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Das Besondere ist Trumpf, das Einzigartige wird prämiert, eher reizlos ist das Allgemeine und Standardisierte. Der Durchschnittsmensch mit seinem Durchschnittsleben steht unter Konformitätsverdacht. Das neue Maß der Dinge sind die authentischen Subjekte mit originellen Interessen und kuratierter Biografie, aber auch die unverwechselbaren Güter und Events, Communities und Städte. Spätmoderne Gesellschaften feiern das Singuläre.
In seinem preisgekrönten soziologischen Bestseller untersucht Andreas Reckwitz den Prozess der Singularisierung, wie er sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts in Ökonomie, Arbeitswelt, digitaler Technologie, Lebensstilen und Politik abspielt. Mit dem Anspruch einer Theorie der Moderne zeigt er, wie eng dieser Prozess mit der Kulturalisierung des Sozialen verwoben ist, welch widersprüchliche Dynamik er aufweist und worin seine Kehrseite besteht. Die Gesellschaft der Singularitäten kennt nämlich nicht nur strahlende Sieger. Sie produziert auch ihre ganz eigenen Ungleichheiten, Paradoxien und Verlierer. Eines der meistdiskutierten Bücher der letzten Jahre.
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Seitenzahl: 804
Andreas Reckwitz
Die Gesellschaftder Singularitäten
Einleitung: Die Explosion des Besonderen
I. Die Moderne zwischen der sozialen Logik des Allgemeinen und des Besonderen
1. Die soziale Logik des Allgemeinen
Das doing generality der Moderne
Typisierungen und Rationalisierungen
Standardisierung, Formalisierung, Generalisierung
Objekte, Subjekte, Räume, Zeiten und Kollektive in der sozialen Logik des Allgemeinen
Die industrielle Moderne als Prototyp
2. Die soziale Logik des Besonderen
Allgemein-Besonderes, Idiosynkrasien, Singularitäten
Objekte, Subjekte, Räume, Zeiten und Kollektive in der sozialen Logik der Singularitäten
Praktiken der Singularisierung I: Beobachten und Bewerten
Praktiken der Singularisierung II: Hervorbringen und Aneignen
Performativität als Praxismodus und maschinelle Singularisierung
3. Kultur und Kulturalisierung
Kultur als Sphäre der Valorisierung und Entvalorisierung
Kulturalisierung versus Rationalisierung
Qualitäten der Kulturpraxis: Zwischen Sinn und Sinnlichkeit
4. Die Transformation der Kultursphäre
Vormoderne Gesellschaften: Die Fixierung und Wiederholung des Singulären
Bürgerliche Moderne: Die romantische Revolution des Einzigartigen
Organisierte Moderne: Die Massenkultur
Spätmoderne: Kompetitive Singularitäten, Hyperkultur und Polarisierungen
II. Die postindustrielle Ökonomie der Singularitäten
Jenseits der Industriegesellschaft
Die Entgrenzung der creative economy
1. Einzigartigkeitsgüter im Kulturkapitalismus
Die Kulturalisierung der Güter
Singularitätsgüter: Originalität und Rarität
Dinge als Singularitätsgüter
Dienstleistungen, mediale Formate und Ereignisse als Singularitätsgüter
Merkmale singulärer Güter I: Authentizitätsperformanz
Merkmale singulärer Güter II: Moment und Dauer
Merkmale singulärer Güter III: Zirkulation und Hyperkultur
2. Kulturelle Singularitätsmärkte
Attraktivitätsmärkte als Aufmerksamkeits- und Valorisierungsmärkte
Die Kulturökonomisierung von Wirtschaft und Gesellschaft
Überproduktion und Winner-take-all-Wettbewerbe
Buzz-Effekt und der Kampf um Sichtbarkeit
Valorisierungstechniken und Reputation
Singularitätskapital
Quantifizierungen des Besonderen
III. Die Singularisierung der Arbeitswelt
Die Kulturökonomisierung der Arbeit und ihre Polarisierung
1. Praktiken des Arbeitens und Organisierens in der creative economy
Kulturelle Produktion als kreative Arbeit
Projekte als heterogene Kollaborationen
Organisationskulturen und Netzwerke
2. Die Selbst- und Fremdsingularisierung der Arbeitssubjekte
Jenseits der Formalisierung der Arbeit
Das Profil-Subjekt: Kompetenzen und Talente
Arbeit als Performanz
Singularisierungstechniken der Arbeit
Spannungsfelder hochqualifizierter Arbeit: Zwischen Künstlerdilemma und Superstarökonomie
IV. Digitalisierung als Singularisierung: Der Aufstieg der Kulturmaschine
Von der industriellen Technik zur digitalen Technologie
1. Die Technologie der Kulturalisierung
Algorithmen, Digitalität und das Internet als Infrastrukturen
Die digitale Kulturmaschine und die Ubiquität der Kultur
Kultur zwischen Überproduktion und Rekombination
2. Kulturelle und maschinelle Singularisierungsprozesse
Das digitale Subjekt: Performative Authentizität und Sichtbarkeit
Die Form des Profils und die kompositorische Singularität
Big Data und Beobachtungsprofile
Personalisiertes Netz und Softwarisierung
Digitale Neogemeinschaften und die Sozialität des Netzes
Spannungsfelder der Netzkultur: Vom Profilierungszwang zur Affektkultur der Extreme
V. Die singularistische Lebensführung: Lebensstile, Klassen, Subjektformen
Das spätmoderne Selbst jenseits der nivellierten Mittelstandsgesellschaft
Die kulturelle Klassenspaltung und der »Paternostereffekt«
1. Der Lebensstil der neuen Mittelklasse: Erfolgreiche Selbstverwirklichung
Romantik und Bürgerlichkeit: Die neue Symbiose
Selbstverwirklichung und die Valorisierung des Alltags
Das kuratierte Leben
Kultur als Ressource und Kulturkosmopolitismus
Statusinvestition und das Prestige des Einzigartigen
2. Bausteine des singularistischen Lebensstils
Essen
Wohnen
Reisen
Körper
Erziehung und Schule
Work-Life-Balance, Urbanität, Juvenilisierung, Degendering und Neuer Liberalismus
Spannungsfelder der Lebensführung: Das Ungenügen an der Selbstverwirklichung
3. Die Kulturalisierung der Ungleichheit
Die Lebensform der Unterklasse: Muddling through
Kulturelle Entwertungen
Singularistische Gegenstrategien der Unterklasse
Das Tableau der spätmodernen Klassen und ihrer Relationen
VI. Differenzieller Liberalismus und Kulturessenzialismus: Der Wandel des Politischen
Die Politik des Besonderen
1. Apertistisch-differenzieller Liberalismus und die Politik des Lokalen
Vom sozialdemokratischen Konsens zum neuen Liberalismus
Wettbewerbsstaat und diversity: Die zwei Seiten des neuen Liberalismus
Politik der Städte I: Neuer Urbanismus und globaler Attraktivitätswettbewerb
Politik der Städte II: Kulturorientierte Gouvernementalität und Singularitätsmanagement
2. Der Aufstieg des Kulturessenzialismus
Kollektive Identitäten und partikulare Neogemeinschaften
Ethnische Gemeinschaften zwischen Selbst- und Fremdkulturalisierung
Kulturnationalismus
Religiöser Fundamentalismus
Rechtspopulismus
Kulturkonflikte zwischen Essenzialismus, Hyperkultur und Liberalismus
Politik der Gewalt – Terror und Amok als Zelebrierung des singulären Aktes
Schluss: Die Krise des Allgemeinen?
Danksagung
Literatur
Register 7
Wohin wir auch schauen in der Gesellschaft der Gegenwart: Was immer mehr erwartet wird, ist nicht das Allgemeine, sondern das Besondere. Nicht an das Standardisierte und Regulierte heften sich die Hoffnungen, das Interesse und die Anstrengungen von Institutionen und Individuen, sondern an das Einzigartige, das Singuläre.
Reiseziele beispielsweise können sich nicht länger damit begnügen, einförmige Urlaubsziele des Massentourismus zu sein. Es ist vielmehr die Einzigartigkeit des Ortes, die besondere Stadt mit authentischer Atmosphäre, die exzeptionelle Landschaft, die besondere lokale Alltagskultur, denen nun das Interesse des touristischen Blicks gilt. Und das ist nur ein Beispiel von vielen, denn diese Entwicklung hat die gesamte spätmoderne globale Ökonomie erfasst. Sowohl für materielle Güter wie für Dienstleistungen gilt, dass an die Stelle der Massenproduktion uniformer Waren jene Ereignisse und Dinge treten, die nicht für alle gleich oder identisch sind, sondern einzigartig, das heißt singulär sein wollen.1 So richten sich die Leidenschaften auf Live-Konzerte und Musikfestivals in ihrer Außeralltäglichkeit, auf Sport- und Kunstereignisse, aber auch auf die Aktivität der Lifestyle-Sportarten und die imaginären Welten der Computerspiele. Der sogenannte ethische Konsument entwickelt eine differenzierende Sensibilität für Brot- und Kaffeesorten in einer Weise, wie sie früher allenfalls für Weinkenner typisch war. An die Stelle des Sofas »von der Stange« tritt die Suche nach dem Vintage-Stück, und eine Marke wie Apple bietet nicht nur neueste Technologie, sondern ein ganzes attraktives und einzigartiges Environment, das der Nutzer gegen nichts anderes eintauschen würde. Schließlich offerieren diverse Formate der psychologischen Beratung maßgeschneiderte therapeutische oder spirituelle Angebote.
Die spätmoderne Ökonomie ist mehr und mehr an singulären Dingen, Diensten und Ereignissen ausgerichtet, und die Güter, die sie produziert, sind zunehmend solche, die nicht mehr rein funktional, sondern 8auch oder allein kulturell konnotiert sind und affektive Anziehungskraft ausüben. Wir leben nicht mehr im industriellen, sondern im kulturellen Kapitalismus. Dies hat tiefgreifende Folgen auch für die Arbeits- und Berufswelt: Standen in der alten Industriegesellschaft eindeutige formale Qualifikationen und Leistungsanforderungen im Vordergrund, so geht es in der neuen Wissens- und Kulturökonomie darum, dass die Arbeitssubjekte ein außergewöhnliches »Profil« entwickeln. Belohnt werden nun jene, die Außerordentliches leisten oder zu leisten versprechen, das den Durchschnitt hinter sich lässt, während Arbeitnehmer mit profanen Routinetätigkeiten das Nachsehen haben.
