Die Geschichte meiner Zufluchtnahme - Urgyen Sangharakshita - E-Book

Die Geschichte meiner Zufluchtnahme E-Book

Urgyen Sangharakshita

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Beschreibung

"Zuflucht nehmen" ist der Akt, das eigene Leben dem Buddhismus zu widmen. Sangharakshita zeichnet seinen eigenen Weg der Entdeckung nach und zeigt, dass das klösterliche und das spirituelle Leben nicht identisch sind. Dass, was wirklich wichtig ist, ist die Hingabe an spirituelle Ideale.

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Über den Autor

Urgyen Sangharakshita – bürgerlich Dennis Lingwood – wurde 1925 in London geboren und starb 2018 in Adhisthana in Herefordshire, Großbritannien (siehe www.adhisthana.org).

Als junger Mann lebte er in Indien, wo er über zwanzig Jahre lang den Buddhismus unter Lehrern verschiedener Traditionen (Theravāda, Mahāyāna und Vajrayāna) übte und studierte. 1967 kehrte er nach England zurück und gründete die Freunde des Westlichen Buddhistischen Ordens (FWBO). Inzwischen entstand daraus eine internationale Bewegung mit Zentren in der ganzen Welt. 2010 wurde die Gemeinschaft umbenannt und heißt heute Buddhistische Gemeinschaft Triratna.

Heute zählt Sangharakshita zu den wichtigsten Lehrern des Buddhismus im Westen und ist als Autor zahlreicher Bücher bekannt. Er versteht sich vor allem als „Übersetzer“ – zwischen Ost und West, zwischen Tradition und Moderne, zwischen Prinzipien und Methoden. Seine Bücher wurden bisher in 30 Sprachen übersetzt.

INHALT

Vorbemerkung

Einleitung

Das Diamant-Sūtra und das Plattform-Sūtra

U Thittila und

Pansil

Aufbruch

Śrāmaera

-Ordination

Bhiku-Ordination

„Zuflucht zum Buddha nehmen“

A Survey of Buddhism

Dhardo Rimpoche und

Der Pfad des Buddha

Ambedkar und die ehemals Unberührbaren

Weiteres Licht aus dem tibetischen Buddhismus

Die Drei Juwelen

und andere Schriften

Bodhisattva-Ordination

Licht vom

Vaticanum II

Die Bedeutung des Konvertierens im Buddhismus

Gründung des Westlichen Buddhistischen Ordens

Der größere Kontext

Stufen des Zufluchtnehmens

Zufluchtnehmen – alt und neu

Von upāsaka zu

dharmacārī

Ambedkar und Zufluchtnehmen

Schlussbetrachtung

Anhang I

Vorsätze aus der buddhistischen Überlieferung.

Die Fünf Vorsätze

Die Acht Vorsätze

Die Zehn

śrāmaera

-Vorsätze

Die Zehn Vorsätze der

dharmacārīs

und

dharmacāriīs

Die zweiundzwanzig Gelübde von Dr. Ambedkar

Die vierundsechzig Bodhisattva-Vorsätze

Die achtzehn

mūlāpattis

oder Hauptvorsätze..

Die sechsundvierzig

āpattis

oder Nebenvorsätze

Anhang II

Hinweise zur Schreibung und Aussprache

Ausspracheregeln im Überblick

Sangharakshitas Werke in deutscher Sprachein Auswahl

Adressen von Zentren und Gruppen der Buddhistischen Gemeinschaft Triratna

1. VORBEMERKUNG

Die Geschichte meiner Zufluchtnahme entstand als Text einer Lesung vor Angehörigen des Westlichen Buddhistischen Ordens am 11. April 1988 in der York Hall im Londoner Stadtteil Bethnal Green. Wie der Herausgeber von Golden Drum festhielt, hatten sich „mehr als einhundert Dharmacharis und Dharmacharinis“ versammelt – in jenen Tagen waren das sehr viele –, um den zwanzigsten Jahrestag der Gründung des Ordens zu feiern. Angesichts ihrer Länge wurde die Lesung mit kurzen Pausen in vier Abschnitte geteilt. Sangharakshita las die Abschnitte 1 bis 5 und 16 bis 22, Dharmacharini Srimala die Abschnitte 6 bis 10 und Dharmachari Ratnaprabha die Abschnitte 11 bis 15. Windhorse Publications veröffentlichte Die Geschichte meiner Zufluchtnahme noch im selben Jahr. Der Text wurde in Band 2 der Gesamtausgabe Complete Works (CW) mit einem stark erweiterten Anmerkungsapparat erneut veröffentlicht.

