nickte schwer. „Dann muss ich nicht davon reden. Das geschieht in unserer Zeit, Meister Octave, und das, obwohl unser König François I. uns mit einem Gnadenerlass seinen Schutz zugesagt hat. Ihr predigt den Frieden, Onkel Octave. Aber manche von uns wollen nun um unser Recht kämpfen.“
Da sprang Eustache Marron auf und rief: „Wenn wir überleben wollen, müssen wir kämpfen.“ Blitzschnell zog er einen Dolch aus seinem Stiefelschaft. Er hob ihn in die Höhe, von der Klinge spiegelte Feuerschein zuckend durch den dämmrigen Raum. „Waldenser, wehrt euch!“
Der alte Barbe bemerkte wohl das Feuer in Eustaches Augen und die vibrierende Leidenschaft in seiner Stimme. Entmutigt erkannte er, dass diese starke Persönlichkeit zumindest die jüngeren Männer in seinen Bann gezogen hatte.
Nun stand auch er auf. Christophe blickte auf die beiden Männer. Er verstand, dass zwischen ihnen ein stiller, erbitterter Kampf stattfand. Die gebeugte Gestalt des alten Barben, sein weißes Haar, seine unruhigen Finger, die auf den Tisch klopften – und das unverhohlene Selbstbewusstsein, die ungebrochene Kraft, die der Wortführer ausstrahlte, das Leuchten in den dunklen Augen. Mitleid mit seinem alten Lehrer überkam ihn und eine unbestimmte Angst um ihn.
Octave sagte sehr laut: „Christus spricht: Wer das Schwert ergreift, der wird durch das Schwert umkommen.“
Eine unbehagliche Stille folgte seinen Worten. Octave sah die Männer reihum an, doch alle hatten sie den Blick abgewandt. Auf ihren Gesichtern lag Ablehnung.
Das Feuer war heruntergebrannt. Rauchschwaden hingen in der Stube, der Alte am Kamin begann zu husten.
„Sprecht uns den Segen, Onkel“, sagte Thomas Pellenc, „dass wir zur Ruhe kommen. Ihr habt morgen einen weiten Weg vor Euch.“
Alle falteten die Hände, und die klare Stimme des Predigers füllte den Raum: „Weiseste Dreieinigkeit von tiefer Erforschung, alle Lichter des Himmels weißt du zu zählen. Ehe sie gemacht wurden, wusstest du, wie weit die Bahnen sind, die sie ziehen. Aller Geister Gedanken weißt du zu zählen. Zeige mir den Weg, den ich wählen soll, und gehe du ihn mit mir, damit ich nicht irre.4 Segne das Haus und alle, die darin sind. Segne die Nacht. Lass leuchten dein Licht …“, und die anderen fielen ein: „… dass es erhelle unsere Finsternis. Amen.“
Dann verabschiedeten sich alle von Octave, und er legte jedem zum Segen die Hand auf den Kopf. Ohne zu sprechen, verließen sie nacheinander das Haus und verschwanden in der Dunkelheit.
Thomas Pellenc nahm den Leuchter vom Tisch und führte Octave und Christophe in die Kammer. Voller Sorge meinte er leise zu Octave: „Der Groll bei unseren Leuten wächst von Tag zu Tag. Man kann es ihnen nicht verdenken.“
Octave nickte nur. „Gute Nacht. Und Dank für die Herberge.“
Thomas Pellenc legte ihm die Hand auf die Schulter. „Ihr werdet bei uns jederzeit die Kammer bereit finden.“
Christophe war müde zum Umfallen. Er warf sich angekleidet auf das Lager. Ein Nachtfalter flog um die Kerze, Christophe folgte ihm mit den Augen. „Er wird sich die Flügel verbrennen“, sagte er laut. Der Alte nickte abwesend.
„Ist Octave dein richtiger Name?“, fragte Christophe zögernd.
„Es ist der Name, unter dem ich im Dienst unseres Glaubens bin“, gab Octave zur Antwort. „Es ist besser, du kennst meinen richtigen Namen nicht. Schlaf in Frieden …“
„… und unter Gottes Schutz“, vollendete Christophe. Er war sehr müde und überließ sich dem ungestörten Schlaf der Jugend.
Der alte Barbe kniete noch lange vor seinem Bett auf dem Boden und betete.