Die Ökonomie hat zweifellos eine gesellschaftliche Schrittmacherfunktion, aber die Umdeklinierung vom Allgemeinen zum Besonderen findet längst auch in anderen Bereichen statt, etwa in dem der Bildung.2 Für Schulen genügt es nicht mehr wie noch vor 20 Jahren, das staatlich vorgegebene Lernpensum gut zu vermitteln. Jede Schule muss und will anders sein, muss und will ihr eigenes Bildungsprofil kultivieren und den Schülern (und Eltern) die Möglichkeit bieten, sich einen eigenen Bildungsweg zusammenzustellen. Und auch das einzelne Kind wird von Seiten der Eltern – zumindest wenn sie aus der neuen, akademisch gebildeten Mittelklasse stammen – als ein Mensch wahrgenommen, dessen besondere Begabungen und Eigenschaften zu fördern sind.
Ein weiteres Feld, auf dem sich der Vormarsch des Singulären seit geraumer Zeit beobachten lässt, ist die Architektur: Der International Style mit seiner seriellen Bauweise wirkt monoton und ist schon seit der architektonischen Postmoderne der 1980er Jahre auf breiter Front abgelöst worden von einer Solitärarchitektur, so dass Museumsbauten, Konzerthäuser, Flagship Stores und Wohnhäuser einen manchmal überraschenden, manchmal befremdlichen originellen Stil beanspruchen. Dahinter verbirgt sich eine grundsätzliche Transformation räumlicher Strukturen: An die Stelle der austauschbaren Räume der klassischen Moderne sollen in der globalisierten und urbanisierten Spätmoderne nun wiedererkennbare einzelne Orte mit je eigener Atmosphäre treten, an die sich spezifische Narrationen und Erinnerungen heften. Städte und Metropolen bemühen sich entsprechend, auch im Namen der sogenannten cultural 9regeneration, eine lokale Eigenlogik zu entwickeln, die Lebensqualität und Alleinstellungsmerkmale verspricht. Und die neue Mittelklasse zieht es bevorzugt in diese Schwarmstädte, während die anderen, als unattraktiv geltenden Regionen – ob in den Vereinigten Staaten oder in Frankreich, in Großbritannien oder Deutschland – Gefahr laufen zu veröden.
Es ist nicht verwunderlich, dass vor diesem Hintergrund auch und gerade das spätmoderne Subjekt, das sich in diesen Umgebungen bewegt, für sich und sein Leben nach Befriedigung im Besonderen strebt. Jener bis in die 1970er Jahre herrschende westliche Subjekttypus, den David Riesman als »sozial angepasste Persönlichkeit« beschrieb, der Durchschnittsangestellte mit Durchschnittsfamilie in der Vorstadt,3 ist in den westlichen Gesellschaften zur konformistisch erscheinenden Negativfolie geworden, von der sich das spätmoderne Subjekt abheben will. Ulrich Beck und andere haben in diesem Zusammenhang von Individualisierung gesprochen und damit gemeint, dass Subjekte aus allgemeinen sozialen Vorgaben entbunden und sozusagen in die Selbstverantwortung entlassen werden.4 Singularisierung meint aber mehr als Selbständigkeit und Selbstoptimierung. Zentral ist ihr das kompliziertere Streben nach Einzigartigkeit und Außergewöhnlichkeit, die zu erreichen freilich nicht nur subjektiver Wunsch, sondern paradoxe gesellschaftliche Erwartung geworden ist. Markant ausgeprägt ist dies in der neuen, der hochqualifizierten Mittelklasse, also in jenem sozialen Produkt von Bildungsexpansion und Postindustrialisierung, das zum Leitmilieu der Spätmoderne geworden ist. An alles in der Lebensführung legt man hier den Maßstab der Besonderung an: wie man wohnt, was man isst, wohin und wie man reist, wie man den eigenen Körper oder den Freundeskreis gestaltet. Im Modus der Singularisierung wird das Leben nicht einfach gelebt, es wird kuratiert. Das spätmoderne Subjekt performed sein (dem Anspruch nach) besonderes Selbst vor den Anderen, die zum Publikum werden. Nur wenn es authentisch wirkt, ist es attraktiv. Die allgegenwärtigen sozialen Medien mit ihren Profilen sind eine der zentralen Arenen dieser Arbeit an der Besonderheit. Das Subjekt bewegt sich hier auf einem umfassenden sozialen Attraktivitätsmarkt, auf dem ein Kampf um Sichtbarkeit ausgetragen wird, 10die nur das ungewöhnlich Erscheinende verspricht. Die Spätmoderne erweist sich so als eine Kultur des Authentischen, die zugleich eine Kultur des Attraktiven ist.
Die Überlagerung der alten Logik des Allgemeinen der Industriegesellschaft durch eine soziale Logik des Besonderen der Spätmoderne betrifft letztlich und in außerordentlichem Maße die Formen des Sozialen, des Kollektiven und des Politischen zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Singularisiert werden keineswegs nur Individuen oder Dinge, sondern auch Kollektive! Formale Organisationen, Volksparteien und der bürokratische Staat existieren natürlich im Hintergrund weiter. Sie sind jedoch zugunsten von partikularistischen und temporären Formen des Sozialen in die Defensive geraten, die mehr Identifikation versprechen. Diese unterlaufen universale Regeln sowie standardisierte Verfahren und kultivieren stattdessen eine eigene Welt mit eigener Identität. Dies gilt für die Kollaborationen und Projekte in der Arbeits- und politischen Welt, die als affektive Einheiten mit bestimmten Teilnehmern und einem Verfallsdatum jeweils singulär sind. Und es gilt auch für die Szenen, politischen Subkulturen und Freizeit- wie Konsum-Communities in der realen wie virtuellen Welt, die sich als ästhetische oder hermeneutische Wahlgemeinschaften mit sehr spezifischen Interessen und Weltbildern von der Massenkultur und der Mainstream-Politik weit entfernen.
Die Singularisierung des Sozialen gilt schließlich für jene global zu beobachtenden politischen und subpolitischen Neogemeinschaften, in denen jeweils die historische, räumliche oder ethische Besonderheit einer als gemeinsam imaginierten Kultur gepflegt wird. Dies ist ein weites Feld: Es schließt die identity politics ethnischer Gemeinschaften und die Diaspora-Communities ein, die sich im Zuge der globalen Migrationsströme ausgebildet haben. Schließlich verbreiten sich vielerorts neue religiöse, auch fundamentalistische Gemeinschaften, vor allem im Christentum und im Islam, die jenseits der Amtskirchen eine Art religiösen Exzeptionalismus beanspruchen. Der politische Rechtspopulismus, der sich seit der Jahrtausendwende formiert, appelliert in diesem Rahmen an die kulturelle Authentizität des eigenen Volkes und seiner nationalen Kultur. Zugleich und in anderer Weise ist »kulturelle Vielfalt« zu Beginn des 21. Jahrhunderts zum Leitprinzip einer liberalen Gesellschafts- und Kulturpolitik geworden.
Wie in einem Kaleidoskop bilden die genannten, zunächst sehr heterogenen Phänomene der Gegenwartsgesellschaft ein Muster, dem ich in die11sem Buch nachgehen will. Dies ist meine leitende These: In der Spätmoderne findet ein gesellschaftlicher Strukturwandel statt, der darin besteht, dass die soziale Logik des Allgemeinen ihre Vorherrschaft verliert an die soziale Logik des Besonderen. Dieses Besondere, das Einzigartige, also das, was als nichtaustauschbar und nichtvergleichbar erscheint, will ich mit dem Begriff der Singularität umschreiben.5 Leitend für meine Theorie der Spätmoderne und für die Moderne insgesamt ist also die Unterscheidung zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen. Sie ist nicht unkompliziert, eröffnet aber eine Perspektive, die uns die Gegenwart aufzuschließen hilft. Die Differenz zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen ist ursprünglich eine philosophische und findet sich systematisch ausgearbeitet bei Kant.6 Ich will sie jedoch aus dem Korsett der Erkenntnistheorie befreien und soziologisieren. Natürlich: In der menschlichen Welt gibt es immer sowohl Allgemeines als auch Besonderes; dies ist eine Frage des Blickwinkels. Die »Begriffe« sind immer allgemein, die »Anschauung« hingegen richtet sich auf das Besondere, so Kant. Damit lässt sich jedes Element der Welt wahlweise als konkretes Einzelnes oder als Exemplar eines allgemeinen Typs interpretieren. Soziologisch ist dies trivial. Die gesellschaftstheoretisch interessante Frage ist eine andere: Es gibt soziale Komplexe und ganze Gesellschaftsformen, die systematisch die Verfertigung des Allgemeinen fördern und es prämieren, während sie Singularitäten hemmen und abwerten. Und es gibt andere soziale Komplexe und Gesellschaften, die umgekehrt Singularitäten hervorbringen und auszeichnen, also eine Praxis der Singularisierung betreiben – auf Kosten des Allgemeinen. Weder das Allgemeine noch das Besondere sind also einfach vorhanden. Beide werden sozial fabriziert.12
Die spätmoderne Gesellschaft, das heißt jene Form der Moderne, die sich seit den 1970er oder 1980er Jahren entwickelt, ist insofern eine Gesellschaft der Singularitäten, als in ihr die soziale Logik des Besonderen das Primat erhält. Und – man muss es in dieser Dramatik feststellen – sie ist die erste, für die dies in einem umfassenden Sinne gilt. Die soziale Logik des Besonderen betrifft dabei sämtliche Dimensionen des Sozialen: die Dinge und Objekte ebenso wie die Subjekte, die Kollektive, die Räumlichkeiten ebenso wie die Zeitlichkeiten. »Singularität« und »Singularisierung« sind Querschnittsbegriffe und bezeichnen ein Querschnittsphänomen, das die gesamte Gesellschaft durchzieht. Es mag ein zunächst gewöhnungsbedürftiger Gedanke sein, der aber unbedingt betont werden muss: Singularisiert werden gewiss auch, aber keineswegs nur menschliche Subjekte, weshalb der klassische, für Menschen reservierte Begriff der Individualität nicht mehr passt. Die Singularisierung umfasst eben auch und in ganz besonderem Maße die Fabrikation und Aneignung von Dingen und Objekten als besondere. Sie betrifft die Gestaltung und Wahrnehmung von Räumlichkeiten ebenso wie die von Zeitlichkeiten und nicht zuletzt von Kollektiven.