Dasjenige in mir zu entdecken, dem ich gehorchen muss, Gewahrsein für das Gesetz zu erlangen, das im organischen Ganzen der inneren Welt wirkt, diese Innenwelt als ein organisches Ganzes zu spüren, das sein eigenes Geschick nach einem geheimen Vitalprinzip ausarbeitet, zu erkennen, welche Handlungen und Äußerungen eine Befreiung von Hindernissen und ein Zuwachs von Kraft sind, geheime Treuepflichten anzuerkennen, die man nicht leugnen darf ohne zu verarmen und auszuhungern, – das heißt es wirklich, seine Seele zu besitzen, und es ist weder leicht zu tun noch leicht zu erklären.

John Middleton Murry (1889-1957)1

1 J. Middleton Murry, God: Being an Introduction to the Science of Metabiology. London: Jonathan Cape 1929, S. 52 f.

2. EINLEITUNG

Heute feiern wir den zwanzigsten Gründungstag des Westlichen Buddhistischen Ordens, der am Sonntag, dem 7. April 1968, entstand, als neun Männer und drei Frauen sich im Rahmen einer Feier im Centre House, London, zum Pfad des Buddha verpflichteten, indem sie öffentlich in der überlieferten Weise die Drei Zufluchten und Zehn Vorsätze von mir „nahmen“. Die knappen Sätze des Tagebuchs, das ich während der ersten dreieinhalb Monate jenes Jahres führte und erst kürzlich wiederfand, lauten:

Um 10.15 im Centre House angekommen. Fand nichts vorbereitet. Raum gesäubert und aufgeräumt, Schrein usw. aufgebaut. Leute trafen ein, darunter auch Bhikkhus. Beginn um 11.15. Begrüßung durch Jack [Austin]. Lunch mit Bhikkhus und Jack, während Mike Rogers die erste Meditation leitete. Emile [Boin] ziemlich besorgt, weil die Inder, die den Lunch zugesagt hatten, erst sehr spät eintrafen. Um 12 Uhr Ansprache über „Die Idee des Westlichen Buddhistischen Ordens und die Upāsaka-Ordination“. Dann, während die anderen zu Mittag waren, Gespräch mit der Presse. Viele Fotos. Gruppendiskussion geleitet. Meditation. Tee. Weitere Presse leute, mehr Fotos. Um 17.30 Uhr Ansprache über das „Bodhisattva-Gelübde“. Von 19 bis 20.15 Uhr Ordinationszeremonie geleitet. Mike Ricketts, Mike Rogers, Sara [Boin], Emile [Boin], Terry O’Regan, Stephen [Parr], Marghareta [Kahn], Geoffrey [Webster], John Hipkin, Roy Brewer, Penny [Nield-Smith] und David Waddell empfingen ihre [öffentlichen] Ordinationen. Alles ging glatt und war erfolgreich. Alle höchst erfreut.

Vier, von meinem Freund Terry Delamare2 aufgenommene, Farbdias geben ein weiteres (optisches) Zeugnis des Ereignisses. Das erste Dia ist eine Großaufnahme des Schreins mit einer Bronzefigur des sitzenden Amitāyus, Buddha des Unendlichen Lebens, in der Mitte und etwas kleineren Bildnissen von Avalokiteśvara, dem Bodhisattva des Mitgefühls, und Mañjughoa, dem Bodhisattva der Weisheit, zu seinen Seiten. Hinter den Bildnissen steht ein kleiner japanischer Schirm aus weißem Seidenbrokat, vor dem Schrein ein Gesteck aus weißen Nelken, Iris, Lilien und Narzissen. Das zweite und dritte Bild zeigen mich bei der einen oder anderen meiner Ansprachen, während ich auf dem vierten die weiße Ordenskesa in den Händen halte, um sie um den Hals von Sara Boin (Sujāta) zu legen, die mit zusammengelegten Händen auf einem Kissen vor mir kniet. Da die sieben übrigen Angehörigen des Ordens auf diesem Bild keine kesa tragen, war Sara anscheinend die erste Person, die ordiniert wurde.3

Gleich nach der Zeremonie baute ich rasch den Schrein ab und nahm zusammen mit Stephen (Ānanda)4 den 21.50-Zug nach Haslemere5, wo wir vier ruhige Tage in einer halb verfallenen Hütte auf dem weiten Land von Quartermaine verbrachten, ich an meinen Erinnerungen arbeitete und einige „chinesische“ Gedichte schrieb. Eines dieser Gedichte lautet so:

Beyond the deserted paddock, a dark wood; Before our secluded cottage, wet strips of green and brown. Watching the incense burn in this quiet room We have forgotten the passing of days and hours.