Der Hang war übersät mit kleinen weißen Narzissen. Wenn der Wind darüber strich, war es, als überliefen Wellen die grünweiße, duftende Aue. Unten am Hügel stand ein Mädchen, versunken in entzücktem Schauen. Eine Goldammer flog auf zum hellen Himmel. Das Mädchen kniete nieder zwischen die Flut von Narzissen, vorsichtig, um keine Blume zu knicken. Mit behutsamen Händen strich sie über die Blüten, beugte sich tief hinunter und sog den schweren süßen Duft ein. Es sah aus, als bete sie in demütig konzentrierter Haltung.
Der Boden war feucht und weich. Sie spürte die Nässe an ihren Knien und stand auf. Der Wind von den Höhen des Luberon wehte kühl und in leichten Böen. Sie streifte ihre Haube zurück und ließ ihr Haar im Wind flattern, spürte den erfrischenden Hauch auf ihrem Gesicht. Sie hörte die Hufschläge nicht auf der schmalen Straße.
Der Reiter zügelte sein Pferd und brachte es zum Stehen. Er hatte sie sofort erkannt und sah zu ihr hinüber, lange, als gäbe es nur sie. Eine Erscheinung wie aus einer anderen Welt, so stand sie da inmitten der Blumen, dieses Mädchen. Er nahm diesen Anblick ganz in sich auf; es war ein Augenblick intensiven Erlebens, obgleich er nicht ahnen konnte, dass er dieses Bild sein Leben lang mit sich tragen sollte: ein Meer von weißen Narzissen und dazwischen seine Tochter, mit geöffneten Händen, warmgoldenes Licht im braunen Haar, das Gesicht der Sonne zugewandt.
Er straffte die Schultern und rief sie an: „Cécile!“
Das Mädchen wandte den Kopf, und ein Lächeln trat auf ihre Züge. Sie hob mit beiden Händen ihren Rock an und rannte die Böschung hinauf.
„Papa!“
Er blickte ihr entgegen. Sie sah die Freude auf seinem Gesicht.
„Ich hab dich nicht gesehen. Wenn du jetzt an mir vorbeigeritten wärst!“
Er lachte und zog sie zu sich hoch auf das Pferd. Sie war leicht und elastisch und saß aufrecht vor ihm, wie sie das schon jahrelang zusammen geübt hatten.
„Reiten wir Galopp!“
Er lächelte über die kindliche Fröhlichkeit ihrer hellen Stimme. „Auf gar keinen Fall! Sieh, da sind schon die ersten Häuser. Wir müssen uns gut benehmen, Baronesse.“
Sie wandte ihm ihr strahlendes Gesicht zu. „Jawohl, Herr Vater.“
Sie zog die Haube wieder über ihr schimmerndes Haar und band die Bänder unter dem Kinn fest.
Der Ort Oppède am Nordhang des Luberon lag schon im Schatten. Die Steinhäuser standen in grauer Strenge, überragt von der wuchtigen Kirche auf dem Felsen. Cécile legte den Kopf zurück und schaute hinauf zur Burg. Nur auf dem Bergfried lag noch letzter Sonnenschein.
Die Wächter traten aus dem Torhaus und beugten sich tief. „Guten Tag, Herr Baron. Guten Tag, Mademoiselle.“ Cécile nickte huldvoll, wie sie das gelehrt worden war, aber ihr herzliches Lächeln milderte den Abstand zu den Leuten. Auch sie sah in wohlwollende Gesichter voller Freundlichkeit. Ein paar Kinder winkten ihr zutraulich.
Cécile lehnte den Kopf an ihren Vater. „Papa, hast du mir …“
„Cécile!“, mahnte er.
„Ich meine: Haben Sie mir aus Aix ein Buch mitgebracht, Herr Vater?“
Der Baron d’Oppède nickte.
„Wie heißt es, Herr Vater?“
Er lachte in sich hinein. „Es heißt: Das Leben der heiligen Cäcilie.“
„O nein“, rief Cécile laut, „das kenne ich doch längst. Ach, Papa!“ Dann merkte sie, dass er sich über sie lustig machte und zwickte ihn in den Arm. „Schämen Sie sich, Herr Vater.“
„Nicht so laut, Cécile! Übrigens, du solltest nicht so viel lesen.“
Sie lachte. „Weil ich ein Mädchen bin. Das hast du schon mal gesagt. Aber du hast mir trotzdem ein Buch mitgebracht?“
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