Die Struktur der Gesellschaft der Singularitäten ist ungewöhnlich und erstaunlich, ja, es scheinen die passenden Begriffe und Perspektiven zu fehlen, um sie in ihrer Komplexität zu begreifen. Wie kann eine Gesellschaft sich so organisieren, dass sie sich an der scheinbar flüchtigen, scheinbar antisozialen Größe des Besonderen ausrichtet? Welche Strukturen bildet die Gesellschaft der Singularitäten aus, welche Form nehmen ihre Wirtschaft und ihre Technologie, ihre Sozialstruktur und ihre Lebensstile, ihre Arbeitswelt, ihre Städte und ihre Politik an? Und wie kann und sollte eine Soziologie vorgehen, welche die soziale Logik der Singularisierung unter die Lupe nimmt? Es ist wichtig, dass sich eine solche Untersuchung von vornherein vor zwei falschen Haltungen hütet: Mystifizierung und Entlarvung.
Die mystifizierende Haltung gegenüber Besonderheiten, die in der sozialen Welt der Kunstbetrachter und religiösen Gläubigen, der Charismabewunderer und Liebenden, der Musikfans, Markenfetischisten und unbeirrbaren Lokalpatrioten verbreitet ist, setzt voraus, dass das, was ihnen wertvoll ist und sie fasziniert, gewissermaßen in ihrer natürlichen Essenz und unabhängig vom Betrachter wirklich authentische und einzigartige Phänomene sind. Mit Blick auf diese Mystifizierung des Authentischen hat die soziologische Analyse eine Aufklärungsfunktion. Einzigartigkei13ten sind gerade nicht als vorsoziale Gegebenheiten vorauszusetzen, vielmehr gilt es, die Prozesse und Strukturen der sozialen Logik der Singularitäten zu rekonstruieren. »Soziale Logik« heißt: Die Singularitäten sind nicht kurzerhand objektiv oder subjektiv vorhanden, sondern durch und durch sozial fabriziert. Was als eine Einzigartigkeit gilt und als solche erlebt wird, ergibt sich, wie wir noch sehen werden, ausschließlich in und durch soziale Praktiken der Wahrnehmung, des Bewertens, der Produktion und der Aneignung, in denen Menschen, Güter, Gemeinschaften, Bilder, Bücher, Städte, Events und dergleichen singularisiert werden. Es ist kein logischer Widerspruch, sondern eine reale Paradoxie, dass sich allgemeine Praktiken und Strukturen untersuchen lassen, die sich um die Verfertigung von Besonderheiten drehen. Genau dies ist die Aufgabe dieses Buches: die Muster, Typen und Konstellationen herauszuarbeiten, die sich in der sozialen Fabrikation von Einzigartigkeiten ergeben. Die Singularitäten sind damit alles andere als antisozial oder vorsozial; eine Metaphorik der Vereinzelung und Isolation wäre in diesem Zusammenhang völlig verfehlt. Die Singularitäten sind im Gegenteil das, worum sich in der Spätmoderne das Soziale dreht.
Gegen die Mystifizierung der Eigentlichkeit die soziale Logik der Besonderheiten zu sezieren, heißt allerdings umgekehrt nicht, den Singularitäten ihre Realität abzusprechen und sie als bloßen Schein oder ideologisches Konstrukt zu enttarnen. Diese Haltung der Entlarvung tritt nicht selten im Gewand der Kulturkritik auf. Genüsslich meint man demonstrieren zu können, dass die scheinbaren Einzigartigkeiten der anderen tatsächlich nur weitere Exemplare allgemeiner Typen darstellen, Beispiele für den Massengeschmack oder den ewigen Kreislauf der Warenzirkulation: Apple-Produkte, Filme der Coen-Brüder oder begabte Kinder sind ja nicht wirklich außergewöhnlich, und hinter den Originalitäten von diesem und jenem verbergen sich in Wahrheit nur konformistische Durchschnittstypen. Ein solcher Entlarvungsreduktionismus ist mit einer Analyse der sozialen Logik von Singularitäten jedoch nicht gemeint. Wie gesagt: Es ist nicht erstaunlich, dass sich gut kantianisch jedes Besondere unter anderem Blickwinkel als das Exemplar eines Allgemeinen interpretieren lässt. Was besonders erscheint, lässt sich immer typisieren. Vor allem aber: Dass Einzigartigkeiten sozial fabriziert sind, heißt nicht, dass ihnen die soziale Realität abzusprechen wäre. Man muss hier vielmehr an das berühmte soziologische »Thomas-Theorem« erinnern, das lautet: »Wenn die Menschen Situationen als wirklich definieren, sind 14sie in ihren Konsequenzen wirklich.«7 In unserem Zusammenhang heißt dies: Indem die soziale Welt sich zunehmend an Menschen, Gegenständen, Bildern, Gruppen, Orten und Ereignissen ausrichtet, die sie als singulär begreift und empfindet, ja, diese teilweise gezielt als solche hervorbringt, entfaltet die soziale Logik der Singularitäten für ihre Teilnehmer eine Realität mit erheblichen, sogar unerbittlichen Konsequenzen.
Die Kritik, welche einzelnen Singularitäten den Wert des Besonderen abspricht, kann und muss selbst soziologisiert werden: Sie ist ein charakteristischer Bestandteil der Bewertungsdiskurse der Gesellschaft der Singularitäten. Diese Diskurse beziehen ihre Dynamik und Unberechenbarkeit daraus, dass der Besonderheitswert von Waren, Bildern, Menschen, Kunstwerken, religiösen Glaubensinhalten, Städten oder Ereignissen häufig sozial umstritten ist und zum Gegenstand von Auseinandersetzungen der Bewertung und Entwertung wird.8 Generell gilt: Die gesellschaftlichen Bewertungen von etwas als singulär oder als Exemplar des Allgemeinen sind hochgradig mobil und beschäftigen die Spätmoderne in enormem Ausmaß, ja, man könnte sagen, dass diese regelrecht zur Valorisierungsgesellschaft geworden ist. Was heute als exzeptionell gilt, kann schon morgen entwertet und als konformistisch oder gewöhnlich eingestuft werden. Und während es so manche Dinge und Menschen trotz aller Anstrengung nie auf den Sockel des Außergewöhnlichen schaffen, werden andere in Umwertungsprozessen in die Sphäre der Singularität katapultiert. So wird aus Sperrmüll wertvolles Vintage und aus dem Sonderling der anerkannte Nerd. Das heißt: In der Gesellschaft der Singularitäten gehen Prozesse der Singularisierung und der Entsingularisierung Hand in Hand. Sie bekräftigen damit aber, was als wertvoll gilt: nicht das Allgemeine, sondern das Besondere.
Man muss es so deutlich feststellen: Die soziale Logik der Singularitäten, deren Ausbreitung wir seit den 1970er oder 1980er Jahren beobachten, widerspricht im Prinzip vollständig dem, was über nahezu 200 Jahre hinweg den Kern der modernen Gesellschaft ausgemacht hat. Die Gesellschaft der klassischen Moderne, die sich im 18. Jahrhundert in Westeuropa langsam herauskristallisierte und Mitte des 20. Jahrhunderts als in15dustrielle Moderne in den USA und der Sowjetunion ihren Höhepunkt erreichte, war nämlich grundsätzlich anders organisiert: Es herrschte eine soziale Logik des Allgemeinen, und zwar in einer Radikalität und Drastik, wie sie welthistorisch ohne Beispiel sind. Max Weber hat dies treffend umschrieben: Die klassische Moderne der Industriegesellschaft ist im Grunde ein Prozess der tiefgreifenden formalen Rationalisierung.9 Und alle Ausprägungen dieser formalen Rationalisierung – ob in Wissenschaft und Technik, in der ökonomisch-industriellen Produktion, im Staat oder im Recht – fördern und stützen, wie ich hinzufügen möchte, eine Herrschaft des Allgemeinen. Überall ging es um Standardisierung und Formalisierung, um eine Verfertigung der Elemente der Welt als gleiche, gleichartige, auch gleichberechtigte: auf den Fließbändern der industriellen Produktion und in den Gebäuden in Serie des International Style, im Rechts- wie im Sozialstaat, im Militär, bei der »Verschulung« der Kinder und Jugendlichen, in den Ideologien und der Technik.
Solange man dem alten Bild der Moderne verhaftet bleibt, das von der Industriegesellschaft geprägt ist, neigt man leicht dazu, das Aufkommen von Singularitäten und Singularisierungen als ein bloßes Rand- oder Oberflächenphänomen abzutun. Tatsächlich ist die Logik der Singularitäten jedoch nicht in der Peripherie, sondern im Zentrum der spätmodernen Gesellschaft am Werk. Was sind die Ursachen für diese tiefgreifende Transformation? Meine erste Antwort auf diese Frage, die ich in diesem Buch ausführlich entfalten werde, lautet: Die beiden machtvollsten gesellschaftlichen Motoren, welche die Standardisierung der industriellen Moderne vorantrieben, haben sich in den 1970er/80er Jahren in Motoren der gesellschaftlichen Singularisierung verkehrt – die Ökonomie und die Technologie. In der Spätmoderne werden Ökonomie und Technologie historisch erstmals zu großflächig wirkenden Singularisierungsgeneratoren, zu paradoxen Agenten des massenhaft Besonderen – und wir sind gerade erst dabei, die ganze Tragweite dieses Prozesses, seine sozialen, psychischen und politischen Folgen zu begreifen.