[Jenseits der verlassenen Koppel ein dunkles Gehölz; / Vor unserer einsamen Hütte nasse Streifen Grün und Braun. / Den Weihrauchbrand in diesem stillen Zimmer betrachtend / Vergessen wir wie die Tage und Stunden vergehen.]6

Indes durften wir die Zeit nicht lange vergessen. Am Nachmittag des vierten Tages musste Ānanda nach London und zu seiner Arbeit als Toningenieur in Bush House7 zurückkehren, alldieweil ich nach Keffolds weiterreisen musste, einem anderen Besitz des Ockenden Projekts, um die Osterklausur der FWBO zu leiten.8

Mehrere der neuen Ordensangehörigen nahmen an diesem Retreat teil, und einige von ihnen machten sich auch in unterschiedlicher Weise nützlich. Jetzt gab es den Westlichen Buddhistischen Orden nicht nur, sondern er begann auch zu arbeiten.

Was aber war dieser Westliche Buddhistische Orden – oder Trailokya Bauddha Mahasangha, wie er nachmals in Indien hieß –, der nach etwas mehr als einem Jahr Vorbereitung plötzlich wie ein Lotos aus dem Schlamm der Metropole aufgeblüht war? Letztendlich handelte es sich um eine Gruppe von Menschen, die zum Buddha, zum Dharma und zum Sangha Zuflucht genommen hatten und die nun dank dieser ihnen gemeinsamen Verpflichtung eine spirituelle Gemeinschaft bildeten – eine spirituelle Gemeinschaft, die auf weltlicher Ebene genau jene transzendente spirituelle Gemeinschaft, jenen Sangha symbolisierte, der das dritte der Drei Juwelen war, zu denen sie Zuflucht genommen hatten. Überdies hatten die zwölf Menschen, die nun den Westlichen Buddhistischen Orden bildeten, nicht nur zu den Drei Juwelen Zuflucht genommen: Sie hatten die Zufluchten und Vorsätze von mir „genommen“ oder waren, anders gesagt, von mir ordiniert worden. Ihr Verständnis dessen, was „Zufluchtnehmen“9 bedeutet, musste darum zumindest in gewissem Ausmaß mit meinem Verständnis übereinstimmen. In welchem Sinn also nahm ich selbst Zuflucht? Wie verstand ich diese zentrale, maßgebende Handlung des buddhistischen Lebens, und wie war ich zu diesem Verständnis gelangt? Bei einem Anlass wie dem heutigen, da wir in (verhältnismäßig) großer Zahl zusammengekommen sind, um den zwanzigsten Jahrestag der Gründung jener spirituellen Gemeinschaft zu feiern, die das Herzstück der von uns geschaffenen neuen buddhistischen Bewegung bildet, ist es sicherlich angemessen, wenn ich einen Blick auf die verschiedenen Abschnitte werfe, in deren Verlauf mir Sinn, Bedeutung und Wichtigkeit des Zufluchtnehmens klar geworden sind. Es ist zweifellos angemessen, wenn ich zunächst versuche, die Geschichte meines Zufluchtnehmens nachzuzeichnen und anschließend daran, einige meiner heutigen Gedanken über meine Beziehung zum Orden sowie die Beziehung des Ordens selber zur übrigen buddhistischen Welt mit euch zu teilen.