Zwischen der industriellen Moderne und der Spätmoderne ereignet sich so ein zweifacher struktureller Bruch: Der erste entsteht durch den Strukturwandel von der alten industriellen Ökonomie zum Kulturkapitalismus und der Ökonomie der Singularitäten mit der creative economy als 16Leitbranche. Der Kapitalismus der Wissens- und Kulturökonomie ist eine postindustrielle Ökonomie: Ihre Güter sind im Kern kulturelle Güter, und sie sind »Singularitätsgüter«, das heißt Dinge, Dienste, Ereignisse oder Medienformate, deren Erfolg beim Konsumenten davon abhängt, als einzigartig anerkannt zu werden. Mit der Transformation der Güter wälzt sich auch die Struktur der Märkte und der Arbeit grundlegend um. Die Gesellschaftstheorie muss sich damit – hierin ihren Klassikern von Karl Marx' Das Kapital bis Georg Simmels Philosophie des Geldes folgend – auf die avancierteste Form der Ökonomie einlassen, wenn sie die avancierteste Form der Moderne begreifen will. Der zweite strukturelle Bruch wird durch die digitale Revolution verursacht, eine Technologie, die nicht mehr nur standardisiert, sondern in erster Linie singularisiert – vom data tracking der Profile über die Personalisierung des digitalen Netzes bis hin zu den 3-D-Druckern. Mit der digitalen Revolution wird zugleich erstmals eine Technologie leitend, die den Charakter einer »Kulturmaschine« hat, in der primär kulturelle Elemente – Bilder, Narrationen und Spiele – verfertigt und rezipiert werden.
Bereits wenn man die Ökonomie und Technologien betrachtet – den Kulturkapitalismus und die Kulturmaschine –, wird deutlich, dass die Gesellschaft der Singularitäten einer Dimension, die in der alten Industriegesellschaft von Marginalisierung bedroht war, einen zentralen Ort verschafft: der Kultur. Kultur spielt für die Art und Weise, in der sich die Spätmoderne strukturiert, eine ungewöhnliche Rolle. Durch ihre massive Präferenz für zweckrationale Prozesse und formale Normrationalität betrieb die industrielle Moderne in mancher Hinsicht eine – kulturkritisch vielfach beklagte – Entwertung kultureller Praktiken und Objekte. Singuläre Objekte, Orte, Zeiten, Subjekte und Kollektive hingegen sind mehr als bloße Mittel zum Zweck beziehungsweise werden nicht mehr nur als solche wahrgenommen; indem ihnen ein eigener Wert zugeschrieben wird, etwa in ästhetischer oder ethischer Weise, sind sie vielmehr in einem starken Sinn Kultur. Wir werden uns damit, was Kultur ausmacht und wie sie zirkuliert, noch genauer beschäftigen, können aber schon jetzt feststellen, dass Kultur immer dort ist, wo Wert zugeschrieben wird, wo also Prozesse der Valorisierung stattfinden. Es ist wichtig zu sehen, dass Praktiken der Valorisierung und Praktiken der Singularisierung Hand in Hand gehen. Wenn Menschen, Dinge, Orte oder Kollektive einzigartig erscheinen, wird ihnen ein Wert zugeschrieben und sie erscheinen gesellschaftlich wertvoll. Umgekehrt – und von erheblicher gesellschaftlicher 17Tragweite – gilt dann aber auch: Wenn ihnen die Einzigartigkeit abgesprochen wird, sind sie wertlos. Kurzum: Die Gesellschaft der Singularitäten betreibt eine tiefgreifende Kulturalisierung des Sozialen. Sie spielt ein großes soziales Spiel von Valorisierung und Singularisierung einerseits, von Entwertung und Entsingularisierung andererseits und lädt Objekte und Praktiken mit einem Wert jenseits von Funktionalität auf. Hinzu kommt, dass die Sphäre der Kultur in der Spätmoderne eine spezifische Form annimmt: Sie ist kein abgezirkeltes Subsystem mehr, sondern hat sich in eine globale Hyperkultur transformiert, in der potenziell alles – von der Zen-Meditation bis zum Industrieschemel, von der Montessori-Schule bis zum YouTube-Video – zur Kultur und zum Element äußerst mobiler Märkte der Valorisierung werden kann, auf denen sich die Subjekte mit Selbstverwirklichungsanspruch bewegen.
Damit sind wir bei einem weiteren zentralen Merkmal der Gesellschaft der Singularitäten angelangt: der extremen Relevanz der Affekte. Die industrielle Moderne mit ihrer Logik des Allgemeinen und ihrem Zug zur Rationalisierung brachte eine systematische Affektreduktion mit sich. Wenn jedoch Menschen, Dinge, Ereignisse, Orte oder Kollektive singularisiert und kulturalisiert werden, dann wirken sie anziehend (oder auch abstoßend). Ja, nur wenn sie affizieren, gelten sie als singulär. Die Gesellschaft der Spätmoderne ist in einer Weise eine Affektgesellschaft, wie es die klassische Moderne niemals hätte sein können. Ihre Bestandteile wirken hochgradig affizierend – und die Subjekte lechzen danach, affiziert zu werden und andere affizieren zu können, um selbst als attraktiv und authentisch zu gelten. Kurzum: Während die Logik des Allgemeinen mit Prozessen gesellschaftlicher Rationalisierung und Versachlichung zusammenhängt, ist die Logik des Singulären mit Prozessen gesellschaftlicher Kulturalisierung und Affektintensivierung verknüpft.
Ich habe bisher davon gesprochen, dass sich in der Spätmoderne ein historisch so nie dagewesener Strukturwandel vollzieht, der sich um die Prozesse der Singularisierung und Kulturalisierung dreht. Aber sind diese Prozesse wirklich so völlig neu? Und ist umgekehrt die alte Logik des Allgemeinen von der neuen Logik des Singulären komplett verdrängt worden? Nein, lautet die Antwort auf beide Fragen, wodurch das Gesamtbild rasch an Komplexität gewinnt. Zunächst ist eine Revision unseres Bildes der Moderne insgesamt angezeigt. Wer von der Spätmoderne als jener Version der Moderne redet, welche die industrielle Moderne abgelöst 18hat und in der wir gegenwärtig leben, darf von der Moderne insgesamt nicht schweigen. Der soziologische Diskurs der Moderne erweist sich diesbezüglich jedoch häufig als eindimensional, indem er Modernisierung mit den Prozessen der formalen Rationalisierung und Versachlichung in eins setzt. Aus meiner Sicht ist die Moderne als in diesem Sinne eindimensionale Veranstaltung jedoch gar nicht zu verstehen, denn sie setzt sich von Anfang an aus zwei gegenläufig organisierten Dimensionen zusammen: aus der rationalistischen der Standardisierung und aus ebenjener kulturalistischen Dimension der Wertzuschreibungen, Affektintensitäten und Singularisierung. Die enzyklopädischen Denker am Ende des 19. Jahrhunderts, Friedrich Nietzsche und Georg Simmel zum Beispiel, aber auch Max Weber, hatten ein Gespür für diese Doppelstruktur.10
Ihren zentralen Impuls erhielt diese zweite Dimension, die nichtrationalistische Moderne, bereits vor einiger Zeit: durch die auf den ersten Blick lediglich marginale künstlerische Bewegung der Romantik um 1800. Es waren die Romantiker, die Singularitäten auf allen Ebenen zuerst »entdeckt« haben und zugleich fördern wollten: die Originalität der Kunstwerke und handwerklichen Dinge, die Vielfalt und Poesie der Natur, die Besonderheiten pittoresker Orte, die Feier des Augenblicks, die einzigartigen Völker, Kulturkreise und Nationen und natürlich: das Subjekt in seiner emphatischen Individualität und Selbstentfaltung. Dieser von den Romantikern gesponnene Faden ist im 19. und 20. Jahrhundert keineswegs abgerissen, sondern durchzieht konstant die Moderne, etwa im Feld der Kunst, in der Religion oder auch in bestimmten Versionen des Politischen. Die romantische Tradition der Prämierung des Singulären hat die ästhetischen, kulturrevolutionären Gegenbewegungen zur rationalisierten Moderne entscheidend geprägt, deren historisch letzte und wirkungsmächtige die Counter Culture der 1960er und 1970er Jahre war. Der durch sie angestoßene postmaterialistische Wertewandel in der neuen Mittelklasse, der um die Ideen von Selbstverwirklichung und Selbstentfaltung kreist, stellt sich damit als eine entscheidende Voraussetzung für die Kultur der Besonderheit der Spätmoderne heraus. Tatsächlich lässt 19sich der Take-Off der großflächigen Singularisierung und Kulturalisierung seit dem letzten Viertel des 20. Jahrhunderts aus meiner Sicht als das Zusammentreffen dreier Strukturmomente erklären, die sich gegenseitig verstärken: der Aufstieg des Kulturkapitalismus, der Siegeszug der digitalen Medientechnologien und die postromantische Authentizitätsrevolution in der neuen Mittelklasse. Alle drei Stränge gilt es in diesem Buch zu verfolgen.
Bei differenzierterer Betrachtung wird also deutlich: Standardisierung und Singularisierung, Rationalisierung und Kulturalisierung, Versachlichung und Affektintensivierung haben die Moderne in gewisser Weise von Anfang an geprägt. Zweifellos: Die Moderne ist darin modern, dass sie die Rationalisierung ins Extrem treibt und damit radikalisiert. Aber eben auch darin, dass sie die Singularitäten in extremer Weise entwickelt. Wenn aber die Moderne in dieser Weise doppelgesichtig und ein Zeitalter der Extreme ist,11 was genau ist dann neu an der Spätmoderne? Inwiefern ist sie tatsächlich eine genuin andere und neue Form der Moderne? Es wird sich im Laufe des Buches hoffentlich zeigen, dass sich diese Fragen beantworten lassen, indem wir unter die Lupe nehmen, wie sich das Verhältnis zwischen den sozialen Logiken des Allgemeinen und des Besonderen in den letzten 40 Jahren verändert hat. Die formale Rationalisierung verschwindet in diesem Prozess natürlich nicht. Sie verändert aber ihren Status. Nur so viel sei vorweggenommen: Während die beiden Logiken in der industriellen Moderne einen asymmetrischen Dualismus bilden, transformieren sie sich in der Spätmoderne in eine Vordergrund- und eine Hintergrundstruktur.