Wenn ich die Geschichte meiner Zufluchtnahme nachzeichne, werde ich nicht einfach eine Serie logischer Schlussfolgerungen oder gar mehr oder weniger ausgiebiger Anwendungen eines von Anfang an umfassend und in voller Tragweite erfassten Begriffs oder Prinzips verfolgen. Mein Vorgehen glich eher dem Schmetterling als dem finsteren Raubvogel des Gedichts von W. B. Yeats.10 Um die folgenden Betrachtungen zu verdeutlichen oder um wenigstens Missverständnisse zu vermeiden, muss ich an diesem Punkt etwas zu meiner eigenen Psyche sagen. Vor einigen Jahren legte ein mir befreundeter Astrologe mein Geburtshoroskop, demzufolge die meisten meiner Planeten unterhalb des Horizonts lagen, was offenbar bedeutet, dass die von diesen Planeten verkörperten Einflüsse nicht im Bereich meines Bewusstseins wirken, sondern unterhalb.11 Zwar habe ich Astrologie nie sonderlich ernst genommen und war daran auch nicht weiter interessiert, doch beim Nachsinnen über diese Tatsache kam ich gleichwohl zum Schluss, dass der Gang meines Lebens eher von Impuls und Intuition als von Verstand und Logik bestimmt worden war und dass es für mich gar nicht in Frage kam, zunächst eine Idee oder ein Konzept zu klären und erst dann zu handeln, also entsprechend seiner geklärten Form. Ideen oder Begriffe wurden im Prozess ihrer Umsetzung ins Handeln geklärt. Genau so war es auch im Fall meines Zufluchtnehmens. Die volle Tragweite dieser überaus wichtigen Handlung wurde mir erst allmählich klar, indem ich jahrein jahraus entsprechend jener unvollkommenen Idee von Zufluchtnahme handelte, die ich schon hatte und dann, mit einer etwas weiter geklärten Idee, wiederum entsprechend handelte und dabei die Idee weiter klärte – so wurde das Tun der Idee gemäßer, während diese allmählich klarer wurde, und die Idee klärte sich weiter, indem das Tun angemessener wurde. Wenn ich nun die Geschichte meines Zufluchtnehmens nachzeichne, werde ich darum der Geschichte eines Entdeckungsprozesses nachgehen, der einen ziemlich unberechenbaren Verlauf nahm und überdies aus einer Folge langsamer, manchmal fast unmerklicher Entwicklungen bestand, in denen es keine dramatischen Durchbrüche gab, es sei denn vielleicht gleich am Anfang. Tatsächlich waren manche jener Entwicklungen so langsam und kaum bemerkbar, dass sie nur schwer zu erkennen sind und es somit ein glücklicher Umstand ist, dass einige von ihnen – ob schon zum jeweiligen Zeitpunkt oder erst etwas später – in gewissen meiner Schriften, Vorträge und Seminare Ausdruck fanden. Was den ersten der verschiedenen Abschnitte angeht, in deren Verlauf mir Tragweite und Rang des Zufluchtnehmens klar wurden, sind keine solchen Gedächtnisstützen nötig. Nach mehr als fünfundvierzig Jahren bewahrt die Erfahrung ihre ursprüngliche Frische für mich, jedenfalls dann, wenn ich sie vergegenwärtige und bei ihr verweile.

2A. d. Hrsg.: Sangharakshita erzählte die Geschichte seiner Freundschaft mit Terry Delamare in Moving Against the Stream. Birmingham: Windhorse Publications 2003, (CW 23).

3A. d. Hrsg.: Dieses Bild wurde in die Einzelausgabe von Moving Against the Stream aufgenommen (S. 329), ein Hinweis auf die ersten Ordinationen findet sich dort auf S. 387 (CW 23).

4A. d. Hrsg.: Stephen Parr (*1944) war einer der zwölf ersten, am 7. April 1968 von Sangharakshita ordinierten Ordensmitglieder und erhielt den Namen „Ānanda “. Inzwischen (2019) ist er der am längsten ordinierte Angehörige des Buddhistischen Ordens Triratna.

5A. d. Hrsg.: Haslemere ist eine historische Kleinstadt etwa 70 Kilometer südwestlich von London. Zu Quartermaine siehe Anm. 8.

6 Aus „Six Poems Written in Retreat“. Siehe Complete Poems 1941-1994. Birmingham: Windhorse Publications 1995, S. 261 (CW 25).

7A. d. Hrsg.: Bush House im Zentrum Londons war seit 1941 Hauptquartier des BBC World Service. Im Jahr 2012 wurde die letzte Sendung von diesem Ort ausgestrahlt.

8A. d. Hrsg.: Das nach dem Zweiten Weltkrieg gegründete, gemeinnützige Ockenden Venture stellte Unterkünfte für Flüchtlingskinder bereit. Keffolds war ein großes Heim für Flüchtlingskinder in Haslemere. Nicht weit davon entfernt war Quartermaine, die von den Keffolds-Kindern besuchte Schule. In den späten sechziger Jahren wurden diese Häuser manchmal von den FWBO für Klausuren gemietet.

9A. d. Ü.: Der Ausdruck saraa gacchāmi wird im Englischen sowohl durch „going for refuge“ als auch durch „taking refuge“ übertragen. Im Deutschen wäre ein Ausdruck wie „zur Zuflucht gehen“ eher befremdlich, wenngleich beispielsweise Nyanaponika in seinem Aufsatz Die Dreifache Zuflucht mit dem Ausdruck „Zufluchts-Gang“ darauf hinweist, dass Zufluchtnehmen ein aktives Handeln ist. (Siehe Nyanaponika, Im Lichte des Dhamma: buddhistische Texte. Konstanz: Christiani Verlag 1989). Obwohl wir in dieser Übersetzung von „Zufluchtnahme“ und „Zuflucht nehmen“ sprechen, ist dabei immer an eine aktive, stets neu zu leistende Handlung zu denken, wie sie in dem englischen Ausdruck „Going for Refuge“ deutlicher wird.

10And wisdom is a butterfly / And not a gloomy bird of prey (Und Weisheit ist ein Schmetterling / Und nicht ein finsterer Raubvogel). Aus dem Gedicht „Tom O’Roughley“, in: The Wild Swans at Coole (1919) von William Butler Yeats (1865-1939).

11 Nicht lange, nachdem ich diese Zeilen geschrieben hatte, wies ein anderer Freund mich darauf hin, dass das Geburtsdiagramm falsch gezeichnet worden war.

3. DAS DIAMANT-SŪTRA UND DAS PLATTFORM-SŪTRA

Das Erlebnis, mit dem die Geschichte meiner Zufluchtnahme beginnt, ereignete sich im Spätsommer oder Frühherbst des Jahres 1942, als ich sechzehn oder siebzehn Jahre alt war, und es ereignete sich als Folge meiner Lektüre des Diamant-Sūtra und des Plattform-Sūtra, vor allem des ersteren. Ich habe dieses entscheidende Erlebnis in meinen (unveröffentlichten) Memoiren jener Zeit erzählt, die ich in den späten fünfziger Jahren schrieb.12 Weil ich den damals gegebenen Bericht nicht zu verbessern vermag, zitiere ich hier einfach aus seinem ersten Teil. Mit Bezug auf meine anfängliche Antwort auf das Diamant-Sūtra schrieb ich:

Obwohl dieses Buch eine Lehre von so anspruchsvoller Erhabenheit verkörpert, dass es selbst von arahants, Heiligen, die individuelles Nirvāa erlangt haben, heißt, sie würden verwirrt und furchtsam, wenn sie zum ersten Mal davon hörten, nahm ich es sofort voller Freude mit uneingeschränkter Zustimmung und Einwilligung an. Für mich war die vom Buddha im Diamant-Sūtra gelehrte Wahrheit nicht neu. Schon vor langer Zeit hatte ich sie gewusst und geglaubt und verwirklicht, und die Lektüre des Sūtra erweckte mich gewissermaßen zum Sein von etwas, das ich vergessen hatte. Sobald ich erkannt hatte, dass ich ein Buddhist war, schien es, als sei ich schon immer einer gewesen und als sei es die natürlichste Sache der Welt, einer zu sein und ich sei niemals etwas anderes gewesen.13

Nachdem ich zwei mögliche Erklärungen für mein Gefühl, ich sei immer schon ein Buddhist gewesen, angeboten hatte, ging ich zur Beschreibung meiner Erfahrung des Sūtra von Wei Lang über, das mich, so schrieb ich, in „eine Art von Taumel“ versetzte, wann immer ich es las. Die im Diamant-Sūtra vom Buddha und, in geringerem Ausmaß, im Sūtra von Wei Lang vom Sechsten Patriarchen gelehrte Wahrheit war natürlich die höchste Wahrheit des Buddhismus (soweit diese Wahrheit mit Worten ausgedrückt werden kann), die Wahrheit von śūnyatā oder „Leerheit“ – das heißt die Wahrheit, dass die Phänomene der Existenz letztlich von absoluter Realität nicht verschieden sind und dass absolute Realität letztlich nicht von den Phänomenen der Existenz verschieden ist. Angesichts dieses Sachverhalts bedeutete die Tatsache, dass ich so positiv und rückhaltlos auf diese Lehre geantwortet hatte, dass mein Dharma-Auge sich zumindest in einem gewissen Grad geöffnet und ich als ein Ergebnis meiner Lektüre des Diamant-Sūtra und des Sūtra von Weil Lang tatsächlich zum Dharma, dem zweiten der Drei Juwelen, Zuflucht genommen hatte.14