Es ist verblüffend: Die Mechanismen der formalen Rationalität stellen sich in der Spätmoderne vielfach so um, dass sie »im Hintergrund« die Form von allgemeinen Infrastrukturen für die systematische Verfertigung von Besonderheiten annehmen.12 So sind nun essenziell zweckrationale Technologien dazu in der Lage, Objekte systematisch als besondere zu verfertigen. Ein prominentes Beispiel dafür ist die Genforschung, die einen medizinischen Blick forciert, der den Menschen nicht mehr unter Krankheitstypen und Normwerte subsumiert, sondern als irreduzib20len Besonderen identifiziert.13 Ein zweites ebenso prominentes Beispiel ist das data tracking durch Suchmaschinen und Unternehmen im digitalen Netz, in dem die anonymen Algorithmen den einzigartigen Bewegungspfad des Users registrieren, um ihn in seinen ganz spezifischen Konsumpräferenzen oder politischen Haltungen zu adressieren und das Netz für ihn zu »personalisieren«. Zweckrationale Infrastrukturen zur Fabrikation von Einzigartigkeit finden sich in anderer Weise auch in jenen komplexen Valorisierungstechnologien, in denen über Ratings und Rankings die Besonderheiten von Restaurants, Universitäten, Coaches oder potenziellen Ehepartnern miteinander verglichen werden. Kurzum: Auch in der Spätmoderne gibt es selbstverständlich Techniken der Standardisierung, aber sie erweisen sich häufig als Teil einer komplizierten Hintergrundstruktur, welche die Prozesse der Singularisierung am Laufen hält.
Um die Gesellschaft der Singularitäten zu verstehen, ist es nötig, nach ihren Ausformungen, ihren Folgen und ihren Widersprüchen in den verschiedensten Bereichen zu fragen. Ihre Grundstruktur findet sich in den westlichen Gesellschaften Europas und Nordamerikas. In diesen klassischen Räumen der ehemaligen industriellen Moderne vollzieht sich der Übergang zur postindustriellen Gesellschaft, von dem dieses Buch handelt. Keinesfalls kann es also nur um Deutschland und den nationalen »Container« einer deutschen Gesellschaft gehen. Vielmehr muss von vornherein eine internationale Perspektive eingenommen werden: Die Muster der Ökonomie, der Sozialstruktur und der Politik der Gesellschaft der Singularitäten finden sich – trotz aller nationaler Differenzen – in den Vereinigten Staaten ebenso wie in Frankreich, Deutschland und Großbritannien, in Italien, Skandinavien oder Australien. Dabei wäre es kurzsichtig, diese Konfiguration von vornherein auf den Westen zu reduzieren. Der Prozess der Globalisierung hat die eindeutigen räumlichen Grenzen zwischen globalem Norden und globalem Süden porös werden lassen, so dass die Formate des Kulturkapitalismus, der Digitalisierung, der Wissens- und Kulturarbeit, des singularistischen Lebensstils, der creative cities, der liberalen Politik, aber auch des Kulturessenzialismus, um die es in diesem Buch geht, auf dem gesamten Globus zirkulieren und 21sich so in bestimmten Teilen, Branchen und Milieus Lateinamerikas, Asiens oder Afrikas wiederfinden.14 Auch die Gesellschaften des ehemaligen globalen Südens haben also vielerorts damit begonnen, sich auf die postindustrielle Gesellschaft der Singularitäten umzustellen. Sie wird mit großer Wahrscheinlichkeit unsere globale Zukunft bestimmen.
Wie sieht diese spätmoderne Gegenwart und Zukunft aus? Wird sie leicht sein oder schwer? Den Zeitgenossen erscheint die gegenwärtige Gesellschaft zutiefst widersprüchlich: Auf der einen Seite eine »schöne neue Welt« der Designobjekte und internationalen Urlaubsreisen mit Wohnungstausch, der YouTube-Hits, des kalifornischen Lebensstils der Kreativen, der Events, der Projekte und ästhetisierten Stadtviertel zwischen Shanghai und Kopenhagen; auf der anderen Seite Überforderungserkrankungen, die soziale Marginalisierung einer neuen Unterklasse sowie Nationalismen, Fundamentalismen und Populismen diverser Couleur. Die öffentlichen Kommentierungen und Diagnosen der Spätmoderne fallen gerade in den letzten Jahren dementsprechend äußerst wechselhaft, ja geradezu nervös aus: Euphorische Hoffnungen auf eine Wissensgesellschaft, welche die Mühen der Industrialisierung abstreift, eine Erlebnisgesellschaft multiplizierter ästhetischer Genüsse und nicht zuletzt eine digitale Gesellschaft, die von den Möglichkeiten der Computernetzwerke profitiert, stehen neben pessimistischen Diagnosen, die einen dramatischen Anstieg von sozialer Ungleichheit, psychischer Überforderung und globalen Kulturkämpfen beobachten.
Gegenüber diesen häufig kurzatmigen Kommentaren will dieses Buch einen Schritt zurücktreten, um das umfassendere Panorama der Moderne erkennbar zu machen und die spezifischen Strukturen der Spätmoderne in diesem Rahmen genauer unter die Lupe zu nehmen. Genau dies sollte man von der Soziologie erwarten: dass sie nicht zum Stichwortgeber in wechselnden medialen Debatten mit ihrem Auf und Ab der Affektkommunikation wird, sondern die longue durée der gesellschaftlichen Entwicklung in ihren Strukturen und Prozessen seziert, die in Jahrzehnten (oder gar Jahrhunderten) gemessen wird. Nimmt man diesen Blick22winkel einer Theorie der (Spät-)Moderne ein, wird man sich jedoch nicht der Einsicht verschließen können, dass die Chancen und Verheißungen einerseits, die Probleme und Dilemmata andererseits, die sich in der Gegenwartsgesellschaft ergeben, die gleiche strukturelle Ursache haben: Sie sind in der Umstellung vom Primat der sozialen Logik des Allgemeinen der alten Industriegesellschaft zum Primat der sozialen Logik des Besonderen in der Spätmoderne begründet.
Zweifellos: Die Gesellschaft der Singularitäten hat in bestimmten Milieus – insbesondere in der neuen, gut qualifizierten und mobilen Mittelklasse – zu beträchtlichen Autonomie- und Befriedigungsgewinnen geführt. Sie hat einen grundsätzlich libertären Zug, der soziale Begrenzungen des Möglichen niederreißt, und sie ermöglicht die Selbstentfaltung der Individuen in einer Breite und Intensität, wie sie die klassische Moderne nicht kannte. Aber zugleich wird deutlich, dass sich sämtliche genannten Probleme, welche die Spätmoderne belasten, aus der Erosion der Logik des Allgemeinen der klassischen Moderne und dem Aufstieg der Strukturen der Gesellschaft der Singularitäten ergeben und erst in ihrem Rahmen verstehbar sind: So stellt sich erstens der hohe Besonderheits- und Selbstentfaltungsanspruch des Lebens in der Kultur der Spätmoderne als ein systematischer Enttäuschungsgenerator dar, vor dessen Hintergrund sich psychische Überforderungssymptome erklären lassen. So ist zweitens die postindustrielle Ökonomie der Singularitäten für die eklatante Spreizung zwischen den Arbeitsformen einer hochqualifizierten Wissens- und Kulturökonomie auf der einen Seite und der entindustrialisierten Dienstleistungsklasse auf der anderen verantwortlich, aus der eine neue soziale und kulturelle Polarisierung und Ungleichheit der Klassen und Lebensstile entstanden ist. Zugleich kann sich drittens erst im Kontext der Kulturalisierung und Singularisierung der Kollektive mit ihrer Prämierung partikularer Identitäten ein Aufstieg spätmoderner Nationalismen, Fundamentalismen und Populismen mit ihren aggressiven Antagonismen zwischen Wertvollem und Wertlosem ereignen.
Von der soziologischen Analyse der Gesellschaft der Singularitäten sind keine einfachen Bewertungen oder kurzfristigen Lösungen zu erwarten – schon allein deswegen nicht, weil sich die Ursachen der Chancen und die Ursachen der Probleme der Gegenwartsgesellschaft nicht feinsäuberlich voneinander trennen lassen, sondern identisch sind. Prozesse der Singularisierung sind an sich weder gut noch schlecht. Daher kann es weder um eine gleichsam romantische Feier der Singularitäten oder das unkritische 23Einstimmen in den Chor der Fortschrittsoptimisten gehen, noch umgekehrt darum, einen Logenplatz im »Grand Hotel Abgrund« zu beziehen, also um eine pauschale kulturkritische Verdammung der Spätmoderne als Hort eines irrationalen und verhängnisvollen Affekts gegen das Allgemeine. Dies heißt nun aber nicht, dass die Soziologie es sich auf dem Hochsitz des distanzierten Beobachters bequem machen sollte. In meinem Verständnis muss es ihr um eine kritische Analytik der Gegenwart und ihrer Genese zu tun sein. Kritische Analytik heißt jedoch für mich nicht normative Theorie. Es bedeutet vielmehr, eine Sensibilität für die Konfigurationen des Sozialen und ihre Geschichtlichkeit zu entwickeln, dafür, wie sie zu Strukturen der Herrschaft und der Hegemonie gerinnen, die den Teilnehmern möglicherweise nur schemenhaft bewusst sind. So können signifikante Spannungsfelder, unintendierte Folgen und neue Ausschlussmechanismen herausgearbeitet werden.15 Das Buch will dazu anregen, darüber nachzudenken, welche persönlichen und politischen Konsequenzen aus dieser gesellschaftlichen Konstellation zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu ziehen sind – ohne diese Schlussfolgerungen allerdings selbst zu dekretieren.