Ob ich als Ergebnis meiner Lektüre der beiden sūtras auch Zuflucht zum ersten und dritten der Drei Juwelen genommen hatte, und ob ich, falls das so war, in derselben Weise zu ihnen Zuflucht nahm wie zum zweiten, ist eine andere Frage. Zweifellos war ich gewahr, dass die im Diamant-Sūtra gelehrte Wahrheit vom Buddha gelehrt worden war und dass sie sich, wenngleich der arhant Subhūti ihr direkter Empfänger war, tatsächlich an eine Versammlung von Mönchen und Bodhisattvas richtete, die die spirituelle Gemeinschaft oder den Sangha verkörperten. Ich war sogar gewahr, dass der Sechste Patriarch seine Zuhörer im Sūtra von Wei Lang ermahnt hatte, Zuflucht zu nehmen zu den Drei Juwelen ihrer „Geistessenz“ (wie Moulam den Ausdruck übersetzte).15 Nichtsdestotrotz war ich so sehr von dem überwältigt, was das Diamant-Sūtra selbst „den starken Eindruck des Dharma“ nennt, dass ich bis auf Weiteres für die Existenz des Buddha und des Sangha praktisch blind war.16 Ja, wäre es nicht so, dass der Buddha und der Sangha letztlich nicht-verschieden sind von śūnyatā, dann hätte man wohl sagen können, das erste und dritte der Drei Juwelen seien, soweit es mich anging, beide von der Leerheit verschlungen worden!

Obwohl ich vorläufig blind für die Existenz des ersten und dritten Juwels war, war ich doch schon seit Langem von Leben und Persönlichkeit des Buddha fasziniert. Drei oder vier Jahre vor meiner Begegnung mit dem Diamant-Sūtra und dem Sūtra von Weil Lang hatte ich sogar ein „Leben des Buddha Siddhartha Gautama“, wie ich es nannte, geschrieben. Ich hatte dieses kleine Werk hauptsächlich aus der Children’s Encyclopaedia sowie aus H. G. Wells A Short History of the World (deutsch: Die Geschichte unserer Welt) zusammengetragen, und es ist vielleicht bedeutsam, dass es, abgesehen von Schulaufsätzen, mein erstes abgeschlossenes literarisches Erzeugnis war.17

Ungefähr zur selben Zeit kaufte ich in einem Trödelladen in Brighton einen kleinen Kamakura-Buddha aus Messing, in dessen Kopf – der zu diesem Zweck eigens durchlöchert war – ich regelmäßig Räucherstäbchen abbrannte.18 Natürlich lief diese andächtige Handlung selbst so wenig auf Zufluchtnahme hinaus wie die Niederschrift meines „Leben des Buddha Siddhartha Gautama“, doch sie zeigte wenigstens, dass ich für den Buddha Gefühle empfand, die ich gewiss nicht für den Sangha oder die spirituelle Gemeinschaft hatte. Nach meiner Erkenntnis, dass ich Buddhist sei, vergingen nahezu zwei Jahre, bis ich persönlich mit anderen Buddhisten in Berührung kam, und zwei Jahre und einige Monate, bis ich förmlich Zuflucht zu den Drei Juwelen nahm.

12A. d. Hrsg.: Im Jahr 1957, als er noch in Kalimpong im östlichen Himalaya lebte, begann Sangharakshita seine Memoiren zu verfassen und schloss sie erst 1973 ab. Das Werk erschien 1976 unter dem Titel The Thousand-Petalled Lotus bei Heinemann, wobei die Verleger die ersten zehn und einen Teil des elften Kapitels ausließen, in denen Sangharakshita seine Kindheit und frühe Jugend erzählte. Diese Teile wurden von Windhorse Publications erneut aufgenommen, als die Erinnerungen 1997 mit dem Titel The Rainbow Road veröffentlicht wurden. Die Complete Works (CW) enthalten diese Erinnerungen unter dem ursprünglich von Sangharakshita gewählten Titel The Rainbow Road from Tooting Broadway to Kalimpong (CW 20).

13 Vgl. The Rainbow Road from Tooting Broadway to Kalimpong, s. CW 20, S. 85.

14A. d. Hrsg.: Das Diamant-Sūtra oder, mit seinem ursprünglichen Sanskrit-Namen, Vajracchedikā-Prajñāpāramitā-Sūtra, gilt gemeinhin als eines der frühesten Vollkommenheit-der-Weisheit-Sūtras des Mahāyāna. Die von William Gemmell stammende Übersetzung, die Sangharakshita als erste las, war 1912 bei Trench Trübner in London erschienen. Danach las er eine Übersetzung von Max Müller, die 1894 im Rahmen der Sacred Books of the East von der Oxford University Press publiziert worden war. Das Sūtra von Wei Lang oder Sūtra Spoken by the Sixth Patriarch on the High Seat of the Treasure of the Law (auch als Sūtra von Hui Neng sowie als Plattform-Sūtra bekannt) war die 1930 von der Yu Ching Press in Shanghai veröffentlichte englische Übersetzung von Wong Mou-Lam. Beide Texte finden sich heute in A. F. Price and Wong Moulam (transl.), The Diamond Sūtra and the Sūtra of Hui-Neng, Boston: Shambhala Publications 1990. Deutsche Übersetzungen: Das edle Mahāyāna-Sūtra der Vollkommenheit der Weisheit, genannt: Unerschütterliche Beendigung (Diamant-Sūtra). Übersetzung aus dem Tibetischen ins Deutsche von Conni Krause. FPMT Inc. 2004, überarbeitete Fassung 2009. Download unter: https://fpmt.org/wp-content/uploads/teachers/zopa/advice/vajracuttergerman.pdf. Das Diamant-Sutra: das Wesen buddhistischer Weisheit. Hrsg. vom International Zen Temple, Berlin. Übers. von Y. S. Seong Do. Dt. Übers.: K. Graulich. Frankfurt/M.: Angkor-Verlag 2010. Das Diamantsutra: der Diamant, der die Illusion durchschneidet mit einem Kommentar von Thich Nhat Hanh. Übers.: U. Richard. Berlin: Edition Steinrich 2011. Diamant-Sutra, in: Raoul von Muralt (Üb.), Meditations-Sutras des Mahāyāna-Buddhismus, Band 1. Bern: Origo Verlag 1988.

15 „The three gems of our essence of mind, in which, Learned Audience, I advise you to take refuge“. Siehe A. F. Price and Wong Mou-lam (transl.), The Diamond Sūtra and the Sūtra of Hui-Neng, Boston: Shambhala Publications 1990, S. 103.

16 Siehe Strophe 14 des Diamant-Sūtra: „Alsdann bewegte der starke Eindruck des Dharma den Ehrwürdigen Subhūti zu Tränen“, nach der Übersetzung von Edward Conze in Sangharakshitas Kommentar zum Diamant-Sūtra. Siehe Sangharakshita, Weisheit jenseits von Worten. Norderstedt: BoD 2019, S. 51.

17A. d. Hrsg.: Harmsworths Children’s Encyclopedia betrachtete den Buddhismus zwar als eine „höchst seltsame Weltreligion“, die in gewissem Sinne schön, aber auch zutiefst deprimierend war, vermittelte dem jungen Dennis Lingwood (Geburtsname von Sangharakshita) aber gleichwohl eine Einführung in die Religionen des Ostens, darunter auch den Buddhismus. Fürsorgliche Nachbarn hatten ihm die einundsechzig Bände geschenkt, als er als Achtjähriger für die folgenden zwei Jahre mit der Diagnose einer Herzgefäß-Erkrankung ans Bett gefesselt wurde. Die Enzyklopädie wurde zu seiner steten Begleiterin. Siehe The Rainbow Road from Tooting Broadway to Kalimpong, in CW 20, S. 22. – H. G. Wells, A Short History of the World (deutsch: „Die Geschichte unserer Welt”, Berlin, Wien, Leipzig: Paul Zsolney Verlag 1926) wurde erstmals 1922 veröffentlicht. Kapitel 28 berichtet in 1700 Worten vom „Leben des Buddha Gautama“.

18A. d. Hrsg.: Vgl. The Rainbow Road, a. a. O., S. 38 (CW 20, S. 22).