Ich beginne in Kapitel I mit grundsätzlichen theoretischen Klärungen dessen, was unter einer sozialen Logik der Singularitäten im Unterschied zu einer sozialen Logik des Allgemeinen zu verstehen ist und wie sie mit Kultur, Kulturalisierung und Valorisierung zusammenhängt. Vor diesem Hintergrund können historische Phasen der Gesellschaftsentwicklung unter dem Gesichtspunkt der Singularisierung unterschieden werden. Das Kapitel schließt mit einem knappen, zusammenfassenden Aufriss der spezifischen Struktur der Spätmoderne, die für die folgenden Kapitel leitend ist.16 Die Untersuchung der Transformation von Ökonomie und (Medien-)Technologien bildet das Kernstück des Buches. In Kapitel II stelle ich den Strukturwandel von der Industriegesellschaft zur Ökonomie der Singularitäten und ihren Kulturkapitalismus dar. Zunächst geht es darum, was eine Singularisierung der Güter bedeutet, im zweiten Schritt um die Transformation der Märkte in Singularitätsmärkte mit ihren spe24zifischen Konfigurationen der Aufmerksamkeit, Sichtbarkeit und Valorisierung. Kapitel III behandelt die Transformation der Arbeitswelt und zeigt, wie hier singularistische Kriterien wie Kreativität, Talent, Profil und Performanz mit ihren Licht- und Schattenseiten prägend werden. Kapitel IV widmet sich der Schlüsseltechnologie der Spätmoderne, dem Komplex von Algorithmen, Digitalität und dem Internet, und untersucht, wie dieser sowohl eine kulturelle als auch maschinelle Singularisierung betreibt.
Nachdem damit die ökonomisch-technologischen Grundlagen der Gesellschaft der Singularitäten dargelegt worden sind, frage ich in Kapitel V, wie sie sich auf die Lebensstile und auf die Sozialstruktur auswirkt. Es stellt sich heraus, dass die widersprüchliche Grundformel eines singularistischen Lebensstils jene der »erfolgreichen Selbstverwirklichung« und seine wichtigste Trägergruppe die neue, akademisch ausgebildete Mittelklasse ist. Als zentral für die Sozialstruktur der Spätmoderne erweist sich die nicht nur soziale, sondern auch kulturelle Polarisierung zwischen dieser neuen Mittelklasse und einer neuen Unterklasse, insgesamt die Kulturalisierung der Ungleichheit. Kapitel VI schließlich widmet sich der Singularisierung und Kulturalisierung des Politischen – der Politik des Besonderen. Sichtbar wird so ein für die Spätmoderne charakteristischer politischer Antagonismus zwischen liberaler Hyperkultur – die wirtschaftsliberal und linksliberal zugleich grundiert ist – und einem kommunitaristischen Kulturessenzialismus diverser Art. Der Schluss spricht im Sinne eines Ausblicks jene gesellschaftlich-politische Frage an, welche die Gesellschaft der Singularitäten aufwirft: Gibt es eine Krise des Allgemeinen?
Grundsätzlich knüpft dieses Buch an mein letztes an, das sich mit Prozessen gesellschaftlicher Ästhetisierung beschäftigt hat.17 So finden sich die Strukturmerkmale dessen, was ich dort »Kreativitätsdispositiv« genannt habe, auch in der Ökonomie der Singularitäten und ihrem Kulturkapitalismus sowie in der digitalen Kulturmaschine und auf der Ebene der Lebensstile. Zugleich ändert sich nun mein Fokus: Während im Zentrum von Die Erfindung der Kreativität die historische Genealogie stand, hat Die Gesellschaft der Singularitäten im Kern einen gesellschaftstheoretischen Anspruch. Das Buch ist also einerseits theoretisch grundsätzlicher 25ausgerichtet, andererseits stärker auf die Gegenwart konzentriert, weshalb auch klassische Fragestellungen der soziologischen Gesellschaftstheorie – Arbeit, Technik, Klasse, Politik zum Beispiel – unter dem Aspekt behandelt werden, welche Transformation hin zu einer Gesellschaft der Singularitäten in diesen Feldern stattfindet. Mein Eindruck ist, dass die Verschiebung des analytischen Fokus vom Leitkonzept der Kreativität zu dem der Singularität beziehungsweise Singularisierung sowie von der Ästhetisierung zur Kulturalisierung sowohl eine Erweiterung als auch eine Schärfung des Blicks ermöglicht.18
In der Moderne konkurrieren eine soziale Logik des Allgemeinen und eine soziale Logik des Besonderen miteinander. Von dieser Grundannahme geht dieses Buch aus. Die Logik des Allgemeinen ist mit dem gesellschaftlichen Prozess der formalen Rationalisierung verknüpft, die Logik der Singularitäten mit einem Prozess der Kulturalisierung. Während in der klassischen, vor allem der industriellen Moderne, Prozesse der Singularisierung und Kulturalisierung Antipoden zur Herrschaft des Allgemeinen darstellten und dieser zugleich strukturell untergeordnet waren, werden sie in der Spätmoderne leitend und strukturbildend für die ganze Gesellschaft. Zugleich ändert die Rationalisierung ihre Form und verwandelt sich zu großen Teilen in eine Hintergrundstruktur für Singularisierungsprozesse. Um diese These zu plausibilisieren, sind einige Begriffsklärungen und historische Schematisierungen nötig. Ich umreiße in diesem Kapitel zunächst die soziale Logik des Allgemeinen in der klassischen Moderne und ihre Praxis formaler Rationalisierung (1). In Absetzung dazu werden der Begriff der Singularitäten, die Merkmale einer sozialen Logik des Besonderen und ihrer Praktiken entwickelt (2). Anschließend geht es um den Zusammenhang von Singularisierung und Kulturalisierung sowie die Neufassung eines starken Kulturbegriffs, in dessen Zentrum die Frage nach dem »Wert« und Prozesse der Valorisierung stehen (3). Vor diesem Hintergrund und bezogen auf die historisch-gesellschaftliche Entwicklung von den vormodernen Gesellschaften bis zur Spätmoderne, lassen sich dann Phasen der Transformation der Kultursphäre schematisch herausarbeiten, in denen sich die gesellschaftliche Relation zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen verändert (4).28
Was ist die Moderne? Was sind die zentralen Merkmale der modernen Gesellschaft in ihrer klassischen Gestalt? Aus meiner Sicht ist die Antwort eindeutig: Der strukturelle Kern der klassischen Moderne, wie sie sich seit dem 18. Jahrhundert zunächst in Westeuropa ausgebildet hat, ist zunächst eine soziale Logik des Allgemeinen, die auf eine Standardisierung, Formalisierung und Generalisierung sämtlicher Einheiten des Sozialen drängt. Die Moderne formatiert die Welt der bis dahin traditionalen Gesellschaften grundlegend um, sie prägt ihr in ihren Praktiken, Diskursen und institutionellen Komplexen durchgängig und immer wieder aufs Neue Formen des Allgemeinen auf. Als großflächige Praxis betreibt sie ein, wie ich es nennen möchte, umfassendes doing generality der Welt.
Ein solches Verständnis der klassischen Moderne kann an eine bestimmte soziologische Theorie der Moderne anknüpfen und sie zugleich auf eine abstraktere Ebene heben: Die Moderne ist zunächst als ein Prozess der formalen Rationalisierung zu verstehen. Formale Rationalisierung heißt: Die Moderne transformiert die Gesellschaft so, dass sich jenseits der traditionalen Gepflogenheiten großflächige Komplexe von berechenbaren Regeln bilden, denen technisch oder normativ regulierte Handlungsweisen folgen. Die formale Rationalisierung lässt sich vom Telos der Optimierung leiten, deren Fluchtpunkte eine effiziente Bearbeitung der Natur und eine transparente Ordnung des Sozialen sind. Dieses Verständnis der Moderne als elementarer Rationalisierungsprozess versteht sich nicht von selbst. Wenn man den soziologischen Diskurs nach den zentralen Merkmalen der klassischen Moderne befragt, erhält man vielmehr höchst unterschiedliche Antworten. Häufig – vor allem in der deutschen Soziologie – wird die Moderne mit einem Prozess funktionaler Differenzierung gleichgesetzt. Charakteristisch ist demnach eine Ausdifferenzierung spezialisierter, funktionaler Teilsysteme (Wirtschaft, Recht, Politik, Massenmedien, Erziehung etc.), die jeweils ihrer eigenen, selbstgesetzten Logik und Struktur folgen. Niklas Luhmann hat diesen Ansatz am systematischsten ausgearbeitet, die Grundideen reichen jedoch bis zu den Theorien der Arbeitsteilung zurück. Auf die internationale Diskussion bezogen, ist allerdings eine zweite Interpretation der Moderne einflussreicher. 29Diese geht auf Karl Marx zurück und begreift den Kapitalismus als Zentralorgan der Moderne in Form einer ökonomisch-technologischen Formation, die auf ununterbrochene Kapitalakkumulation ausgerichtet ist und gewaltige Reichtümer ebenso hervorbringt wie deren klassenförmig höchst ungleiche Verteilung. Es steht außer Frage, dass es beiden Ansätzen gelingt, jeweils wichtige Merkmale der Moderne zu erfassen. Aber sie sind beide noch nicht grundsätzlich genug angelegt. Aus meiner Sicht wird die Struktur der Moderne erst vollständig deutlich, wenn man am Prozess formaler Rationalisierung ansetzt,1 wie es am deutlichsten Max Weber getan hat.2 Und wie es in je eigener Weise darüber hinaus so unterschiedliche Autoren wie Georg Simmel, Martin Heidegger, Theodor W. Adorno und Hans Blumenberg, schließlich auch Michel Foucault oder Zygmunt Bauman angedeutet haben.3
Das Verständnis der Moderne als Rationalisierungsprozess kann und muss jedoch noch abstrakter und grundsätzlicher gefasst werden, als es bislang üblich war. Hinter der Rationalisierung verbirgt sich nämlich ebenjene soziale Logik des Allgemeinen: Indem moderne Praktiken die soziale Welt rationalisieren, versuchen sie, ihr allgemeine Formen aufzupressen und sie in die Richtung allgemeiner Formen zu gestalten. Praxeologisch gesehen, umfasst eine solche soziale Logik des Allgemeinen mit ihrer »Allgemeinisierung«, ihrem doing generality, vier miteinander verbundene Komplexe sozialer Praktiken, die zueinander in einem empirisch offenen Verhältnis stehen: Praktiken der Beobachtung, der Bewertung, der Hervorbringung und der Aneignung. Wenn das Soziale einer Rationalisierung und Verallgemeinerung ausgesetzt wird, sind immer diese vier Komplexe von Praktiken am Werk.30
Dabei richten sich Praktiken der Beobachtung von Welt (in der Wissenschaft, der Ökonomie, dem Staat etc.) nun eindeutig und einseitig am Allgemeinen aus, das heißt, es werden Systeme allgemeiner Begriffe und Schemata entwickelt und zur Anwendung gebracht, mit deren Hilfe es möglich sein soll, alle Elemente der Welt (Menschen, Natur, Dinge etc.) als besondere Exemplare allgemeiner Muster zu erfassen, zu messen und zu differenzieren. Im Rahmen von Praktiken der Bewertung (etwa im Recht oder in der Schule) werden nun jene Elemente der Welt, die sich in diese Schemata des Allgemeinen einfügen, eindeutig positiv prämiert, sie erscheinen »richtig« oder »normal«.4 Praktiken der Hervorbringung (etwa in der Industrie oder der Erziehung) sind nun im Kern darauf ausgerichtet, systematisch Elemente der Welt (Dinge, Subjekte, Räumlichkeiten etc.) herzustellen und zu verbreiten, die den Schemata des Allgemeinen entsprechen und im Extrem gar identisch und vollständig gegeneinander austauschbar sind. Und die Praktiken der Aneignung von Welt nehmen nun primär die Form eines sachlichen Umgangs mit Dingen, Subjekten etc. an, die als standardisierte und austauschbare Entitäten begriffen werden, etwa dadurch, dass Objekte als funktionale und nützliche oder Subjekte als Rollen- und Funktionsträger behandelt werden.
Jedoch: Eine komplette Identifikation der Moderne mit der sozialen Logik des Allgemeinen und ihrer formalen Rationalisierung wäre eine Fehlwahrnehmung. Sie würde der Totalisierung des Allgemeinen durch den rationalistischen Diskurs der Moderne (vor allem in der Philosophie und Soziologie) zum Opfer fallen. Hier wird lediglich ein halbiertes Verständnis der Moderne entwickelt. Bereits die klassische Moderne ist nicht vollständig in terms der Logik des Allgemeinen zu verstehen, und die Spätmoderne ist es erst recht nicht. Wir müssen uns aber zunächst mit den Merkmalen der Herrschaft des Allgemeinen in ihrer »künstlich« reinen Form im formalen Rationalismus beschäftigen, um in einem zweiten Schritt die soziale Logik der Singularitäten davon abgrenzen zu können.31
Es wäre natürlich kurzsichtig zu behaupten, dass historisch gesehen erst mit dem Beginn der gesellschaftlichen Moderne im späten 18. Jahrhundert auch eine soziale Logik des Allgemeinen einsetzte oder dass überhaupt erst seit 250 Jahren Formate formaler Rationalität existierten. Vielmehr gab es beides in bestimmter Hinsicht schon in den vormodernen Gesellschaften, den archaischen (schriftlosen und nomadischen) sowie den traditionalen (hochkulturellen) Gesellschaften. Man muss allerdings zwei unterschiedliche Modi einer sozialen Logik des Allgemeinen unterscheiden: Typisierungen und formale Rationalisierung.
Die Praktiken, aus denen sich die soziale Welt zusammensetzt, beruhen immer schon auf Typisierungen, das heißt darauf, dass die einzelnen Elemente der Welt dadurch verstehbar und handhabbar werden, dass sie als besondere Exemplare allgemeiner Arten oder eben Typen – Menschen, Tiere, Dinge, Götter etc. – einsortiert werden. Wenn es richtig ist, dass die »Lebenswelt des Alltags« zu großem Teil auf Gewohnheit und Wiederholung beruht, dann setzt dies voraus, dass in der Semantik der natürlichen Sprache und im impliziten Wissen typisierende Klassifizierungen vorgenommen werden und somit im Regelfall das Besondere, mit dem man ständig konfrontiert wird, unter das Allgemeine subsumiert wird.5 Hier ist das Besondere sozusagen das Allgemein-Besondere. Eine solche Logik der Typisierung herrscht in besonderem Maße in den vergleichsweise wandlungsresistenten archaischen »kalten Gesellschaften« (Claude Lévi-Strauss) der schriftlosen Vormoderne, aber sie kommt selbstverständlich auch in (spät-)modernen Gesellschaften zum Einsatz. Als Typisierungen sind die sozial relevanten Allgemeinheiten jedoch in der Regel kein Gegenstand der Rationalisierung, sie sind also keiner systematischen Steuerung und Reflexion unterworfen. Entsprechend ist im Modus der Typisierung auch nicht zu erwarten, dass die allgemeinen Begriffe notwendig trennscharf sind. Vielmehr markieren sie im Sinne semantischer Prototypen Zonen von Ähnlichkeiten.6
Auch in vormodernen Gesellschaften entstehen spezifische Handlungs32komplexe, die zweckrational oder normativ-rational ausgerichtet sind und sozusagen insulare Rationalisierungskomplexe bilden. Diese zeichnen sich durch eine gezielte Systematisierung des Handelns entlang expliziter Regeln und Prinzipien aus. Die techne ist zweckorientiert, basiert dabei zunächst eher auf einem praktischen als einem theoretischen Wissen. Sie bezeichnet ein systematisches Handeln zur Bearbeitung der Natur, durch das eine Distanzierung zur und eine Domestizierung von Welt stattfindet. Zugleich setzt historisch spätestens mit der Entstehung hochkultureller Reiche und ihrer administrativen und juridischen Praktiken auch eine Systematisierung normativer Praktiken ein, durch die nicht nur soziale Regeln kodifiziert werden, sondern auch eine intellektuelle Systematisierung von (insbesondere religiösen) Weltbildern in Gang gesetzt wird, nicht zuletzt im Medium der Schrift.7
Die historisch frühen Formen einer rationalistischen Logik des Allgemeinen haben die gleiche Ursache wie die historisch späteren, natürlich deutlich ausgefeilteren Formen: Sie können als gesellschaftliche Antwort auf sowohl ein Knappheitsproblem als auch ein Ordnungsproblem interpretiert werden. Das Verhältnis der Gesellschaft zur Natur ist zunächst durch Knappheit und drohenden Mangel geprägt. In zweckrationalen Praktiken versuchen Gesellschaften nun gewissermaßen, der Knappheit durch Einsparung von Mitteln, Arbeitskraft, Zeit und Energie zu begegnen. Zweckrationale Praktiken enthalten eine Sparsamkeitsregel, um die Knappheit zu verringern, ja möglichst in Bedarfsdeckung zu überführen. Daneben gibt es aber auch noch ein basales Ordnungsproblem, das wiederum das Verhältnis zur äußeren Natur betrifft, im Besonderen jedoch das Verhältnis zwischen den Subjekten. Dies gilt vor allem ab dem Moment, in dem tribalistisch-nomadische Sozialformen durch soziale Systeme unter den Bedingungen der Sesshaftigkeit und elementarer Arbeitsteilung abgelöst werden, welche die Grenzen räumlicher Anwesenheit überschreiten. Normative Rationalisierungen versuchen somit – etwa über ein Rechtssystem – soziale Koordination und Herrschaft auf Dauer zu garantieren.
Die moderne Gesellschaft geht über diese insularen zweckrationalen und normativ-rationalen Praktiken traditionaler Gesellschaften hinaus. 33Die Moderne, die sich in Europa mit der Frühen Neuzeit anbahnt und Ende des 18. Jahrhunderts im Zuge der Industrialisierung, Verwissenschaftlichung, Vermarktlichung, Urbanisierung und Demokratisierung entsteht, ist im Kern gleichbedeutend mit einer großflächigen und expansiven Institutionalisierung ganzer Systeme von sozialen Praktiken, in denen eine systematische und dauerhafte Rationalisierung von Verhalten, Produktion, Dingen, Subjekten und Wissen stattfindet und mit ihr eine soziale Logik des Allgemeinen implementiert wird. Die Moderne ist eine sowohl extensive als auch intensive Generalisierungsmaschine. Die soziale Logik des Allgemeinen hat nun nicht mehr die Form einer bloßen lebensweltlichen Typisierung von Ähnlichkeiten – die an den Rändern weiterbesteht –, sondern ihr Grundzug ist der einer expansiven Systematisierung der Welt in Form von Standardisierung, Formalisierung und Generalisierung. Umgekehrt könnte man sagen: Es ist diese Ausbreitung der sozialen Generalisierungsmaschine, die wir »moderne Gesellschaft« nennen. Die Voraussetzung dafür ist das Kontingenzbewusstsein der Moderne, das Zug um Zug sämtliche sozialen Praktiken erfasst, diese über kurz oder lang zur Disposition stellt und sie zum Gegenstand einer gezielten Transformation werden lässt, die grosso modo zunächst nur eine Richtung kennt: hin zum Allgemeinen.
Aus praxeologischer Perspektive lässt sich »Rationalisierung« als Prozessbegriff auf die Makro- und auf die Mikroebene beziehen. Es geht nicht darum, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt eine Struktur formaler Rationalität ein für alle Mal erreicht und von da an fixiert wäre. Vielmehr werden die einzelnen Elemente des Sozialen – Objekte, Subjekte, Kollektive, Räume, Zeiten – jeweils in bestimmten Praktiken zum Gegenstand von Rationalisierungen, sie werden im Sinne des doing generality durch entsprechende Praktiken des Beobachtens, Bewertens, Hervorbringens und Aneignens immer wieder neu rational »gemacht«.8 Aus dem Zusammenspiel dieser vielen lokalen Rationalisierungen ergibt sich dann die großflächige formale Rationalisierung der Gesellschaft als ganzer. Diese tiefgreifende Transformation der Sozialwelt und der Relation zur Natur folgt im Rahmen des modernen Rationalisierungsprojektes dem Ziel der Optimierung, das heißt einer systematischen Verbesserung, 34die häufig in der Semantik des Fortschritts zugespitzt wird.9 Das moderne Optimierungsstreben antwortet nach wie vor auf die basalen Probleme der Knappheit gegenüber der Natur und der Ordnung des Sozialen, kehrt aber gewissermaßen die gesellschaftliche Antwort darauf ins Offensive: Nicht nur, dass Mangel und Anarchie vermieden werden sollen – über den Weg der systematischen Rationalisierung aller gesellschaftlichen Bereiche strebt die Moderne die finale Überwindung von Knappheits- und Ordnungsproblemen an.