4. U THITTILA UNDPANSIL

Diese anderen Buddhisten, mit denen ich im Winter 1943-44 Kontakt aufnahm, waren die Mitglieder der Buddhist Society, die Christmas Humphreys 1924 in London als buddhistische Loge der Theosophischen Gesellschaft gegründet hatte.19 Um die Zeit, als ich mit ihnen in Verbindung trat, war ich schon in die Armee einberufen worden, besuchte aber wann immer ich konnte Versammlungen und wurde mit einigen Menschen bekannt. Bei einem dieser Treffen (vielleicht war es ein Wesak-Treffen, doch da bin ich nicht sicher), geschah mir, dass ich von einer in orange gekleideten Gestalt, die am Ende des Zimmers hinter einem Tisch saß, „pansil nahm“, wie es genannt wurde. „Pansil“ war die singhalesische Abwandlung des Pāliwortes pañcasīla oder „fünf Vorsätze“, und man „nahm pansil“, indem man die fünf Vorsätze, denen zunächst die Drei Zufluchten vorausgingen, nach demjenigen wiederholte, der die Zeremonie leitete. Zwar sind mir viele Umstände jenes Treffens längst entfallen, doch erinnere ich mich lebhaft, wie wir zu etwa fünfzehn oder zwanzig Leuten mit unseren Pansil-Karten in den Händen und mehr oder weniger großer Unsicherheit bezüglich der Aussprache der unvertrauten Pāli-Wörter an unseren Plätzen standen und dem deutlich artikulierenden, selbstsicheren Christmas Humphreys folgten, der uns im Gesang der Antworten leitete. Am lebhaftesten erinnere ich, wie ich auf die Pansil-Karte blickte, die ich in meinen Händen hielt. Auch heute noch kann ich das Rechteck der glänzend weißen Karte sehen, auf der die Zufluchten und Vorsätze in Pāli und Englisch gedruckt waren. Auch heute noch kann ich die Stimme von Christmas Humphrey die dutiyampis und tatiyampis der Zufluchtsformeln in einer Weise aussprechen hören, die für mein ungewohntes Ohr kaum eine Beziehung zu den gedruckten Worten zu haben schien.20

Die orange-gewandete Gestalt, von der ich „pansil nahm“ und deren kehlige Laute für mich zu tief waren, um sie nachzusingen, war der burmesische Mönch U Thittila.21 In der Zeremonie rezitierte ich erstmals die Formel, welche, wenn man sie öffentlich nach einem leitenden Buddhisten wiederholt, das „Konvertieren“ zum Buddhismus und die förmliche Aufnahme in die buddhistische Gemeinschaft bildet. U Thittila war der erste buddhistische Mönch, den ich gesehen hatte. Aus der Perspektive mancher Entwicklungen, die viele Jahre später in meinem Leben und Denken als Buddhist eintrafen, ist es bedeutsam, dass er diese Zeremonie leitete und nicht ein eher „orthodoxer“ Vertreter des östlichen Buddhismus. Es war bedeutsam, dass U Thittila derjenige war, der die Zeremonie leitete, denn obwohl er bei dieser Gelegenheit das Gewand jenes Zweiges des monastischen Theravāda-Ordens trug, dem er angehörte, trug er es nicht immer. Bei weniger förmlichen Anlässen, beispielsweise wenn er mit den Luftschutzhelfern unterwegs war, trug er die dazu angemessene Art westlicher Kleidung. Jahre später, als ich selbst „eingekleidet“ war, erfuhr ich, dass solch ein „nicht orthodoxes“ Gebaren keineswegs auf allseitige Zustimmung gestoßen war. In meinen unveröffentlichten Erinnerungen hielt ich dazu fest:

Engstirnige burmesische Buddhisten hatten ihn massiv kritisiert für sein angebliches Fehlverhalten, gewöhnliche europäische Kleidung zu tragen, wenn er nicht gerade seine religiösen Ämter versah. Englische Buddhisten sahen die Sache durchaus in anderem Licht. Während des gesamten Blitz22 hatte U Thittila als Bahren-Träger gearbeitet und mehrmals sein Leben riskiert, um Menschen aus eingestürzten Gemäuern zu bergen. Als er bemerkte, dass die umfängliche Drapierung seines Gewandes seine Bewegungen behinderte, tauschte er sie klugerweise mit einer praktischeren Kleidung. Menschen, die ihn kannten, sagten, er tue, was er lehre.23

Was mich betrifft, war ich immer froh darüber, dass ich die Zufluchten und Vorsätze erstmals von diesem stillen, bescheidenen Mann erhalten hatte, für den – wie wir heute sagen würden – Selbstverpflichtung vorrangig und Lebensstil nachrangig war, ein Mann, der in seinem Herzen, ob er nun ein orangenes Gewand oder eine blaue Montur trug, weder Mönch, noch Laie, sondern schlicht Buddhist war.

19A. d. Hrsg.: Christmas Humphreys (1901-1983) war ein englischer Anwalt, später Richter, dessen theosophische Interessen ihn zum Buddhismus führten. Zu einer Zeit, als in englischer Sprache nur wenig über Buddhismus vorlag, wurden seine zahlreichen Bücher viel gelesen. Die buddhistische Loge der Theosophischen Gesellschaft war eine der ersten buddhistischen Organisationen in Europa. Nach ihrer Trennung von der Theosophischen Gesellschaft im Jahr 1926 wurde sie in The Buddhist Society umbenannt, deren Vorsitzender Humphreys bis zu seinem Lebensende blieb. Bis heute (2019) ist die Buddhist Society weiterhin tätig.

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