Die durchgreifende formale Rationalisierung der modernen Gesellschaft erfolgt seit dem 18. Jahrhundert in drei Bereichen und Verfahrensweisen: Wir haben es mit einer technischen Rationalisierung, einer kognitiven und einer normativen Rationalisierung zu tun, bei denen in je spezifischen Praktiken jeweils eine andere Variante des doing generality stattfindet.
Die technische Rationalisierung findet sich vor allem im Feld der Produktion, der Naturbearbeitung (industrielle Landwirtschaft, Rohstoffförderung), der industriellen Verfertigung von Investitions- und Konsumgütern sowie im Städtebau und Verkehrswesen.10 Sie bedeutet, dass gezielt Verhaltensweisen neuarrangiert und Technologien eingesetzt werden, um die Effizienz der Güterproduktion und -distribution sowie die dazu nötige Verhaltenskoordination zu steigern. Die Praxis des Allgemeinen ist hier eine der Standardisierung: Effizienzsteigerung setzt voraus, dass optimal angepasste Verhaltensweisen im Rahmen von Mensch-Maschine-Konfigurationen vereinheitlicht, dass sie homogenisiert und immer wieder als identische hervorgebracht werden, um sie nach einem berechenbaren Muster aufeinander abstimmen zu können. Zugleich ermög35lichen diese Mensch-Maschine-Konfigurationen auch die Hervorbringung des standardisiert Gleichen, vor allem von identischen Gütern in quasi unendlicher Zahl.
Der Ort der kognitiven Rationalisierung sind die Wissenschaften, insbesondere die Natur-, aber auch die Verhaltenswissenschaften. Die Praxis des Allgemeinen ist hier eine der Generalisierung des Wissens, und ihr Ziel sind allgemeine, empirisch erprobte Theorien, die eine allgemeingültige Beschreibung und Erklärung der Wirklichkeit gestatten und infolge dessen deren technologische Steuerung ermöglichen sollen. Dieses allgemeine Wissen lässt sich dann den Subjekten im Rahmen einer Ausbildung vermitteln. Sowohl für die technische als auch die kognitive Rationalisierung gilt, dass sie das Allgemeine, das sie voraussetzt und herstellt, quantifizieren und messen will. Aus diesem Grund sind Standardisierung und Generalisierung mit einem modernen Quantifizierungsideal verknüpft, dem zufolge an so ziemlich alles Maß angelegt werden muss, seien es Korrelationen, Entwicklungen oder Mengen.11
Die normative Rationalisierung der Moderne schließlich betrifft die gezielte Regulierung intersubjektiver Ordnungen, für die das moderne Recht mit seiner Genese in diskursiven Arenen und seiner Anwendung in der staatlichen Verwaltung charakteristisch ist. Sie kann eine im engeren Sinne normative oder eher normalistische Form haben.12 Die Praxis des Allgemeinen ist hier eine der Formalisierung: Im Recht werden möglichst allgemeine Regeln aufgestellt und ganze deduktiv ableitbare Regelsysteme geschaffen, die es ermöglichen, die einzelnen Akte des sozialen Handelns auf eine bestimmte Weise anzuleiten (und wenn nötig zu korrigieren). Das moderne Recht will das Handeln einerseits berechenbar und transparent machen, andererseits aber auch die Überzeugung einer gerechten Ordnung vermitteln, in der Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandelt wird. Das Recht und mit ihm die gesamte normative Rationalisierung der Moderne, die auch vorrechtliche Bereiche des zivilen Umgangs und des moralischen Handelns umfasst, zielt auf eine Berechenbarkeit und Reziprozität von sozialen Interaktionen ab. Recht und normative Rationalisierung setzen eine grundsätzliche juridische Gleich36heit, aber auch psychische Gleichartigkeit der Subjekte als eigenverantwortliche und normbefolgende voraus.
Standardisierung, Formalisierung und Generalisierung als die drei Formen, in denen die rationalistische Logik des Allgemeinen und ihr doing generality operiert, sind seit dem Ende des 18. Jahrhunderts miteinander verwoben und machen die moderne Welt. Gemeinsam haben sie mehrere Konsequenzen: eine verhältnismäßig hohe Berechenbarkeit, Geordnetheit und Transparenz des Sozialen, das dadurch besser vorhersehbar und planbar scheint. Diese Logik geht einher mit einer Austauschbarkeit der Subjekte, die primär Träger von Funktionsrollen sind, so dass sich eine Unabhängigkeit der Funktionalität der Subjektpositionen von Persönlichkeiten, Familien- und Gruppenzugehörigkeiten ergibt. Zudem reduziert die soziale Logik des Allgemeinen die affektive Intensität, die ins Soziale eingebaut ist. Nie geht es nur darum, an einer Praxis um ihrer selbst willen teilzunehmen, immer schon ist sie Mittel für einen (weiteren) Zweck, zum Beispiel Effizienz, Naturbeherrschung oder transparente Handlungskoordination. Die Versachlichung, die sich aus der Allgemeinheit dieser Regeln ergibt, ist so mit Affektkontrolle und -reduktion verbunden. Der Modus der sozialen Praxis ist hier nicht das emotional besetzte Engagement, sondern das distanzierte Regelfolgen. Selbst moralische Regeln sind aus Pflicht, nicht aus Neigung anzuwenden.13 Die soziale Logik des Allgemeinen in der Moderne tendiert schließlich zum Ideal des Universalen, zu dem für alle und überzeitlich Gültigen. Auch wenn diese Universalisierung nicht überall erreicht wird – beispielsweise durch die Nationalstaaten eingeschränkt ist –, bleibt sie der Fluchtpunkt der Allgemeinisierung.1437
Die soziale Logik des Allgemeinen, die mit der formalen Rationalisierung der Moderne einhergeht, betrifft sämtliche Einheiten des Sozialen. Der Begriff »soziale Logik« soll sich auf eine solcherart umfassende Strukturierungsform beziehen, die zum einen die oben genannten Praktiken der Beobachtung, der Bewertung, der Hervorbringung und der Aneignung umfasst und zugleich alle Einheiten des Sozialen einschließt. In analoger Weise wird dies auch für die soziale Logik der Singularitäten gelten. Die Plausibilisierung einer Sozial- und Gesellschaftstheorie ist generell darauf angewiesen, dass Aussagen über sämtliche Elemente oder Einheiten des Sozialen gemacht werden.15 Aus meiner Perspektive lassen sich (mindestens) fünf Einheiten des Sozialen unterscheiden, die durch eine soziale Logik auf bestimmte Weise formatiert werden: Objekte, Subjekte, Räumlichkeiten, Zeitlichkeiten und Kollektive. Anders gesagt: Die soziale Welt besteht aus sozialen Praktiken, an denen Subjekte und Objekte partizipieren, aus denen sich Kollektive bilden und die Zeit und Raum auf eine bestimmte Weise strukturieren. Und in der modernen Gesellschaft in ihrer klassischen Version werden alle fünf Einheiten zum Gegenstand eines doing generality.
Für die Objekte (einschließlich der Dinge) bedeutet dies, dass sie als identische – das heißt unendliche Repliken des Gleichen – oder gleichförmige – das heißt als Variationen des Gleichen – hergestellt und verwendet werden.16 Sie sind austauschbar. Das industriell-maschinell verfertigte Produkt, das von der Abnehmerin mit einem standardisierten Nutzwert ge- oder verbraucht wird, ist hierfür das Paradebeispiel. Gibt es doch Differenzen zwischen den Objekten, so handelt es sich um graduelle Unterschiede der Nützlichkeit, Leistung oder Tauglichkeit, die jedoch allgemeinen und sachlichen Maßstäben genügen. Selbst semioti38sche Objekte wie Texte und Bilder gelten in diesem Zusammenhang als Beiträge zum Allgemeinen, nämlich zur Information. Die Objekte bleiben hier auch dann, wenn sie zirkulieren, stabil: Sie sind immer die gleichen (haben keine kulturelle Biografie) und zeigen höchstens im Laufe der Zeit Verschleißerscheinungen. Sie sind rationale Artefakte, die nach Art eines Werkzeugs instrumentelle Relevanz haben – ein Mittel zum Zweck, das verschwindet, sobald der Zweck erfüllt oder das Mittel untauglich geworden ist. Entsprechend ist neben der Ware die Maschine das zweite Musterbeispiel des Objekts als allgemeines. Eine Maschine wird nicht nur in identischen Exemplaren hergestellt, sie stellt auch ihrerseits identische Exemplare von Gütern her. Der Objekttypus Maschine ist eine allgemeine Infrastruktur zur Fabrikation des Allgemeinen.
Kommen wir als Nächstes zu den Subjekten, die im Rahmen des doing generality der klassischen Moderne verfertigt werden und sich selbst formen. Sie werden darin trainiert, allesamt die gleichen Kompetenzen zu haben und die gleichen oder zumindest gleichförmige Handlungsweisen hervorzubringen. Kompetenzen und Handlungen der Subjekte haben einen Beitrag zur formalen Rationalität zu liefern. Das eine Modell für ein solches Subjekt der Allgemeinheit ist der entweder moralisch oder utilitaristisch von innen her angetriebene Charakter, der entsprechend entweder Prinzipien oder Nutzenkalkulationen folgt. Das andere ist die »sozial angepasste Persönlichkeit«, die sich nach intersubjektiven Erwartungen richtet und »normal«, das heißt im nicht pejorativen Sinn durchschnittlich sein will.17 Das erste Modell bringt eine statische, stabile Gleichförmigkeit mit sich, das zweite eine dynamische Gleichförmigkeit, die sich den sozialen Anforderungen immer wieder neu anpasst. In beiden Fällen wird das Subjekt zu einem Gegenstand gesellschaftlicher Disziplinierung. Die Abweichung vom Standard wird entsprechend sanktioniert; sie erscheint anormal.
Auch in der klassischen Moderne zirkulieren natürlich Subjekte mit besonderen Eigenschaften. Bei diesen handelt es sich jedoch nicht um Singularitäten im starken Sinne, sondern um Fälle eines Allgemein-Besonderen, das heißt um differenzielle Positionen im Rahmen einer Ordnung 39des Allgemeinen.18